Emile Zola
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Emile Zola

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IV

Lucas hatte sich wiedergefunden, willenskräftiger und tatfreudiger denn je regte sich in ihm der Städtegründer und Städtebauer, und die Menschen und die Steine gehorchten seiner Stimme. Mit dem Glauben an seine Mission war ihm alle Stärke, alle Heiterkeit seiner Seele wiedergekehrt. Rüstig und fröhlich führte er den Kampf der Crêcherie gegen die Hölle, und von Tag zu Tag vergrößerte er seine Eroberung der Menschen und Dinge. Seine neue Stadt sollte ihm Josine wiederbringen. Mit Josine waren alle Unglücklichen der Erde erlöst. Darauf hätte er seine Zuversicht gesetzt, und er arbeitete für und durch die Liebe.

An einem schönen, klaren Tage wurde er ungesehen Zeuge einer Szene, die ihn zugleich ergötzte und rührte. Er war im Begriff, einen Rundgang durch die Nebengebäude der Fabrik zu machen, um auch hier nach dem Rechten zu sehen, als unerwartet helle Stimmen und lustiges Gelächter aus einer Ecke des Gebietes zu ihm drangen, wo am Fuße des steilen Abhanges der Monts Bleuses eine Mauer das Gebiet der Crêcherie von dem der Hölle trennte. Er näherte sich sachte, um nicht gehört zu werden, und blickte auf das reizende Schauspiel einer Schar Kinder, die zwanglos unter der hellen Sonne spielten.

Diesseits der Mauer befand sich Nanet, der täglich zu seinen Freunden in die Crêcherie kam, mit Lucien und Antoinette Bonnaire, die er wahrscheinlich auf einer hitzigen Jagd nach Eidechsen bis hierher geführt hatte. Alle drei hatten die Köpfe erhoben und lachten und schrien, während auf der anderen Seite der Mauer andere Kinder, die man nicht sah, ebenfalls lachten und schrien. Und es war leicht zu erraten, daß drüben bei Nise Delaveau wieder ein Kindermahl stattgefunden hatte, daß die kleinen Gäste samt ihrer Wirtin, im Garten spielend, die Stimmen der Kameraden von drüben gehört hatten und daß nun beide Teile vor Begierde brannten, sich zu sehen, um miteinander spielen zu können. Leider aber war die Tür, die sich früher hier befand, vermauert worden, da man hatte erkennen müssen, daß alle Verbote und Schelte die Kinder nicht abhielten, miteinander zu verkehren. Bei Delaveau war ihnen streng verboten worden, auch nur bis ans Ende des Gartens zu gehen. In der Crêcherie bemühte man sich, ihnen zum Bewußtsein zu bringen, daß sie noch Unannehmlichkeiten, Streitigkeiten, vielleicht sogar einen Prozeß heraufbeschwören würden. Aber das alles fruchtete nichts, sie setzten sich über Verbote und Ermahnungen hinweg, als arglose Kinder, die den unbekannten Kräften der Zukunft gehorchten, sie ließen sich nicht abhalten, sich miteinander zu verbrüdern, in göttlicher Unkenntnis des Klassenhasses und der wütenden Kämpfe der Erwachsenen.

Die reinen, hohen Stimmen ertönten immerzu wie Lerchentriller.

»Bist du's, Nise? Guten Tag, Nise!«

»Guten Tag, Nanet! Bist du allein, Nanet?«

»O nein, Lucien und Antoinette sind auch da. Und du, Nise, bist du allein?«

»O nein, Louise ist bei mir und Paul. Guten Tag, guten Tag, Nanet!«

»Guten Tag, guten Tag, Nise!«

Sie wurden nicht müde, einander guten Tag zuzurufen, und begleiteten jeden Ruf mit nicht endenwollendem Gelächter.

»Du, Nise, bist du noch da?«

»Ja, ja, Nanet, ich bin noch da.«

»Nise, hör einmal, kommst du nicht herüber?«

»Wie sollt' ich hinüberkommen, Nanet, da die Tür vermauert ist?«

»So spring doch, Nise, spring doch!«

»Spring du doch, Nanet, spring du doch!«

Und alle sechs fingen an zu rufen: »Spring doch, spring!« und hüpften wie toll an der Mauer in die Höhe, als ob sie hofften, sich sehen zu können, wenn sie recht hoch sprangen. Sie drehten sich, sie tanzten, sie verbeugten sich vor der unbarmherzigen Wand, sie taten, als machten sie sich gegenseitig Gesten durch sie hindurch, mit der kindlichen Einbildungskraft, die alle Hindernisse überwindet.

Dann begannen die hellen Stimmen wieder. »Du, Nise, weißt du was?«

»Was denn, Nanet?«

»Ich werde auf die Mauer steigen, Nise, und dich hinaufziehen, damit du herüberkommst.«

»O ja, o ja! Steig hinauf, Nanet, steig hinauf!«

Mit katzenartiger Gewandtheit kletterte Nanet an der Mauer in die Höhe und war im nächsten Augenblicke oben. Dann setzte er sich rittlings oben hin, und war lustig anzusehen mit seinem runden Kopfe mit den blonden, zerzausten Haaren und den großen blauen Augen. Er war schon vierzehn Jahre alt, von kleiner, aber kräftiger Gestalt, mit einem lächelnden, dreisten Gesicht.

»Lucien, Antoinette, paßt auf, ob jemand kommt!«

Dann rief er, stolz auf seinen gebietenden Platz, von dem er beide Seiten übersah:

»Komm herauf, Nise, ich helfe dir!«

»Nein, nein, nicht ich zuerst. Ich werde auf dieser Seite aufpassen, Nanet.«

»Wer soll also zuerst kommen, Nise?«

»Wart einmal, Nanet, gib acht! Paul kommt hinauf. Hier ist ein Gitter an der Mauer. Er wird erst probieren, ob es bricht.«

Ein Schweigen folgte und man hörte nur das Knacken alten Holzes und unterdrücktes Gelächter. Lucas überlegte, ob er nicht vortreten sollte, um die Ordnung herzustellen und die beiden Kindergruppen wie eine Schar Sperlinge zu verscheuchen. Wie oft hatte er selbst die Kinder ausgescholten, aus Furcht, daß ihre Zusammenkünfte doch einmal ernstliche Mißhelligkeiten hervorrufen könnten. Aber er fand die Kleinen so köstlich in ihrer Furchtlosigkeit und ihrem Übermut, daß er sich noch nicht entschließen konnte, sie zu stören. Eine kleine Weile wollte er noch zusehen und dann einschreiten.

Ein Triumphgeschrei erscholl, Pauls Kopf erschien über der Mauer, Nanet zog ihn vollends herauf und ließ ihn dann auf dieser Seite in die Arme Luciens und Antoinettens hinabgleiten. Paul, obgleich auch schon über vierzehn Jahre alt, war nicht schwer, ein schmächtiger, hübscher blonder Junge von sanfter, guter Gemütsart, mit weichen, klug blickenden Augen. Kaum auf dieser Seite der Mauer angelangt, umarmte er Antoinette, seine Freundin, die er sehr gern hatte, weil sie so groß und schön für ihre zwölf Jahre war und sehr viel Anmut besaß.

»So, der wäre drüben, Nise. Wer kommt jetzt?«

Aber Nise rief leise und ängstlich:

»St, st, Nanet! Dort beim Hühnerstall rührt sich was! Duck dich auf die Mauer, schnell, schnell!«

Dann, als die Gefahr vorüber war:

»Nanet, aufgepaßt, jetzt kommt Louise, ich helfe Louise hinauf!«

Und bald darauf erschien in der Tat der Kopf Louisens, ein Zickleinkopf mit schwarzen, ein wenig schiefgestellten Augen, einem winzigen Näschen und spitzen Kinn. Elf Jahre alt, war sie bereits ein kleines, eigenwilliges und selbständiges Persönchen, die ihre Eltern, die guten Mazelles, täglich mehr außer Fassung brachte, da sie nicht begreifen konnten, wie ein solcher Wildfang aus ihrem sanften Egoismus hatte entspringen können. Sie wartete nicht einmal ab, daß Nanet ihr herüberhalf, sondern sprang gleich selbst herunter und fiel Lucien, ihrem Herzensfreund, um den Hals. Dieser, der älteste von allen, war groß und kräftig, fast wie ein Mann mit seinen fünfzehn Jahren, und war ein erfinderischer Kopf, der seiner kleinen Freundin ganz außerordentliche Spielzeuge verfertigte.

»Nummer zwei, Nise. Jetzt bist nur noch du übrig. Komm schnell, dort beim Brunnen rührt sich wieder was!«

Das Knacken brechenden Holzes wurde hörbar, offenbar war ein ganzes Blatt des Gitterwerks umgefallen.

»O Nanet, ich kann nicht. Louise hat das ganze Gitter niedergetreten!«

»Das macht nichts, Nise. Gib mir nur deine Hand, ich zieh dich herauf.«

»Nein, nein, es geht nicht, Nanet, du siehst, ich bin zu klein.«

»Wenn ich dir sage, daß ich dich heraufziehe. Noch ein Stückchen! Ich bück' mich, und du streckst dich. Hoppla! Siehst du, wie es geht!«

Er hatte sich flach auf die Mauer gelegt, so daß er sich nur wie durch ein Wunder im Gleichgewicht hielt, und mit einem kräftigen Ruck hob er Nise herauf und setzte sie rittlings vor sich hin. Sie sah noch zerzauster aus als sonst mit ihrem blonden Lockenkopf, ihrem rosigen, stets lachenden Mäulchen und ihren blauen Augen.

Eine kurze Weile blieben sie so rittlings oben sitzen, eins dem anderen gegenüber, triumphierend, sich so hoch in der Luft zu befinden.

»Oh, dieser Nanet, wie stark er ist! Er hat mich richtig heraufgezogen.«

»Du hast dich aber auch ordentlich groß gemacht. Weißt du, ich bin vierzehn Jahre alt.«

»Und ich elf! Sag, sitzen wir nicht da, wie auf einem Pferd, einem sehr hohen Pferd aus Stein?«

»Weißt du was, Nise? Ich stell' mich auf, willst du?«

»O ja, ja, aufstellen! Ich stell' mich auch auf!«

Da rührte sich wieder was im Garten, diesmal von der Küchenseite her. Und von Furcht ergriffen, umfaßten sie sich und kollerten, eins in des anderen Armen, von der Mauer herab, indem sie sich mit aller Kraft aneinanderdrückten. Sie hätten sich zu Tode fallen können, aber sie waren ganz heil geblieben, sie erhoben sich lachend und begannen sogleich munter zu spielen. Paul und Antoinette, Lucien und Louises tollten schon zwischen den Büschen und Felsblöcken umher, die hier, am Fuße der Felswand, köstliche Verstecke boten.

