Emile Zola
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Emile Zola

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IV

Am nächsten Tag, am Montag, sollten Jordan und seine Schwester mit dem Abendzug nach Beauclair zurückkehren, und Lucas verbrachte den Vormittag im Park der Crêcherie, der kaum zwanzig Hektar umfaßte, der aber durch seine wundervolle Lage, seine zahlreichen Quellen und seine herrliche Vegetation einem Stück Paradies glich und in der ganzen Gegend berühmt war.

Das Wohnhaus war ein ziemlich schmaler Ziegelbau ohne Stil, den der Großvater Jordans zur Zeit Ludwigs XVIII. an Stelle des alten, während der Revolution niedergebrannten Schlosses hatte aufführen lassen. Es lehnte sich an den Abhang der Monts Bleuses, eine steile, mächtige Wand, die hier am Ende der Schlucht von Brias als letzte Erhebung in die ungeheure Ebene der Roumagne hinausragte. Der Park, gegen Süden gelegen und durch diesen Wall gegen die Nordwinde geschützt, bildete gleichsam ein natürliches Treibhaus, in dem ein ewiger Frühling herrschte. Eine üppige Vegetation bedeckte hier die Felswand, dank den zahlreichen Bächen, die überall kaskadenförmig herabrieselten, und steile Pfade, in den Fels gehauene Stufen führten hinauf durch Schlingpflanzen und immergrüne Sträucher. Dann vereinigten sich die Bäche zu einem Flüßchen, das den ganzen Park mit seinen weiten Rasenflächen und herrlichen Bäumen bewässerte. Jordan, der diese fruchtbare Natur ihre eigenen Wege gehen lassen wollte, hielt sich nur einen Gärtner und zwei Gehilfen, die außer einem Gemüsegarten und einigen Blumenbeeten vor dem Wohnhaus lediglich die Reinigung des Parks zu besorgen hatten.

Der Großvater des jetzigen Besitzers, Aurélien Jordan de Beauvisage, war im Jahre 1790, kurz vor dem Anbruch der Schreckensherrschaft, geboren worden. Die Beauvisages, eine der ältesten und vornehmsten Familien der Gegend, waren damals schon stark herabgekommen und besaßen von ihren einstigen ausgedehnten Gütern nur noch zwei Pachtgründe, die heute zu den Äckern von Combettes gehörten, abgesehen von etwa tausend Hektar nackten, unfruchtbaren Steinbodens, die sich längs der Felswand der Monts Bleuses hinzogen. Aurélien war noch nicht drei Jahre alt, als seine Eltern auswandern mußten, nachdem in einer furchtbaren Winternacht ihr Schloß in Flammen aufgegangen war. Bis 1816 lebte er dann in Österreich, wo rasch nacheinander seine Mutter, dann sein Vater gestorben waren und ihn in tiefster Armut zurückgelassen hatten. Er hatte seine unvollkommene Bildung in einer Gewerbeschule erhalten, und hatte nur so viel Brot zu essen, wie er sich durch seiner Hände Arbeit als Mechaniker in einer Eisenerzmine erwarb. Er zählte also kaum sechsundzwanzig Jahre, als er unter der Regierung Ludwigs XVIII. in seine Heimat Beauclair zurückkehrte. Hier fand er den Besitz seiner Väter abermals stark vermindert, denn die zwei Pachtgüter waren ihm weggenommen worden, und es war nichts geblieben als der kleine, noch jetzt bestehende Park und die tausend Hektar Steinboden, die niemand wollte. Durch sein hartes Schicksal dem Adel entfremdet, nannte er sich einfach Jordan und heiratete die Tochter eines sehr reichen Landmannes aus Saint-Cron, deren Mitgift es ihm ermöglichte, auf der Brandstätte seines Ahnenschlosses das bürgerliche Haus bauen zu lassen, das sein Enkel noch jetzt bewohnte. Er konnte auch die Erzmine, in der er in Österreich beschäftigt gewesen war, nicht vergessen, und er suchte und fand um 1818 eine ähnliche Mine auf den Felsgründen seines Besitzes. Hierauf errichtete er oberhalb der Crêcherie, auf halber Höhe der Felswand, den Hochofen, den ersten, der in dieser Gegend gebaut worden war.

Aurélien Jordan bekam mit fünfunddreißig Jahren einen Sohn, Séverin, der sein einziges Kind blieb, und erst als dieser Sohn im Jahre 1852, nach dem Tode seines Vaters, dessen Nachfolger wurde, wuchs der Hochofen der Crêcherie zu einem bedeutenden Unternehmen heran. Séverin hatte Francoise Michon, die Tochter eines Arztes in Magnolles geheiratet, die sich als eine Frau von seltener Herzensgüte und außerordentlichen Geistesgaben erwies. Ihr Mann, dem sie nicht nur eine zärtliche Gattin, sondern eine kluge Helferin und Beraterin war, trieb auf ihre Veranlassung neue Stollen ein, verzehnfachte die Förderung der Minen und gestaltete den Hochofen fast vollständig neu, indem er ihn mit allen modernen Vervollkommnungen versah. Sie sahen sich auch bald im Besitze eines großen, stets wachsenden Vermögens, und der einzige Kummer ihres von gedeihlicher Tätigkeit erfüllten Lebens war ihre Kinderlosigkeit. Erst nach zehnjähriger Ehe, und als Séverin schon vierzig Jahre zählte, wurde ihnen ein Knabe geboren, den sie Martial nannten, und nach abermals zehn Jahren ein Mädchen, Soeurette. Dieser späte Kindersegen machte ihr Glück vollständig, und besonders die Frau war eine bewunderungswürdige Mutter, die ihren Sohn zum zweitenmal gebar, indem sie ihn siegreich gegen den Tod verteidigte und die ihm ihre Seelengüte und ihre Geistesgaben vermachte. Doktor Michon, der Großvater, ein hochherziger Idealist und unerschöpflich gütiger Wohltäter, hatte sich auf die Crêcherie zurückgezogen, wo seine Tochter ihm ein eigenes kleines Häuschen hatte bauen lassen, das Lucas jetzt bewohnte. Hier war er dann inmitten seiner Bücher, umgeben von Sonnenschein und Blumenduft, gestorben. Und bis zum Tode der unvergleichlichen Mutter, der fünf Jahre nach dem des Großvaters und dem des Vaters erfolgte, hatte fröhliches Gedeihen und reines Glück auf der Crêcherie geherrscht.

Martial war dreißig Jahre und Soeurette zwanzig Jahre alt, als sie allein zurückblieben, und seitdem waren fünf Jahre vergangen. Er hatte, trotz seiner sehr schwachen Gesundheit, trotz der vielen aufeinanderfolgenden Krankheiten, denen seine Mutter ihn mit der Kraft der Liebe entrissen hatte, die technische Hochschule besucht. Dann war er nach der Crêcherie zurückgekehrt, und jede feste Stellung, jedes Ehrenamt verschmähend, dank seinem beträchtlichen Vermögen sein eigener Herr, hatte er sich mit leidenschaftlichem Interesse in Forschungen und Untersuchungen über die Anwendung der Elektrizität vertieft. Er ließ anstoßend an das Wohnhaus ein sehr geräumiges Laboratorium bauen, stellte in einem nahebefindlichen Schuppen einen Motor von mehreren Pferdekräften auf und befaßte sich schließlich fast nur noch mit dem Problem des Schmelzens von Metallen in elektrischen Öfen, nicht bloß für das Laboratorium, sondern für die praktische Anwendung in der großen Industrie. Von da ab schloß er sich ganz von der Welt ab, lebte wie ein Mönch, nur seinen Experimenten, seinem großen Werke hingegeben, das ihm zum einzigen Daseinszweck wurde. Die kleine Schwester hatte bei ihm den Platz der heimgegangenen Mutter eingenommen. Soeurette war bald seine treue Hüterin, sein guter, unablässig über ihn wachender Engel, und umgab ihn mit der warmen Liebesatmosphäre, die ihm zum Leben so nötig war wie die Luft, die er atmete. Sie übernahm die Führung ihres gemeinschaftlichen Haushaltes, hielt alle kleinen Sorgen des täglichen Lebens von ihm fern, diente ihm sogar als Sekretär und Laboratoriumsgehilfe, und alles das geräuschlos, friedlich und sanft, mit einem stillen Lächeln auf den Lippen. Zum Glück arbeitete der Hochofen sozusagen von selbst unter der Leitung des alten Ingenieurs Laroche, der, ein Erbstück noch des Begründers, Aurélien Jordan, seit mehr als dreißig Jahren im Dienste des Unternehmens stand, so daß der jetzige Jordan, unbekümmert um die zahllosen Ansprüche der Wirklichkeit, sich nur seinen Studien widmen konnte. Er ließ den braven Mann den Hochofen nach den hergebrachten Prinzipien leiten, ohne sich für etwa mögliche Verbesserungen und Vervollkommnungen zu interessieren, denn er hielt sie alle für unwichtige Fortschritte, während er die radikale Umgestaltung suchte, den elektrischen Schmelzprozeß, der die ganze Metallindustrie umwälzen sollte. Nicht selten mußte Soeurette eingreifen und diese oder jene Anordnung im Vereine mit Laroche treffen, wenn sie wußte, daß der Geist ihres Bruders ganz von einem neuen Experiment erfüllt war und sie seine Gedankenwelt nicht durch ein völlig fremdartiges Interesse durchschneiden wollte. Der plötzliche Tod Laroches hatte nun diesen glatten, altgewohnten Gang der Dinge so stark aus dem Geleise geworfen, daß Jordan, der sich für reich genug hielt und nicht den geringsten Erwerbssinn besaß, am liebsten den Hochofen kurzerhand an Delaveau losgeschlagen hätte, dessen Wünsche in dieser Hinsicht ihm bekannt waren. Aber Soeurette hatte ihn klugerweise überredet, sich vorher noch mit Lucas zu beraten, in den sie großes Vertrauen setzte. Und so war es gekommen, daß an den jungen Mann die dringende Bitte erging, die ihn so plötzlich nach Beauclair geführt hatte.

