Emile Zola
Arbeit
Emile Zola

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III

Von da ab rief Lucas bei jedem neuen Unglück, das die Crêcherie betraf, wenn die Menschen ihm nicht folgen wollten, wenn sie ihn in der Gründung seiner Arbeitsstadt hemmten, immer wieder:

»Sie lieben ja nicht! Wenn sie lieben würden, wäre Fruchtbarkeit überall, alles würde siegreich sprießen unter der warmen Sonne!«

Sein Werk war an der qualvollen und entscheidenden Stunde der Reaktion, des Schrittes nach rückwärts angelangt. Bei jedem Vorwärtsdringen kommt diese Stunde der schweren Hindernisse, des erzwungenen Aufenthalts. Man kann nicht mehr weiter, man muß sogar zurück, das schon Eroberte scheint einem zu entschlüpfen, es dünkt einen, daß man nie das Ziel erreichen wird. Das ist aber auch die Stunde, da der Held sich als Held zeigt, in der Festigkeit der Seele, in der unerschütterlichen Zuversicht auf den endlichen Sieg.

Am nächsten Morgen versuchte Lucas Ragu zurückzuhalten, der ihm ankündigte, daß er aus der Genossenschaft austrete und die Crêcherie verlasse, um nach der Hölle zurückzukehren. Aber Lucas traf bei dem Manne nur auf bösen Willen, auf hämischen Spott und Schadenfreude an dem tödlichen Streich, den der Abfall der Arbeiter der Fabrik versetzen konnte. Und noch tiefer wurzelte das Heimweh nach der Sklavenarbeit, nach der alten Pfütze und dem alten Elend, nach der ganzen schrecklichen Vergangenheit, die ihm im Blute geblieben war. Inmitten der warmen Helligkeit und heiteren Sauberkeit seines von Grün umgebenen Häuschens sehnte sich Ragu nach den engen, übelriechenden Gassen Alt-Beauclairs, nach den schimmeligen Hütten, in denen das Fieber hauste. Er vermißte den Fuseldunst der Schenke von Caffiaux, wenn er eine Stunde in dem großen, hellen Erholungsraum des Gemeindehauses verbrachte, in dem der Alkohol verboten war. Die Ordnung der Genossenschaftslager widerstrebte ihm nicht minder, erweckte das Gelüst in ihm, sein Geld nach seiner Laune bei den Kaufleuten in der Rue-de-Brias ausgeben zu können, die er selbst als Räuber bezeichnete, aber mit denen sich zu zanken ihm Freude machte. Und je mehr ihm Lucas zuredete und ihm die Unvernunft seines Austrittes darlegte, desto verstockter wurde Ragu.

»Nein, nein, Herr Lucas, die Sache ist nicht wieder in Ordnung zu bringen. Mag ja sein, daß ich eine Dummheit mache, aber mir kommt es nicht so vor. Sie haben uns goldene Berge versprochen, wir sollten alle reiche Leute werden, und nun stellt sich heraus, daß wir nicht mehr verdienen als anderswo und obendrein allerlei Unannehmlichkeiten haben.«

Das war richtig, die auf die Arbeiter entfallenden Gewinnanteile hatten bis jetzt die Arbeitslöhne der Hölle nicht wesentlich überstiegen.

»Wir leben«, versetzte Lucas mit Wärme. »Ist das nicht genug, wenn die Zukunft gesichert ist? Wenn ich Opfer von euch verlange, so geschieht das nur in der Überzeugung, daß das schließliche Ergebnis unser aller Glück sein wird. Aber es bedarf der Geduld und des Mutes, es bedarf des Vertrauens in das Unternehmen und nicht minder der fleißigen Arbeit.«

Für eine derartige Sprache besaß Ragu kein Verständnis. Nur ein Wort hatte er aufgefangen, und er erwiderte spöttisch lächelnd:

»Oh, unser aller Glück, das ist eine schöne Sache. Aber ich mag lieber bei meinem eigenen Glück anfangen.«

Lucas sagte ihm hierauf, daß er frei sei, daß ihm seine Abrechnung gemacht werden und daß er gehen könne, wann er wolle. Es lag ihm ja eigentlich gar nichts an diesem böswilligen Menschen, dessen Anwesenheit nur schädlichen Einfluß üben konnte. Aber daß Josine ihn verlassen sollte, zerriß ihm das Herz, und er schämte sich einigermaßen, als er entdeckte, daß er nur deshalb soviel daran gesetzt hatte, Ragu zu behalten, weil er sie behalten wollte. Der Gedanke, daß sie in die Pfütze Alt-Beauclairs zurückkehren sollte, in die Gewalt dieses Mannes, der, wieder dem Alkohol verfallen, fortfahren sollte, sie zu vergewaltigen, war ihm unerträglich. Er sah sie wieder in der Rue des Trois-Lunes, in einem schmutzigen Zimmer, wieder dem entwürdigenden, mörderischen Elend ausgeliefert. Und er war nicht da, um sie schützen, er, dem sie nun ganz gehörte, der sie keine Minute hätte verlassen mögen, um ihr Glück gegen jede Gefahr zu beschützen!

In der folgenden Nacht kam sie wieder zu ihm, und es gab eine herzzerreißende Szene zwischen ihnen, heiße Tränen, Schwüre, tolle Pläne. Doch schließlich siegte die Vernunft, sie mußten sich der Unerbittlichkeit der Tatsachen fügen, wenn er nicht sein Werk gefährden wollte, das zu einer Sache der Allgemeinheit geworden war. Josine mußte Ragu folgen, sie konnte nicht anders, ohne einen Skandal hervorzurufen. Und Lucas wollte auf der Crêcherie seinen Kampf für das Glück aller fortsetzen, in der Zuversicht, daß der Sieg sie eines Tages vereinigen würde. Sie waren stark, denn sie trugen die unbesiegliche Liebe in sich. Sie versprach, daß sie wiederkommen werde. Aber es war doch ein schrecklicher Schmerz, als sie Abschied nahm, und als er sie am nächsten Tag die Crêcherie verlassen sah, hinter Ragu, der im Verein mit Bourron einen kleinen Wagen zog, in dem sich ihre ärmliche Habe befand!

Drei Tage später folgte Bourron dem Beispiel Ragus, mit dem er jeden Abend bei Caffiaux zusammengetroffen war. Sein Freund hänselte ihn so viel mit der Milch des Gemeindehauses, daß er seine Mannesfreiheit zu betätigen meinte, indem er auch seinerseits in die Rue des Trois-Lunes zurückkehrte. Seine Frau Babette hatte zuerst versucht, diese Dummheit zu verhindern, und sich dann mit ihrer gewohnten Fröhlichkeit darein gefunden. Ach was, es würde auch so gehen, und ihr Mann war im Grunde ein guter Junge, dem früher oder später schon die Augen aufgehen würden. Und sie zog lachend von dannen, indem sie den Nachbarinnen ein »Auf Wiedersehen!« zurief, denn sie konnte nicht glauben, daß sie nicht in diese schönen Gärten zurückkehren sollte, in denen es ihr so gut gefallen hatte. Besonders lag ihr daran, ihre Marthe und ihren Sébastien dahin zurückzubringen, da sie gute Fortschritte im der Schule machten. Soeurette erklärte sich bereit, die Kinder dazubehalten, und sie willigte mit Freuden ein.

Aber die Lage wurde ernster, als andere Arbeiter vom bösen Beispiel angesteckt wurden und die Crêcherie ebenfalls verließen. Es fehlte ihnen an Glauben und an Liebe, und Lucas sah sich allein im Kampfe mit Böswilligkeit, Feigheit und Untreue, auf die man immer stößt, wenn man für das Glück anderer arbeitet. Selbst bei Bonnaire, dem Klugen und Ehrlichen, spürte er eine verborgene Erschütterung. Der Hausfrieden des Werkmeisters wurde durch die täglichen Zänkereien mit der Frau gestört, deren Eitelkeit unbefriedigt war, denn sie hatte sich noch immer nicht das Seidenkleid und die Uhr kaufen können, nach denen sie von jeher verlangte. Dann lehnte sie sich gegen den Gedanken der Gleichheit und Gemeinsamkeit auf, weil sie immer davon träumte, etwas Besseres zu werden. Sie erfüllte das Haus mit einem unaufhörlichen Sturm, maß dem alten Ragu den Tabak sparsamer zu denn je, und schlug die Kinder, Luden und Antoinette. Sie hatte mittlerweile noch zwei bekommen, Zoë und Séverin, und auch dies war in ihren Augen ein Unglück, das sie Bonnaire nicht verzieh und das sie ihm unablässig vorwarf, als wären die Kinder die Früchte seiner Umsturzideen, als deren Opfer sie sich hinstellte. Bonnaire setzte dem allem eine große Ruhe entgegen, denn er war an diese Stürme gewöhnt, die ihn bloß traurig machten. Er antwortete ihr nicht einmal, wenn sie ihm zurief, daß er ein gutmütiges Schaf, ein irregeführter Narr sei und daß er sich in der Crêcherie noch die Haut abziehen lassen werde.

Lucas merkte jedoch sehr wohl, daß Bonnaire nicht mit ganzem Herzen zu ihm stand. Wohl gestattete dieser sich nie den geringsten Tadel, er blieb der fleißige, tüchtige, gewissenhafte Arbeiter, der allen anderen ein Beispiel war. Dennoch lag etwas wie Mißbilligung in seiner Haltung, fast Ermattung und Entmutigung. Lucas litt sehr darunter, denn es schmerzte ihn ungemein, daß ein Mann, den er sehr schätzte, dessen Heldenmut er kannte, so rasch beginnen konnte, sich von ihm abzuwenden. Wenn dieser, den Glauben verlor, hieß das, daß sein Werk schlecht sei? Die beiden Männer fanden eines Abends Gelegenheit zur Aussprache, als die Sonne eben an einem klaren, stillen Himmel untersank. Sie waren einander am Tor, das zu den Werkstätten führte, begegnet und setzten sich auf eine Bank, die dort stand.