Lucas, der einsah, daß es zu spät war, zog sich leise und geräuschlos zurück. Da ihn niemand gesehen hatte, so würde auch niemand wissen, daß er die Augen zugedrückt hatte. Ach, die lieben Kleinen, mochten sie doch nur dem Trieb ihrer reinen Jugend folgen und sich unter Gottes freiem Himmel zusammenfinden, trotz aller Verbote! Sie waren die Blüte des Lebens! Sie waren vielleicht bestimmt, die Versöhnung der Klassen zu verwirklichen, sie trugen vielleicht die Zukunft in sich, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen sollte. Was die Väter nicht tun konnten, das würden sie tun, und ihre Kinder würden es noch stärker tun, dank der unbesieglichen Kraft der menschlichen Entwicklung, die in ihren Adern pochte. Und während er sich sachte entfernte, um sie nicht zu stören, lachte Lucas vergnügt in sich hinein über ihren Frohsinn und ihren lauten Übermut, der von keinem Gedanken an die Schwierigkeit getrübt war, die das Wiedererklettern der Mauer ihnen bereiten mußte. Noch nie war der Ausblick in die Zukunft ihm so hoffnungsfreudig erschienen, nie hatte er mehr Kraft zum Kampf und Zuversicht auf den Sieg in sich gefühlt.

Und lange Monate dauerte der Kampf, der erbitterte, erbarmungslose Krieg zwischen der Crêcherie und der Hölle. Lucas, der die Crêcherie schon erschüttert, auf dem Wege zum Niedergang geglaubt hätte, bot alle seine Kraft auf, um sie aufrechtzuerhalten. Er hoffte für lange Zeit hinaus auf keine Erweiterung seines Unternehmens, er wollte nur keinen Boden verlieren. Und es war schon ein schöner Erfolg, daß er sich auf derselben Höhe erhalten, daß er lebensfähig bleiben konnte unter den Schlägen, die von allen Seiten auf ihn niederfielen. Aber welch eine gewaltige Aufgabe; welche Tapferkeit und übermenschliche Arbeit erforderte sie! Die Macht der Idee gab ihm die Größe und Kraft eines Apostels und wirkte Wunder durch ihn. Er war überall zu gleicher Zeit, feuerte die Arbeiter in den Werkstätten an, befestigte die Bande der Brüderlichkeit zwischen Großen und Kleinen im Gemeindehaus, wachte über die geregelte Verwaltung in den Lagern. Man sah ihn täglich in den sonnigen Gassen der jungen Stadt, mit den Frauen lachen und mit den Kindern spielen, ein junger Vater dieses kleinen Volkes. Alles wuchs, dehnte sich, ordnete sich nach seinem Winke, dank seinem Schöpfergenie, seiner Fruchtbarkeit, die überall Samen ausstreute, wohin er den Fuß setzte. Und das größte Wunder war die vollständige Eroberung seiner Arbeiter, unter denen die Uneinigkeit und der Aufruhr einen Augenblick einzureißen gedroht hatten. Obgleich Bonnaire noch immer nicht so dachte wie er, hatte Lucas die Zuneigung dieses braven und guten Menschen so vollständig erworben, daß er in ihm seinen treuesten und ergebensten Gehilfen fand, ohne den das Werk sicherlich nicht hätte durchgeführt werden können. Ebenso hatte sein unerschöpflicher Reichtum an Liebe allmählich alle Arbeiter durchströmt, sie scharten sich immer fester um seine Person, als sie sahen, wie zartfühlend, wie brüderlich er war, wie er nur für das Glück anderer lebte. Alle Angehörigen der Crêcherie bildeten eine große Familie, um die das Band der Gemeinsamkeit sich immer fester schloß, da alle endlich begriffen, daß es für sein eigenes Glück arbeiten heiße, wenn man für das Glück aller arbeitete. Während eines halben Jahres verließ nicht ein einziger Arbeiter die Fabrik, und wenn auch die, die ausgetreten waren, noch nicht wiederkehrten, so waren doch die Treugebliebenen opferfreudig genug, nicht ihren ganzen Anteil zu beziehen, sondern einen Teil in der Kasse des Unternehmens zu lassen, um diesem zu ermöglichen, einen beträchtlichen Reservefond anzulegen.

Und in dieser kritischen Zeit war es zweifellos die Gemeinsamkeit aller Genossenschaftsmitglieder, die sich zur Verteidigung des Werkes zusammenschlossen und die Crêcherie vor der egoistischen Feindschaft und dem giftigen Haß des alten Beauclair rettete. Der in kluger Vorsicht angelegte Reservefonds bot einen kräftigen Stützpunkt im Kampfe. Er ermöglichte es, ungünstige Momente zu überwinden, er verhütete die Notwendigkeit drückender Anleihen in den Zeiten der Krise. Mit seiner Hilfe konnten zweimal neue Maschinen angeschafft werden, die durch eine Änderung der Fabrikationsweise notwendig geworden waren und die Herstellungskosten bedeutend verringerten. Dazu kamen dann noch einige glückliche Umstände. Es wurden gerade damals einige größere Brücken- und sonstige Bauten ausgeführt und neue Eisenbahnen angelegt, so daß ein großer Bedarf an Schienen und Trägern entstand. Der lange Frieden, dessen sich Europa erfreute, gab der friedlichen Seite der Eisenindustrie eine mächtige Entwicklung. Noch nie war das wohltätige Eisen in solchem Maße in alle Zweige menschlicher Tätigkeit eingedrungen. Der Umsatz in der Crêcherie war gewachsen, ohne daß die Gewinne sehr groß gewesen wären, denn Lucas wollte vor allen Dingen billige Preise erzielen, in der Überzeugung, daß er sich damit die Zukunft sichere. Er kräftigte das Unternehmen durch eine weise Verwaltung, durch Ersparnisse auf allen Seiten, und war vor allem darauf bedacht, dem Reservefonds soviel Geld wie möglich zuzuführen, damit es in Zeiten der Gefahr nicht an Barmitteln fehle. Und die Hingabe aller an die gemeinsame Sache, die Selbstverleugnung der Arbeiter, die auf einen Teil ihres Gewinnes verzichteten, tat dann das übrige, und ermöglichte es, den Tag des endgültigen Sieges ohne große Entbehrungen abzuwarten.

In den Qurignonschen Werken war die Lage nach wie vor glänzend, die Geschäfte hatten sich nicht vermindert, die Fabrikation der Kanonen und Geschosse wurde noch immer mit ausgezeichnetem Erfolge betrieben. Aber schon übertraf der Anschein die Wirklichkeit, und Delaveau empfand manchmal ernste Besorgnisse, über die er mit niemandem zu sprechen wagte. Wohl hatte er ganz Beauclair, die ganze bedrohte bürgerliche und kapitalistische Gesellschaft auf seiner Seite. Und außerdem war er überzeugt, daß die Wahrheit, die Autorität, die Kraft mit ihm waren, und daß ihm der endliche Sieg gewiß sei. Trotzdem überkamen ihn immer mehr geheime Zweifel, die rastlose, nüchterne Tätigkeit der Crêcherie beunruhigte ihn, obgleich er alle drei Monate ihren Zusammenbruch vorhersagte. Er konnte nicht an eine Konkurrenz in Schienen und Trägern denken, die die benachbarten Werke zu außerordentlich billigem Preise herstellten. Es blieben nur Feinstahlgegenstände von sorgfältiger Ausführung, die mit drei bis vier Frank das Kilo bezahlt wurden. Aber diese wurden auch von zwei sehr bedeutenden Werken in einem nahen Kreise hergestellt. Sie machten ihm furchtbare Konkurrenz, er fühlte, daß eine von den drei Unternehmungen zu viel war, und es handelte sich nur darum, welche von den beiden anderen verschlungen werden sollte. War nicht die von ihm geleitete, die durch die Crêcherie geschwächt war, zum Unterliegen verurteilt? Dieser Zweifel nagte an seinem Herzen, obgleich er mit verdoppelter Tatkraft arbeitete, und vollkommene heitere Zuversicht in die gute Sache, in die Religion des Lohnsklaventums zur Schau trug, deren Vorkämpfer er war. Aber mehr noch als die Konkurrenz, als die Zwischenfälle der industriellen Kämpfe, drückte ihn das Bewußtsein, daß er über keinen Reservefonds verfügte, der es ihm ermöglichen würde, außerordentliche Ereignisse, plötzliche Katastrophen zu überstehen. Wenn eine Krise eintrat, eine Arbeitsunterbrechung, ein Streik oder auch nur ein schlechtes Jahr, so mußte dies zum Untergang führen, da die Fabrik keine Mittel hätte, um das Wiederaufleben der Geschäfte abzuwarten. Schon hatte er, um neue Maschinen kaufen zu können, deren sofortige Anschaffung dringend notwendig war, dreimalhunderttausend Frank aufnehmen müssen, deren Zinsen nun die Bilanz schwer belasteten. Und wie, wenn er abermals würde borgen müssen, bis er ganz von den Schulden verschlungen werden würde?

Um diese Zeit versuchte Delaveau seinem Vetter Boisgelin vernünftig zuzureden. Als er diesen dazu bestimmt hatte, ihm den Rest seines Vermögens anzuvertrauen und die Stahlwerke zu kaufen, hatte er ihm die feste Zusicherung gegeben, daß er ihm sein Geld so hoch verzinsen werde, daß er nach wie vor ein luxuriöses Leben werde führen können. Seitdem sich jedoch die Verhältnisse schwierig gestalteten, wünschte Delaveau, daß sein Vetter genug vernünftige Einsicht besitze, um seine Ausgaben für eine Weile einzuschränken, mit der Sicherheit, daß er sie, sobald wieder gedeihliche Zustände eingetreten waren, in demselben und selbst in verstärktem Maße werde wieder aufnehmen können. Wenn Boisgelin sich bereitgefunden hätte, nur die Hälfte des Gewinnes aus der Kasse zu beziehen, so wäre die Anlage eines Reservefonds möglich geworden. Aber Boisgelin wollte von derlei nichts hören, und weigerte sich unbedingt, seine immer kostspieligere Lebensführung, seine Jagden, seine Empfänge, im geringsten einzuschränken. Es kam sogar zu erregten Wortwechseln zwischen den beiden Vettern. Im Augenblicke, da das Kapital Miene machte, sich nicht mehr die vollen erwarteten Zinsen erpressen zu lassen, da die Arbeitssklaven nicht mehr genügten, um den verschwenderischen Luxus des nichtstuenden Herrn herbeizuschaffen, klagte der Kapitalist den Fabrikdirektor an, daß er seine Versprechungen nicht halte. Delaveau war wütend über diese alberne Genußgier, aber noch immer dämmerte ihm keine Ahnung auf, daß seine Frau, Fernande, hinter seinem geckenhaften Vetter stand, daß sie die Verderberin und Geldverschlingerin war, daß für ihre Launen und Tollheiten alle diese großen Summen vergeudet wurden. Auf der Guerdache folgte ein Fest dem anderen, Fernande genoß in vollen Zügen die Entschädigung für ihre früheren Entbehrungen, berauschte sich so sehr an ihren unaufhörlichen Triumphen, daß jedes Nachlassen ihr wie eine Einschränkung schien. Sie selbst hetzte Boisgelin gegen ihren Mann auf, sagte ihm, daß Delaveau eine Verminderung seiner Leistungsfähigkeit zeige, daß er es nicht verstehe, den vollen Ertrag aus den Werken zu ziehen, und daß es nur ein Mittel gebe, ihn anzuspornen, und das sei, immer mehr Geld von ihm zu verlangen. Denn da Delaveau in seiner Selbstherrlichkeit es für unter seiner Würde hielt, mit Frauen von ernsten Dingen zu reden und auch mit seiner eigenen keine Ausnahme machte, so war sie über die tatsächlichen Verhältnisse ganz im unklaren, und nach ihrer Überzeugung mußte sie ihren Mann unaufhörlich aufstacheln, immer höhere Anforderungen an ihn stellen, wenn sie ihren Traum verwirklichen und eines Tages mit den erbeuteten Millionen nach Paris zurückkehren wollte.