Lucas war mit dem Geschwisterpaar Jordan bei Boisgelin bekannt geworden, als sie sich einen Winter hindurch in Paris aufhielten, wo der junge Gelehrte Material für seine Studien sammelte. Und sehr rasch hatte sich eine starke gegenseitige Sympathie entwickelt, die sich bei Lucas auf Bewunderung für den Bruder, dessen wissenschaftliches Genie ihm imponierte, und auf mit Hochachtung gemischte Zuneigung für die Schwester gründete, die ihm wie ein göttliches Bild der Herzensgüte erschien. Er arbeitete damals gerade bei dem berühmten Chemiker Bourdin und war mit der Untersuchung schwefel- und phosphorhaltiger Erze betraut, welche nutzbar gemacht werden sollten. Und Soeurette, die mit der Sorgsamkeit einer guten Hausfrau an allen gemeinsamen Angelegenheiten Interesse nahm, erinnerte sich noch deutlich eines fachmännischen Gespräches, das Lucas eines Abends mit ihrem Bruder geführt, und gewisser Einzelheiten, die er damals hervorgehoben hatte. Seit mehr als zehn Jahren wurden die Minen, die Aurélien Jordan, der Großvater, auf der Höhe der Monts Bleuses entdeckt hatte, nicht mehr betrieben, denn man war auf sehr schlechte Adern gestoßen, in denen das Erz so stark mit Schwefel und Phosphor durchsetzt war, daß der Hochofenprozeß nicht mehr die Gestehungskosten hereinbrachte. Der Abbau war also eingestellt, und der Hochofen der Crêcherie wurde nun durch die Minen von Granval bei Brias versorgt, deren ziemlich gutes Erz durch eine eigene kleine Bahn herangeschafft wurde, wie übrigens auch die Kohlen aus den benachbarten Gruben. Aber das verursachte große Spesen, und Soeurette dachte oft an das chemische Verfahren, von dem Lucas gesprochen hatte und das vielleicht die Wiederaufnahme des Bergwerksbetriebes ermöglichen würde. Und ihr Wunsch, den Freund zu befragen, ehe ihr Bruder eine Entscheidung traf, war auch auf die Erwägung zurückzuführen, daß es zum mindesten notwendig wäre, den Wert dessen zu kennen, was man an Delaveau verkaufte, wenn es wirklich zum Verkauf kommen sollte.

Jordans sollten, nach mehr als zwölfstündiger Reise, mit dem Sechsuhrzug ankommen, und Lucas ließ sich von dem Wagen, der sie vom Bahnhof abholen sollte, mitnehmen, um sie zu erwarten. Jordan, eine kleine, schwächliche Gestalt mit länglichem sanften Gesicht, matten braunen Haaren und ebensolchem Bart, entstieg dem Abteil als erster, in einen Pelzrock gehüllt, obgleich der schöne Septembertag angenehm warm war. Mit seinen schwarzen, glänzenden, scharfblickenden Augen, in denen seine ganze Lebensenergie zusammengefaßt zu sein schien, bemerkte er Lucas sofort.

»Guten Tag, lieber Freund! Wie liebenswürdig von Ihnen, daß Sie uns erwartet haben! Es ist ein schreckliches Unglück, der arme Vetter ist so ganz allein da unten gestorben, und ich mußte ihn beerdigen. Und mir sind Reisen so entsetzlich! – Nun, jetzt ist's vorüber, und wir sind wieder da!«

»Hoffentlich gesund und nicht zu sehr ermüdet?« fragte Lucas.

»Nein, nicht zu sehr, ich habe glücklicherweise schlafen können.«

Soeurette, die sorglich darüber gewacht hatte, daß keine der Decken, die sie vorsichtshalber mitgenommen hatte, vergessen werde, kam nun auch heran. Sie war gar nicht hübsch, von kleiner Gestalt, gleich ihrem Bruder, mit blassem matten Gesicht und dem unauffälligen, unbedeutenden Wesen einer Frau, die sich damit begnügt, eine gute Wirtschafterin und Krankenpflegerin zu sein. Aber ihr liebevolles Lächeln erhellte mit unbeschreiblichem Zauber ihr reizloses Gesicht, in dem nur die strahlenden Augen schön waren. Sie hatte bisher nur ihren Bruder geliebt, sie liebte ihn als ein von der Welt abgeschlossenes Mädchen, das ihrem Gotte die ganze Welt opfert. Ehe sie noch an Lucas das Wort richtete, rief sie dem Bruder zu:

»Martial, nimm dein Halstuch um, du wirst dich erkälten!«

Dann wandte sie sich in herzlichstem Tone an Lucas:

»Wie sehr müssen wir uns bei Ihnen entschuldigen, Herr Froment, und was haben Sie von uns gedacht, als Sie uns bei Ihrer Ankunft nicht hier trafen! Haben Sie sich wenigstens behaglich gefühlt bei uns, hat man Sie gut bedient?«

»Ausgezeichnet, ich habe wie ein Fürst gelebt.«

»Oh, Sie scherzen! Vor meiner Abreise habe ich alle Anordnungen getroffen, damit es Ihnen ja an nichts fehle. Aber ich war nicht da, um alles zu beaufsichtigen, und Sie können sich nicht vorstellen, welche Vorwürfe ich mir gemacht habe, daß wir Sie so allein in unserem leeren Hause gelassen haben.«

Sie bestiegen nun den Wagen, und Lucas beruhigte sie vollständig, indem er ihnen versicherte, daß er zwei höchst inhaltsreiche Tage verlebt habe, von denen er ihnen erzählen werde. Als sie auf der Crêcherie ankamen, wurde Jordan, obgleich es schon Nacht geworden war, nicht müde, um sich zu blicken, so überglücklich, wieder in seine gewohnte Lebensweise zurückzukehren, daß er laute Freudenrufe ausstieß. Es schien ihm, als ob er viele Wochen in der Fremde gewesen sei. Wie konnte man nur Vergnügen daran finden, von Ort zu Ort zu ziehen, wenn das ganze menschliche Glück in dem engen Winkel lag, in dem man dachte und arbeitete, in dem das Geleise der Gewohnheit einen der Mühe überhob, zu seinen Füßen zu blicken? Nachdem er sich rasch gewaschen hatte, bestand er darauf, während Soeurette sich mit der Vorbereitung zum Abendessen befaßte, Lucas mit in sein Laboratorium zu führen. Er konnte es nicht erwarten, wieder den Fuß dahin zu setzen, und er sagte mit seinem leisen Lachen, daß er nicht eher Appetit zum Essen haben könne, als bis er ein wenig von der Luft des Raumes eingeatmet habe, in dem er sein Leben verbrachte.

»Das ist mein Lieblingsgeruch, mein lieber Freund. Jawohl, von allen Gerüchen, die es gibt, liebe ich den am meisten, der hier in dem Raume herrscht, in dem ich arbeite. Dieser Geruch begeistert mich und regt mich an.«

Jordan hatte an einem Knopf gedreht, und der ganze Raum erstrahlte in hellem elektrischen Lichte.

Das Laboratorium war ein weiter und hoher Saal in Ziegel- und Eisenkonstruktion, dessen große Fenster auf den grünen Park sahen. Ein mächtiger, mit Instrumenten aller Art bedeckter Tisch nahm die Mitte ein, während längs der Wände Apparate von seltsamen Formen sich aufreihten, nebst Modellen, Zeichnungen und elektrischen Öfen im verkleinerten Maßstabe in den Ecken. Durch die ganze Länge des Raumes zog sich ein Netz elektrischer Drähte, die die Kraft des Dynamos aus dem benachbarten Schuppen führten und zu den Apparaten, Maschinen und Öfen leiteten. Und inmitten dieser ernsten und kahlen wissenschaftlichen Umgebung war vor einem der Fenster ein weiches und warmes Nest eingerichtet, eine behagliche Ecke, mit niedrigen Bibliothekschränken und weichen Polstersesseln, einem Diwan, auf dem der Bruder zu bestimmten Stunden schlummerte, einem kleinen Tische, an dem die Schwester saß, über ihn wachte und ihm als treuer Sekretär und Mitarbeiter diente.

»Da wär' ich also wieder!« sagte Jordan. »Ich fühle mich doch nur zu Hause wohl! Und gerade als mich die unglückliche Nachricht traf, die mich zur sofortigen Abreise zwang, war ich mit einem Experiment beschäftigt, das mich ungeheuer interessierte. Das muß ich gleich wieder aufnehmen. Ach, wie ist mir wohl!«

Er lachte wieder leise, sein Gesicht hatte mehr Farbe, sein ganzes Wesen war lebhafter als sonst. Er streckte sich auf den Diwan und lud auch Lucas zum Sitzen ein.

»Lieber Freund, wegen der Angelegenheiten, deretwegen ich mir die Freiheit nahm, Sie zu mir zu bitten, können wir ja später sprechen, nicht wahr? Übrigens muß auch unbedingt Soeurette dabei sein, denn sie hat sehr viel praktischen Verstand. Wenn es Ihnen recht ist, so lassen wir das, bis wir gegessen haben, zum Nachtisch. Ach, ich freue mich so, daß ich Sie hier bei mir habe und daß ich mit Ihnen von meinen Untersuchungen sprechen kann! Es geht nicht sehr schnell damit, aber ich arbeite, und das ist die Hauptsache, wie Sie wissen. Es genügt, wenn man zwei Stunden täglich arbeitet, um die Welt zu erobern.«

Der sonst so Schweigsame wurde gesprächig und erzählte von seinen Arbeiten, von denen er nie zu jemand sprach, außer zu den Bäumen seines Parkes, wie er scherzend sagte. Da der elektrische Schmelzofen schon erfunden war, so hatte er zuerst nichts anderes gesucht als dessen praktische Anwendung zum Schmelzen des Eisenerzes. In der Schweiz, wo die reichlich vorhandene Wasserkraft billige elektrische Anlagen ermöglichte, hatte er Öfen gesehen, die unter sehr vorteilhaften Bedingungen Aluminium produzierten. Warum sollte man sie nicht auch für Eisen verwenden können? Es bedurfte, um das Problem zu lösen, nur der richtigen Anwendung des Prinzipes auf den gegebenen Fall. Die gegenwärtigen Hochöfen erzeugten eine Temperatur von nicht über 1600 Grad, während mit den elektrischen Öfen 2000 Grad zu erzielen wären, was einen raschen, vollständigen und durchaus gleichmäßigen Schmelzprozeß ermöglichen würde. Und er hatte ohne Mühe den Ofen entworfen, wie er sich ihn zu diesem Zwecke dachte: ein einfacher, aus Ziegeln hergestellter Würfel von zwei Meter Kantenlänge, mit einem Herd und einem Tiegel aus Magnesia, der feuerfestesten aller bekannten Materien. Er hatte ferner das Volumen der Elektroden, zweier starker Kohlenstäbe, berechnet, und seine erste wirkliche Entdeckung hatte darin bestanden, daß er den Gedanken gehabt hatte, diesen Stäben unmittelbar den Kohlenstoff zu entnehmen, der nötig war, um dem Erz den Sauerstoff zu entziehen, so daß der ganze Prozeß außerordentlich vereinfacht wurde und sich fast ohne lästige Schlackenbildung vollzog. Aber wenn auch der Ofen fertig war, wenigstens im Entwurf, so handelte es sich noch immer darum, ihn in Tätigkeit zu setzen, so daß, er dauernd und verläßlich arbeite und sich den Bedürfnissen der Industrie anpasse.