»Es ist wahr, Herr Lucas«, erwiderte Bonnaire freimütig auf eine Frage, »ich zweifle stark an Ihrem Erfolg. Sie wissen übrigens, daß ich mit Ihren Ideen nie ganz einverstanden war und daß Ihr Unternehmen mir immer schädlich erschienen ist, in bezug auf die Zugeständnisse, die Sie machen. Wenn ich mich daran beteiligt habe, so war es nur um des Versuches willen. Aber je weiter die Dinge gedeihen, desto mehr sehe ich, wie recht ich hatte. Der Versuch ist nun durchgeführt worden, jetzt müssen wir es anders anfassen: wir müssen als Revolutionäre handeln.«

»Wie, der Versuch ist durchgeführt worden?« rief Lucas aus. »Wir haben ja kaum angefangen! Wir brauchen noch Jahre, mehrere Menschenalter vielleicht, ein Jahrhundert kraftvoller, freudiger, mutiger Anstrengung. Und Sie, mein Freund, Sie, der Energische und Tapfere, verzagen so schnell?«

Er sah ihn an, den großen, breitschulterigen Mann mit dem vollen, ruhigen Gesicht, aus dem Kraft und Ehrlichkeit sprachen. Aber der Arbeiter schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, Mut und Anstrengung tun's nicht. Ihre Methode ist zu sanft, sie rechnet zu sehr auf die Vernunft der Menschen. Ihre Genossenschaft von Kapital, Arbeit und Geist wird sich immer nur so hinschleppen, ohne etwas Festes und Endgültiges entstehen zu lassen. Die fressende Krankheit unserer Zeit ist so schlimm geworden, daß man sie mit glühendem Eisen heilen muß.«

»Was also glauben Sie, daß geschehen sollte, lieber Freund?«

»Das Volk muß sich unverzüglich der Arbeitsmittel bemächtigen, muß die Bürgerklasse aus ihrem Eigentum verjagen und die selbständige Verfügung über das Kapital erlangen, um die Herrschaft der allgemeinen Zwangsarbeit aufzurichten.«

Er knüpfte hieran wieder einmal eine ausführliche Darlegung seiner Ideen. Er war nach wie vor ganz und gar im Kommunismus befangen, und Lucas hörte ihm zu, mit schmerzlichem Staunen, daß er noch gar keine ablenkende Wirkung auf diesen denkenden, aber ein wenig kurzsichtigen Geist hatte ausüben können. So wie er ihn in der Rue des Trois-Lunes hatte reden hören, am Abend, da er seinen Platz in der Hölle verließ, so hörte er ihn jetzt wieder, als Anhänger derselben revolutionären Heilslehre, ohne daß die fünf Jahre des Versuches auf der Crêcherie seinem Glauben etwas hätten anhaben können. Die Entwicklung ging ihm zu langsam, der Fortschritt durch die bloße Genossenschaft schien ihm noch zu vieler Jahre zu bedürfen, und er wurde unmutig, er setzte seine Hoffnung auf die sofortige gewaltsame Revolution.

»Niemals wird man uns geben, was wir uns nicht selber nehmen«, schloß er. »Wir müssen alles nehmen, um alles zu haben.«

Ein Stillschweigen folgte. Die Sonne war untergegangen, die Arbeiter der Nachtschicht hatten die der Tagschicht in den dröhnenden Werkstätten abgelöst. Und während das Getöse der unablässigen Arbeit an seine Ohren schlug, überkam Lucas eine unsagbare Traurigkeit, als er erkennen mußte, daß sein Werk auch durch die Ungeduld der Besten, ihr soziales Ideal zu verwirklichen, gefährdet wurde. War es nicht der wütende Widerstreit gegensätzlicher Meinungen, der häufig das Geschehen der Dinge verzögerte und behinderte?

»Ich will nicht wieder mit Ihnen streiten, lieber Freund«, sagte er endlich. »Ich glaube nicht, daß es unter den gegebenen Umständen möglich oder nützlich wäre, einen entscheidenden Entschluß zu fassen. Ich für meinen Teil bleibe überzeugt, daß das Genossenschaftssystem der langsame, aber vorzuziehende Weg ist, der uns in das gelobte Land führen wird. Wir haben ja so oft über diese Dinge gesprochen, ohne uns ganz einigen zu können. Was hilft es, wieder von vorn anzufangen und uns nutzlos das Herz schwer zu machen? Aber ich erwarte von Ihnen, daß Sie dem Unternehmen, das wir gemeinschaftlich gegründet haben, in der schweren Zeit, die es jetzt durchzumachen hat, treubleiben.«

Bonnaire warf mit verletzter Miene den Kopf zurück.

»Herr Lucas, sollten Sie an mir zweifeln? Sie wissen, daß ich kein Verräter bin und daß ich, den Sie einmal vor dem Verhungern bewahrt haben, mit Ihnen trockenes Brot essen werde, solange es nötig ist. Seien Sie unbesorgt, was ich Ihnen vorhin gesagt habe, das sage ich sonst niemand. Das sind Dinge, die nur Sie und mich angehen. Es wird mir selbstverständlich nie in den Sinn kommen, den Arbeitern anzukündigen, daß das Unternehmen zugrunde gehen wird. Ich habe mich mit Ihnen verbunden, und ich bleibe mit Ihnen verbunden, bis uns die Mauern auf den Kopf fallen.«

Lucas drückte ihm bewegt beide Hände. Und die Woche darauf empfing er einen noch stärkeren Eindruck von einer Szene in der Halle der Walzwerke, zu der er eben zurechtkam. Es war ihm gesagt worden, daß zwei oder drei mißgünstige Arbeiter Ragus Beispiel folgen und soviel Kameraden wie möglich mit fortnehmen wollten. Und als er herbeieilte, um die Ordnung wieder herzustellen, sah er Bonnaire inmitten der Meuterer stehen und sie in heftigen Worten zurechtweisen. Er blieb stehen und hörte zu. Bonnaire sagte mannhaft alles, was zu sagen war, rief den Leuten alle Wohltaten ins Gedächtnis, die das Unternehmen ihnen erwies, beruhigte die Ängstlichen durch den Hinweis auf eine bessere Zukunft, die sicher kommen werde, wenn sie fest bei der Arbeit aushielten. Er war so groß, so schön, die Beredsamkeit und Klugheit übten eine solche Wirkung auf die Leute aus, daß alle sich beruhigten und keiner mehr davon sprach, aus der Genossenschaft auszutreten. Dem Abfall war ein Riegel vorgeschoben worden. Und Lucas blieb das Schauspiel unvergeßlich, wie Bonnaire, der gute Riese, den Aufruhr mit breiter Gebärde beschwichtigte, als Held der Arbeit, der die freiwillig übernommene Pflicht über alles stellte. Da er im Kampf für das Glück aller stand, hätte er es für eine Feigheit gehalten, seinen Posten zu verlassen, obgleich nach seiner Ansicht in anderer Weise hätte gekämpft werden sollen.

Doch als Lucas ihm dankte, wurde ihm wieder das Herz schwer, als Bonnaire antwortete:

»Dafür ist nicht zu danken, ich habe nur getan, was ich mußte. Trotz alledem, Herr Lucas, muß ich Sie aber noch zu meinen Ideen bekehren, sonst werden wir hier eines Tages alle Hungers sterben.«

Und wenige Tage nachher verdüsterte eine andere Begegnung seine Stimmung noch mehr. Mit Bonnaire vom Hochofen herabsteigend, kam er an der Behausung Langes vorbei. Der Töpfer hatte sich beharrlich geweigert, das Stückchen Land zu verlassen, das ihm eingeräumt worden war und das er mit einer niedrigen Steinmauer umgeben hatte. Vergebens hatte Lucas ihn zu überreden versucht, hinabzukommen, und die Leitung der Tiegelformerei zu übernehmen, die er hatte einrichten müssen. Lange wollte ein freier Mann bleiben, ohne Gott und ohne Herrn, wie er sagte. Er fuhr also fort, in seiner Höhle seine Töpferwaren herzustellen, die Schüsseln, die Teller, die Töpfe, die er dann auf einem Karren nach den Märkten der umliegenden Orte brachte. Er zog, und Barfuß schob. An diesem Abend nun kehrten sie eben von einem ihrer Marktgänge zurück, als Lucas und Bonnaire an der Tür ihrer Einfriedung vorüberkamen.

»Nun, Lange«, fragte Lucas freundlich, »geht der Handel?«

»Immer gut genug, um uns Brot zu schaffen, Herr Lucas. Sie wissen, daß das alles ist, was wir wollen.«

In der Tat brachte er seine Waren nur zu Markte, wenn es an Brot fehlte. Und die übrige Zeit verbrachte er bei den Töpfereien, die nicht zum Verkaufe bestimmt waren, verweilte stundenlang vor ihnen und betrachtete sie traumverlorenen Blickes, ein primitiver Poet, den es trieb, Gebilde zu formen. Selbst die gewöhnlichen Gefäße, die er herstellte, die einfachen Schüsseln und Töpfe zeigten eine köstliche Ursprünglichkeit und Reinheit der Linien, eine schlichte, vornehme Anmut. Instinktiv hatte er, der unverdorbene Sohn des Volkes, die volksmäßige Schönheit der Form gefunden, die Schönheit des einfachen Hausrats, die auf dem sicheren Gleichmaß der Verhältnisse und der vollkommenen Anpassung an den Gebrauchszweck beruht.

Lucas war überrascht von dieser Schönheit, als er die wenigen unverkauften Stücke im Karren betrachtete. Und der Anblick des hochgewachsenen, schönen braunen Mädchens mit den feingeformten, nervigen Gliedern und der kleinen, festen Brust einer Amazone erfüllte ihn gleichfalls mit Staunen und Bewunderung.

»Was?« sagte er. »Das muß schwer sein, den Karren den ganzen Tag zu schieben?«

Aber sie schwieg, und sie lächelte bloß, indem sie ihn mit ihren scheuen, großen Augen ansah, während der Töpfer für sie antwortete:

»Wir ruhen uns im Schatten am Straßenrand aus, wenn wir irgendwo eine Quelle finden. Nicht wahr, Barfuß, es geht ganz gut, und wir sind trotzdem zufrieden?«

Sie richtete ihre Augen auf ihn, die sich mit grenzenloser Liebe und Anbetung füllten, wie für einen allmächtigen und gütigen Herrn, einen Retter, einen Gott. Dann schob sie ohne ein Wort den Karren in die Einfriedung und stellte ihn unter einen kleinen Schuppen.

Lange war ihr mit unendlich zärtlichem Blicke gefolgt. Er gab sich manchmal den Anschein, sie rauh zu behandeln wie eine von der Straße aufgelesene Zigeunerin, deren gestrenger Gebieter er bleiben wollte. In Wahrheit beherrschte sie aber ihn, er liebte sie mit einer starken Leidenschaft, die er nicht gestehen mochte, die er unter seiner knorrigen Bauernart verbarg. Der kleine, gedrungene Mann mit dem eckigen Kopfe und dem wirren Haar- und Bartwalde war im Grunde eine empfindsame, liebevolle Natur.

Er wandte sich nun in seiner rücksichtslos offenen, vertraulichen Art an Lucas:

»Nun, es scheint ja nicht zum besten zu gehen mit dem Glück für alle? Sie wollen also nicht nach Ihrer Art glücklich werden, die Narren, die sich dazu herbeigelassen haben, sich in Ihre Kaserne einschließen zu lassen?«

Sooft er mit Lucas zusammentraf, neckte und verspottete er ihn wegen seines Versuches der Gründung einer Gemeinschaft auf der Crêcherie. Und als Lucas bloß lächelte, fuhr er fort:

»Ich hoffe, daß Sie, ehe ein halbes Jahr vergangen ist, zu uns Anarchisten kommen werden. Ich wiederhole Ihnen, daß alles verfault ist und daß nichts anderes übrigbleibt, als die alte Gesellschaft mit Bomben zusammenzuschmeißen.«

Bonnaire, der bis jetzt geschwiegen hatte, warf plötzlich ein:

»Bomben werfen, das ist Unsinn!«

Er war nicht für die Schreckensmittel, für die Propaganda der Tat, obgleich er von der Notwendigkeit einer baldigen und gewaltsamen Umwälzung überzeugt war.