Eines Nachts jedoch gewährte Delaveau seiner Frau Einblick in seine Gedanken. Sie waren von einer Jagd auf der Guerdache zurückgekehrt, während der Fernande, die leidenschaftlich gern galoppierte, mit Boisgelin verschwunden war. Am Abend hatte dann ein großes Diner die Jagdteilnehmer vereinigt, und es war Mitternacht vorüber, als das Ehepaar heimkehrte. Die junge Frau schien sehr ermüdet, wie gesättigt von den fieberhaften Genüssen, die ihren Lebensinhalt ausmachten. Sie entkleidete sich rasch, schön und verführerisch in ihrer Mattigkeit, und legte sich zu Bett, während ihr Mann langsam und methodisch ein Kleidungsstück nach dem anderen ablegte und dabei gedankenvoll und mit gerunzelter Stirn im Zimmer hin und her ging.

»Sag einmal«, fragte er endlich, »hat dir Boisgelin nichts gesagt, wie ihr allein miteinander rittet?«

Fernande öffnete erstaunt ihre Augen, die sich schon zu schließen begonnen hatten.

»Nein«, erwiderte sie. »Zum mindesten nichts Besonderes. Was hätte er mir sagen sollen?«

»Hm«, sagte Delaveau, »wir haben nämlich vorher einen Wortwechsel gehabt. Er hat für Ende des Monats wieder zehntausend Frank von mir verlangt. Aber diesmal hab' ich's ihm rundweg abgeschlagen. Es ist ja unmöglich, unsinnig!«

Sie hob den Kopf ein wenig, ihre Augen wurden wieder hell.

»Wieso unsinnig? Warum willst du ihm die zehntausend Frank nicht geben?«

Sie selbst hatte Boisgelin dazu veranlaßt, diese zehntausend Frank zu verlangen, um dafür ein Automobil zu kaufen. Sie hatte plötzlich die Laune bekommen, und die Laune war wie gewöhnlich zum glühenden Wunsch geworden, in einem solchen Fahrzeug zu sitzen und in toller Schnelligkeit hinzusausen.

»Warum?« rief Delaveau. »Weil dieser Dummkopf schließlich mit seiner unaufhörlichen Verschwendung die Fabrik ruinieren wird. Wir werfen um, wenn es in dieser Weise weitergeht. Gibt es denn etwas Sinnloseres als diese ewigen Vergnügungen, diese alberne Eitelkeit, sich von aller Welt ausbeuten zu lassen?«

Mit einem Ruck hatte sie sich aufgesetzt, ihr Gesicht war blaß geworden, und er fuhr mit der täppischen Ahnungslosigkeit des blinden Gatten fort:

»Es gibt nur einen vernünftigen Menschen auf der Guerdache, die arme Suzanne, die einzige, die sich nicht unterhält. Sie dauert einen tief, wenn man sie immer so traurig sieht, und als ich sie heute bat, auf ihren Mann einzuwirken, erwiderte sie mir unter Tränen, daß sie sich in diese Sachen nicht mischen wolle.«

Dieser ungeschickte Appell an die rechtmäßige Frau, an die Geopferte, die so vornehm in ihrem Verzicht war, brachte Fernande außer sich. Aber vor alles andere drängte sich der Gedanke, daß die Fabrik, die Quelle ihrer Genüsse, in Gefahr sein könnte.

»Wir werfen um – warum sagst du das? Ich dachte, die Geschäfte gingen sehr gut?«

Es klang ein solcher Ton leidenschaftlicher Angst aus ihrer Frage, daß Delaveau zur Besinnung kam. Er schreckte davor zurück, daß sie die Befürchtungen übertreiben könnte, die er sich selbst nicht gestehen mochte, und verschloß die Wahrheit wieder in sich, die er in seinem Zorn zum Teil enthüllt hatte.

»Die Geschäfte gehen sehr gut, das ist richtig. Aber sie gingen noch besser, wenn Boisgelin nicht die Kasse leeren würde, um seiner hirnverbrannten Verschwendungssucht frönen zu können. Ich sage dir, er hat nicht für zwei Sous Verstand in seinem hohlen Kopfe.«

Vollständig beruhigt legte sich Fernande mit einer geschmeidigen Bewegung ihres schlanken Körpers wieder ins Bett zurück. Ihr Mann war nur ein plumper, brutaler und geiziger Mensch, der darauf bedacht war, sowenig Geld wie möglich aus der gefüllten Kasse der Fabrik zu entnehmen. Und der derbe Spott, die verächtlichen Worte, mit denen er Boisgelin belegte, waren lauter persönliche Angriffe gegen sie selbst, die sie tief verletzten.

»Mein Lieber«, sagte sie kalt, »es ist nicht jeder dazu geschaffen, seine Tage mit Lasttierarbeit zu verbringen, und die, die das Geld haben, tun recht daran, es nach ihrem Gefallen auszugeben und sich die höheren Genüsse des Lebens dafür zu verschaffen.«

Delaveau wollte heftig erwidern, aber er bezwang sich plötzlich. Wozu sollte er sich bemühen, seine Frau zu seiner Ansicht zu bekehren? Er behandelte sie als verzogenes Kind, ließ ihr in allen Dingen ihren Willen, ohne sich bei ihr je über die Fehler zu erzürnen, die er bei anderen tadelte. Er bemerkte gar nicht, welch sinnloses Leben sie führte, denn in bezug auf sie war er selbst sinnlos, sie war das glänzende Geschmeide, nach dem er verlangt hatte und das er nun überglücklich war, in seinen plumpen Arbeiterhänden halten zu können. Er liebte, er begehrte sie immer mit neuer Leidenschaft, wenn er nach hartem Tagewerk aus den schwarzen Werkstätten, dem dröhnenden Lärm, der rauchigen Luft der Fabrik in ihr Schlafzimmer kam und sie in ihrer Schönheit im Bette fand. Sie blieb für ihn die bewunderte, die angebetete Frau, das Idol, dem gegenüber sein Verstand und seine Manneswürde widerspruchslos verstummten, an die kein Schatten eines Verdachts sich heranwagte.

Es folgte ein Stillschweigen. Delaveau legte sich zu Bette, ohne die kleine elektrische Lampe auf dem Nachtkästchen auszuknipsen. Eine kurze Weile lag er unbeweglich, mit offenen Augen. Dicht neben sich fühlte er die Wärme und den Duft des schönen Körpers seiner Frau, sah er die seidenweiche Haut der Arme und der Brust aus den Spitzen hervorschimmern. Fernande war schon dem Einschlummern nahe, ihre Augen waren geschlossen, und ihr vor Ermüdung blasses Gesicht ruhte, verführerischer denn je, inmitten der dunkeln Flut ihrer Haare.

Ihr Gatte wandte sich zu ihr und drückte einen Kuß auf eine eigensinnige Locke hinter ihrem Ohr. Da sie sich jedoch nicht rührte, glaubte er, daß sie schmolle, und wollte sie versöhnen, wollte ihr beweisen, daß er die Schwachheiten des Luxusbedürfnisses begreife.

»Mein Gott, ja, er soll meinetwegen die zehntausend Frank noch haben, wenn er solches Verlangen nach einem Automobil hat. Was ich dagegen sagte, geschah nur aus Vorsicht. – Die Jagd war sehr schön heute.«

Sie antwortete noch immer nicht. Aus ihren leicht geöffneten roten Lippen, zwischen denen die weißen, festen Zähne hervorschimmerten, kam der warme und rhythmische Hauch ihres Atems, während ihre weiße Brust sich hob und senkte, wie ermattet von langem Liebesgenuß. Sie lag mit gelösten Gliedern, die Decke halb zurückgeschoben, als schliefe sie den Rausch der Genüsse des Tages aus.

»Fernande, Fernande!« rief Delaveau leise, indem er sie abermals mit einem leichten Kuß berührte.

Als er sah, daß sie wirklich schlief, ließ er mit einem schwachen Seufzer ab.

»Gute Nacht, Fernande!«

Nachdem er die Lampe ausgeknipst hatte, legte er sich wieder nieder. Aber er konnte keinen Schlaf finden, seine Augen blickten weit geöffnet in die Dunkelheit des Zimmers. In fieberhafter Unruhe neben dem warmen und duftenden Frauenkörper an seiner Seite, geriet er mit seinen Gedanken wieder auf die Befürchtungen, auf die schweren Besorgnisse, die ihm die Lage der Fabrik einflößte. Und in diesem peinlichen Zustand der Schlaflosigkeit vergrößerten sich die Schwierigkeiten vor seinem Geiste, sah er die Gefahr einer düsteren Zukunft greifbar wie noch nie. Klar stand ihm die Ursache des Ruins vor Augen, diese wahnsinnige Genußsucht, diese krankhafte Eile, das kaum gewonnene Geld zu verschleudern. Irgendwo klaffte ein Abgrund, in den der Reichtum unablässig sich ergoß, fraß ein entsetzliches Geschwür, das alle Gesundheit, alle Kräfte verzehrte. Er, der gewohnt war, aufrichtig gegen sich selbst zu sein, prüfte sein Gewissen und konnte keinen Vorwurf gegen sich entdecken. Zeitig morgens auf seinem Posten, verließ er am Abend als letzter die Werkstätten, überwachte und leitete alles, führte die große Schar seiner Untergebenen, wie er ein Regiment geführt hätte, dabei bemüht, gerecht in seiner Strenge zu sein. Alle seine ungewöhnlichen Fähigkeiten waren in steter Tätigkeit, er arbeitete mit außerordentlicher Klarheit und Zweckmäßigkeit, mit der ehrlichen Hingabe eines Kämpfers, der siegen will um jeden Preis, oder untergehen. Und er litt entsetzlich darunter, daß er sehen mußte, wie sein Werk trotz seines Heldentums dem Verderben zueilte, infolge einer langsamen Zerstörung alles dessen, was er schuf, infolge einer unablässigen Unterwühlung, von der er nicht wußte, woher sie ausging, und der alle seine Energie nicht steuern konnte. Die unaufhörlichen Geldansprüche Boisgelins, seine sinnlose Lebensführung, seine gierige Genußsucht waren zweifellos das Krebsgeschwür, das die Werke verzehrte. Aber wer verblendete ihn so, woher entstand der Wahnwitz dieses Menschen, für den ihm, dem vernünftigen, nüchternen, festgefügten Arbeiter, der Trägheit und Genußsucht verachtete, jeder Begriff fehlte?