»Sehen Sie«, sagte er, auf ein Modell in einer Ecke deutend, »da haben Sie ihn, meinen elektrischen Ofen. Natürlich müßte er noch vervollkommnet werden, es haften ihm noch viele Fehler an, die ich noch nicht habe beseitigen können. Trotzdem hat er mir schon, so wie er da ist, vortreffliche Proben geliefert, und ich nehme an, daß eine Batterie von zehn solchen Öfen, bei einer Arbeit von zehn Stunden täglich, das gleiche Resultat liefern würde wie drei Hochöfen, die Tag und Nacht brennen. Und welch leichte, völlig gefahrlose Arbeit, die ein Kind besorgen könnte, indem es einfach einige Knöpfe dreht! Aber ich muß gestehen, daß mein Roheisen mich ebenso teuer zu stehen kommt, als ob es Silberbarren wären. Darauf spitzt sich nun die ganze Frage zu. Mein Ofen ist einstweilen nichts als ein Laboratoriumsspielzeug, und er kann erst dann für die Industrie in Betracht kommen, wenn ich in der Lage bin, ihm die erforderliche Elektrizität zu einem so niedrigen Preise zu liefern, daß er das Schmelzen des Erzes mit geringen Kosten ermöglicht.«

Er setzte dann weiter auseinander, daß er den Ofen seit einem halben Jahre ruhen lasse und sich ausschließlich mit der Frage der elektrischen Kraftübertragung befasse. Wäre es nicht schon eine Ersparnis, die Kohle gleich am Gewinnungsorte zu verbrennen und die elektrische Kraft dann zu den Fabriken zu leiten? Auch das sei eine Frage, mit der sich viele Gelehrte schon seit Jahren abmühten. Das Unglück sei nur, daß sich ein enormer Kraftverlust ergebe.

»Es sind neulich wieder Experimente gemacht worden«, sagte Lucas mit zweifelnder Miene. »Ich glaube, daß der Kraftverlust nicht zu vermeiden ist.«

Jordan lächelte mit der sanften Beharrlichkeit, dem unerschütterlichen Glauben, der ihn in seinen Untersuchungen nicht einen Augenblick wanken ließ, wenn er oft Monate und Monate brauchte, um nur eine einzige kleine Wahrheit festzustellen.

»Man darf nie glauben, ehe man Gewißheit hat. Ich habe schon ganz gute Resultate erzielt, und ich bin überzeugt, daß man eines Tages die Elektrizität nach Belieben aufspeichern, verteilen und in die Ferne leiten wird, ohne irgendwelchen Verlust. Und wenn ich zwanzig Jahre brauchen sollte, dann werde ich eben zwanzig Jahre brauchen. Man geht ganz einfach jeden Morgen von neuem an die Arbeit, man fängt wieder von vorne an, solange man nicht gefunden hat, was man sucht. Was sollte ich anderes tun, als immer wieder von vorne anfangen?«

Er sagte das mit so schlichter, unbewußter Größe, daß Lucas tief bewegt war, wie vor der Tat eines Helden. Der Mann stand da vor ihm, klein und schwächlich, von zarter, angegriffener Gesundheit, hüstelnd und in Tücher gewickelt, inmitten dieses weiten Saales, der erfüllt war von gewaltigen Apparaten, durchkreuzt von Drähten, die die Kraft des Blitzes in sich trugen – und alles dies durchdrungen, beherrscht und nutzbar gemacht von diesem kleinen, schwachen Menschen, der darin umherging, sich anstrengte, sich abmühte wie ein kleines Insekt im Staub der Erde. Woher nahm er nur nicht bloß die geistige Kraft, sondern auch die physische Ausdauer, um Arbeiten zu unternehmen und auszuführen, die das ganze Leben mehrerer kräftiger und gesunder Männer zu erfordern schienen? Er, der sich mit kleinen leisen Schritten bewegte, dessen schmale Brust kurz und schwach atmete, hob mit seinen dünnen, durchsichtigen Kinderhänden eine ganze Welt empor.

Nun erschien aber Soeurette und rief heiter:

»Ja, wollen die Herren denn nicht endlich zum Essen kommen? Mein lieber Martial, ich werde das Laboratorium abschließen, wenn du nicht vernünftig bist.«

Das Eßzimmer und der Salon, zwei ziemlich kleine Räume, warme, behagliche Nester, in denen eine Frauenhand waltete, sahen beide auf den Park und darüber hinaus auf Wiesengründe und bebaute Äcker, bis in die endlose Ferne der Roumagne. Aber jetzt zur Nachtzeit waren die Vorhänge herabgelassen, obgleich der Abend milde war. Lucas konnte wieder bemerken, welch außerordentliche Sorgfalt die Schwester dem Bruder widmete. Er befolgte eine genau vorgeschriebene Diät, genoß eigens für ihn bereitete Speisen, hatte sein eigenes Brot, selbst sein eigenes Wasser, das vorher leicht erwärmt wurde. Er aß wie ein Vogel, ging zeitig schlafen und stand zeitig auf, wie die Hühner, die sehr kluge Geschöpfe sind. Während des Tages unterbrachen dann kurze Spaziergänge und Ruhepausen die Stunden der Arbeit. Denen, die sich über das außerordentliche Maß von Arbeit wunderten, das er zustande brachte, die ihn für einen Menschen hielten, der vom Morgen bis zum Abend schaffte und erbarmungslos gegen sich selbst wütete, erwiderte er, daß er kaum drei Stunden des Tages arbeite, zwei am Vormittag und eine am Nachmittag. Und dabei teilte er auch noch die zwei Stunden des Vormittags durch eine kleine Erholungspause, da er nicht imstande war, sich länger als eine Stunde angestrengt mit einer Sache zu beschäftigen, ohne Schwindelanfälle zu bekommen. Er hatte nie mehr leisten können, und sein ganzes Schaffen beruhte nur auf seiner Willenskraft, seiner Zähigkeit, der begeisterten Liebe, mit der er eine einmal empfangene Idee hegte und nährte und mit der er in unablässiger, tapferer Geduld ihre Verkörperlichung erstrebte, auch wenn Jahre darüber hingingen.

Lucas fand hier die Antwort auf die Frage, die er sich oft gestellt hatte, woher der schwache, kränkliche Jordan die Kraft zu so außerordentlichen Arbeitsleistungen nehme. Das Ganze lag in der Methode, in der weisen und wohlberechneten Verwendung seiner körperlichen Mittel, so gering diese auch waren. Ja, er machte sich sogar seine Schwäche nutzbar, verwertete sie als Schutz gegen Störungen von außen. Vor allem aber wollte er immer dasselbe, widmete seiner Aufgabe jede Minute, über die er verfügte, und zwar ohne jede Möglichkeit einer Entmutigung, ohne Erschlaffung, mit der langsamen, unausgesetzten, hingebungsvollen Beharrlichkeit, die Berge versetzt. Berechnet wohl einer die Summe von Leistung, die man aufhäufen kann, wenn man jeden Tag nur zwei Stunden der Arbeit widmet, einer nützlichen, fest zum Ziele strebenden Arbeit, die man durch keine Faulheit, durch keine Laune jemals stören läßt? Sie gleicht den Körnern, die schließlich den Sack füllen, den Wassentropfen, die den Fluß schwellen. Stein auf Stein gelegt, so steigt der Bau in die Höhe, bis er selbst die Berge überragt. Und so geschah es, daß dieser kleine, kränkliche Mann, dessen Hals in Tücher gehüllt war und der warmes Wasser trank, um sich keine Erkältung zuzuziehen, ein gewaltiges Lebenswerk zustande brachte dadurch, daß er seine Arbeit nach einer festen, seiner Eigenart wunderbar angepaßten Methode regelte und daß er ihr nur die wenigen Stunden widmete, in denen seine geistige Kraft vollkommene Herrscherin über seine körperliche Schwäche war.

Die Mahlzeit verlief sehr freundschaftlich und heiter. Im ganzen Hause gab es nur weibliche Bedienung, denn Soeurette fand die männlichen Diener zu derb und zu lärmend für ihren Bruder. An den Tagen größerer Arbeiten nahmen Kutscher und Stallknecht lediglich einige Leute als Helfer. Und die weiblichen Dienstboten, sorgfältig ausgewählt, von angenehmer Erscheinung und mit leichten, geschickten Händen, trugen viel bei zu dem glücklichen Frieden des warmen, wohlverschlossenen Hauses, zu dem nur einige wenige nahe Freunde Zutritt hatten.

Die Gerichte waren einfach: Fleischsuppe, eine Barbe aus der Mionne, in Butter gebacken, ein gebratenes Huhn und Salat.

»Wirklich, Sie haben sich also seit Samstag nicht allzusehr gelangweilt?« fragte Soeurette, als sie miteinander in dem kleinen behaglichen Eßzimmer bei Tische saßen.

»Nicht im geringsten«, erwiderte Lucas. »Sie machen sich sogar keine Vorstellung davon, wie sehr ich in Anspruch genommen war.«

Und er erzählte ihnen zuerst seine Erlebnisse vom Samstagabend, von dem Zustand dumpfer Auflehnung, in dem er Beauclair gefunden hatte, von dem Laib Brot, den Nanet gestohlen hatte, von der Verhaftung Langes, von seinem Besuche bei Bonnaire, dem Opfer des Streiks. Aber infolge einer seltsamen Zurückhaltung, über die er später selbst erstaunt war, glitt er über seine Begegnung mit Josine hinweg, ja, er nannte sie nicht einmal.

»Die armen Leute!« sagte das junge Mädchen mitleidsvoll. »Dieser entsetzliche Streik hat sie alle auf Brot und Wasser gesetzt; und die, die Brot haben, sind noch gut dran! Was sollte man tun? Wie ihnen zu Hilfe kommen? Das Almosen ist nur eine wirkungslose Erleichterung, und Sie können sich nicht vorstellen, wie trostlos es mich diese zwei Monate gemacht hat, daß ich sehen mußte, wie wir so ganz und gar machtlos waren, wir, die Reichen und Glücklichen!«

Sie war eine Menschenfreundin, eine Schülerin des Großvaters Michon, der sie als Kind auf den Schoß zu nehmen pflegte und ihr schöne Geschichten erzählte, die er für sie erfand, von Städten, in denen die Menschen inmitten eines ewigen Frühlings alle ihre Glücksträume verwirklicht sahen.