»Wie, Unsinn?« rief Lange verletzt. »Glauben Sie denn, daß, wenn die Bourgeois' nicht entsprechend vorbereitet werden, Ihre vielberedete Sozialisierung der Arbeitsmittel jemals durchzuführen ist? Ihr verkleideter Kapitalismus ist Unsinn! Erst müssen Sie alles zerstören, ehe Sie daran gehen können, alles neu aufzubauen.«

Sie fuhren fort, ihre Lehren gegeneinander auszuspielen und sie gegenseitig zu bekämpfen, und Lucas konnte sich auf die Rolle eines Zuhörers beschränken. Der Abstand zwischen Lange und Bonnaire war ebenso groß wie der zwischen Bonnaire und ihm. Wenn man den beiden zuhörte, wie sie scharf und verbissen miteinander stritten, so hätte man sie für Menschen verschiedener Rassen, für Erbfeinde halten mögen, die bereit waren, einander zu zerfleischen, zwischen denen keine Einigung möglich war. Und dennoch wollte einer wie der andere nur das Glück aller Menschen, sie strebten beide demselben Ziele zu: Frieden, Gerechtigkeit und eine Arbeitseinteilung, die allen das tägliche Brot und die Genüsse des Lebens verschaffte. Aber mit welcher Wut, mit welchem Haß standen sie einander jetzt noch gegenüber, solange es sich um die Wahl der Mittel handelte! Auf der langen und beschwerlichen Straße des Fortschritts lieferten sich die des Weges ziehenden Brüder, die alle von demselben Wunsch nach Befreiung durchglüht waren, bei jedem Haltepunkt blutige Schlachten, bloß um der Frage willen, ob es besser wäre, rechts oder links zu gehen.

»Nun, jeder ist sein eigener Herr«, sagte Lange zum Schluß. »Lassen Sie sich von Ihrem Bourgeoisideal einschläfern, Genosse, wenn Ihnen das Vergnügen macht. Ich weiß, was ich zu tun habe. Ja, ja, es geht vorwärts mit den kleinen Angebinden, mit den kleinen Töpfen, die wir eines schönen Tages beim Präfekten, beim Bürgermeister, beim Präsidenten, beim Pfarrer abgeben werden, nicht wahr, Barfuß? Eine schöne Marktfahrt soll das werden, und fröhlich werden wir da den Karren ziehen, was?«

Das hochgewachsene, schöne Mädchen war wieder auf die Schwelle getreten, und ihre Gestalt ragte stolz zwischen den roten Ziegeln der kleinen Mauer empor. Wieder flammten ihre Augen auf und mit einem Lächeln drückte sie die Ergebenheit der Sklavin aus, die ihrem Herrn blindlings zu folgen bereit ist, auch bis zum Verbrechen.

»Ja, sie ist mit dabei, Genosse«, sagte Lange in seiner knurrigen und doch zugleich zärtlichen Weise. »Sie hilft mir.«

Als Lucas und Bonnaire von dem Töpfer Abschied genommen hatten, ohne Groll, trotz ihrer geringen Übereinstimmung, gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander. Dann fühlte sich Bonnaire gedrängt, seine Theorien abermals zu wiederholen, aufs neue zu beweisen, daß es außerhalb der kommunistischen Lehre kein Heil gab. Und Lucas mußte wieder einmal denken, daß die Versöhnung der Gegensätze nicht eher eintreten werde, als bis das glückliche Reich der Zukunft gegründet war und die verschiedenen Lehren in dem endlich erfüllten gemeinsamen Ideal sich vereinigten. Dann hatte der Streit um den besseren Weg endlich ein Ende, dann war das von allen ersehnte Ziel erreicht, und brüderlicher Friede herrschte zwischen den Parteien. Aber welche schrecklichen Seelenqualen auf dem langen Wege, welcher Schmerz, wenn die Brüder sich gegenseitig zerfleischten und sich selber am Vorwärtsschreiten hinderten!

Lucas kehrte in seine Wohnung zurück, tieftraurig über diese unaufhörlichen Rückschläge, die lauter Hindernisse für sein Werk waren. Sobald zwei Menschen handeln wollten, verstanden sie sich nicht mehr. Und als er allein war, entrang sich seinem übervollen Herzen wieder der Ausruf:

»Sie lieben nicht! Wenn sie lieben würden, wäre Fruchtbarkeit überall, alles würde siegreich blühen unter der warmen Sonne!«

Morfain machte ihm gleichfalls Sorgen. Er hatte vergeblich versucht, den Mann ein wenig menschlich zu machen, ihn zu bewegen, seine Felsenhöhle zu verlassen und eines der kleinen, hellen Häuser der Crêcherie zu beziehen. Der Gußmeister hatte sich beharrlich geweigert unter dem Vorwand, daß er dort oben seiner Arbeit näher und besser in der Lage sei, sie zu überwachen. Lucas verließ sich vollständig auf ihn, ließ ihn den Hochofen nach der alten hergebrachten Methode leiten, bis es den unermüdlichen Arbeiten und Forschungen Jordans gelungen wäre, die umwälzenden elektrischen Ofenbatterien herzustellen. Aber der wahre Grund der starrsinnigen Weigerung Morfains, zu den Menschen herabzusteigen, die die neue Stadt bevölkerten, war die Verachtung, der Haß, die er gegen sie empfand. Er, der Bezwinger des Feuers, der Arbeiter, den eine uralte Sklaverei unter ihr Joch beugte, der als stummer Held ohne einen Gedanken der Auflehnung seine Körperkraft hergab, der die düstere Größe des Bagnos liebgewonnen hatte, in das er durch den Spruch des Schicksals unentrinnbar eingeschlossen war, sah mit zorniger Geringschätzung auf diese Fabrik, deren Arbeiter feine Herren sein sollten, die mit ihrer Kraft sparten und die gar bald ganz durch Maschinen ersetzt werden würden, deren Lenkung Kinder besorgten. Das schien ihm klein und erbärmlich, diese ängstliche Sorge, sich nur ja so wenig wie möglich anzustrengen, nicht mehr mit dem Feuer und dem Eisen kämpfen zu sollen. Es fehlte ihm jeder Begriff dafür, er zuckte verächtlich die Achseln, ohne aber das Schweigen, das er oft tagelang bewahrte, mit einem Wort zu unterbrechen. Und stolz und einsam blieb er auf seiner Felswand, herrschte über seinen Hochofen und wachte über die Abstiche, die dessen Gemäuer fünfmal in je vierundzwanzig Stunden mit blendender Feuersglut bestrahlten.

Noch einen Grund gab es, der Morfain zum Feinde der neuen Zeit machte, von der er nichts wissen wollte, deren Hauch nicht einmal seine feuerharte Haut berührt hatte – ein Grund, unter dem dieser schweigsame Mann schrecklich leiden mußte. Blauchen, seine Tochter, deren blaue Augen sein Himmel waren, das schöne, prächtige Geschöpf, das als geliebte Hausfrau in seinem Heim waltete, seitdem die Mutter tot war, Blauchen war schwanger geworden. Er brauste auf und verzieh dann, denn er dachte, sie würde durch eine Heirat ihre Ehre wieder herstellen, Aber er wurde von neuem Zorn erfaßt und unversöhnlich, als sie den Namen des Mannes gestand: Achille Gourier, der Sohn des Bürgermeisters. Seit Jahren dauerte nun schon ihr Verhältnis, sie trafen sich auf den Pfaden der Monts Bleuses, verbrachten die Nächte unter dem weiten, sternbesäten Himmel, auf den Hängen, auf denen Thymian und Lavendel duftete. Achille, der Bürgerssohn, den seine Klasse mit Verachtung und Empörung erfüllte, hatte mit seiner Familie gebrochen und Lucas gebeten, ihn als Zeichner in die Crêcherie aufzunehmen. Er zerriß alle Bande, er wollte lieben nach eigener, freier Wahl, wollte arbeiten, wollte die alte, dem Untergang geweihte Gesellschaft ganz von sich abschütteln und als Bürger der neuen Zeit sich entwickeln. Aber Morfain sah in ihm nur den Herrn und Sohn eines Herrn, und daß Blauchen sich von einem solchen Menschen hatte verführen lassen, das war Aufruhr und Teufelei, das traf ihn so tief, daß er Blauchen aus dem Hause jagte wie eine Verlorene. Das ganze alte Gebäude geriet ins Wanken, wenn eine so schöne und gute Tochter selbst eine der Stützen erschütterte, indem sie dem Sohne des Bürgermeisters Gehör schenkte, ja ihn vielleicht sogar angelockt hatte.

Blauchen, aus dem väterlichen Hause verjagt, hatte sich natürlich zu Achille geflüchtet, und Lucas sah sich genötigt, vermittelnd einzugreifen. Die beiden jungen Leute sprachen nicht einmal von Heirat. Wozu auch? Sie waren vollkommen sicher, daß sie einander liebten und nie verlassen würden. Um sich verheiraten zu können, hätte Achille gegen seinen Vater einen Prozeß anstrengen müssen, und das schien ihm eine unnötige verdrießliche Aufgabe. Umsonst drang Soeurette auf Vereinigung des Paares, da sie der Ansicht war, daß es notwendig sei, um des guten Rufes der Crêcherie willen der landläufigen Moral dieses Zugeständnis zu machen. Lucas bewog sie endlich dazu, daß sie die Augen zudrückte, denn er fühlte wohl, daß die neue Generation sich immer mehr der freien Ehe zuwenden werde.

Aber Morfain fand sich nicht so leicht in das Geschehene, und Lucas mußte eines Abends zu ihm hinaufsteigen, um ihm gut zuzureden. Seitdem der Gußmeister seine Tochter davongejagt hatte, lebte er allein mit seinem Sohn Dada in seiner Felsenhöhle, und die beiden Männer besorgten sich selbst die Wirtschaft. An diesem Abend hatten sie ihre Suppe gegessen und saßen an dem derben Eichentisch, den sie sich selbst mit Beil und Messer verfertigt hatten, während die schwachleuchtende Lampe ihre riesigen Schatten an die geschwärzten Wände warf.

»Trotz alledem, Vater«, sagte Dada, »die Welt geht vorwärts, und man kann nicht auf einem Flecke stehenbleiben.«

Morfain schlug mit der Faust auf den schweren Tisch, daß er zitterte.

»Ich habe gelebt, wie mein Vater gelebt hat, und eure Pflicht ist es, so zu leben wie ich.«

Gewöhnlich wechselten die beiden nicht vier Worte am Tag. Aber seit einiger Zeit war ein dumpfer Gegensatz zwischen ihnen entstanden und wuchs noch immer, und obgleich sie alles taten, um Auseinandersetzungen zu vermeiden, kam es doch manchmal dazu. Der Sohn konnte lesen und schreiben und wurde immer stärker berührt von dem Hauch der neuen Zeit, der bis in die Felsschluchten der Berge wehte. Und der Vater, in seinem starren Stolze, nichts anderes zu sein als ein ehrenfester Arbeiter, dessen Körperkraft genügte, um das Feuer zu bändigen und das Eisen zu besiegen, wallte auf in schmerzhafter Empörung, als er sah, daß sein Geschlecht entartete durch all dieses neuartige Wissen und überflüssige Denken.

»Wenn deine Schwester nicht Bücher gelesen und sich mit dem befaßt hätte, was da unten vorgeht, so wäre sie noch bei uns. Oh, diese verfluchte neue Stadt, die sie uns weggenommen hat!«

Er hatte die Faust wieder erhoben, aber er ließ sie nicht auf den Tisch niedersinken, sondern streckte sie durch die offene Tür in die Nacht hinaus, gegen die Crêcherie, deren Lichter gleich Sternen von unten herauffunkelten.