Und Delaveau ahnte nicht, daß die Vergifterin, die Zerstörerin dicht an seiner Seite lebte, daß es seine geliebte Fernande war, die schöne, schlanke und geschmeidige Frau, die da neben ihm schlief, und deren wollüstiger Duft ihn berauschte. Während er in dem Ruß der Werkstätten, in der glühenden Ausstrahlung der Öfen alle seine Kräfte aufbot, um der qualvollen Mühe der Arbeiter möglichst viel Geld zu erpressen, erging sie sich in kostbaren, hellen Toiletten unter den Bäumen der Guerdache, verschwendete Unsummen auf die tollen Einfälle ihrer Laune, zerkaute mit ihren weißen Zähnen gleich Näschereien die Hunderttausende von Frank, die tausend Lohnsklaven unter den dröhnenden Schlägen der Dampfhämmer für sie schmiedeten. Und eben jetzt, während er, mit offenen Augen in die Finsternis starrend, sich das Gehirn zermarterte und sich fragte, auf welche Weise er die großen Summen, deren er bedurfte, aufbringen sollte, schlief sie an seiner Seite den Rausch ihrer heutigen Freuden aus, übersättigt von Wollust, so ermattet vom Genuß, daß ihr schwacher Atem kaum ihre Brust hob. Von Zeit zu Zeit erwachte seine Begierde nach diesem Weib, das sein war und das er nicht kannte. Sie lag fast nackt neben ihm, mit gelösten Gliedern, so vollkommen vom Schlaf umfangen, daß er sie hätte nehmen können, vielleicht ohne daß sie es gewußt hätte. Dann kehrten seine geschäftlichen Sorgen mit erneuter Macht wieder, und er sah in ihr nur ein bewußtloses Kind, dessen Schlummer er achtete, wie er alle ihre Launen duldete, ohne jemals in die Seele eingedrungen zu sein, die in diesem von ihm vergötterten Körper wohnte. Endlich schlief er ein und träumte, daß feindliche Dämonen den Boden der Werke unterwühlten und daß alle ihre Gebäude in einer stürmischen Nacht unter Donner und Blitz von der Erde verschlungen werden würden.

An den folgenden Tagen gerieten die Gedanken Fernandes einige Male wieder auf die Befürchtungen, denen ihr Mann Ausdruck gegeben hatte. Wenn sie sich diese auch mit seiner angeblichen Sucht, Geld aufzuhäufen, mit seinem Haß gegen die Genüsse des Luxus erklärte, so konnte sie sich doch bei dem Gedanken an einen möglichen Ruin eines Schauers nicht erwehren. Wenn Boisgelin zugrunde gerichtet wäre, was würde aus ihr? Das würde für sie nicht nur das Ende dieses köstlichen Lebens bedeuten, das sie von Jugend auf heiß ersehnt hatte, als Entschädigung für das Elend von einst, für abgetretene Schuhe und fadenscheinige Kleider, für mühseligen Erwerb bei ausbeuterischen Menschen, sondern das wäre auch die Rückkehr nach Paris als Unterlegene und Herabgekommene, eine Wohnung für tausend Frank in irgendeinem entlegenen Viertel, eine kleine Anstellung für Delaveau, und die ganze Widerwärtigkeit und Erniedrigung eines armseligen Haushaltes. Nein, nein, das durfte nicht sein, um keinen Preis wollte sie sich die goldene Beute entreißen lassen, sie klammerte sich an das Eroberte mit aller Kraft, mit der ganzen Gier ihrer Seele. In dem herrlich schönen, schlanken Körper dieser Frau, unter ihrer verführerischen Grazie, barg sich eine grausame Raubtiernatur von unersättlichem Blutdurst. Sie war grimmig entschlossen, ihren Begierden nicht den geringsten Zwang aufzuerlegen, ihre Genüsse bis zur Neige auszukosten, ohne sich sie von jemand verwehren oder auch nur vermindern zu lassen. Diese rußige und schmutzige Fabrik, deren Riesenhämmer sie Tag und Nacht ihr Wohlleben schmieden hörte, verachtete sie wie einen widerlichen Ort, der alle Häßlichkeiten des Lebens enthält. Die Arbeiter, die an der Höllenglut der Öfen brieten, damit sie ein Dasein behaglicher, genußreicher Trägheit führen könne, waren ihr eine Art von Haustieren, die sie ernährten und ihrer Bequemlichkeit dienten. Niemals setzte sie ihre kleinen Füße auf den schwarzen, buckligen Boden der Werkstätten, und niemals nahm sie das geringste Interesse an der menschlichen Herde, die an ihrer Tür vorüberzog, von der mörderischen Arbeit zu Boden gedrückt. Aber diese Herde gehörte ihr, diese Fabrik gehörte ihr, und der Gedanke, daß man sie bedrohen, ihren Untergang herbeiführen könnte, brachte ihr ganzes Wesen in Aufruhr, forderte sie zu wütender Gegenwehr heraus wie ein Angriff auf ihre eigene Person. Daher wurde jeder, der den Werken schadete, ihr persönlicher Feind, ein gefährlicher Verbrecher, den sie mit allen ihr erreichbaren Mitteln zu beseitigen trachtete. Daher war ihr Haß gegen Lucas in stetem Wachsen begriffen seit ihrer ersten Begegnung, seit jenem Mittagmahl auf der Guerdache, bei dem sie mit ihrem feinen Fraueninstinkt sofort in ihm den Mann gespürt hatte, der ihr den Weg verstellen würde. Und in der Tat war er ihr immerfort ein Hindernis gewesen, und nun drohte er gar, die Werke zugrunde zu richten, sie selbst in unerträgliche Mittelmäßigkeit zurückzuschleudern. Wenn sie ihn gewähren ließ, war es vorbei mit ihrem Glück, raubte er ihr alles, was ihr das Leben wertvoll machte. Und von mörderischer Wut erfüllt, dachte sie nur noch daran, wie sie ihn unschädlich machen könnte, und träumte von wilden Taten, mit denen sie ihn vernichtete.

Es waren nahezu acht Monate vergangen, seitdem Josine in einer letzten Liebesnacht von Lucas Abschied genommen hatte, als sich Ereignisse abspielten, die Fernande die ersehnte Gelegenheit boten, den Todesstoß gegen ihren Feind zu führen. In jener schmerzlichen Nacht hatte Josine in den Armen Lucas' empfangen. Sie war schon im fünften Monat der Schwangerschaft, ohne daß selbst Ragu etwas gemerkt hätte. Und erst, als er sie eines Abends in seiner Trunkenheit schlagen wollte und sie ihren Leib mit einer erschrockenen Gebärde schützte, entdeckte er mit einemmal ihren Zustand. Er war zuerst starr vor Verblüffung.

»Du bist schwanger, du bist schwanger, Hure? Deshalb hattest du also immer solche Heimlichkeiten und wolltest nicht einmal das Hemd vor mir wechseln! Ich mußte eben so dumm sein, wie du verlogen bist, daß ich es noch nicht gemerkt habe!«

Dann durchfuhr es ihn wie ein Blitz, daß das Kind nicht von ihm sein konnte. Wie er stets wiederholte, berührte er sie nur zum Vergnügen, und er war seiner Vorsichtsmaßregeln sicher. Nur kein Kind, nur kein Anhängsel auf dem Halse. Man vergnügte sich miteinander, und damit Gott befohlen, man lud sich keine unnötige Last auf. Woher also stammte dieses Kind? Wer war der Vater? Er ballte die Fäuste und knirschte mit den Zähnen, in wachsender Wut.

»Was, es ist doch wohl nicht von selbst gekommen? Du wirst doch nicht die Unverschämtheit haben, zu behaupten, daß es von mir ist, da du sehr wohl weißt, daß ich mich vorgesehen habe, um keines zu bekommen. Von wem ist es also? Sag's doch, sag's schnell, oder ich erwürge dich!«

Josine stand leichenblaß da und sah mit ihren sanften Augen entschlossen auf den Trunkenen, ohne zu antworten. Und in ihrer Angst konnte sie nicht umhin, sich zu verwundern, daß er so in Zorn geriet, denn sie war ihm, wie es schien, in der letzten Zeit vollkommen gleichgültig geworden, er drohte ihr jeden Tag, sie auf die Straße zu werfen, und sagte, er wäre froh, wenn irgendein anderer sie aufläse. Er selbst hatte sein Junggesellenleben wieder aufgenommen, vergnügte sich mit den Fabrikarbeiterinnen, die ihm zu Willen waren, und begnügte sich im übrigen mit den zerlumpten Dirnen, die nächtlicherweile in den schmutzigen Gassen von Alt-Beauclair herumstreifen. Da er ihr also unzähligemal in brutalster Weise bewiesen hatte, daß er sie nicht mehr wollte, warum geriet er so in Wut darüber, daß sie schwanger war?

»Es ist nicht von mir, du wirst doch nicht so frech sein, zu sagen, daß es von mir ist?«

Sie erwiderte endlich, ohne den Blick von ihm zu wenden, leise und fest:

»Nein, es ist nicht von dir!«

Er führte einen wütenden Faustschlag nach ihr, aber sie wich zurück, so daß er nur ihre Schulter streifte.