»Was tun? Was tun?« wiederholte sie schmerzlich, ihre von Liebe und Mitleid erfüllten Augen auf Lucas richtend. »Man müßte doch irgend etwas tun?«

Und in starker Erregung rief Lucas aus der Tiefe seines Herzens:

»Jawohl, es ist Zeit. Wir müssen handeln!«

Aber Jordan schüttelte den Kopf. In sein Gelehrtendasein eingeschlossen, befaßte er sich niemals mit Politik. Er verachtete sie ungemein, übrigens sehr mit Unrecht, denn es ist schließlich notwendig, daß die Menschen sich für die Art interessieren, wie sie regiert werden. Aber von der Höhe des reinen Gedankens herab, auf der er lebte, hielt er die Ereignisse und Zufälle des Tages für unbedeutend, für kleine Unebenheiten der Straße. Nach seiner Anschauung führte allein die Wissenschaft die Menschen zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit, zum endgültigen Glück, zu jenem vollkommenen Reich der Zukunft, zu dem die Menschheit langsamen und qualvollen Schrittes hinzieht. Wozu frommte es also, sich um sonstige Dinge zu kümmern? Genügte es nicht, daß die Wissenschaft vorwärtsschritt? Und sie schreitet vorwärts, jede ihrer Eroberungen steht für alle Zeiten fest. Welche Katastrophen sich daher auch auf dem Wege ereignen mögen, am Ziele winkt der Sieg des Lebens, und die Menschheit hat endlich ihre Bestimmung vollendet. Und er, der sanft und mildherzig war wie seine Schwester, verschloß sich die Ohren gegen die Kämpfe der Gegenwart, und schloß sich in sein Laboratorium ein, in dem er am Glücke der Zukunft arbeitete.

»Handeln?« sagte er nun. »Der Gedanke ist eine Tat, und die fruchtbarste, die auf die Welt wirken kann. Kennen wir alle Keime, die im Begriffe sind zu sprießen? Wenn das Unglück dieser Armen mir das Herz zerreißt, so finde ich Trost in dem Gedanken, daß die Saat unausweichlich eines Tages aufgehen muß.«

Lucas, der sich selbst in einem fieberischen und unklaren Seelenzustande befand, wollte bei diesem Thema nicht länger verweilen und erzählte nun von seinem Sonntag; seinem Besuche auf der Guerdache, dem Mittagessen, zu dem er geladen worden, den Menschen, mit denen er da zusammengetroffen war, und was sich ereignete und was gesagt wurde. Er fühlte jedoch deutlich, daß seine Hörer kühl wurden, daß alle diese Leute sie nicht interessierten.

»Wir sehen Boisgelins sehr wenig, seitdem sie in Beauclair sind«, erklärte Jordan mit seiner ruhigen Offenheit. »Sie sind in Paris sehr liebenswürdig gegen uns gewesen, aber wir leben hier in solcher Zurückgezogenheit, daß unsere Beziehungen zu ihnen allmählich fast aufgehört haben. Dann muß ich auch sagen, daß unsere Ideen und Gewohnheiten zu verschieden voneinander sind. Bei Delaveau muß man anerkennen, daß er ein kluger und fleißiger Mensch ist, der ganz in seiner Tätigkeit aufgeht. Und was endlich die gute Gesellschaft von Beauclair betrifft, so will ich Ihnen nicht verhehlen, daß sie mir so zuwider ist, daß ich ihr meine Tür unbedingt verschließe, und daß es mir Vergnügen macht, sie dadurch zu beleidigen und von ihr als gefährlicher Narr gemieden zu werden.«

Soeurette lachte.

»Martial übertreibt ein wenig. Der Abbé Marle kommt zu uns, der ein famoser Mann ist, ebenso der Doktor Novarre und der Lehrer Hermeline, deren Gespräche mich interessieren. Und wenn es auch wahr ist, daß wir lediglich in Höflichkeitsbeziehungen zu den Besitzern der Guerdache stehen, so hege ich doch eine aufrichtige Freundschaft für die gutherzige und liebenswürdige Frau Boisgelin.«

Jordan neckte sie, wie das manchmal seine Gewohnheit war:

»Sage nur gleich, daß ich allein die Leute vertreibe, und daß du, wenn ich nicht da wäre, unsere Tür angelweit öffnen würdest!«

»Selbstverständlich!« versetzte sie munter. »Das Haus ist so, wie du es haben willst. Wünschst du, daß ich einen großen Ball gebe? Ich werde den Unterpräfekten Châtelard, den Bürgermeister Gourier, den Präsidenten Gaume, den Hauptmann Jollivet, die Ehepaare Mazelle, Boisgelin und Delaveau einladen, und du kannst den Ball mit Frau Mazelle eröffnen.«

Sie fuhren fort in scherzendem Tone zu plaudern, glücklich über ihre Wiederkehr an den häuslichen Herd und über die Gegenwart des Freundes. Beim Nachtisch wurde dann endlich die große, ernste Frage zur Sprache gebracht. Die beiden Dienstmädchen, die mit stillen, leichten Bewegungen aufgetragen hatten, waren geräuschlos hinausgegangen. Und in dem kleinen, friedlichen Räume herrschte jene Atmosphäre innigen, freundschaftlichen Beisammenseins, in der sich die Herzen und die Geister öffnen.

»Hören Sie also, lieber Freund«, sagte Jordan, »was ich von Ihrer Freundschaft erbitten will. Prüfen Sie die Frage und sagen Sie mir einfach, was Sie an meiner Stelle tun würden.«

Er legte ihm die ganze Sache in allen Einzelheiten dar und erklärte ihm, welchen Standpunkt er darin infolge seiner Neigungen und seiner ganzen Geistesrichtung einnehme. Er hätte sich längst des Hochofens entledigt, wenn dessen Betrieb nicht seinen altherkömmlichen, unverrückbaren Gang sozusagen von selbst gegangen wäre. Der Betrieb warf genügenden Gewinn ab, aber dieser zählte in seinen Augen nicht. Er war reich genug, und um andererseits diesen Gewinn zu verdoppeln und zu verdreifachen, hätte ein großer Teil der Einrichtungen erneuert, das Produkt verbessert werden müssen, mit einem Wort, es wäre die volle Hingabe eines Menschen an das Unternehmen erforderlich gewesen. Das aber konnte er und wollte er nicht tun, um so mehr, als diese alten Hochöfen, deren Methode nach seiner Ansicht kindlich und barbarisch war, ihn nicht interessierten und ihm von keinem Nutzen für seine Experimente mit den elektrischen Öfen sein konnten, auf die er alle seine Gedanken konzentrierte. Er hatte daher seinen Betrieb im alten Geleise weitergehen lassen, sich so wenig wie möglich darum gekümmert und nur die Gelegenheit abgewartet, um sich gar nicht mehr darum zu kümmern.

»Sie begreifen nun meine Lage, nicht wahr, lieber Freund? Da stirbt plötzlich mein alter Laroche, und die ganze Last des Betriebes, alle damit verbundenen Sorgen fallen auf mich. Sie können sich gar nicht vorstellen, was es da alles zu tun gibt, ein Menschenleben reichte kaum dazu hin, wenn man die Sache ernstlich anfassen wollte. Um keinen Preis der Welt werde ich aber meine Studien und Forschungen aufgeben. Das beste ist also, ich verkaufe den Hochofen, und ich bin dazu auch so ziemlich entschlossen, aber ich lege Wert darauf, vorher Ihre Meinung zu hören.«

Lucas hatte nichts einzuwenden.

»Es versteht sich von selbst«, sagte er, »daß Sie nicht Ihre Arbeiten verlassen und Ihre ganze Existenz umwandeln können. Sie und die Welt würden zuviel dabei verlieren. Trotzdem glaube ich, daß Sie noch überlegen sollten, es gibt vielleicht noch andere Auswege. Und dann, um zu verkaufen, bedarf es eines Käufers.«

»Oh, den Käufer habe ich«, erwiderte Jordan. »Delaveau spekuliert schon lange darauf, den Hochofen mit seinen Stahlwerken zu vereinigen. Er hat mich schon gefragt, und ich brauche bloß zu winken.«

Bei dem Namen Delaveau machte Lucas eine kleine Gebärde der Überraschung, denn er begriff nun mit einem Male, warum dieser so unruhig und so dringend in seinen Fragen gewesen. Und als sein Wirt, der die Gebärde bemerkt hatte, ihn fragte, ob er etwas gegen den Direktor der Stahlwerke einzuwenden hätte, erwiderte er:

»Nein, nein, ich halte ihn für einen klugen und tätigen Mann.«

»Gewiß«, sagte Jordan, »und er böte den Vorzug, daß die Sache in erfahrene Hände käme. Ich würde mich wohl, fürchte ich, auf sehr lange Raten einlassen müssen, denn es fehlt ihm an Geld, Boisgelin hat kein flüssiges Kapital mehr. Aber daran liegt mir schließlich nichts, ich kann warten, die Sicherstellung auf die Werke würde mir genügen.«

Dann unterbrach er sich und sah Lucas gerade in die Augen.

»Nun also, raten Sie mir, ein Ende zu machen und mit Delaveau in Unterhandlung zu treten?«

Der junge Mann zögerte mit der Antwort. Ein starkes Unbehagen, ein unbesieglicher Widerwille erfüllte sein ganzes Wesen bei dem Gedanken an diese Transaktion. Was war es denn nur? Warum empörte sich alles in ihm, als ob er mit dem Rat, den Hochofen diesem Manne auszuliefern, eine schlechte Tat beginge, die ihm sein Gewissen nie verzeihen würde? Trotzdem konnte er keinen vernünftigen Grund finden, der ihm das Recht gegeben hätte, das Gegenteil zu raten. So sagte er endlich:

»Alles, was Sie mir da sagen, ist durchaus vernünftig, und ich kann Ihnen nur zustimmen. Dennoch möchte ich Ihnen raten, sich Zeit zu lassen, noch ein wenig zu überlegen.«

Bis jetzt hatte Soeurette sehr aufmerksam zugehört, ohne sich einzumischen. Sie schien den geheimen Widerwillen Lucas' zu teilen und warf von Zeit zu Zeit einen unruhigen Blick auf ihn, als erwarte sie ängstlich seinen Ausspruch.

»Es handelt sich nicht nur um den Hochofen«, sagte sie endlich, »sondern auch um das sehr große Felsengebiet, das dazu gehört und meines Erachtens nicht davon zu trennen ist.«

Ihr Bruder machte eine ungeduldige Gebärde, die seinen Wunsch zu erkennen gab, sich der ganzen Sache rasch und mit einem Schlage zu entledigen.

»Delaveau soll auch das Terrain haben, wenn er es will. Was sollen wir damit anfangen? Nichts als nackte Felsen, auf denen nicht einmal Unkraut wachsen will. Das Ganze ist wertlos, da die Mine nicht mehr ertragsfähig ist.«

»Ist das so sicher, daß sie nicht mehr ertragsfähig ist? Ich erinnere mich, Herr Froment, daß Sie uns eines Abends erzählten, daß man neuerdings in der Lage sei, ertraglose Minen im Osten nutzbar zu machen, dank einem neuen chemischen Verfahren. Warum ist dieses Verfahren bei uns noch nicht versucht worden?«

Abermals hob Jordan die Arme mit ungeduldiger Gebärde empor.