Dada schwieg aus Ehrfurcht vor seinem Vater. Er war auch nicht ganz unbefangen, denn er wußte, daß sein Vater auch gegen ihn erzürnt war, seitdem er ihn einmal mit Honorine, der Tochter des Weinhändlers Caffiaux getroffen hatte. Honorine, ein schwarzhaariges Mädchen von kleiner, zierlicher Gestalt mit einem fröhlichen, aufgeweckten Gesicht, hatte sich in diesen sanften Riesen verliebt. Und obgleich ihr Name noch nicht ausgesprochen worden war, handelte es sich in dieser Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn eigentlich nur um sie. Der unmittelbare Angriff, den der Sohn voraussah, ließ denn auch nicht lange auf sich warten.

»Und du«, fragte Morfain auf einmal, »wann wirst du mich verlassen?«

Dada schien bestürzt durch diesen Gedanken an eine Trennung.

»Warum sollte ich dich verlassen, Vater?«

»Oh, wenn ein Mädchen im Spiel ist, kann nichts anderes daraus entstehen als Zank und Zerstörung. Und was für eine hast du dir erwählt? Wird man sie dir denn überhaupt geben wollen, ist das nicht widersinnig, solche Heiraten zwischen Menschen ganz verschiedener Klassen? Die ganze Welt ist verkehrt, alles geht drunter und drüber, ich habe zu lange gelebt.«

Mit sanften und zärtlichen Worten suchte der Sohn den Vater zu beruhigen. Er leugnete seine Liebe zu Honorine nicht, aber er sprach davon wie ein vernünftiger Mann, der bereit war, sich in Geduld zu fassen, solange es sein mußte. Später würde sich schon alles finden. Was war es denn Übles, daß er und das Mädchen sich freundschaftlich guten Tag sagten, wenn sie einander begegneten? Wenn sie auch verschiedenen Klassen angehörten, so konnten sie doch Gefallen aneinander finden. Und wenn sich auch die verschiedenen Klassen ein wenig vermischten, hatte das nicht das Gute für sich, daß sie einander besser kennen und lieben lernten?

Aber vor Zorn und Bitterkeit überwallend, erhob sich Morfain plötzlich unter der niedrigen Felsdecke, die er fast mit dem Kopfe berührte, und die Hand ausstreckend rief er:

»Geh nur, geh, so bald du willst! Mach es wie deine Schwester, beschmutze alles, was ehrwürdig ist, verfalle in Schamlosigkeit und Tollheit! Ihr seid meine Kinder nicht mehr, ich erkenne euch nicht wieder, jemand hat euch verwechselt. Laßt mich allein in dieser Höhle, bis eines Tages auch die Felsen über mir zusammenstürzen und mich begraben!«

Lucas, der eben auf die Schwelle getreten war, hatte die letzten Worte gehört. Er war davon tief ergriffen, denn er empfand große Hochachtung vor Morfain. Er sprach lange und eindringlich mit ihm. Aber der Gußmeister hatte, sobald er den Chef eintreten sah, seinen Kummer zurückgedrängt und war nur noch der ergebene, gehorsame Arbeiter, der nichts kannte als seine Pflicht. Er gestattete sich nicht einmal ein Urteil über Lucas, der die erste Ursache aller empörenden Erscheinungen war, die die ganze Gegend in Aufruhr brachten und unter denen er litt. Die Herren waren die Herren, die tun konnten, was ihnen beliebte, und die Pflicht der Arbeiter war es, ehrenhaft zu bleiben und ihre Arbeit zu tun, wie ihre Väter sie getan hatten.

»Achten Sie nicht darauf, Herr Lucas, wenn ich meine eigenen Gedanken habe und manchmal böse werde, wenn mir etwas in die Quere kommt. Es geschieht nicht oft, Sie wissen, daß viel reden nicht meine Sache ist. Und Sie können überzeugt sein, daß das der Arbeit keinen Abbruch tut, ich habe immer ein Auge offen, kein Abstich findet statt, bei dem ich nicht dabei bin. Wenn einem das Herz schwer ist, arbeitet man nur um so stärker.«

Und als Lucas sich neuerdings bemühte, in dieser Familie den Frieden wieder herzustellen, der durch das Werk der Verjüngung, zu dessen Apostel er sich gemacht hatte, zerstört worden war, geriet der Gußmeister beinahe wieder in Zorn.

»Nein, nein, es ist genug, ich will nun in Frieden gelassen werden! Wenn Sie heraufgekommen sind, um mir von Blauchen zu sprechen, Herr Lucas, so haben Sie unrecht getan, denn das ist das sicherste Mittel, die Dinge noch schlimmer zu machen. Sie soll bleiben, wo sie ist – ich bleibe, wo ich bin!«

Und um von dem Gegenstand abzubrechen, sprach er unvermittelt von einem anderen, der auch nicht wenig zu seiner schlechten Laune beitrug: »Ich hatte eben die Absicht, zu Ihnen hinabzukommen und Ihnen mitzuteilen, daß ich heute früh wieder die Mine besucht habe, um womöglich die reiche Erzader aufzufinden, und wieder mußte ich erfolglos abziehen. Und doch hätte ich geschworen, daß ich sie am Ende des Stollens finden werde, den ich bezeichnet hatte! Aber was wollen Sie? Es ist wie ein Fluch auf allem, was wir seit einiger Zeit anfassen, alles schlägt fehl!«

Dieses Wort hallte in Lucas' Herzen wider wie das Totengeläute seiner hochfliegenden Hoffnungen. Eine kurze Weile sprach er noch mit den beiden Riesen, dem Vater und dem Sohn. Morfain brachte ihn fast zur Verzweiflung. Er erschien ihm wie der letzte Zeuge einer verschwundenen Welt mit seinem gewaltigen Kopfe, seinem großen, vom Feuer verbrannten und durchfurchten Gesichte, seinen glühenden Augen, seinen geschweiften, blutigroten Lippen. Lucas nahm endlich Abschied und stieg den Bergpfad wieder hinunter, tieftraurig und bedrückt. Er fragte sich, wieviel Dinge noch zertrümmert werden müßten, damit seine neue Stadt aus den Ruinen entstehen könne.

Und auch unten in der Crêcherie, in der stillen Häuslichkeit Soeurettes, ergaben sich für Lucas neue Ursachen der Entmutigung. Sie sah nach wie vor den Abbé Marle, den Lehrer Hermeline und den Doktor Novarre bei sich, und sie zeigte sich so glücklich, an solchen Tagen auch den Freund mit an ihrem Tische sehen zu können, daß er nicht den Mut hatte, fortzubleiben, trotz des tiefen Mißbehagens, das ihm die ewigen Streitigkeiten des Lehrers mit dem Pfarrer verursachten. Soeurette, die Friedliche und Gelassene, litt nicht unter diesen Gesprächen, und sie glaubte, daß sie auch ihn interessierten, während Jordan in seine Decken gehüllt dasaß und, im Geiste mit irgendeinem Versuch beschäftigt, zerstreut lächelnd zuhörte.

An einem Dienstag, als die kleine Tischgesellschaft wie gewöhnlich nach dem Essen im Salon saß, wurde das Gespräch besonders heftig. Hermeline hatte sich mit Lucas in eine Polemik über das Unterrichtssystem der Crêcherie eingelassen, wo die Geschlechter gemischt in den fünf Klassen saßen, wo die Schulstunden von langen Erholungspausen und von Arbeitsübungen in den Lehrwerkstätten unterbrochen wurden. Diese neue Schule hatte ihm manchen Schüler weggenommen, was er ihr nicht verzieh. Und sein knochiges Gesicht mit der eckigen Stirn und den dünnen Lippen war bleich vor unterdrücktem Zorn darüber, daß man an eine andere Wahrheit als an seine Wahrheit glauben konnte.

»Es mag noch hingehen, daß Knaben und Mädchen miteinander unterrichtet werden, obgleich mir das nicht sehr heilsam scheint. Die Schüler haben schon genug böse Instinkte, ihre Phantasie ist schon verdorben genug, wenn die Geschlechter getrennt sind, daß es wirklich überflüssig ist, sie zusammenzusetzen und sie durch die Vermischung noch mehr zu erregen und zu verderben. Es mögen wohl hübsche Dinge in den Winkeln vorgehen, wenn der Lehrer den Rücken kehrt. Aber was ganz und gar unzulässig ist, das ist die Vernichtung der Autorität des Lehrers, die Zerstörung der Zucht, die die unausbleibliche Folge sein muß, wenn man die Persönlichkeit dieser Rangen weckt, wenn man sie nach ihrem Belieben handeln läßt. Haben Sie mir nicht gesagt, daß jeder Schüler seiner eigenen Neigung folgt, daß er das Studium wählt, das ihm gefällt, daß es ihm freisteht, sich seine Lehrgegenstände auszusuchen? Sie nennen das die Geisteskräfte hervorrufen, wie? Und was ist das für ein Unterricht, bei dem man immerfort spielt, bei dem die Bücher geringschätzig angesehen werden, bei dem das Wort des Lehrers nicht mehr unfehlbar ist, bei dem die Kinder die Zeit, die sie nicht im Garten verspielen, in den Werkstätten verbringen, um Holz zu hobeln oder Eisen zu feilen? Ein Handwerk zu lernen ist gewiß sehr nützlich, aber alles hat seine Zeit. Zunächst einmal heißt es in die dicken Schädel der Faulpelze soviel Grammatik und Rechnen wie möglich hin einzuhämmern!«

Lucas hatte es aufgegeben, mit dem Lehrer zu streiten, er war es müde, immer wieder gegen diesen Fanatismus anzukämpfen, der sein Dogma des Fortschrittes verkündete und davon nicht einen Zollbreit abweichen wollte. Er erwiderte also bloß ruhig:

»Ja, wir glauben, daß es notwendig ist, die Arbeit anziehend zu machen, die hergebrachte Lehrmethode in praktischen, lebendigen Anschauungsunterricht umzuwandeln, und unser Zweck ist vor allem, freie Menschen mit eigenem Willen zu schaffen.«

Hermeline brach heftig los:

»Und wissen Sie, was Sie schaffen werden? Entwurzelte und Empörer. Es gibt nur ein Mittel, dem Staate Bürger zu liefern, nämlich sie für ihn so herzustellen, wie er sie braucht, um stark und groß zu werden. Daraus folgt die Notwendigkeit eines einheitlichen, streng geregelten Unterrichts, der dem Lande die Handwerker, die geistigen Arbeiter, die Beamten liefert, deren es bedarf. Und dazu gehört vor allem Autorität, sonst fehlt jeder feste, verläßliche Boden. Ich darf wohl von mir sagen, daß ich ein erprobter alter Republikaner und ein Freidenker bin. Niemandem wird es hoffentlich einfallen, mir rückschrittliche Neigungen zuzutrauen, aber Ihre sozusagen anarchistische Erziehungs- und Unterrichtsmethode bringt mich außer mir, weil sie, ehe fünfzig Jahre um sind, dazu führen müßte, daß es keine Staatsbürger, keine Soldaten, keine Patrioten mehr gäbe. Ich möchte sehen, wie Sie aus Ihren freien Menschen Soldaten machen. Und wer sollte dann das Vaterland verteidigen, wenn es einen Krieg gäbe?«

»Freilich, wenn es einen Krieg gäbe, müßte das Vaterland verteidigt werden«, versetzte Lucas gelassen. »Aber wenn es keinen Krieg mehr gibt, dann braucht man eben auch keine Soldaten mehr. Sie sprechen wie Hauptmann Jollivet im ›Journal de Beauclair‹, wenn er uns vorwirft, daß wir vaterlandslose Verräter sind.«

Dieser harmlose Spott brachte Hermeline außer sich.