»Du sagst mir das ins Gesicht, verdammte Dirne?« brüllte er. »Und den Namen des Menschen, sag mir den Namen des Menschen, damit ich ihm sein Teil gebe!«

»Den Namen sag' ich dir nicht«, erwiderte sie ruhig. »Du hast kein Recht, ihn zu wissen, da du mir zwanzigmal gesagt hast, daß du genug von mir hast und daß ich mir einen anderen suchen kann. Du wolltest kein Kind von mir haben, ich habe eines von einem anderen, der ist nun mein Mann, und die Sache kümmert dich nicht weiter.«

Er wollte sie erschlagen. Sie mußte fliehen, um sich vor den Fußstößen zu schützen, die er mit mörderischer Berechnung gegen ihren Leib führte. Was ihn besonders zu sinnloser Wut stachelte, das war, daß sie ihm ins Gesicht gesagt hatte, daß sie von einem anderen Mutter sei, und daß sie ihn fortan nichts mehr angehe, daß er kein Anrecht mehr auf ihren Körper und auf ihr Leben habe. Er, der kein Kind gewollt hatte, wurde von dem Gedanken, daß er nicht der Vater sei, wie von glühendem Eisen verbrannt. Er fühlte, daß sie nicht mehr ihm gehörte, daß sie nie ihm gehört hatte und daß sie ihm nun für immer entrückt war. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit einer rasenden Eifersucht, deren Qual er bisher nicht gekannt hatte. Von da ab schloß er die Frau ein, die er auf die Straße hatte werfen wollen, die er um schmutziger Dirnen willen verlassen hatte, er bewachte sie, er wurde von Wut erfaßt, wenn er sie mit einem Mann sprechen sah. In seinem wahnsinnigen Zorn über das Unwiderrufliche mißhandelte er sie, peinigte er diesen Körper, dessen Besitz ihm durch seine Schuld entgangen war. Und immer kam die verletzte Eitelkeit des Mannes, der es nicht verstanden hatte, sein Lebenswerk zu tun, auf den anderen zurück, auf den Unbekannten, der aus diesem Körper einen Teil seines Körpers gemacht hatte.

»Sag mir seinen Namen, sag mir seinen Namen, und ich schwöre dir, daß ich dich in Ruhe lasse!«

Aber sie blieb standhaft, sie ertrug die Schmähungen und die Schläge und sagte nur mit ihrer sanften Festigkeit:

»Du brauchst seinen Namen nicht zu wissen, er geht dich nichts an.«

Ragu konnte unmöglich an Lucas denken, und nichts konnte ihn auf diese Spur bringen, denn keine menschliche Seele, außer Soeurette, hatte Josinens nächtliche Besuche gesehen. Er suchte unter seinen Kameraden, dachte an eine Stunde des Vergessens in den Armen irgendeines hübschen Jungen seines Kreises, am Abend eines Zahltages, wenn der Wein das Blut erhitzt. Aber all sein Suchen war vergeblich, er mochte noch soviel lauern und spüren, er erreichte nur, daß seine Wut und sein nagender Groll sich steigerten.

Indessen verbarg sich Josine vor allen Blicken, aus Furcht, daß es schlimme Folgen für Lucas haben könnte, wenn das Geheimnis ihrer Liebe ans Licht käme. Als sie die Gewißheit hatte, daß sie von ihm schwanger sei, war sie zuerst von himmlischer Freude erfüllt gewesen, sie hätte zu ihm eilen mögen, um ihm die große, glückliche Neuigkeit mitzuteilen, über die er ebenso selig wäre wie sie. Dann waren ihr ängstliche Zweifel gekommen, sie hatte es für geboten gehalten, noch zu warten, um nicht irgendein gewaltsames Ereignis heraufzubeschwören, während die Crêcherie gerade schwere Tage durchmachte. Und nur durch einen Zufall erfuhr Lucas von dem Kommen dieses teuren Kindes, dessen Vater er war. Als er eines Tages Bonnaire bis zu seinem Hause begleitete, sahen sie dort eine Gruppe von Frauen stehen, denen Frau Bonnaire von der Schwangerschaft ihrer Schwägerin erzählte, indem sie allerlei giftige Andeutungen an diese Neuigkeit knüpfte. Lucas fühlte sein Herz stillstehen und dann hochaufschlagen. Josine kam manchmal in die Crêcherie, um Nanet abzuholen, der ganze Tage da verbrachte. Und gerade, als die Frauen von ihrer Schwangerschaft sprachen, kam sie und mußte ihnen Rede und Antwort stehen. Ja, sie war nun im sechsten Monat, und man sah es schon sehr. Da bemerkte sie Lucas, und sie fühlte so sehr, wie er darunter litt, daß er sich stumm in der Ferne halten mußte, daß sie beinahe meinte, es nicht ertragen zu können, daß sie nicht mit ihm sprechen, ihm nicht zujubeln sollte, wie unendlich glücklich sie war. Sie ahnte den schrecklichen Zweifel, der seine Seele martern mußte, sie wußte, daß ein einziges Wort von ihr ihn beruhigen würde. Dieses Wort drängte sich aus ihrem Herzen, es erstickte sie fast: »Es ist von dir!« Und dann fand sie doch ein köstliches Mittel, ihm dieses Wort zuzusenden, als die Frauen einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit von ihr abwandten und sich wieder in ihr Gespräch vertieften. Sie legte zuerst beide Hände auf ihren gesegneten Leib, hob sie dann mit einer Gebärde voll Liebe und Dankbarkeit an ihre Lippen, und sandte ihm die Gewißheit seiner Vaterschaft in einem unmerklichen Kusse zu. Er begriff sofort, und auch ihn durchströmte die unendliche Seligkeit, die sie darüber empfunden hatte, von ihm ein Kind unter dem Herzen zu tragen.

Es bot sich Lucas und Josinen keine Gelegenheit, ein Wort miteinander zu wechseln, keine andere Mitteilung fand zwischen ihnen statt, als diese lieberfüllte Gebärde, dieser Kuß, der sie ganz vereinigte. Aber Lucas, aufs tiefste erregt, zog Erkundigungen ein, und erfuhr bald von den Eifersuchtsausbrüchen Ragus, von seinen Mißhandlungen, von der peinlichen Überwachung, mit der er seine Frau verfolgte. Und wenn er noch den geringsten Zweifel über seine Vaterschaft gehabt hätte, diese rasende Eifersucht des Mannes hätte genügt, um ihn zu überzeugen. Von nun ab war Josine seine Frau. Sie gehörte ihm, ihm allein, da sie ein Kind von ihm unterm Herzen trug. Der einzige wahre Gatte war der Vater, der Genuß, den man einer Frau raubte, ließ keine Spur zurück, zählte nicht. Es gab nur ein einziges festes, ewiges Band zwischen Mann und Weib, das Kind, das geschaffene Leben, das aus der unlöslichen Vereinigung zweier Menschen entsteht. Daher war er nicht eifersüchtig auf Ragu, während dieser toll vor Eifersucht war, denn Ragu existierte nicht, er war nur der Räuber, der weitergeht und den man vergißt. Josine gehörte ihm, Lucas, für immer, sie würde zu ihm zurückkehren, und das Kind sollte die lebende Blüte ihres untrennbaren Bundes sein.

Von da ab litt Lucas jedoch schrecklich unter dem Bewußtsein, Josine Schmähungen und Mißhandlungen ausgesetzt zu wissen. Es war ihm unerträglich, die geliebte Frau in den entehrenden Händen Ragus zu lassen, während er sie in ein Paradies der Liebe und Zärtlichkeit hätte versetzen, sie mit all der Vergötterung hätte umgeben mögen, die der Mutter zukommt, welche durch das Kind geheiligt ist. Aber was sollte er tun, wie sollte er sie unter seinen Schutz nehmen, wenn sie sich beharrlich zurückzog, sich schweigend im Schatten barg, um jede Unannehmlichkeit von ihm fernzuhalten? Sie vermied es sogar, ihn zu sehen, aus Furcht vor irgendeinem Zufall, der ihr Geheimnis hätte preisgeben können. Und er mußte ihr förmlich auflauern, sie überraschen, um endlich einige Worte mit ihr wechseln zu können.

In einer finstern Nacht sah Lucas an einer Ecke der armseligen Rue des Trois-Lunes Josine und trat ihr in den Weg.

»Lucas, du bist es? Welche Unvorsichtigkeit, Geliebter! Gib mir schnell einen Kuß und geh gleich wieder, ich bitte dich!«

Aber er hielt sie fest umschlungen und sagte ihr leise und innig ins Ohr:

»Nein, nein, Josine, ich muß mit dir sprechen. Du erträgst zu viel, und es ist verbrecherisch von mir, daß ich dich so leiden lasse. Höre, Josine, ich bin gekommen, um dich zu holen, du mußt mir folgen, um als geliebte, verehrte und glückliche Frau an meiner Seite zu leben.«

Sie überließ sich einen Augenblick dem süßen Trost dieser zärtlichen Umarmung, aber dann machte sie sich wieder los.

»Lucas, was sagst du da? Bist du so unvernünftig? Ich soll zu dir kommen, da doch ein solcher Schritt die schrecklichsten Gefahren für dich heraufbeschwören könnte? Von mir wäre es verbrecherisch, wenn ich noch ein Hindernis mehr bilden würde auf dem schweren Wege, den du zurücklegen mußt, um dein Werk zu vollenden! Geh nur schnell, geh, Lucas! Ich würde mich eher töten lassen, als deinen Namen verraten!«

Er versuchte sie zu überzeugen, wie überflüssig es sei, der Heuchelei der Welt ein solches Opfer zu bringen.

»Du bist meine Frau, da ich der Vater deines Kindes bin, und du mußt mir folgen. Wenn erst unsere Stadt der Gerechtigkeit erbaut ist, wird es kein anderes Gesetz mehr geben als das der Liebe, und die freie Vereinigung allein wird geachtet sein. Warum sollten wir uns um die Leute kümmern, die sich heute noch über uns entrüsten würden?«

Und als sie fest bei ihrer Opferwilligkeit blieb, indem sie sagte, daß nur das Heute ihr wichtig sei, da sie ihn frei von jedem Hemmnis siegen sehen wolle, rief er verzweifelt:

»Wirst du also nie zu mir zurückkehren, wird dieses Kind nie mein Kind sein, vor den Augen aller Welt, im hellen Licht der Sonne?«

Sie schlang wieder ihre Arme um ihn und flüsterte ihm zu:

»Ich werde zu dir zurückkehren an dem Tage, da du meiner bedürfen wirst, da ich dir kein Hemmnis mehr, sondern eine Gefährtin sein werde, und werde dir das süße Kind mitbringen, das dann für uns beide eine neue Quelle der Kraft sein wird.«

Und das schmutzige Beauclair, die alte elende Höhle der zum Fluch gewordenen Arbeit, lag rings um sie in der Finsternis unter dem zermalmenden Druck jahrhundertealter Ungerechtigkeit, während die beiden Worte der Zuversicht für eine Zukunft voll Frieden und Glück miteinander tauschten.