»Warum, liebes Kind, warum? Weil Laroche nicht unternehmend genug war, weil ich selbst keine Zeit hatte, mich damit zu befassen, weil alles in einem gewissen hergebrachten Geleise ging und anders nicht zu gehen vermochte! Wenn ich alles verkaufen will, so tue ich es doch gerade, weil ich nichts mehr davon hören will, da es vollkommen ausgeschlossen ist, daß ich selbst die Sache leite und da es mich krank macht, daran zu denken.«

Er war aufgestanden, um im Zimmer auf und ab zu gehen, und sie schwieg, als sie ihn so erregt sah, aus Furcht, ihn in Fieber zu versetzen.

»Manches Mal«, fuhr er fort, »habe ich Lust, Delaveau zu rufen und ihm zu sagen, er soll alles nehmen, auch wenn er mir nichts dafür zahlt. Ich strebe nicht nach Gewinn, und auch die elektrischen Öfen, auf deren Erfindung ich mit ganzer Seele hinarbeite, will ich niemals, wenn mir die Erfindung glücken sollte, zu meinem Vorteil ins Werk setzen, um Geld damit zu machen, sondern ich werde sie der Allgemeinheit geben, zur Bereicherung und zur Erleichterung aller. – Also, das ist abgemacht. Sobald unser Freund meinen Plan billigt, werden wir morgen die Frage der Abtretung gemeinsam studieren, und ich mache ein Ende.«

Während Lucas, immer noch von dem Gefühl des Widerwillens beherrscht, nichts antwortete, weil er sich nicht entschließen konnte, eine Verantwortung auf sich zu nehmen, schien Jordan plötzlich von einem Gedanken erfaßt, der ihn erregte. Er schlug seinem Gaste vor, ihn hinauf nach dem Hochofen zu begleiten, um zu sehen, wie es dem Betriebe während der drei Tage seiner Abwesenheit ergangen sei.

»Ich bin nicht ohne Unruhe. Es ist nun eine Woche her, daß Laroche tot ist, und ich habe ihn noch nicht ersetzt, sondern habe meinen Gußmeister Morfain mit der Leitung der Arbeit betraut. Er ist ein ausgezeichneter Mensch, ist da oben geboren und im Feuer aufgewachsen. Trotzdem ist die Verantwortung sehr schwer für einen einfachen Arbeiter.«

Von Besorgnis ergriffen bat Soeurette:

»Martial, bedenke doch, du bist eben von der Reise zurückgekehrt, bist ermüdet, du wirst doch nicht um zehn Uhr nachts ins Freie gehen wollen!«

Er umarmte und küßte sie zärtlich.

»Laß nur, Kleines, mach dir keine Sorgen. Du weißt ja, ich tue nie mehr als ich kann. Ich versichere dir, daß ich besser schlafen werde, wenn ich mich beruhigt habe. Die Nacht ist nicht kalt, und ich werde obendrein meinen Pelz anziehen.«

Sie band ihm noch ein großes Tuch um den Hals und begleitete ihn bis über die Freitreppe, um sich zu vergewissern, daß die Nacht in der Tat köstlich milde war: Bäume, Gewässer und Felder lagen in erquickender Ruhe unter einem dunkelsamtenen, sternfunkelnden Himmel.

»Ich vertraue ihn Ihnen an, Herr Froment. Lassen Sie ihn nicht zu lange draußen bleiben.«

Die beiden Männer stiegen die in den Fels gehauene schmale Treppe hinauf, die gleich hinter dem Wohnhause begann und zu dem Felsplateau in halber Höhe der mächtigen Wand der Monts Bleuses führte, auf dem der Hochofen stand. Zwischen Tannen und Schlinggewächsen führte der schmale Pfad wie durch ein Labyrinth empor, durch eine Natur von köstlicher, unberührter Wildheit. Bei jeder Wendung des Weges konnten sie die schwarze Masse des Hochofens sehen, der immer deutlicher aus der bläulichen Nacht hervortrat, mit den seltsamen Umrissen seiner Hilfsapparate, die sich rings um den Zentralherd gruppierten.

Jordan stieg mit kleinen leichten Schritten voran, und als er oben angekommen war, blieb er vor einer Felsmasse stehen, aus der ein kleines Licht wie ein Stern hervorleuchtete.

»Warten Sie«, sagte er, »ich will nur nachsehen, ob Morfain nicht in seiner Wohnung ist.«

»Wo denn, in seiner Wohnung?« fragte Lucas erstaunt.

»Hier, in dieser alten Grotte, die er zu seiner Behausung gewählt hat, und in der er mit seinem Sohn und seiner Tochter beharrlich sitzenbleibt, obgleich ich ihm wiederholt ein viel wohnlicheres Häuschen angeboten habe.«

In der Schlucht von Brias bewohnte eine zahlreiche arme Bevölkerung derartige Höhlen. Morfain blieb dort aus freier Wahl, denn hier war er vor vierzig Jahren geboren worden, hier lebte er dicht bei seiner Arbeit, fast unmittelbar an der Seite des Hochofens, der sein Leben, sein Gefängnis und sein Königreich war. Er hatte übrigens als Höhlenmensch seine Wohnstätte mit manchem Komfort der Jetztzeit ausgestattet, hatte die beiden Grottenmündungen mit einer starken Mauer verschlossen, und in dieser eine feste Tür und zwei Fenster mit kleinen Glasscheiben angebracht. Das Innere war in drei Räume geteilt, einer war Schlafzimmer für Vater und Sohn, einer Schlafzimmer für die Tochter und einer gemeinschaftlicher Wohnraum, als Eßzimmer, Küche und Werkstatt. Alle drei Räume mit ihren Mauerwänden und der gewölbten Felsendecke waren wohnlich und nett, die Einrichtungsstücke waren aus massivem Holz, mit Beil und Messer in primitiver Weise selbst verfertigt.

Wie Jordan schon erwähnt hatte, waren die Morfains vom Vater auf den Sohn Gußmeister auf der Crêcherie. Der Großvater hatte bei der Gründung mitgeholfen, und heute überwachte der Enkel den Abstich nach achtzigjähriger, ununterbrochener Familienherrschaft. Das verlieh ihm ein stolzes Selbstgefühl wie ein unantastbarer Adelsbrief. Vor vier Jahren war seine Frau gestorben und hatte ihn mit einem sechzehnjährigen Sohn und einer vierzehnjährigen Tochter zurückgelassen. Der Sohn war sogleich beim Hochofen in die Arbeit getreten, die Tochter hatte die Betreuung der Männer übernommen, kochte für sie und hielt das Haus in Ordnung. So ging das bis heute weiter, der Sohn war nun zwanzig, das Mädchen achtzehn Jahre alt, und der Vater sah geruhig, wie sein Geschlecht sich fortsetzte, und gedachte dereinst seinem Sohne den Hochofen zu übergeben, wie ihn sein Vater ihm übergeben hatte.

»Sind Sie da, Morfain?« sagte Jordan, die Tür aufdrückend, die nur durch eine einfache Klinke schloß. »Ich bin zurückgekommen und wollte sehen, wie es hier steht.«

In der von einer kleinen, rußenden Lampe erhellten Felsenhöhle saßen Vater und Sohn an einem Tische und aßen ihre Suppe vor der Nachtarbeit, während das Mädchen sie bediente. Ihre mächtigen Gestalten erfüllten fast ganz den kleinen Raum, in dem das ernste Schweigen herrschte, das sie fast immer bewahrten.

Morfain erwiderte mit tiefer, bedächtiger Stimme:

»Wir haben eine böse Geschichte gehabt, Herr Jordan. Aber ich glaube, daß wir nun ruhig sein können.«

Er hatte sich erhoben gleich seinem Sohne, und stand nun zwischen diesem und seiner Tochter. Alle drei waren Riesengestalten, breitschulterig und hochgewachsen, so daß ihre Stirnen fast die niedrige, rauchgeschwärzte Felsendecke berührten. Sie sahen aus wie wiedererstandene Menschen aus uralter Zeit, diese Abkömmlinge einer Arbeiterfamilie, die in hundertjährigem unablässigen Ringen die Natur bezwungen hatte.

Lucas betrachtete mit Erstaunen den Riesen Morfain, diesen gewaltigen Zyklopen, der das Feuer bändigte. Ein mächtiger Kopf, ein großes, von Flammenglut durchfurchtes und geröstetes Gesicht, eine beulige Stirn, eine Adlernase und tiefglühende Augen über Wangen, die von Lavaströmen verwüstet schienen, ein Mund mit dicken, geschweiften, blutigroten Lippen, und Hände, die die Farbe und die Kraft von stählernen Zangen hatten. Dann wandte Lucas seinen Blick auf den Sohn, Dada, wie er mit seinem Kindernamen immer noch hieß. Auch er war ein Hüne, fast ebenso riesig wie sein Vater, mit dessen breitem Gesicht, der gebieterischen Nase und den glühenden Augen, aber noch nicht so im Feuer gebrannt und gehärtet wie der ältere Mann, und – er konnte lesen – mit einer neuen Gedankenspur im Gesicht, die seine Züge eigenartig milderte und erhellte. Dann sah Lucas die Tochter an, »mein Blauchen«, wie ihr Vater sie zärtlich nannte, denn ihre großen Augen waren blau, so wundervoll strahlend, unergründlich blau, daß man durch sie in einen endlos tiefen, leuchtenden Himmel zu blicken glaubte. Eine herrliche Gestalt von ursprünglicher Schönheit, das schönste, verschlossenste, scheueste Mädchen der Gegend, die aber in ihrer scheuen Verschlossenheit Bücher las und Träumen nachhing, in denen sie Dinge aus der Ferne herankommen sah, die ihr Vater nie gesehen hatte und deren geheime Erwartung sie mit einem Schauer erfüllte. Lucas stand voller Bewunderung vor diesen drei gewaltigen Menschen, diesem Riesengeschlecht, in dem er die Verkörperung des ewigen Mühens der Menschen auf ihrem Wege vorwärts, den Stolz der qualvollen, unaufhörlich erneuten Anstrengung, den uralten Adel der Arbeit erblickte.

Aber Jordan war durch den Bescheid, den er erhalten hatte, von neuer Unruhe erfüllt worden.

»Eine böse Geschichte, Morfain? Was war's denn?« »Ja, Herr Jordan, eines der Windleitungsrohre hatte sich verstopft. Zwei Tage lang habe ich geglaubt, daß es ein Unglück geben würde, und ich habe nicht schlafen können vor Aufregung, daß mir so etwas während Ihrer Abwesenheit zustoßen soll! Vielleicht wollen Sie selbst mitkommen und die Sache ansehen, wenn Sie Zeit haben. Wir sind gerade unmittelbar vor einem Abstich.«

Die beiden Männer vollendeten im Stehen hastig ihre Mahlzeit, während das Mädchen bereits den Tisch abräumte. Sie sprachen nur wenig untereinander, sie verstanden sich durch einen Blick, eine Gebärde. Doch sagte der Vater im Fortgehen zu Blauchen mit seiner rauhen Stimme, in der ein Ton von Zärtlichkeit mitklang:

»Du kannst auslöschen und brauchst uns nicht zu erwarten, wir werden wieder drüben schlafen.«

Und während Morfain und Dada mit Jordan vorausgingen, wandte sich Lucas noch einmal um und sah das Mädchen an der Tür der barbarischen Behausung stehen, hoch und gewaltig wie eine Priesterin aus alter Zeit, mit ihren großen, strahlenden blauen Augen, die traumverloren in die weite Nacht hinausblickten.