»Hauptmann Jollivet ist ein Dummkopf, mit dem ich nichts gemein habe. Nichtsdestoweniger steht es fest, daß Sie uns eine zügellose Generation heranziehen wollen, die sich gegen den Staat auflehnen und die Republik in die unheilvollsten Katastrophen stürzen würde.«

»Alle Freiheit, alle Wahrheit, alle Gerechtigkeit sind Katastrophen«, sagte Lucas lächelnd.

Aber Hermeline fuhr fort, ein schaudererregendes Bild des Zustandes zu entwerfen, in den der Staat geraten müßte, wenn die Schulen aufhörten, einheitliche Bürger heranzubilden, die alle für den Bedarf der allmächtigen Republik zugeschnitten sind: keine politische Zucht, keine Staatsherrschaft mehr, jede Verwaltung unmöglich geworden, die regellose Willkür jedes einzelnen zur vollständigen körperlichen und moralischen Entartung führend. Und der Abbé Marle, der kopfnickend zugehört hatte, konnte sich plötzlich nicht enthalten, auszurufen:

»Oh, wie recht haben Sie, wie wahr ist alles, was Sie sagen!«

Sein volles Gesicht mit den regelmäßigen Zügen und der Adlernase strahlte vor freudiger Zustimmung zu diesem wütenden Angriff auf die entstehende neue Gesellschaftsordnung, von der er fühlte, daß sie seinen Gott verbannen und zum historischen Götzenbild einer toten Religion herabsetzen würde. Er selbst erhob jeden Sonntag von der Kanzel dieselben Anklagen, prophezeite dasselbe Unheil. Aber man hörte nicht auf ihn, seine Kirche leerte sich von Sonntag zu Sonntag mehr, und er, der darüber tiefverborgenen, brennenden Schmerz empfand, zog sich, um Trost zu finden, nur um so mehr auf die Enge der konfessionellen Dogmen zurück. Nie hatte er sich peinlicher auf ihren Wortlaut beschränkt, nie hatte er seinen Beichtkindern strengere Bußen auferlegt, als ob er gewollt hätte, daß diese bürgerliche Welt, deren Fäulnis er mit dem Mantel der Religion bedeckte, wenigstens in schöner Haltung untergehe. An dem Tage, da seine Kirche zusammenbrechen sollte, wollte er vor dem Altar stehen und unter den stürzenden Trümmern seine letzte Messe lesen.

»Wahrlich, die Herrschaft Satans ist nahe, wenn Knaben und Mädchen miteinander aufwachsen, alle bösen Leidenschaften entfesselt werden, alle Autorität zerstört, das Reich Gottes auf Erden aufgerichtet wird, wie zur Zeit der Heiden. Das Bild, das Sie da entworfen haben, ist so zutreffend, daß ich ihm nichts hinzuzufügen habe.«

Voll Unbehagen, von dem Pfarrer so gelobt zu werden, mit dem er sonst in keinem Punkte übereinstimmte, schwieg der Lehrer und sah durchs Fenster auf den Park hinaus, als ob er nichts gehört hätte.

»Aber«, fuhr der Abbé Marle fort, »noch unverzeihlicher als die Erziehung in Ihren Schulen ist, daß Sie Gott aus Ihrer Gemeinde verjagt haben, daß Sie es absichtlich unterlassen haben, eine Kirche zu bauen in Ihrer neuen Stadt, die soviel schöne und nützliche Gebäude enthält. Beabsichtigen Sie, ohne Gott zu leben? Bis jetzt hat kein Staat ihn entbehren können, ohne Religion ist es unmöglich, die Menschen zu regieren.«

»Ich beabsichtige nichts in diesem Punkte«, erwiderte Lucas. »Jedem Menschen steht es frei, seinem Glauben zu leben, und wenn noch keine Kirche gebaut wurde, so kommt das nur davon, daß noch keiner von uns das Bedürfnis danach empfunden hat. Aber wir können eine bauen, sowie genug Gläubige da sind, um sie zu füllen. Es wird einer beliebigen Gruppe von Bürgern keine Schwierigkeiten bereiten, ihre Gefühle in dieser Hinsicht zu befriedigen. Und was die Notwendigkeit einer Religion betrifft, so ist diese in der Tat vorhanden, wenn man die Menschen regieren will. Aber wir wollen sie nicht regieren, wir wollen im Gegenteil, daß sie als freie Bürger in der freien Stadt leben. Sehen Sie, Herr Abbé, nicht wir zerstören den Katholizismus, er zerstört sich selbst, er stirbt langsam eines natürlichen Todes, wie alle Religionen notwendigerweise sterben, sobald sie ihre historische Aufgabe erfüllt haben, sobald in der Entwicklung der Menschheit ihre Stunde geschlagen hat. Die Wissenschaft vernichtet nacheinander alle Dogmen, die Religion der Menschlichkeit ist erstanden und wird die Welt erobern. Wozu sollten wir eine katholische Kirche in der Crêcherie bauen, wenn Ihre Kirche schon zu groß für Beauclair ist, wenn sie von Tag zu Tag leerer wird und eines Tages zusammenbricht?«

Der Pfarrer war bleich geworden und tat, als habe er nicht verstanden. Mit dem Starrsinn des Gläubigen, der stets nur Behauptungen aufstellt, ohne je Beweise zu liefern oder Einwände zu hören, wiederholte er:

»Wenn Gott nicht mit Ihnen ist, müssen Sie untergehen. Ich sage Ihnen, bauen Sie eine Kirche!«

Hermeline konnte nicht länger an sich halten. Das Lob des Pfarrers lag ihm wie eine Last auf der Seele, besonders da dieser die Konsequenz daraus zog, daß es notwendig sei, eine Kirche zu bauen. Er rief: »Nein, nein, Abbé, nur keine Kirche! Sicherlich hat die Entwicklung der Dinge hier nicht meinen Beifall. Aber wenn es etwas gibt, womit ich ganz einverstanden bin, so ist es die Abschaffung jeder Staatsreligion. Die Menschen regieren, gewiß, aber nicht die Pfarrer sollen sie von der Kanzel herab regieren, sondern wir, die Bürger, vom Rathaus aus. Aus den Kirchen werden wir einfach Getreidespeicher machen.«

Da fuhr der Abbé Marle auf und sagte, daß er in seiner Gegenwart derlei gotteslästerliche Worte nicht dulde, und das Gespräch wurde so scharf, daß der Doktor Novarre wieder wie gewöhnlich eingreifen mußte. Bis jetzt hatte er ruhig zugehört und nur mit seinen klugen, glänzenden Augen von einem zum anderen geblickt, als stiller, ein wenig skeptischer Mann, der sich um bloßer Worte willen nicht aufregte, und wenn sie noch so heftig waren. Aber er glaubte zu bemerken, daß Soeurette anfing, den Streit peinlich zu finden.

»Nun, nun, meine Herren, Sie sind ja beinahe einig, da Sie beide gute Verwendung für die Kirchen haben. Der Abbé wird immer noch seine Messe da lesen können, während er einen Winkel den Früchten der Erde überlassen könnte in den Jahren großen Überflusses. Der liebe Gott wird nicht nein sagen.«

Dann sprach er von einer neuen Rosenart, die er gezüchtet hatte, von schönem, reinen Weiß mit einem glühendroten Fleck in der Mitte. Er hatte einen Strauß mitgebracht, und Soeurette blickte mit dankbarem Lächeln auf die duftige Gabe, trotzdem still und traurig gestimmt durch die verletzende Heftigkeit, die der Widerstreit der Meinungen an ihrem Tische annahm. Wenn das so fortging, war es wohl mit der Dienstaggesellschaft bald vorbei.

Jetzt erst erwachte Jordan aus seinem Sinnen. Er hatte mit aufmerksamer Miene dagesessen, als ob er zuhörte. Aber als er nun sprach, zeigte es sich, wie weit sein Geist abgeschweift war.

»Haben Sie gehört, daß es einem Gelehrten in Amerika gelungen ist, genug Sonnenwärme aufzuspeichern, um Elektrizität zu erzeugen?«

Als Lucas mit den Geschwistern Jordan allein geblieben war, entstand ein langes Stillschweigen. Der Gedanke an die armen Menschen, die sich gegenseitig wegstießen und zu Boden traten in ihrem blinden Vorwärtsdrängen zum Glücke, bedrückte sein Herz. Er sah immer deutlicher ein, welch furchtbar schwere Aufgabe es war, für das allgemeine Wohl zu arbeiten, da selbst die, die er retten wollte, sich gegen den Retter empörten. Und manchmal überkam ihn eine tiefe Entmutigung, die er sich selbst noch nicht eingestehen wollte, die ihn aber matt an Körper und Geist machte, wie nach einer großen vergeblichen Anstrengung. Sein Wille wankte und war auf dem Punkte, zusammenzubrechen.

Wenige Tage später, an einem Herbstmorgen, machte Soeurette eine Entdeckung, die ihrem Herzen eine tiefe, brennende Wunde schlug. Sie war sehr zeitig aufgestanden, um in den Kuhstall zu gehen, den sie eingerichtet hatte, um für die Kinder der Crêcherie gute Milch zu bekommen, und ihr Weg führte längs der von einer Mauer abgeschlossenen Terrasse hin, an deren Ende das von Lucas bewohnte Häuschen lag. Als sie nun an die Mauer trat, um einen Blick auf die Straße nach Combettes zu werfen, öffnete sich die kleine Tür, die von dem Häuschen auf die Straße führte, eine Frauengestalt schlüpfte heraus und verschwand im rosigen Morgennebel. Aber sie hatte sie erkannt, die zarte, schlanke Gestalt, gleich der einer Elfe, die vor der aufgehenden Sonne flieht. Es war Josine, sie kam von Lucas, und da sie im ersten Morgengrauen aus seiner Tür trat, mußte sie die Nacht bei ihm verbracht haben.

Seitdem Ragu die Crêcherie verlassen hatte, war Josine manchmal zu Lucas gekommen, in den Nächten, in denen sie frei war. Aber diese Nacht hatte sie ihm gesagt, daß sie nicht wiederkommen könne, sie fürchtete, daß man sie beargwöhnen, daß eine Nachbarin ihr nachspüren und sie verraten könnte. Überdies war ihr der Gedanke, daß sie lügen, daß sie heimlich davonschleichen müsse wie ein Dieb, so qualvoll geworden, daß sie lieber den Tag abwarten wollte, da sie ihre Liebe würde laut bekennen können. Lucas mußte ihr beistimmen und sich in die Trennung finden. Aber welche Nacht voll glühender Zärtlichkeit und verzweifelten Schmerzes, welch herzzerreißender Abschied im ersten Grauen des Morgens! Immer und immer wieder hatten sie sich umfaßt, immer den letzten Kuß noch durch einen allerletzten Lügen gestraft, immer neue Schwüre ausgetauscht, so daß es schon heller Tag war, als sie sich endlich loßriß und forteilte. Und nur die Morgennebel hatten sie ein wenig den Blicken verborgen, als sie das Haus verließ.