»Du bist mein Mann, und niemand anders hat je für mich existiert. Oh, wenn du wüßtest, wie süß es für mich ist, deinen Namen nicht zu sagen, trotz aller Drohungen, ihn ganz für mich zu behalten wie eine verborgene Blume und zugleich wie eine Rüstung! Beklage mich nicht, Lucas, ich bin stark und ich bin glücklich!«

»Du bist meine Frau, ich habe dich geliebt vom ersten Tage an, da ich dich sah, und wenn du meinen Namen verschweigst, so will ich den deinigen verschweigen, er soll meine Religion und meine Stärke sein, bis endlich die Stunde kommt, da du selbst unsere Liebe laut hinausrufen wirst.«

»Lucas, wie gut und wie klug bist du, und welches Glück erwartet uns!«

»Du bist es, Josine, die mich gut und klug gemacht hat, und weil ich dir damals zu Hilfe gekommen bin, werden wir eines Tages glücklich sein in dem Glücke aller Menschen!«

Sie sprachen nicht weiter und verharrten noch einige Augenblicke in fester, inniger Umarmung. Er fühlte ihren bebenden, fruchtbaren Leib, der ihm das köstliche neue Leben verhieß, das er in ihr geweckt hatte. Und sie drückte ihre Brust dicht an ihn, als wollte sie ganz in ihm verschwinden und aufgehen. Dann machte sie sich los und kehrte stolz und unbesieglich in ihr Martyrium zurück, während er durch die Nacht heimwärts ging, um weiter zu kämpfen und zu siegen.

Aber wenige Wochen darauf lieferte ein Zufall Josinens Geheimnis Fernande aus. Fernande kannte Ragu, dessen Rückkehr in die Hölle ein gewisses Aufsehen erregt hatte. Seit der Zeit tat Delaveau, als schätze er ihn besonders, er machte ihn zum Werkmeister und bewilligte ihm eine außerordentliche Zulage, obgleich er ein wüstes Leben führte. Fernande war auch unterrichtet von den heftigen Szenen im Hause Ragus. Dieser legte sich keinerlei Zurückhaltung auf, stieß ganz laut die gemeinsten Beschimpfungen gegen seine Frau aus, nannte sie öffentlich eine Straßendirne, die sich von irgendeinem Vorübergehenden habe schwängern lassen. Und in den Werkstätten fragten sich die Leute, wer wohl der Kamerad sei, dem Josine ihr Kind verdankte? Auch im Hause des Direktors war von dieser Angelegenheit die Rede, und Delaveau hatte in Gegenwart Fernandes davon gesprochen, wie unangenehm ihm die Sache sei, da Ragu, vor Eifersucht toll, ganz außer Rand und Band geraten war und wie ein Sinnloser arbeitete, indem er einmal drei Tage lang keine Hand rührte, dann wieder in eine unstillbare Arbeitswut verfiel, um in wütender Muskelanstrengung seinen Grimm auszutoben.

Delaveau war auf drei Tage nach Paris gereist, als eines Wintermorgens Fernandes Zofe den Frühstückstee und geröstete Brotschnittchen brachte. Nise saß wohlerzogen neben ihrer Mutter, trank ihre Milch und warf verlangende Blicke auf den Tee, der ein verbotener Genuß für sie war.

»Ist es wahr, Félicie«, fragte Fernande die Zofe, »daß es bei Ragu wieder Krach gegeben hat? Die Wäscherin erzählte mir, daß Ragu diesmal seine Frau halbtot geschlagen hat.«

»Ich weiß nicht, gnädige Frau, aber es ist wohl übertrieben, denn ich habe die Frau gerade vorhin hier vorbeigehen sehen, und sie sah nicht übler aus als sonst.«

Das Mädchen wartete eine kleine Weile und sagte dann noch, ehe sie hinausging:

»Es sollte mich trotzdem nicht wundern, wenn er sie eines Tages wirklich totschlüge, denn er hat schon oft genug ganz laut damit gedroht.«

Fernande aß langsam und schweigend weiter, in düsteres Sinnen versunken, als Nise in kindischer Zerstreuung halblaut zu trällern anfing:

»Der wirkliche Mann der Josine ist nicht Ragu, das ist der Herr von der Crêcherie, der Herr Lucas, der Herr Lucas, der Herr Lucas!«

Ihre Mutter sah sie starr vor Staunen an.

»Was sagst du da? Woher weißt du das?«

Erschrocken über das, was sie gedankenlos und gegen ihren Willen hinausgesungen hatte, beugte sich Nise über ihre Tasse und bemühte sich, harmlos auszusehen.

»Ich hab' das nur so gesagt, ich weiß gar nichts!«

»Du weißt nichts, du Lügnerin? Das ist dir nicht von selber eingefallen, was du da geplappert hast. Jemand muß es dir gesagt haben, sonst würdest du es nicht wiederholen.«

Nise fühlte, daß sie da etwas sehr Dummes angestellt hatte, und immer mehr in Verwirrung geraten, versuchte sie so keck wie möglich zu leugnen.

»Nein, Mama, man plappert manchmal nur so etwas, was einem durch den Kopf geht.«

Fernande sah sie scharf an und erriet plötzlich, woher Nise ihre seltsame Behauptung genommen haben mußte.

»Nanet hat dir das gesagt! Es kann nur Nanet gewesen sein!«

Nise zwinkerte mit den Augen, es war wirklich Nanet. Aber sie fürchtete wieder ausgescholten und bestraft zu werden wie damals, als ihre Mutter sie, Paul Boisgelin und Louise Mazelle dabei ertappt hatte, wie sie, aus der Crêcherie zurückkommend, die Gartenmauer überkletterten. Sie fuhrt fort zu leugnen.

»Oh, mit Nanet komme ich gar nicht zusammen, du hast es mir doch verboten!«

Voll fieberhaften Verlangens, alles zu erfahren, schlug Fernande einen sanften Ton an. Sie war von so heftiger Erregung ergriffen, daß sie alle Strenge beiseitesetzte, denn die Übertretung ihres Verbots verlor alle Wichtigkeit im Vergleich zu der kostbaren Neuigkeit, über die sie Gewißheit haben wollte.

»Höre, mein Kind, es ist sehr unschön, wenn man nicht die Wahrheit sagt. Ich habe dir neulich die Speise entzogen, weil du mir hast einreden wollen, daß ihr alle drei über die Mauer geklettert seid, um einen Ball zu holen. Wenn du mir heute die Wahrheit sagst, verspreche ich dir, dich nicht zu bestrafen. Also, war es Nanet?«

Nise antwortete als gutes Kind sofort:

»Ja, Mama, es war Nanet.«

»Und er hat dir gesagt, daß der wirkliche Mann der Josine Herr Lucas sei?«

»Ja, Mama.«

»Und was sagt er, warum glaubt er, daß Herr Lucas ihr wirklicher Mann ist?«

Nise geriet in Verlegenheit und senkte wieder den Kopf. »Nun, weil ... weil ... er weiß es eben, Nanet.«

Trotz ihrer Begierde, alles zu erfahren, begann Fernande sich der Fragen zu schämen, die sie ihrem Kinde stellte. Sie drang nicht weiter in sie und versuchte den Eindruck der brutalen Neugierde zu verwischen, die sie sich hatte anmerken lassen.

»Nanet weiß gar nichts, er spricht Unsinn, und du bist dumm genug, seine Dummheiten zu wiederholen. Du wirst so gut sein, nie wieder so albernes Zeug zu sagen, wenn dir an deiner Speise etwas liegt.«

Sie vollendeten ihr Frühstück schweigend inmitten der Stille des kalten Wintertages draußen, die Mutter erfüllt von dem Gedanken an das Geheimnis, das sie erfahren hatte, das Kind seelenfroh, so leichten Kaufes davongekommen zu sein.

Fernande blieb den Tag über in ihrem Zimmer, dachte nach und überlegte. Zunächst fragte sie sich, ob das, was Nanet gesagt hatte, wirklich die Wahrheit sei. Aber wie konnte sie daran zweifeln? Er hatte offenbar manches gesehen und gehört, er wußte alles, er liebte seine Schwester zu sehr, um in bezug auf sie zu lügen. Und dann machten hundert kleine Umstände die Sache wahrscheinlich. Dann fragte sie sich, wie sie die Waffe benützen sollte, die der Zufall ihr in die Hand gespielt hatte. Noch ohne klaren Plan, fühlte sie dennoch, daß sie diese Waffe vergiften, daß sie sie zu einer tödlichen Waffe machen müsse. Nie hatte sie Lucas mehr gehaßt. Delaveau war nur nach Paris gegangen, um zu versuchen, dort eine neue Anleihe aufzunehmen, denn mit den Werken ging es alle Tage mehr abwärts. Welch ein Triumph, wenn es ihr gelang, den verhaßten Herrn der Crêcherie beiseitezuschaffen, den Mann, der ihr Wohlleben, die Genüsse ihres Daseins bedrohte! War erst der Feind tot, dann war auch die Konkurrenz getötet, die Niederlage abgewehrt. Bei einem vor Eifersucht tollen, stets betrunkenen Menschen wie Ragu konnten die Ereignisse einen sehr raschen Verlauf nehmen. Zweifellos würde es genügen, ihm das Messer aus der Tasche zu locken. Aber das alles waren nur formlose Wünsche; wie sollte sie sie zur Wirklichkeit machen, wie sollte sie die Dinge ins Rollen bringen? Das einfachste war offenbar, Ragu die Augen zu öffnen, ihm den Namen zu sagen, den er seit drei Monaten suchte. Die Schwierigkeit war nur, in welcher Weise oder durch wen sie ihm diese Mitteilung zukommen lassen sollte. Sie entschloß sich endlich zu einem anonymen Brief, sie wollte die Worte aus einer Zeitung herausschneiden, sie auf ein Papier kleben und den Brief dann nachts ungesehen in einen Briefkasten werfen. Sie begann auch sogleich mit dem Herausschneiden. Auf einmal erschien ihr das Mittel nicht sicher genug, von schwacher Wirkung, denn ein Brief ist kalt, er könnte leicht unbeachtet bleiben. Wenn Ragu nicht sofort zum Äußersten aufgestachelt, zum Wahnwitz gebracht wurde, war es anzunehmen, daß er dann noch den Stoß führen würde? Die Wahrheit mußte ihm plötzlich, mit einem Male eingeflößt, mußte ihm mitten ins Gesicht geschleudert werden, und zwar unter Umständen, die ihn rasend machten. Wen also sollte sie zu ihm senden, wen zum Angeber, zum Vergifter auserwählen? Sie konnte keine geeignete Person finden, wohin sie auch blickte. Die Nacht kam, und sie suchte noch immer, fieberhaft und mit schmerzendem Kopfe, von Ungeduld verzehrt, daß sich ihr kein Mittel bieten wollte, die blutige Tragödie, die ihr vorschwebte, herbeizuführen.