Bald erreichten die vier Männer den schwarzen Turm des Hochofens. Nach einem sehr alten Modell gebaut, war er kaum fünfzehn Meter hoch, gedrungen und massig. Allmählich hatte man ihn jedoch mit immer mehr Vervollkommnungen, mit neuen Organen umgeben, die nun eine Art kleines Dorf um ihn bildeten. Da war zunächst die Gußhalle mit ihrem feinen Sandboden, ein neuer, zierlicher Bau mit schlanken Eisensäulen, die das Ziegeldach trugen. Dann zur linken Hand in einem Schuppen mit Glasfenstern das Gebläse, die Dampfmaschine, die dem Ofen den Wind zuführte, während sich zur Rechten zwei Gruppen hoher Zylinder befanden, in denen die Verbrennungsgase zuerst von Staub gereinigt und dazu verwendet wurden, die Luft des Gebläses zu erhitzen, damit sie mit hoher Temperatur in die Schmelzzone des Ofens eintrete. Endlich die Wasserbehälter, die aus zahlreichen Röhren ununterbrochen die Wände des Ofens berieselten, seine Ziegel erfrischten und vor der Verbrennung durch die furchtbare Glut seines Innern bewahrten. So verschwand das Ungetüm fast vollständig unter der Menge der vielgestaltigen Hilfseinrichtungen, die es umgaben, unter einem Gedränge von Bauten und Behältern, einem Gewirre eiserner Röhren, deren Gesamtheit, besonders in der Nacht, ungeheure Umrisse von barbarischer Eigenart zeigte. Oben an der Felswand sah man die Brücke, über die die Wagen mit Erz und Koks auf die Höhe der Gicht gelangten, und der schwarze Zylinder des Ofens war von seiner Mitte bis hinab zur Rast von einer mächtigen eisernen Rüstung umgeben, die dem Mauerwerk als festes Gerüst diente und auf dem die Wasserleitungs- und die vier Windleitungsrohre ruhten. Ganz unten befand sich dann noch der Eisenkasten, der das geschmolzene Metall aufnahm und dessen Abstichöffnung mit einem Pfropf aus feuerfestem Ton verschlossen war. So stand der Ofen da, ein Riesentier von drohender, beängstigender Gestalt, dessen Verdauungsapparat Steine verschlang und geschmolzenes Metall von sich gab.

Kein Geräusch war jedoch zu hören, kein Schein zu sehen. Diese gewaltige Verdauung vollzog sich lautlos und lichtlos. Man hörte nur das ununterbrochene Herabrieseln der Wassertropfen an den Wänden des Ofens, und aus einiger Entfernung das rastlose Stampfen und Pusten der Gebläsemaschine. Bloß drei oder vier Laternen durchdrangen mit schwachem Schein die von den Schatten der mächtigen Bauten noch verdichtete Finsternis, und man unterschied kaum die dunkeln Umrisse der acht Arbeiter der Nachtschicht, die in Erwartung des Abstiches hin und her gingen. Oben auf der Gichtbühne sah man nichts von den Gestalten, die schweigend nach den ihnen von unten gegebenen Zeichen die entsprechende Menge von Erz und Koks in die Gicht schütteten. Kein Ruf war zu hören, keine Flamme zu sehen, es war eine stumme und finstere Verrichtung, etwas Einfaches und doch Riesenhaftes, das sich in tiefer Dunkelheit vollzog, die Jahrhunderte dauernde qualvolle Entbindung der Menschheit von der Frucht der Zukunft.

Von den schlimmen Nachrichten, die er erhalten hatte, erregt, deutete Jordan, als Lucas wieder an seine Seite trat, auf die dunkle Masse der Hochofenanlage.

»Sehen Sie nur, lieber Freund, habe ich nicht recht, daß ich das alles am liebsten ganz abreißen möchte, daß ich dieses ungeschlachte und menschenquälerische Ungetüm durch meine einfachen, reinlichen und leicht zu bedienenden elektrischen Öfen ersetzen will? Seit dem Tage, da die Menschen zum erstenmal ein Loch in die Erde gruben, um das Erz mit Hilfe von angezündeten Baumästen zu schmelzen, hat sich die Metallgewinnung im wesentlichen nicht geändert. Es ist noch immer dieselbe primitive und kindliche Methode, unsere Hochöfen sind noch immer die prähistorischen Erdlöcher, nur zu hohlen Säulen erhöht und vergrößert, in die man noch immer das zu schmelzende Erz und das Brennmaterial durcheinander hinabschüttet, um sie gemeinschaftlich zu verbrennen. Sie gleichen dem Riesenkörper eines höllischen Tieres, das unablässig, mit Kohle und Erz gefüttert wird, das diese in einem Feuersturm verdaut und dann das geschmolzene Metall unten von sich gibt, während die Gase, der Staub, die Schlacken aller Art nach anderen Seiten abgestoßen werden. Das ist der eigentliche Prozeß, dieses langsame Hinabsinken der zu verdauenden Stoffe und deren vollständige Verdauung, dieser Prozeß ist heute derselbe wie zur Urzeit, und alle Erfindungen und Verbesserungen verfolgen nur den Zweck, ihn zu erleichtern. So war früher, als man noch keine Luft einblies, der Prozeß langsamer und das Produkt weniger gut. Dann dachte man daran, kalte Luft einzublasen, dann ist man darauf gekommen, daß die Resultate viel besser waren, wenn man die Luft des Gebläses erhitzte, und schließlich hat man den Gedanken gehabt, die Gase, die früher auf der Krone des Ofens in hoher Flamme nutzlos verbrannten, zur Winderhitzung dienstbar zu machen. So hat der ursprüngliche Hochofen allmählich immer mehr äußere Hilfsorgane angesetzt, die Gebläsemaschine, die Gasreinigungszylinder, die Winderhitzungszylinder und die zahlreichen Leitungsrohre, die ihn wie die Maschen eines Netzes umgeben. Aber soviel man ihn auch vervollkommnet hat, er ist kindlich geblieben trotz seines riesigen Körpers, und alle diese Neuerungen haben seinen Organismus obendrein sehr empfindlich gemacht, so daß er fortwährenden Störungen ausgesetzt ist. Sie machen sich keine Vorstellung von den Krankheiten des Ungetüms! Kein kränkliches Kind verursacht seinen Eltern angstvollere Sorgen mit seiner täglichen Verdauung als der Koloß. Sechs Schütter oben, acht Gießer unten, ein Gußmeister und ein Ingenieur wachen ununterbrochen Tag und Nacht, in zwei Schichten, über die Nahrungsmittel, die man ihm zuführt, über das geschmolzene Metall, das er abgibt, voll Unruhe, sobald sich nur die geringsten Störungen in seinem Körper zeigen, sobald der Guß nicht ganz zufriedenstellend aussieht. Es sind nun fünf Jahre her, daß dieser da angezündet wurde, ohne daß das Feuer in seinem Innern seither auch nur eine Minute lang sein Werk ausgesetzt hätte. Und er kann noch fünf Jahre weiterbrennen, ehe man ihn ausbläst, um Reparaturen vorzunehmen. Wenn man so angstvoll und sorgfältig über sein regelmäßiges Arbeiten wacht, so geschieht es deshalb, weil die große Gefahr darin liegt, daß er von selbst erlösche, infolge irgendeiner Störung in seinen Eingeweiden, die man nicht hätte vorhersehen oder rechtzeitig beheben können. Und erlöschen ist für ihn gleichbedeutend mit dem Tod! Ach, meine kleinen elektrischen Öfen, die von Knaben könnten geleitet werden, sie werden niemandes Nachtruhe stören, sie werden immer gesund, leistungsfähig und gehorsam bleiben!«

Lucas mußte lächeln über die leidenschaftliche Liebe, mit der Jordan von seinen wissenschaftlichen Forschungen sprach. Morfain und Dada waren mittlerweile wieder zu ihnen getreten, und der Gußmeister deutete beim schwachen Schein einer Laterne auf eines der vier Windleitungsrohre, die in einer Höhe von drei Metern in die Seiten des Riesen eindrangen.

»Sehen Sie, Herr Jordan, dieses Rohr da hatte sich verstopft, und das Unglück wollte es, daß ich gerade schlafen gegangen war, so daß ich die Sache erst am nächsten Morgen bemerkt habe. Da der Wind nicht eindrang, trat eine Abkühlung ein, verbreitete sich offenbar über einen ganzen Block, das Material staute sich und bildete eine Brücke. Infolgedessen kam nichts mehr herunter, und ich bemerkte es erst beim Abstich, als die Schlacke in dickem, schon ganz schwarzen Fluß herauskam. Sie können sich meinen Schrecken denken, denn ich erinnerte mich an das Unglück von vor zehn Jahren, als wir infolge einer ähnlichen Geschichte eine ganze Ecke des Ofens einreißen mußten.«

Noch niemals hatte er soviel gesprochen. Seine Stimme zitterte bei der Erinnerung an das Unglück von einst, denn es gibt keine schrecklichere Krankheit für den Hochofen als eine derartige Abkühlung, die das Feuer allmählich erlöschen läßt und das Erz zu einem starren Block zusammenbäckt. Der Fall ist tödlich, wenn es nicht gelingt, das Feuer wieder zu beleben. Von Schicht zu Schicht kühlt sich die Masse immer mehr ab und vereinigt sich schließlich mit den Wänden des Ofens zu einem festen Körper. Dann bleibt nichts mehr übrig, als den Ofen niederzureißen wie einen alten, nutzlosen, mit Steinen gefüllten Turm.

»Und was haben Sie getan?« fragte Jordan.

Morfain antwortete nicht gleich. Er liebte das Ungetüm, dessen glühende Lavaergüsse ihm seit mehr als dreißig Jahren das Gesicht verbrannten. Es war der Riese, der Gebieter, der Feuergott, den er anbetete, gebeugt unter die eiserne Tyrannei des Kultus, dem er sich, seitdem er erwachsen war, hatte hingeben müssen, um sein tägliches Brot zu erwerben. Und er, der kaum lesen konnte, der unberührt war von dem neuen Geist, der durch die Zeit wehte, nahm den schweren Frondienst ohne jede Auflehnung auf sich, er war stolz auf seine riesenstarken Arme, auf seinen unablässigen Kampf mit dem Feuer, auf seine Treue gegen den kauernden Moloch, dessen Verdauung er überwachte und betreute, ohne jemals an eine Unterbrechung des Dienstes zu denken. Der schreckliche barbarische Gott war zum Götzen seiner Seele geworden, in seine Anbetung mischte sich eine starke, stille Zärtlichkeit, und die Erinnerung an die schreckliche Gefahr, aus der er ihn mit gewaltiger Anstrengung gerettet hatte, ließ ihn noch jetzt erbeben.