Josine verbrachte die Nacht bei Lucas, kam im Morgengrauen aus seiner Wohnung heraus! Diese plötzliche Entdeckung schmetterte auf Soeurette nieder wie ein Keulenschlag. Sie war erstarrt, regungslos stehengeblieben, als ob die Erde sich vor ihren Füßen geöffnet hätte. Ihr Herz pochte zum Zerspringen, in ihren Ohren sauste es, alles drehte sich mit ihr, ihr schwindelndes Hirn war keines klaren Gedankens fähig. Sie vergaß, weswegen sie hierhergekommen war, wandte sich plötzlich um, lief nach Hause zurück, als ob auch sie fliehen müßte, erreichte atemlos und halb sinnlos ihr Zimmer, warf sich auf ihr offenes Bett und preßte die Hände an die Augen, an die Ohren, wie um nichts zu sehen und nichts zu hören. Sie weinte nicht, sie war sich ihres Zustandes noch nicht klar bewußt, sie war nur überwältigt von Verzweiflung und namenlosem Entsetzen.

Warum litt sie so fürchterlich, warum war ihre Seele so zerrissen von dieser Enthüllung? Sie hatte bisher nichts anderes zu sein geglaubt als die liebevolle Freundin Lucas', seine Schülerin und Helferin, die ihm mit freudiger Ergebenheit zur Seite stand in seinem Wirken für das menschliche Glück und die Gerechtigkeit. Sie wähnte, an seiner Seite nichts anderes zu empfinden als das köstlich-sanfte Gefühl einer Seelenverschwisterung, und noch kein stärkerer Schauer hatte bisher an ihr Herz gerührt. Und nun auf einmal brannte ihr ganzes Wesen, wurde sie von heftigem Fieber geschüttelt, weil sie ein anderes Weib hatte am frühen Morgen aus seinem Zimmer schleichen sehen, und die Vorstellung, daß diese andere die Nacht bei ihm verbracht habe, quälte sie mit Bildern, die sie dem Wahnsinn nahe brachten. Sie liebte also Lucas, sie begehrte ihn! Und sie entdeckte das erst an dem Tage, da das Unglück schon geschehen war, da sie keine Hoffnung haben konnte, ihm noch Liebe für sich einzuflößen! Das war das Entsetzliche, das Vernichtende, daß sie in so mitleidsloser Weise erfahren mußte, daß sie ihn liebte, im Augenblicke, da eine andere den von ihr begehrten Platz eingenommen hatte und ihr den Weg zu einem Herzen versperrte, in dem sie vielleicht als angebetete und allmächtige Königin hätte herrschen können! Davor verschwand alles andere, sie dachte im Augenblick nicht daran, wie ihre Liebe entstanden und gewachsen, wieso sie ihrer selbst nicht bewußt geworden war. Endlich kamen die Tränen, sie schluchzte, als wollte sie sich die Seele herausweinen, sie wand sich verzweifelt unter der Brutalität der vollendeten Tatsache, angesichts des Hindernisses, das so plötzlich zwischen ihr und dem Manne emporgewachsen war, dem sich ihr ganzes Wesen hingegeben hatte, ohne daß sie es wußte. Und nur ein Gedanke erfüllte sie, nichts war ihr in dem Aufruhr ihrer Seele deutlich gegenwärtig als die Frage: was sollte sie tun, was ersinnen, damit er sie liebe? Denn es schien ihr unfaßbar, daß sie nicht geliebt werden sollte, da sie liebte, da sie nie aufhören würde zu lieben! Nun, da sie sich ihrer Liebe bewußt geworden war, verbrannte sie ihr das Herz, sie konnte nicht leben, wenn nicht Gegenliebe ihr kühlenden Balsam brachte. So kämpfte mit wildjagenden Gedanken, mit verzweifelten, gestaltlosen Entschlüssen dieses reife, Kind gebliebene Mädchen, das so plötzlich in die qualvolle Wirklichkeit des Lebens hineingeschleudert worden war!

Lange lag sie so, zerrissen, vernichtet, das Gesicht in die Kissen vergraben. Die Sonne war höher gestiegen, der Morgen war weit vorgeschritten, ohne daß sie einen Ausweg aus dem entsetzlichen Wirrsal ihrer Empfindungen gefunden hätte. Immer kam die zwingende, unabweisliche Frage wieder: was sollte sie tun, um sagen zu können, daß sie liebte, um zu erreichen, daß sie wieder geliebt werde? Da fiel ihr plötzlich ihr Bruder ein. Ja, ihm mußte sie sich anvertrauen, er war der einzige Mensch auf der Welt, der sie kannte, der wußte, daß ihrem Herzen jede Lüge fremd war. Er war ein Mann, er würde sie sicher verstehen, würde sie lehren, was man tun muß, wenn man glücklich werden will. Und ohne weiter zu überlegen, sprang sie auf und eilte ins Laboratorium hinab, wie ein Kind, das mit seinem großen Schmerz zur Mutter läuft.

Jordan war gerade diesen Morgen von einem schmerzlichen Schlag getroffen worden. Seit Monaten glaubte er die Lösung des Problems der elektrischen Fernleitung mit geringen Kosten gefunden zu haben. Die Kohle wurde direkt am Förderungsorte verbrannt und die gewonnene Elektrizität ohne jeden Kraftverlust weitergeleitet, wodurch sich der Kostenpreis außerordentlich verringerte. Vier Jahre angestrengter Arbeit, die er seinem kränklichen Körper abringen mußte, hatte er auf diese Frage verwandt. Er berechnete sorgfältig, was seine schwache Gesundheit leisten konnte, schlief viel, ruhte häufig, in seine Decken gewickelt, und nutzte mit weiser Methode die wenigen Stunden, die ihm seine körperliche Schwäche für die Arbeit gestattete. Und indem er so dem undankbaren Instrumente, das sein elender Körper war, die größtmögliche Leistung abgewann, erreichte er eine gewaltige Arbeitsleistung. Man verbarg ihm die Krise, die die Crêcherie durchzumachen hatte, um ihn nicht zu stören. Er glaubte, daß alles gut ginge, und übrigens war er nicht imstande, irgend etwas von dem zu bemerken, was um ihn geschah, da er für nichts Interesse hatte als für seine Studien und nur im Bannkreise seines Laboratoriums lebte. An diesem Morgen hatte er sich, da er sich besonders wohl und klaren Geistes fühlte, sehr zeitig an die Arbeit gemacht, um ein letztes, entscheidendes Experiment anzustellen. Und das Experiment war total mißlungen, er war auf ein unvorhergesehenes Hindernis gestoßen, einen Rechenfehler, eine übersehene Einzelheit, die mit einem Male eine vernichtende Wichtigkeit annahm und die langgesuchte Konstruktion seiner elektrischen Öfen auf unabsehbare Zeit hinausschob.

Es war eine Katastrophe. Wieder soviel nutzlose Arbeit vertan, wieder soviel neue Arbeit nötig! Er hatte sich eben, in seine Decken gehüllt, in den Sessel zurückgelehnt, in dem er so viele Stunden verbrachte, und blickte in die trostlose Leere des großen Raumes, als seine Schwester eintrat. Als er sie so bleich und verstört sah, geriet er sofort in lebhafte Unruhe.

»Was hast du, liebes Kind? Bist du krank?«

Ihr Geständnis kostete sie keine Überwindung. Ohne Zögern sagte sie, während ein Schluchzen aus ihrem armen Herzen in ihre Kehle stieg:

»Martial, ich liebe Lucas, und er liebt mich nicht wieder. Ich bin sehr unglücklich!«

Und in ihrer einfachen, ehrlichen Weise erzählte sie die ganze Geschichte, wie sie Josine aus Lucas' Hause hatte kommen sehen und wie ihr dies einen so furchtbaren Schmerz verursacht habe, daß sie zu ihm geeilt sei, um bei ihm Trost und Linderung zu suchen. Sie liebte Lucas, und Lucas liebte sie nicht!

Jordan hörte sie betäubt an, als ob sie ihm von einem Welteinsturz berichtet hätte.

»Du liebst Lucas? Du liebst Lucas?«

Liebe – warum Liebe? Daß diese Schwester, die er immer gewohnt war an seiner Seite zu sehen wie sein zweites Ich, einen Mann lieben sollte, das konnte er nicht fassen. Er hatte nie daran gedacht, daß sie lieben und daß sie darüber unglücklich sein könnte. Das war ein Gefühl, das er nicht kannte, eine Welt, die er noch nie betreten hatte. Er war selbst so unschuldig, so vollkommen unerfahren in diesen Dingen, daß er ganz hilflos wurde.

»Sag nur, Martial, sag mir nur, warum liebt Lucas diese Josine, warum liebt er nicht mich?«

Sie hatte die Arme um seinen Hals geschlungen und schluchzte an seiner Schulter, so trostlos und verzweifelt, daß es ihm das Herz zerriß. Was sollte er ihr sagen, wie sollte er sie belehren, wie sie trösten?

»Ich weiß es nicht, mein armes Schwesterchen, ich weiß es nicht. Er liebt sie wohl, weil er sie liebt. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Er würde dich lieben, wenn er dich früher kennen und lieben gelernt hätte.«

Das war es. Lucas liebte Josine, weil sie das liebende Weib war, das alle zärtlichen Gefühle des Herzens erweckte. Und obendrein hatte er sie im Unglück gefunden, und sie war schön, sie war von der göttlichen Begierde durchbebt, sie bot ihm den wollüstigen und fruchtbaren Körper, durch den die Welt sich ewig verjüngt.

»Aber er hat mich doch früher gekannt als sie, warum hat er mich nicht zuerst geliebt?«

Jordan, den diese Fragen mehr und mehr in Verlegenheit setzten, suchte bewegt nach Antworten und fand gute und zarte Worte in der Einfalt seines Herzens.

»Vielleicht weil er als Freund, als Bruder in unser Haus gekommen ist. Er ist dein Bruder geworden.«

Sein Blick ruhte auf ihr, und er sagte ihr nicht die ganze Wahrheit, denn er sah, wie klein und schwächlich sie war, gleich ihm, wie blaß und reizlos ihr Gesicht. Sie war nicht für die Liebe geschaffen, das schmächtige Mädchen in dem schmucklosen schwarzen Kleide. Wohl lag die Anmut der Sanftheit und Güte über ihr, aber auch zugleich der Schleier der Schwermut, wie über allen Schweigsamen und Opferwilligen. Lucas hatte sicherlich nie etwas anderes in ihr gesehen als eine kluge, eine edelherzige, eine in ihrer Wunschlosigkeit glückliche Freundin.

»Ja, siehst du, mein armes Schwesterchen, da er sich als dein Bruder fühlt wie ich, so kann er dich nicht lieben, wie er Josine liebt. Er ist darauf nie verfallen. Aber trotzdem liebt er dich sehr, er liebt dich mehr als Josine, er liebt dich so, wie ich dich liebe.«

Aber Soeurettes armes, liebendes Herz wehrte sich heftig gegen diese Deutung, und sie rief unter doppelt heftigem Schluchzen:

»Nein, nein, er liebt mich nicht mehr als Josine, er liebt mich gar nicht. Das heißt ein Weib nicht lieben, wenn man sie wie ein Bruder liebt, das ist kein Trost, wenn ich leide, was ich leide, da ich sehe, daß er für mich verloren ist. Bis jetzt habe ich nichts von allen diesen Dingen gewußt, aber jetzt weiß ich sie, jetzt fühle ich sie, da ich sterbe vor schrecklicher Qual!«

Jordan konnte kaum die Tränen zurückhalten.