Als sie sich zu früher Stunde, gegen zehn Uhr, zu Bette legte, war sie wieder zu einem Entschlusse gekommen. Am nächsten Morgen wollte sie Ragu rufen lassen, unter dem Vorwande, ihn zu fragen, ob er einverstanden sei, wenn seine Frau einige Tage bei ihr verbringe, um Näharbeiten zu machen. Und wenn sie dann allein mit ihm war, konnte sie vielleicht Gelegenheit finden, ihm das zu sagen, was er wissen sollte. Aber auch dieser Weg befriedigte sie nicht ganz, sie fühlte unruhige Zweifel über die möglichen Folgen einer solchen Unterredung unten im Arbeitszimmer ihres abwesenden Mannes. Sie war glücklich über seine Abwesenheit, durch die sie allein in dem großen Bette liegen und ihre von dem Fieber der Erregung schmerzenden Glieder frei dehnen konnte. Aufs neue wankend geworden und immer wieder Pläne entwerfend und verwerfend, schlief sie endlich ein und lag bis fünf Uhr morgens, ohne sich zu rühren, in bleiernem Schlafe. Als die Uhr fünf schlug, erwachte sie plötzlich. Mit offenen Augen in die Finsternis des Zimmers blickend, nahm sie ihre Gedanken da wieder auf, wo sie sie unterbrochen hatte, und mit einem Male stand ihr eine kühne und sichere Lösung mit außerordentlicher Klarheit und Deutlichkeit vor der Seele. Sie mußte selbst in die Fabrik hinuntergehen, unter dem Vorwand, den sie sich schon ausgedacht hatte, und dann im Laufe des Gespräches das entscheidende Wort fallen lassen. Sie hatte sich erkundigt und wußte, daß Ragu heute Nachtarbeit hatte. Wenn sie also um sieben Uhr morgens hinunter ging, so traf sie ihn gerade in dem Augenblicke, da die Nachtschicht von der Tagschicht abgelöst wurde. In ihrer fieberhaften Erregung dachte sie nicht weiter über die verschiedenen Möglichkeiten ihres Schrittes nach. Sie war fest überzeugt, den besten und sichersten Weg gefunden zu haben, und diese Überzeugung gründete sich weniger auf klare Einsicht als auf den Instinkt des verführerischen Weibes, das auf die Mitwirkung der Menschen und Dinge rechnete, auf günstige Umstände, deren Natur sie nicht hätte angeben können, die aber sicher eintreten würden.

Sie konnte nicht wieder einschlafen, sie wälzte sich in dem heißen Bette, von Ungeduld verzehrt, zu der Verabredung zu eilen, die sie sich gegeben hatte. Und nie hatte die Erwartung irgendeines Liebes-Stelldicheins, von dem sie sich neue, ungekannte, wahnsinnige Wollust versprach, sie so gefoltert. Sie fand keinen kühlen Platz mehr für ihre Glieder, sie nahm das ganze große Bett ein mit den Windungen ihres schlangengeschmeidigen Körpers, ihr Hemd war hinaufgeglitten, ihre aufgelösten schwarzen Haare bedeckten ihr glühendes Gesicht. Aber keinen Augenblick wurde sie wankend in ihrem Entschlusse, sie wollte nicht einmal nachdenken, wollte nicht voraussehen, wie sich die Dinge entwickeln würden, wollte nicht die Reihenfolge festzustellen versuchen, die zum Gelingen ihres Planes führen mußte. Sie war überzeugt, daß sich alles von selbst ergeben werde. Es schien ihr, als ob das Schicksal selbst sie unvermeidlichen Ereignissen entgegenführe, deren erkorenes Werkzeug sie war und die zu vollenden sie sich nicht weigern konnte. Die Minuten des Wartens wurden ihr zu qualvollen Ewigkeiten, und da sie nicht mehr wußte, was sie tun sollte, um die Zeit auszufüllen, begann sie sich selbst zu streicheln, um die Hitze ein wenig zu lindern, von der ihre Haut brannte. Ihre schmalen, langen und weichen Hände strichen langsam über ihre Schenkel hinab und wieder hinauf, glitten überallhin mit leichtem, kaum verweilenden Kosen, folgen dann den Hüften und dem Oberkörper bis zu der festen Brust, die sie in plötzlicher Wut mit allen zehn Fingern faßte und heftig drückte, wie um durch den Schmerz ihren Körper dafür zu strafen, daß er sie mit unkühlbarer Gluthitze quälte.

Endlich um dreiviertel sieben Uhr, um die Zeit, die sie sich festgesetzt hatte, sprang sie aus dem Bette. Die Kälte des Zimmers wirkte abkühlend auf ihre Haut, sie wurde plötzlich ruhig und vollkommen Herrin ihrer selbst. Obgleich der Tag kaum angebrochen war, machte sie kein Licht und zog auch die Gardinen nicht auf. Sie hüllte sich in einen weißen, bis zu den Füßen reichenden Flanellschlafrock und schlüpfte in ein Paar weiße Samtpantoffeln. Dann ging sie hinab, wie an den Tagen, an denen sie des Morgens irgendeinen Befehl zu geben hatte, der ihr während der Nacht eingefallen war.

Die Dienstmädchen waren noch nicht wach. Sie machten sich die Abwesenheit des Herrn zunutze, indem sie darauf rechneten, daß die gnädige Frau lange in den Tag hinein schlafen würde. Mit glatten, sicheren Bewegungen durchschritt Fernande das Arbeitszimmer ihres Mannes und öffnete die Tür des kurzen, schmalen Ganges, der von dort in die Fabrikgebäude, und zwar zunächst in die Büroräume führte. Die hier beschäftigten Leute kamen erst um acht Uhr, und der Diener, der auszukehren und aufzuräumen hatte, spazierte draußen auf der Straße in Gesellschaft des behaglich seine Pfeife rauchenden Hausmeisters auf und ab. So konnte sie durch die leeren Zimmer schlüpfen, den Hof überqueren und in die große Halle gelangen, ohne daß irgend jemand sie sah. Wie sie mit Sicherheit vorausgeahnt hatte, waren ihr die Umstände günstig: die Arbeiter der Nachtschicht waren fortgegangen, die der Tagschicht noch nicht eingetroffen. Und durch den glücklichsten aller glücklichen Zufälle war Ragu, den wieder einmal die Arbeitswut erfaßt hatte, allein zurückgeblieben und eben im Begriffe, sich umzuziehen.

Fernande kannte wohl den Weg, aber sie hatte sich noch nie so weit in dieses Reich der Kohle und des Eisens vorgewagt. Sie empfand tiefen Abscheu vor all dem Wüsten und Schmutzigen, das es hier gab. Sie blieb daher beklommen stehen, als sie in die riesige dunkle Halle der Öfen blickte. Das frühe Tageslicht drang kaum durch die kleinen Fenster herein, und nur aus zwei in Tätigkeit befindlichen Öfen durchdrangen zwei dünne Glutstrahlen die in der Luft hängenden Rauchwolken. Sie wußte nicht, wohin sie auf dem kohlschwarzen Boden, zwischen schmutzigen Lachen und überall aufgehäuften Eisenmasseln den Fuß setzen sollte. Ein scharfer Geruch, in dem sich die Ofengase mit menschlichen Ausdünstungen vermischten, raubte ihr fast den Atem. Trotzdem drang sie vor, und gleich darauf erblickte sie in dem weiten, leeren Raum Ragu, der sich eben der Holzbaracke aus rohen Brettern zuwandte, in der die Arbeiter ihre Kleider aufhängten. Die ganze Nacht hindurch hatte er das schmelzende Eisen gerührt, in einem jener Anfälle von Arbeitswut, in denen er Betäubung und Vergessen suchte und in denen er die schwere Eisenstange wie eine Waffe handhabte, mit der er die ganze Welt niederschlagen wollte. Er war noch in Schweiß gebadet, hatte seine Schürze abgelegt und war nur mit Hemd und blauer Leinenhose bekleidet, und ehe er seine Straßenkleider anzog, trank er, seine gewöhnliche Nachtration überschreitend, gierig noch einen vierten Liter Wein aus, trunken von Alkohol, Feuersglut und Wut. Da erblickte er bei einer Wendung von der Schwelle der Baracke aus Fernande, eine ganz weiße Frauengestalt inmitten der schmutzigen Schwärze der Halle, und erstaunt trat er vor, um zu sehen, wer das sei.

Fernande war, als sie ihn erblickt hatte, wie er eben den Rest der Flasche in die Gurgel schüttete, abermals stehengeblieben, noch beklommener als vorher. Er war halbnackt, das offene Hemd ließ seine sehr weiße Brust sehen, und auch die bis zur Schulter nackten Arme waren weiß, von der hellen Hautfarbe der Rothaarigen, die stark gegen die braunrote des blutreichen, vom Feuer gerösteten Gesichtes abstach. Sie hatte zuerst warten wollen, bis er die Kleider gewechselt hätte. Aber da er nun direkt auf sie zukam, blieb ihr nichts weiter übrig, als sofort ihre Absicht auszuführen.

»Ich bin es, Ragu, ich wollte Sie um etwas ersuchen, und da ich wußte, daß Sie hier sind ...«

Er war so ungeheuer erstaunt, daß sie sich um diese Stunde herbemühte, daß er sie wortlos anstarrte. Jetzt erst kam ihr die Auffälligkeit ihres Schrittes zum Bewußtsein, aber ohne sich dadurch anfechten zu lassen, ohne sich auch nur mit dem Versuch einer Erklärung aufzuhalten, ging sie sofort auf ihr Ziel los.

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie einverstanden sind, wenn Ihre Frau einige Tage bei mir arbeitet. Ich brauche jemand und habe an sie gedacht.«

Bei der Erwähnung seiner Frau vergaß Ragu die Sonderbarkeit dieses Besuches, sein Blut kochte auf in blinder Wut, und in seinen Ohren sauste es.

»Meine Frau? Sie wollen meine Frau? Hölle und Teufel, nehmen Sie sie und geben Sie sie mir nie mehr zurück! Sie soll meinetwegen krepieren!«

Diesen Ausbruch hatte Fernande erwartet. Sie heuchelte Erstaunen, Mitleid, teilnahmsvolle Betrübnis.