»Was ich getan habe?« sagte er endlich. »Ich habe zuerst die Koksladungen verdreifacht. Dann versuchte ich das Rohr mit Hilfe einer Gebläseverstärkung, wie sie Herr Laroche manchmal anwandte, freizumachen. Aber es war schon zu weit fortgeschritten, als daß dies noch hätte nützen können. Ich mußte das Rohr demontieren und die Stauung mit Hilfe von Brechstangen zu beseitigen suchen. Das war keine leichte Arbeit, und wir haben unsere Arme nicht schonen dürfen. Aber schließlich ist es uns doch gelungen, Luft zu machen, und ich war sehr froh, wie ich heute früh in der Schlacke Erzstücke gefunden habe. Ich sah daraus, daß die Stauung gelockert und die Brücke eingebrochen ist. Nun ist das Gebläse ganz frei und die Arbeit wieder im besten Gang. Wir werden uns übrigens gleich überzeugen können, der Abstich wird uns zeigen, wie es steht.«

Und obgleich er erschöpft war von so langer Rede, setzte er mit leiserer Stimme hinzu:

»Ich glaube, Herr Jordan, ich wäre hinaufgestiegen und hätte mich hineingestürzt, wenn ich Ihnen heute nicht gute Nachrichten hätte geben können. Ich bin nur ein Arbeiter, ein Gußmeister, und Sie haben so viel Vertrauen zu mir gehabt, daß Sie mir den Posten eines Ingenieurs anvertraut haben. Soll ich nun den Ofen verlöschen lassen und bei Ihrer Rückkehr vor Sie hintreten und Ihnen sagen, daß er tot ist? Nein, lieber wäre ich mit ihm gestorben! Die zwei letzten Nächte habe ich mich nicht schlafen gelegt, ich habe gewacht, wie ich am Bette meiner armen Frau gewacht habe, ehe sie gestorben ist. Und ich kann's Ihnen wohl jetzt sagen, die Suppe, die Sie mich vorhin haben essen sehen, war die erste, die ich seit achtundvierzig Stunden gegessen habe, denn mein Magen war verstopft wie der Ofen. Ich sage das nicht, um mich zu entschuldigen, ich will Ihnen nur sagen, wie glücklich ich bin, daß ich Ihr Vertrauen nicht getäuscht habe.«

Er weinte beinahe, dieser im Feuer gehärtete Riese mit den stählernen Gliedern. Jordan drückte ihm bewegt beide Hände.

»Mein guter Morfain, ich weiß, daß Sie ein tapferer Mensch sind, und daß Sie, wenn ein Unglück geschehen wäre, bis zum Äußersten gekämpft hätten.«

Dada stand in der Dunkelheit etwas abseits, ohne sich mit einem Wort oder einer Gebärde in das Gespräch einzumischen. Und er rührte sich erst, als sein Vater ihm das Zeichen zum Abstich gab. Innerhalb vierundzwanzig Stunden fanden fünf Abstiche statt, ungefähr alle fünf Stunden einer. Die Leistungsfähigkeit des Hochofens war achtzig Tonnen pro Tag, er wurde aber zur Zeit nur auf fünfzig Tonnen beschickt, was immerhin noch zehn Tonnen für den Abstich ergab. Beim schwachen Licht der Laternen waren schweigend alle Vorbereitungen getroffen, Rinnen und flache Mulden in den feinen Sand der großen Gußhalle gegraben worden. Es war nur noch die Schlacke abzulassen. Man sah nichts als die dunkeln Gestalten der Arbeiter, die hin und her gingen und ohne Hast Verrichtungen besorgten, von denen man nichts verstand, während aus dem Bauche des kauernden Molochs kein Laut hervordrang und man nur das leise Rieseln des Wassers hörte, das an seinem Gemäuer herabtropfte.

»Herr Jordan«, fragte Morfain, »wollen Sie die Schlacken auslaufen sehen?«

Jordan und Lucas folgten ihm einige Schritte weit auf einen kleinen aus Abfällen gebildeten Hügel. Die Ablaßöffnung für die Schlacke befand sich an der rechten Seite des Ofens: sie war bereits geöffnet und ließ die funkelnde Masse der Schlacke entströmen, als ob hier der volle Kessel des geschmolzenen Metalls abgeschäumt würde. Die Masse rann langsam und dickflüssig heraus und ergoß sich in kleine Blechrollwagen, in denen ihre helleuchtende Farbe alsbald in Dunkelheit überging.

»Die Farbe ist gut, wie Sie sehen, Herr Jordan«, sagte Morfain erfreut. »Oh, wir sind außer Gefahr, das ist sicher. Sie werden sehen, Sie werden sehen!«

Er führte sie wieder an die Vorderseite des Hochofens unter die Abstichhalle, deren Dunkelheit durch die Laternen nur schwach erhellt wurde. Dada bohrte mit einem einzigen Stoß seiner herkulischen Arme einen Feuerspieß in den Tonpfropfen, der das Abstichloch verschloß. Dann schlugen die acht Arbeiter der Nachtschicht mit Hilfe einer Ramme taktmäßig auf den Feuerspieß, um ihn durchzutreiben. Man konnte kaum ihre dunkeln Gestalten unterscheiden, man hörte nur die dumpfen Schläge der Ramme. Plötzlich erschien etwas wie ein blendender Stern in der Finsternis, ein enger Durchstich zu der Glut des Innern. Aber es kam nur ein dünner Faden geschmolzenen Metalls. Dada mußte einen anderen Spieß ergreifen, ihn hineinstoßen und ihn mit Riesenkraft herumdrehen, um das Loch zu erweitern. Da erfolgte der Ausbruch, das Metall schoß in mächtigem Strahle mit wildem Ungestüm heraus, eilte in glühenden Bächen durch die Rinnen, verbreiterte sich in den Mulden zu feurigen Seen, deren Leuchten und Gluthitze die Augen verbrannte. Und aus dieser Feuerfläche sprühten ununterbrochen dichte Garben von Funken auf, blaue Funken von herrlicher Zartheit der Farbe, goldene Raketen von wundervoller Pracht, wie leuchtende Kornblumen inmitten goldener Ähren. Wenn der Strom auf ein Hindernis aus feuchtem Sand traf, verstärkte sich das Sprühen der Funken und Raketen derart, daß sie in prächtigen Garben hoch emporschossen. Wie bei einem zauberhaften Sonnenaufgange hatte ein starkes Licht sich verbreitet, bestrahlte grell das Gemäuer des Hochofens, erhellte die tiefsten Hintergründe der Halle, die Pfeiler und das Dachgebälke, deren geringste Einzelheiten deutlich sichtbar wurden. Alles trat mit wunderbarer, unvermittelter Klarheit aus der Finsternis hervor, die naheliegenden Bauten und Apparate, die Hilfsorgane des Ungetüms, die Arbeiter der Nachtschicht, deren Gestalten bisher so schattenhaft vorbeigehuscht waren und die sich mit einemmal in scharfen, festen Umrissen dem Blicke darboten, gleich unbekannten Helden der Arbeit, die plötzlich des Ruhmes teilhaftig geworden sind. Und die flammende Helle beschränkte sich nicht auf dieses Gebiet, das starke Sonnenaufgangslicht drang hinaus ins Land, hob die mächtige Wand der Monts Bleuses aus der Finsternis, bestrahlte die schlafenden Dächer von Beauclair und verlor sich in der Weite, in der unermeßlichen Ebene der Roumagne.

»Der Guß ist ausgezeichnet«, sagte Jordan, der die Qualität des Metalls nach der Farbe und Durchsichtigkeit des Strahles beurteilte.

»Ja, ja, Herr Jordan«, sagte Morfain mit bescheidenem Triumph. »Es ist gute Arbeit, wie es zu erwarten war. Aber ich freue mich sehr, daß Sie heute gekommen sind und es selbst gesehen haben. Jetzt brauchen Sie nicht mehr unruhig zu sein.«

Lucas war dem ganzen Vorgang mit lebhaftem Interesse gefolgt. Die Hitze war so stark, daß er das Brennen durch die Kleider spürte. Eine nach der anderen hatten sich alle Mulden gefüllt, der feine Sand der Halle war in einen leuchtenden See verwandelt. Und als die zehn Tonnen Metall ausgeflossen waren, fuhr aus der Öffnung noch ein letzter Sturm von Flammen und Funken hervor: der gewaltige Atem der Gebläsemaschine, der den Eisenkasten geleert hatte und nun als ein Höllenorkan frei hervorbrach. Aber schon hatte das Metall begonnen, sich abzukühlen, das blendende weiße Licht ging in Rosa, dann in Rot, endlich in Braun über. Das Funkensprühen hatte aufgehört, das Feld der leuchtenden blauen Blumen und goldenen Ähren war abgemäht. Und rasch senkte sich die Dunkelheit wieder herab, Finsternis umhüllte die Halle, den Hochofen, die Bauten und Apparate, während die Laternen ihre schwachstrahlenden Sterne wieder zu entzünden schienen. Man unterschied nur noch undeutlich die schattenhaften, hin und her huschenden Gestalten der Arbeiter und die Gestalt Dadas, der mit Hilfe zweier Kameraden die Abstichöffnung mit einem neuen Pfropfen aus feuerfestem Ton verstopfte, unter dem tiefen Schweigen der Gebläsemaschine, die während dieser Arbeit abgestellt worden war.

»Jetzt gehen Sie aber heim und legen sich schlafen, Morfain, nicht wahr?« sagte Jordan.