»Schwesterchen, Schwesterchen, du tust mir furchtbar weh! Sei doch nur vernünftig, du wirst dich noch krank machen, wenn du dich so dem Kummer überläßt. Ich erkenne dich gar nicht wieder, meine sonst so ruhige, kluge Schwester, die immer begriffen hat, daß man dem Elend dieses Daseins eine starke Seele entgegensetzen muß!«

Er versuchte zu beschwichtigen.

»Sag einmal, du hast doch Lucas keinen Vorwurf zu machen?«

»Nein, nein, nicht den geringsten. Er ist mir sehr zugetan, und wir haben immer nur als gute Freunde miteinander verkehrt.«

»Nun, siehst du! Er liebt dich, wie er dich lieben kann, und du hast kein Recht, gegen ihn aufgebracht zu sein.«

»Ich bin ja nicht aufgebracht! Ich hasse niemanden, ich leide nur so schrecklich!«

Wieder brach sie in Schluchzen aus, und in einem erneuten Aufwallen der Verzweiflung rang sich der Schrei aus ihrem Herzen:

»Warum liebt er mich nicht? Warum liebt er mich nicht?«

»Wenn er dich nicht so liebt, wie du geliebt sein möchtest, Schwesterchen, so kommt das nur davon, weil er dich nicht genug kennt. Nein, er kennt dich nicht, wie ich dich kenne, er weiß nicht, daß du das beste, sanfteste, hingebungsvollste, liebreichste Mädchen bist. Du wärst seine Gehilfin, seine Gefährtin gewesen, du hättest sein Leben gefördert und verschönt. Aber die andere ist gekommen mit ihrer Schönheit, eine starke, eine sehr starke Macht hat auf ihn gewirkt, und er hat sich ihr zugewandt, ohne auf dich zu achten. Du mußt verzichten, mein armes Schwesterchen.«

Er hielt sie an seine Brust gedrückt und küßte sie aufs Haar. Aber ihr Herz wehrte sich verzweifelt.

»Nein, nein, ich kann nicht, ich kann nicht!«

»Ja, du wirst verzichten, du bist zu gut, zu klug, um nicht zu verzichten. Und mit der Zeit wirst du vergessen.«

»O nein, das nicht! Niemals!«

»Ich hatte unrecht, ich verlange nicht, daß du vergißt, bewahre die Erinnerung in deinem Herzen, niemandem wird dadurch ein Leid geschehen. Aber ich verlange den Verzicht von dir, weil ich weiß, daß er in deiner Natur hegt, daß du seiner fähig bist, bis zum Opfer, bis zur Selbstverleugnung. Denke doch nur, welches Unheil entstehen könnte, wenn du sprächest, wenn du dich auflehntest. Unser Leben wäre zerstört, unsere Werke vernichtet, und du würdest noch tausendmal mehr leiden.«

Bebend vor Leidenschaft fiel sie ihm ins Wort.

»So soll das Leben zerstört, die Werke vernichtet werden! Wenigstens werde ich mein brennendes Verlangen befriedigt haben. Du solltest nicht so grausam zu mir sprechen. Du bist egoistisch!«

»Egoistisch, wenn ich nur an dich denke, mein armes, teures Kind? Nur der Schmerz verbittert in diesem Augenblick deine gute Seele. Aber welche brennenden Vorwürfe würdest du dir später machen, wenn ich dich alles zerstören ließe! Du könntest nicht länger leben, wenn du inne würdest, welches Unheil du angerichtet hast. Nein, du armes, geliebtes Herz, du wirst verzichten, aus Selbstverleugnung und wunschloser Zärtlichkeit wird dein Glück bestehen!«

Tränen erstickten seine Stimme, sie schluchzten nun gemeinsam. Und voll unendlichen Mitleids, mit überströmender Zärtlichkeit wiederholte er:

»Du wirst verzichten, du wirst verzichten.«

Sie wehrte sich noch, aber schon unterliegend, und sie jammerte nur noch leise, wie ein armes verletztes Kind, dessen Schmerzen man einzuschläfern sucht.

»Nein, nein, ich will leiden! Ich kann nicht, ich kann nicht verzichten!«

Lucas sollte an diesem Tag mit den Geschwistern zu Mittag essen, und als er gegen halb zwölf Uhr ins Laboratorium kam, fand er die beiden noch sehr erregt, mit geröteten Augen. Aber er selbst war so schmerzdurchwühlt, so niedergedrückt, daß er nichts bemerkte. Der Abschied von Josine, die grausame Notwendigkeit der Trennung von ihr erfüllte ihn mit Verzweiflung. Es war ihm, als sei ihm seine letzte Kraft genommen, da ihm seine Liebe genommen worden war, die Liebe, die er für seine Mission als notwendig erachtete. Wenn er Josine nicht rettete, so würde er niemals das arme, leidende Volk retten können, dem er sein Leben gewidmet hatte. Und seitdem er sein Bett verlassen hatte, richteten sich alle Hindernisse, die ihm den Weg versperrten, drohend und unübersteiglich vor seinem Geiste auf. Er sah das düstere Bild der untergehenden, der untergegangenen Crêcherie vor sich, es schien ihm Wahnsinn, noch auf die Möglichkeit einer Rettung zu hoffen. Die Menschen standen einander haßerfüllt gegenüber, er hatte keine brüderliche Liebe zwischen ihnen hervorrufen können, alle tiefgewurzelte menschliche Unzulänglichkeit vereinigte sich, um seinem Werke das Grab zu graben. Mit einem Schlage hatte er den Glauben an sich und seine Sendung verloren, und er war die Beute der schrecklichsten Entmutigung, die er bisher durchgemacht hatte. Der Held in ihm wankte, verschlimmerte kleinmütig das Übel, war auf dem Punkte, seine Aufgabe im Stich zu lassen, da er die Niederlage für unabwendbar hielt.

Soeurette, die seine Verstörtheit bemerkte, vergaß in ihrer Güte darüber fast ihr eigenes Leid.

»Sind Sie krank, lieber Freund?«

»Ja, ich fühle mich nicht recht wohl. Ich habe einen schrecklichen Vormittag hinter mir, seit dem Morgen habe ich nur Unangenehmes erfahren.«

Sie fragte nicht weiter, sie blickte nur voll Herzensangst auf ihn, indem sie dachte, worin wohl sein Leiden bestehen könnte, da er liebte und geliebt wurde. Um die heftige Erregung zu verbergen, in der sie selbst sich befand, hatte sie sich an ihren kleinen Schreibtisch gesetzt und tat, als mache sie Notizen für ihren Bruder, während dieser sich wieder ermattet hatte in seinen Sessel sinken lassen.

»Nun, mein lieber Lucas«, sagte er, »wir taugen, wie es scheint, beide nicht viel. Denn wenn ich mich auch beim Aufstehen ziemlich kräftig gefühlt habe, so habe ich seitdem so viel Widerwärtigkeiten gehabt, daß ich nun ganz erschöpft bin.« Lucas schritt eine Weile mit düsterer Miene auf und ab, ohne etwas zu erwidern, blieb manchmal vor dem hohen Fenster stehen und warf einen Blick auf die Crêcherie, auf die keimende Stadt, deren Dächer sich vor ihm ausbreiteten. Dann konnte er die Bitterkeit, die sein Herz erfüllte, nicht länger zurückhalten und sagte plötzlich:

»Lieber Freund, Sie müssen endlich alles wissen. Wir wollten Sie in Ihren Studien nicht stören, wir haben Ihnen verheimlicht, daß es schlecht um uns steht in der Crêcherie. Die Arbeiter verlassen uns, Uneinigkeit und Empörung haben sie ergriffen infolge der ewigen Mißverständnisse, der Selbstsucht und des Hasses. Ganz Beauclair erhebt sich feindlich gegen uns, die Kaufleute, ja selbst die Arbeiter, die wir in ihren eingewurzelten Gewohnheiten stören, machen uns das Leben so schwer, daß unsere Lage von Tag zu Tag gefährdeter wird. Ich weiß nicht, ob gerade heute zu viel Widerwärtiges zusammengekommen ist, aber so viel ist gewiß, daß mir seit heute unser Unternehmen hoffnungslos scheint. Ich halte uns für verloren, und ich kann Sie nicht länger in Unkenntnis über die Katastrophe lassen, der wir entgegengehen.«

Jordan hörte ihn erstaunt an. Er blieb jedoch vollkommen ruhig, ja ein leichtes Lächeln trat auf seine Lippen.

»Übertreiben Sie nicht ein wenig, lieber Freund?«

»Nehmen wir an, daß ich übertreibe, daß der Zusammenbruch noch nicht vor der Tür steht. Aber ich würde mich für gewissenlos halten, wenn ich Sie nicht von meinen schweren Befürchtungen unterrichtete. Als ich für das soziale Heilswerk, das mir vorschwebte, Ihren Grundbesitz, Ihr Geld von Ihnen verlangte, da habe ich Ihnen nicht nur die Teilnahme an einem großen und edlen Unternehmen, das Ihrer würdig wäre, in Aussicht gestellt, sondern auch ein gutes Geschäft. Und nun muß ich mit dem Bekenntnis vor Sie hintreten, daß ich Sie getäuscht habe, daß Ihr Geld von einem schmählichen Mißerfolg verschlungen werden wird! Wie sollte ich da nicht von den schrecklichsten Gewissensbissen gequält werden?«

Jordan machte eine Gebärde, wie um zu sagen, daß am Gelde wenig gelegen sei. Aber Lucas fuhr fort:

»Und es handelt sich nicht nur um die großen Summen, die das Unternehmen schon verschlungen hat, täglich sind neue Summen nötig, um den Kampf fortzusetzen. Ich wage es nicht mehr, sie von Ihnen zu verlangen, denn wenn ich mich selbst opfern kann, so habe ich nicht das Recht, Sie und Ihre Schwester in meinen Sturz mit hineinzuziehen.« Er ließ sich kraftlos, gebrochen in einen Sessel fallen, während Soeurette sehr blaß an ihrem Schreibtisch saß und stumm, in heftiger Erregung, auf die beiden Männer blickte.