»O nein, ich bleibe diese Nacht noch hier.«

»Wie, Sie wollen wieder wachen, noch eine dritte Nacht schlaflos verbringen?«

»Nein, in der Wachtstube ist ein Feldbett, auf dem man sehr gut schlafen kann. Mein Sohn und ich werden einander alle zwei Stunden in der Wache ablösen.«

»Aber das ist ja überflüssig, da alles in bester Ordnung ist. Seien Sie doch vernünftig, Morfain, gehen Sie nach Hause, in Ihr Bett und legen Sie sich schlafen.«

»Nein, nein, Herr Jordan, lassen Sie mir meinen Willen. Es ist keine Gefahr mehr, aber ich will doch lieber bis morgen auf dem Posten bleiben, um nachzusehen. Das macht mir Vergnügen.«

Jordan und Lucas mußten ihn da lassen, nachdem sie ihm die Hand geschüttelt hatten. Lucas war tief bewegt: er nahm einen starken Eindruck mit sich von der mächtigen Gestalt des Mannes, in dem die ganze Vergangenheit der gequälten und geduldigen Arbeit, der Adel des peinvollen Mühens der Menschheit auf dem Wege zum Glück und zur Ruhe verkörpert war. Die Linie ging zurück bis zu den urweltlichen Riesen, die das Feuer bezwungen hatten, zu den Anfängen unserer Kultur, als die ersten Menschen das Erz in Gruben bei Holzfeuer schmolzen. An dem Tage, da der Mensch das Eisen der Natur entrang und es formte, wurde er zum Herrn der Welt, begann das Zeitalter der Zivilisation. Und Morfain, der in einer Felsenhöhle lebte, ganz der Mühsal und dem Stolz seiner Arbeit hingegeben, erschien Lucas wie der unmittelbare Abkömmling jener ersten Eisenarbeiter, ein aus fernen Jahrhunderten herüberwirkender Erbteil war lebendig in diesem schweigsamen, genügsamen Arbeiter, der seine Muskelkraft ohne Klage anspannte, wie zur Dämmerungszeit der menschlichen Gesellschaft. Wieviel vergossener Schweiß, wie viele ermüdete, abgearbeitete Arme in diesen Tausenden von Jahren! Und nichts war verändert, das besiegte Feuer hatte noch immer seine Opfer, seine Sklaven, die es unterhielten, die ihr Blut verkochen ließen, um es immer neu zu bändigen, während die Glücklichen dieser Welt in kühlen Wohnstätten ein faules Leben lebten. Morfain schien, gleich einem antiken Helden, nicht das geringste Bewußtsein der gräßlichen sozialen Ungerechtigkeit zu haben, schien keine Ahnung zu haben von der geheimen Empörung, von dem ferngrollenden Gewittersturm unserer Zeit. Er stand unbewegt auf seinem mörderischen Posten, auf dem seine Väter gestorben waren und auf dem er selbst sterben würde, erschöpft und abgebraucht, ein soziales Opfer von unbekannter Größe. Und Lucas rief sich eine andere Gestalt in Erinnerung, die Bonnaires, eines anderen Helden der Arbeit, der gegen die Unterdrücker und Ausbeuter kämpfte, damit die Gerechtigkeit siege, der sich der Sache seiner Schicksalsgenossen hingab, bis zur Aufopferung seines täglichen Brotes. Hatte denn diese leidensvolle Menschenklasse noch nicht genug unter ihrer Last geächzt, war die Stunde noch nicht gekommen, die dem in seiner Mühsal erhabenen Sklaven die Erlösung brachte, ihn endlich zum freien Bürger einer brüderlichen Gemeinschaft machte, in der ein ungetrübter Friede in der gerechten Verteilung der Arbeit und des Reichtums begründet wäre?

Während nun Jordan, als sie die Felsentreppe wieder hinabstiegen, an der Hütte eines Nachtwächters stehenblieb, um einen Befehl zu erteilen, sah Lucas etwas Seltsames, das seine Bewegung verstärkte. Hinter den Gebüschen und verstreuten Felsblöcken gingen zwei Menschen vorbei, zwei dunkle Gestalten, ein Mann und ein Weib, die sich eng umschlungen hielten, die Lippen in einem Kuß vereinigt. Er erkannte die hohe Gestalt der Tochter Morfains mit den großen blauen Augen, die ihr ganzes Gesicht überstrahlten. Und der Mann war niemand anders als Achille Gourier, der Sohn des Bürgermeisters, der schöne und stolze Jüngling, der ihm bei der Mahlzeit auf der Guerdache aufgefallen war durch den Ausdruck von Verachtung, mit dem er auf diese in Zersetzung begriffene Bourgeoisie blickte. Immer jagend oder fischend, verbrachte er seine ganze freie Zeit auf den steilen Pfaden der Monts Bleuses, an den Ufern der Bäche, im Schatten der Tannenwälder. Hier hatte er offenbar sein Herz verloren an das scheue, schöne Naturkind, um das so viele junge Männer vergebens warben. Und sie selbst war vermutlich bezaubert worden durch das Auftauchen dieses Märchenprinzen, der die glänzende andere Welt, den köstlichen Traum der Zukunft in ihre einsame Wildnis hineintrug. Die Zukunft, die Zukunft! War es nicht die Zukunft, die in ihren großen blauen Augen aufging, wenn sie auf der Schwelle ihrer Felsenhöhle stand, den Blick ins Weite verloren? Vater und Bruder wachten da oben, und sie wandelte am Arm des Geliebten über die steilen Hänge, und die Zukunft war für sie verkörpert in diesem schlanken, schönen Jüngling, diesem Herrensohn, der zärtlich und ehrerbietig zu ihr sprach wie zu einer Dame, und ihr schwor, sie immer zu lieben. Aufs höchste überrascht, hatte Lucas zuerst ein peinliches Gefühl, indem er an den Schmerz des Vaters dachte, wenn er von der heimlichen Liebschaft erführe. Dann aber wurde ihm weich ums Herz, ein erquickender Hoffnungshauch wehte ihn an aus dieser freien, schönen Liebe: bereiteten sie nicht die glücklichere Zukunft vor, legten sie nicht den Grund zur dereinstigen Stadt der Gerechtigkeit, diese Kinder verschiedener Menschenklassen, die miteinander spielten, einander umschlangen und küßten?

Im Park unten angelangt, verweilten die beiden Männer noch einige Augenblicke im Gespräch, ehe sie schieden.

»Es ist Ihnen doch nicht kalt, hoffe ich? Ihre Schwester würde mir nie verzeihen.«

»Nein, nein, ich fühle mich sehr wohl. Und ich gehe nun erleichterten Herzens schlafen, denn mein Entschluß ist gefaßt, ich werde mich von der Last eines Betriebes befreien, an dem ich kein Interesse nehme und der mir eine Quelle unaufhörlichen Verdrusses ist.«

Lucas schwieg einen Augenblick, wieder von tiefem Unbehagen, ja fast von Bestürzung erfaßt über diesen Entschluß. Dann sagte er, dem Freunde zum Abschied die Hand schüttelnd:

»Warten Sie noch ein wenig, lassen Sie mir einen Tag zum Nachdenken. Morgen abend wollen wir wieder über die Sache sprechen, und dann können Sie sich entscheiden.«

Lucas legte sich nicht gleich zu Bett. Er bewohnte im dem einst für den Großvater Jordans mütterlicherseits, den Doktor Michon, erbauten Häuschen das große Zimmer, in dem dieser seine letzten Tage inmitten seiner Bücher verlebt hatte, und er hatte den behaglichen und friedlichen Raum mit seiner Arbeitsatmosphäre liebgewonnen. Aber als er ihn nun, von unklaren, fieberischen Empfindungen erfaßt, wieder betrat, meinte er zu ersticken: er öffnete eines der Fenster und lehnte sich hinaus, um sich ein wenig zu beruhigen, ehe er zu Bette ging. Das Fenster sah auf die Straße, die von der Crêcherie nach Beauclair führte, unterhalb erstreckten sich unbebaute, steinbesäte Halden, und jenseits unterschied man die wirre Dächermasse der schlafenden Stadt.

Einige Zeit stand Lucas hier und sog in tiefen Zügen die Luft ein, die aus der unermeßlichen Ebene der Roumagne herüberwehte. Die Nacht war feucht und warm, ein bläuliches Licht ergoß sich von dem besternten, leicht bewölkten Himmel. Von unten drangen die dumpfen, rhythmischen Stöße der Dampfhämmer der Hölle herauf, der Riesenschmiede, in der Tag und Nacht Eisen auf Eisen schlug. Er erhob die Augen und suchte den Hochofen, dessen stumme, dunkle Gestalt in der tiefschwarzen Wand der Monts Bleustes unterging, die in scharfer Zackenlinie gegen den nächtlichen Himmel stand. Dann senkte er den Blick auf die gedrängten Dächer der Stadt, deren schwerer Schlaf eingewiegt schien von dem taktmäßigen Pochen der Hämmer, die den gepreßten, kurzen Atemzügen eines arbeitenden Riesen, eines an die ewige Arbeit geschmiedeten leidensvollen Prometheus glichen. Und seine Beklemmung steigerte sich, sein Fieber ließ nicht nach, die Menschen und Dinge der drei letzten Tage erhoben sich in seinem Gedächtnisse, zogen in schicksalsschwerem Gedränge vorbei, dessen Deutung er vergeblich zu erfassen strebte, quälten ihn mit dem furchtbaren Problem, das mehr und mehr von seiner Seele Besitz ergriffen hatte, und das ihn nun nicht würde schlafen lassen, ehe er seine Lösung gefunden.

Plötzlich glaubte er unter dem Fenster, auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, zwischen den Gebüschen und Felsblöcken ein anderes Geräusch zu hören, so schwach und leise, daß er es nicht zu deuten wußte. War es das Flattern eines Vogels, das Rascheln einer Eidechse zwischen den Steinen? Er blickte aufmerksam hin und sah nur die endlose, wogende Finsternis. Es war offenbar eine Täuschung gewesen. Da kam das Geräusch wieder und aus nächster Nähe. Lebhaft interessiert, von einer seltsamen Bewegung ergriffen, über die er selbst erstaunt war, bemühte er sich, die Finsternis zu durchdringen, und unterschied endlich eine schattenhafte, zarte, feine Gestalt, die auf den Spitzen der Gräser zu schweben schien. Er konnte sich über die Natur der Erscheinung nicht klar werden und wollte schon an eine Sinnestäuschung glauben, als plötzlich eine weibliche Gestalt mit dem leichten Sprung eines Rehs die Straße überquerte und ihm ein kleines Sträußchen so geschickt zuwarf, daß es gleich einer Liebkosung seine Wange streifte. Es war ein Sträußchen frischer Bergnelken von so starkem Geruch, daß die Luft um ihn davon ganz durchduftet war.

Josine! Er erriet, daß es Josine war, er erkannte sie an diesem erneuten Ausdruck ihrer innigen Erkenntlichkeit, an diesem zarten Zeichen ihres dankbaren Gedenkens. Wie entzückend war dieser ihm aus der Finsternis zufliegende Blumengruß! Er konnte sich nicht erklären, wie sie hierherkam, wo sie seine Heimkehr abgewartet hatte, wieso sie vom Hause hatte fortschlüpfen können – vermutlich hatte Ragu heute Nachtarbeit. Ohne ein Wort eilte sie von dannen, verschwand in der Finsternis des felsigen Geländes. Und Lucas bemerkte jetzt erst einen anderen, kleineren Schatten, Nanet offenbar, der neben ihr herlief. Dann sah er nichts mehr und hörte nur noch das taktmäßige Pochen der Hämmer der Hölle aus der Ferne. Seine Seelenbedrängnis war nicht behoben, aber ein warmes Gefühl ergoß sich tröstend in sein Herz. Mit Entzücken sog er den Duft des Sträußchens ein. O Güte, du bist das brüderliche Band zwischen allen Menschen, du bringst den Frieden und die Liebe, die die Welt erlösen und neugestalten wird!


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