»Wirklich, so schlimm steht es also?« sagte Jordan gelassen. »Ihre Idee war trotzdem sehr gut, und Sie haben schließlich auch mich überzeugt. Ich habe kein Hehl daraus gemacht, daß mich alle diese politischen und sozialen Reformversuche kalt lassen, da ich von der Ansicht durchdrungen bin, daß nur die Wissenschaft revolutionär ist, daß nur sie die Entwicklung der Zukunft vorbereitet und den Menschen zur vollen Wahrheit und Gerechtigkeit führt. Aber Ihre Solidarität war so schön! Nach den Stunden freudiger Arbeit habe ich oft durch dieses Fenster mit lebhaftem Anteil auf Ihre wachsende Stadt geblickt. Es machte mir Vergnügen, sie zu betrachten und mir zu sagen, daß ich für sie arbeitete und daß eines Tages die Elektrizität ihre Triebkraft, ihre nützliche und wohltätige Arbeitsverrichterin sein wird. Müssen wir also auf alles das verzichten?«

»Ich bin am Ende meiner Kraft«, rief Lucas verzweifelt aus. »Mein Mut ist gebrochen, alle meine Zuversicht ist dahin. Ich gebe es auf, ich will lieber alles im Stiche lassen, als ein neues Opfer von Ihnen verlangen. Sagen Sie selbst, lieber Freund, würden Sie daran denken, mir das Geld zu geben, dessen ich noch bedarf, und wo sollte ich die Kühnheit hernehmen, es von Ihnen zu verlangen?«

Lucas machte die böse Stunde, die schwarze Stunde durch, die alle Helden, alle Apostel erfahren, die Stunde, da die Erleuchtung schwindet, da das Bewußtsein der Mission überschattet wird, da das Werk unausführbar scheint. Eine vorübergehende Erschlaffung der Seele, die Feigheit eines Augenblicks, die aber entsetzliche Qualen bereitet.

Jordan lächelte wieder nur in seiner stillen, seelenruhigen Weise. Er antwortete nicht gleich auf die mutlose Frage Lucas' in bezug auf die großen Geldsummen, die noch erforderlich wären. Mit einer fröstelnden Bewegung zog er die Decken enger um seine schwachen Glieder. Dann sagte er sanft: »Auch ich, lieber Freund, bin nicht sehr froh gestimmt, denn ich bin heute früh von einer wahren Katastrophe betroffen worden. Sie wissen, daß ich schon das Mittel gefunden zu haben glaubte, um die elektrische Kraft mit geringen Kosten und ohne Stromverlust in die Ferne zu leiten. Nun, ich habe mich getäuscht, alles, was ich schon zu halten glaubte, ist mir zwischen den Fingern zerronnen, Ein Kontrollversuch, den ich heute morgen anstellte, ist total mißglückt, und ich kann mich nicht darüber täuschen, daß ich wieder von vorn anfangen muß. Die Arbeit von Jahren ist umsonst gewesen. Sie können sich vorstellen, lieber Freund, wie schmerzlich das ist, wenn man so plötzlich auf ein unüberwindliches Hindernis stößt, nachdem man schon den Sieg in Händen zu haben glaubte.«

Soeurette war tief betroffen von diesem Mißerfolg, von dem sie noch nichts wußte. Und Lucas vergaß seinen eigenen Kummer und streckte voll herzlichen Mitgefühls dem Freund die Hand entgegen. Nur Jordan blieb ruhig. Nur der leichte Fieberschauer durchlief ihn, der stets die Folge von Überanstrengung bei ihm war.

»Was werden Sie also tun?« fragte Lucas.

»Was ich tun werde, lieber Freund? Ich werde mich eben wieder an die Arbeit machen. Morgen fange ich wieder von vorn an, da alles, was ich bisher hierin zustande gebracht habe, sich als wertlos herausgestellt hat. Die Sache ist ganz einfach, da mir keine andere Wahl bleibt. Verstehen Sie wohl, lieber Freund? Niemals läßt man ein Werk im Stich. Wenn man zwanzig Jahre, dreißig Jahre, wenn man ein ganzes Leben dazu brauchen sollte, so verwendet man es eben darauf. Wenn man sich geirrt hat, so kehrt man um und macht denselben Weg wieder und wieder. Die Aufenthalte und Hindernisse sind nur die unvermeidlichen Stationen und Schwierigkeiten des Weges. Ein Werk ist ein Kind, dessen Leben heilig ist, das nicht vollkommen lebensfähig zu machen ein Verbrechen ist. Es ist Blut von unserem Blute, wir haben nicht das Recht, seine Entstehung zu unterbrechen, wir schulden ihm unsere ganze Kraft, unsere ganze Seele, unseren Körper und unseren Geist. Wie die Mutter manchmal ihr Leben läßt, um ihrem Kinde das Leben zu geben, so müssen wir bereit sein, an unserem Werke zu sterben, wenn es unsere Kraft verzehrt. Und wenn es uns nicht das Leben gekostet hat, wenn wir es vollendet, lebend und stark vor uns sehen, so bleibt uns wieder nur eins: ein neues zu beginnen, ohne eine Pause, und so fort, immer ein Werk nach dem anderen, solange wir aufrecht stehen und über unsere geistigen und körperlichen Kräfte gebieten.«

Er schien gewachsen und stark geworden, durch seinen Glauben an die menschliche Arbeit gegen jede Entmutigung gewappnet, des Sieges gewiß, wenn er ihm bis zum letzten Pulsschlag mit allen Kräften zustrebte. Und Lucas fühlte von diesem schwächlichen Manne einen Strom unbezwinglicher Energie auf sich übergehen.«

»Die Arbeit, die Arbeit!« fuhr Jordan fort. »Es gibt keine größere Macht. Wenn man seinen Glauben in die Arbeit setzt, ist man unbezwinglich. Und es ist so leicht, eine Welt zu schaffen: man muß sich nur jeden Morgen an die Arbeit machen, Stein auf Stein zu denen häufen, die schon in den Bau gefügt sind, und diesen so hoch führen, wie das Leben es gestattet, ohne Hast, durch wohlbedachte Verwendung der körperlichen und geistigen Kräfte, über die man verfügt. Warum sollten wir am morgigen Tag verzweifeln, da wir ihn selber bereiten mit der Arbeit des heutigen Tages ? Alles, was wir heute mit unserer Arbeit aussäen, das kommt morgen zur Reife. O heilige Arbeit, du Schöpferin und Erlöserin, du bist mein Leben, mein einziger Daseinszweck!«

Seine Augen sahen weit in die Ferne, er schien mit sich selbst zu sprechen, indem er abermals diese Hymne der Arbeit sang, die in den Stunden starker seelischer Erregung immer wieder zu seinen Lippen emporstieg. Und wieder sprach er davon, wie die Arbeit ihn stets getröstet, stets aufrechterhalten hatte. Wenn er noch lebte, so hatte er das nur dem zu danken, daß er seinem Leben einen Inhalt gegeben hatte. Er war sicher, daß er nicht sterben würde, ehe sein Werk vollendet war. Wer sich ganz einem Werke hingab, der fand in ihm einen Führer, eine Stütze, eine Ordnung für die Schläge des Herzens in seiner Brust. Das Dasein bekam einen Zweck, die Gesundheit festigte sich, ein vollkommenes Gleichgewicht der Seele stellte sich her, und es erwuchs die einzige wahre menschliche Freude, die Freude an der ehrlich vollendeten Tat. Er, der kränkliche Mensch, hatte nie sein Laboratorium betreten, ohne sich unendlich wohler zu fühlen. Wie oft war er an die Arbeit gegangen mit schmerzenden Gliedern, mit tränendem Herzen, und jedesmal hatte die Arbeit ihn geheilt. Der Zweifel, die Entmutigung hatten ihn nur in den Stunden der Trägheit ankommen können. Das Werk trug seinen Schöpfer, und es wurde ihm nur dann zum Unheil, es vernichtete ihn nur dann, wenn er selbst es im Stiche ließ.

Und mit einer plötzlichen Wendung zu Lucas schloß er, während wieder sein schönes Lächeln auf seine Lippen trat:

»Sehen Sie, mein lieber Freund, wenn Sie die Crêcherie sterben lassen, so werden Sie an der Crêcherie sterben. Ihr Werk ist Ihr Leben, und Sie müssen es zu Ende leben.«

Lucas war aufgestanden in einer mächtigen Wallung seines ganzen Wesens. Das, was er eben gehört hatte, dieses Bekenntnis zum Glauben der Arbeit, diese leidenschaftliche Hingabe an das Werk, durchströmte ihn mit Heldenmut, gab ihm all seine Zuversicht, all seine Kraft wieder. Immer, in seinen Stunden der Ermattung und des Zweifels, hatte er nur zu seinem Freunde zu eilen brauchen, um in dem Seelenfrieden und der unerschütterlichen Sicherheit, die diesem kränklichen Körper entströmten, neue Stählung seines Willens zu finden. Der Zauber wirkte unfehlbar, frischer Mut erfüllte sein Herz, und ungeduldig trieb es ihn, den Kampf aufs neue aufzunehmen.

»Ja, Sie haben recht!« rief er aus. »Ich bin ein Schwächling, ich schäme mich, daß ich verzweifeln konnte. Das menschliche Glück liegt nur in der Verherrlichung, in der Neuordnung der erlösenden Arbeit. Sie wird die Gründerin unserer neuen Stadt sein. Aber das Geld, all dieses Geld, das noch daran gewagt werden muß!«

Jordan, erschöpft von langem und leidenschaftlichem Reden, hüllte seine schmalen Schultern enger in das Tuch. Und leise und schlicht sagte er:

»Das Geld gebe ich Ihnen. Wir werden uns einschränken, wir werden immer noch zu leben haben. Sie wissen, wir brauchen wenig: Milch, Eier, etwas Obst. Wenn ich nur die Kosten meiner Versuche aufbringen kann, so liegt an allem anderen nichts.«

Lucas faßte seine beiden Hände und drückte sie tiefbewegt.

»Lieber Freund! ... Aber Ihre Schwester, sollen wir auch sie arm machen?«

»Wahrhaftig«, sagte Jordan. »Wir vergessen Soeurette!«

Sie wandten sich zu ihr. Soeurette weinte still vor sich hin. Sie hatte ihren Platz am Schreibtisch nicht verlassen, hatte das Kinn in beide Hände gestützt, und über ihre Wangen rannen große Tränen, in denen die qualvolle Spannung ihres armen gefolterten Herzens sich löste. Auch sie war von dem, was sie gehört hatte, in tiefster Seele gerührt worden. Alles, was ihr Bruder zu Lucas gesagt hatte, hallte mit gleicher Macht in ihrem Herzen wider. Die hohe Pflicht der Arbeit, die selbstverleugnende Hingabe an das Werk, hieß das nicht das Leben auf sich nehmen, es ehrlich zu Ende leben, um so viel Segen zu verbreiten, wie einem gegönnt war? Auch sie wäre sich fortan, gleich Lucas, schlecht und feige vorgekommen, wenn sie das Werk behindert, wenn sie sich ihm nicht bis zum Verzicht auf sich selbst geopfert hätte. Der Mut ihrer großen Seele, ihres einfachen und guten Herzens war ihr wiedergekehrt.

Sie erhob sich, umarmte ihren Bruder und blieb lange so, den Kopf auf seine Schulter gelegt. Dann sagte sie ihm leise ins Ohr:

»Ich danke dir, Martial! Du hast mich geheilt, ich werde mich opfern!«

Lucas hatte inzwischen wieder auf und ab zu schreiten begonnen, es duldete ihn nicht an einem Platz. Er trat ans Fenster und sah auf die Dächer der Crêcherie, über die sich der strahlend blaue Himmel spannte.

Die drei sprachen nicht mehr, und in inniger Liebe vereint blickten sie hinaus auf die von Grün umgebene keimende Stadt der Gerechtigkeit und des Glücks, die ihre Dächer immer weiter erstrecken würde, bis ins Endlose fort, denn die Liebe war ihr Fundament.


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