»Es geht also nicht besser bei Ihnen zu Hause? Ich habe gedacht, daß Sie ihr verziehen hätten, daß Sie sich darein fänden, um des armen Kleinen willen, das kommen soll.«

»Was verziehen?« schrie Ragu, zum Äußersten gebracht durch diesen Peitschenhieb auf die blutende Wunde seiner Eifersucht. »Ihr das Kind verzeihen, das die Dirne herumträgt? Die Dirne soll das Vergnügen haben, und ich soll meine Wut hinunterschlucken?«

»Freilich, Ihre Frau war leichtsinnig, aber sie ist jung und hübsch, und es ist nur begreiflich, daß sie genießen will und daß sie den schönen Herren Gehör schenkt, die ihr schmeicheln.«

Er schloß die Augen vor der Vision, die sie hervorrief und die ihn brannte wie glühendes Eisen, und knurrte zähneknirschend:

»Ich werde ihr schon Herren geben, die ihr schmeicheln! Und Sie wollen, daß ich ihr verzeihe, daß ich dem Bastard zu essen gebe, den sie sich hat anhängen lassen wie eine elende Hündin?«

Mit dem Ausdruck unschuldigen Staunens rief nun Fernande:

»Ja, was hat man mir denn gesagt? Ich glaubte, diese Frage sei bereits geregelt! Muß nicht der Vater das Kind zu sich nehmen und für alle seine Bedürfnisse sorgen?«

»Wie? Was?«

»Na ja, der Herr der Crêcherie, dieser Herr Lucas, der Vater, mit einem Wort!«

»Wie, der Vater?«

Betäubt und ohne zu verstehen, streckte Ragu sein schweißtriefendes, glühendes Gesicht vor, bis dicht an dieses zarte Frauengesicht, aus dessen rotem Munde so seltsame Dinge hervorkamen.

»Es ist also nicht wahr? Sie wissen nichts? Mein Gott, wie sehr bedaure ich, daß ich da etwas ausgeplaudert habe! Man hatte mir gesagt, daß Sie sich mit Herrn Lucas verständigt hätten und daß Sie Ihre Frau behalten, unter der Bedingung, daß er das Kind zu sich nimmt, da er der Vater ist.«

Ein Zittern ging durch den Körper Ragus, während er sein wutverzerrtes Gesicht noch weiter vorstreckte. Und allen Respekt beiseitesetzend, denn hier standen nur noch Weib und Mann einander gegenüber, knurrte er:

»Was sagst du da, he? Dazu bist du also hergekommen, um mir das zu sagen? Du wolltest mir das in die Hand spielen, daß dieser Herr Lucas meine Frau geschwängert hat! Ja, ja, es ist sehr möglich, es ist sogar gewiß, denn jetzt sehe ich auf einmal klar, jetzt wird mir alles verständlich. Sei nur ruhig, der Herr Lucas wird sein Teil kriegen, das laß meine Sorge sein! Aber du, he? Warum bist du hergekommen, warum hast du mir das gesagt?«

Sein glühender Atem hauchte ihr so schrecklich ins Gesicht, daß sie Angst bekam. Sie fühlte, daß sie machtlos gegen ihn wurde, daß alle ihre weibliche Geschmeidigkeit nichts über dieses losgelassene wilde Tier vermochte. Sie wollte den Rückzug antreten.

»Sie verlieren den Verstand, Ragu. Kommen Sie zu mir, wenn Sie wollen, nachdem Sie ruhiger geworden sind, und wir sprechen weiter über die Sache.«

Mit einem Satz versperrte er ihr den Weg.

»Halt, ich muß dir noch was sagen...«

In ihrer Angst hatte sie ihren nachlässig geschlossenen Schlafrock sich öffnen lassen, und er sah ein Stück von der seidigen Haut ihrer Brust. Er sah, er ahnte vor allem, daß sie keinen Rock unter diesem weichen, fließenden Gewande trug, das kaum ihren Körper bedeckte und das er mit einem Ruck seiner derben Hände herrunterreißen konnte. Und sie roch gut, sie war noch ganz duftend und warm vom Bett, und diese weiße Haut, diese weiße Gestalt, die da so plötzlich in seiner schwarzen, rot durchglühten Hölle aufgetaucht war, brachte ihn von Sinnen.

»Hör einmal, du sagst, die schönen Herren schmeicheln unseren Frauen und schwängern sie. Da ist es nur gerecht, daß wir ihnen Gleiches mit Gleichem vergelten und daß ihre Frauen auch einmal daran kommen.«

Damit faßte er sie und stieß sie gegen die Holzbaracke, gegen die schmutzige Garderobe, den finsteren Verschlag, in dessen Ecke ein Haufen von Fetzen lag. Sinnlos vor Angst vor der drohenden entsetzlichen Umarmung wehrte sie sich verzweifelt.

»Lassen Sie mich, ich schreie um Hilfe!« »Oh, du wirst nicht schreien, denn dann kämen Leute, und du wärest am schlimmsten daran.«

Und er stieß sie weiter, das Kinn vorgestreckt, mit brutalen Händen, die schon ihren Körper betasteten. Die Ausdünstung eines wilden Tieres entstieg seiner weißen Haut, die sie durch die Öffnung der Hemdbrust sah. Die schwere Nachtarbeit, der er sich mit wütendem Eifer hingegeben, hatte ihn in Schweiß gebadet, die Glut des Ofens hatte sich in seinen Adern angesammelt und brannte noch in seinem Blute. Und sie fühlte, wie ihr die Kräfte schwanden, sie fühlte sich unterjocht, überwältigt, sie hatte nicht den Mut, um Hilfe zu rufen.

»Ich schwöre Ihnen, daß ich schreie, wenn Sie mich nicht lassen!«

Aber er sprach kein Wort mehr, seine Zähne waren zusammengepreßt, er gehorchte nur noch der Raserei des aufgestachelten tierischen Instinkts, der wilden Begierde nach der Vergewaltigung. Mit einem letzten Stoß warf er sie in die Ecke, auf den Haufen alter Fetzen, ein Lager ekelhaften Schmutzes. Mit beiden Händen riß er ihr den Schlafrock und das Hemd herab, und umklammerte dann mit eisernem Griff ihren nackten Leib, um sie festzuhalten und ihren Fingernägeln zu entgehen, mit denen sie ihm die Haut zerkratzte. Eine dumpfe Wut hatte sie ergriffen, sie wehrte sich gleichfalls wie ein wildes Tier, ohne einen Laut, riß ihm die Haare aus, biß ihn in die Brust, während er immer wieder knurrte:

»Dirnen, Dirnen, lauter Dirnen!«

Mit einem Male hörte sie auf, sich zu wehren. Eine Flut abscheulicher Wollust, ein Strom entsetzlicher Trunkenheit ergoß sich über sie, ein wahnsinniger Schauer durchlief ihren Körper, der ihren Willen lähmte. Und diese entsetzliche Wollust entstand gerade aus der schmachvollen Erniedrigung, der sie anheimfiel, aus diesem schmutzigen Lager, aus diesem finsteren, übelriechenden Ort, diesem rasenden Mann mit der tierischen Ausdünstung, der schweißtriefenden Haut und dem von Ofenglut verbrannten Blute, aus der ganzen abscheulichen Trostlosigkeit der Fabrik, mit einem Wort, des menschenverschlingenden Ungeheuers, dessen von Flammen durchglühte Finsternis sie in einen höllischen Taumel versetzte. Das lüsterne, nach perversen Genüssen suchende Weib, das von ihrem Gatten und ihrem Geliebten so wenig verwöhnt war, kostete den letzten Abgrund der Wollust aus. Sie war willfährig, sie erwiderte die Umarmung der wilden Bestie in einer nie geahnten Verzückung, die ihr Schreie wahnsinniger Lust erpreßte, wie einem Tierweibchen, das vom Männchen im tiefen Walde begattet wird.

Ragu erhob sich. Wie ein Eber auf seinem Lagerplatz, so suchte er knurrend umher, während er sich hastig ankleidete. Sein Rock lag unter ihr, und er stieß sie mit dem Fuße weg, wie einen hinderlichen Gegenstand. Noch zweimal stieß er sie mit dem Fuße beiseite, wie einer, der etwas sucht, was er verloren hat, und bei jedem Fußstoß knurrte er zwischen den geschlossenen Zähnen:

»Dirne!«

Endlich, als er angekleidet war, fand er das Gesuchte. Es war sein Messer, das ihm aus der Tasche geglitten war und unter einem ihrer Beine lag. Er hob es auf und rannte hinaus, indem er noch brummte:

»Jetzt zu dem anderen! Er soll sein Teil bekommen!«

Fernande lag auf dem Haufen schmutziger Fetzen, regungslos, halb ohnmächtig, überwältigt von der ungeheuren Heftigkeit der Empfindung, die Arme über dem Gesicht verkrampft. Nach einer kurzen Weile erhob sie sich mühsam, steckte ihr Haar hinauf und hüllte sich so gut wie möglich in ihren zerrissenen Schlafrock. Sie hatte das außerordentliche Glück, daß sie ungesehen, wie sie gekommen war, wieder zurückkehren konnte. Endlich wieder in ihrem Zimmer angelangt, fühlte sie sich gerettet. Aber was sollte sie mit ihren beschmutzten, zerrissenen Kleidern anfangen? Die weißen Samtpantoffeln waren schwarz von Dreck, der weiße Flanellschlafrock hatte große Kohlen- und Ölflecken. Sie machte ein Bündel aus all diesen Kleidungsstücken, die kein Auge erblicken durfte, und verbarg es in einer Schublade, mit dem Vorsatz, es gelegentlich zu verbrennen, wie ein Mörder seine blutbefleckten Kleider verbrennt. Nachdem sie ein frisches Hemd angezogen hatte, legte sie sich wieder nieder, sie konnte sich nicht auf den Beinen halten, sie wollte sich in ihrem Bette verkriechen, wollte im Schlaf Vergessenheit suchen. Aber wenn sie auch das Hemd gewechselt hatte, der Geruch der Ausdünstung eines wilden Tieres war ihr in der Haut geblieben, aus ihren Haaren strömte noch der Alkoholhauch, der ihr die Sinne geraubt hatte. Immer wieder mußte sie die eine Minute durchleben, immer wieder die entsetzliche Wollust nachfühlen, deren Erinnerung an dem Geruche haftete, von dem ihr Körper durchdrungen war bis unter die Fingernägel. Unter die Decke verkrochen lag sie regungslos, schlaflos mit geschlossenen Augen da. Stunden vergingen, und sie rührte sich nicht, ihr Wesen war verschlungen von dem Taumel eines entsetzlichen und beseligenden Deliriums.

Gegen zehn Uhr betrat die Zofe, Félicie, endlich das Schlafzimmer, erstaunt, daß ihre Herrin noch nicht geklingelt hatte, und um so ungeduldiger, als ihr eine große Neuigkeit auf der Seele brannte, die das ganze Viertel in Aufruhr versetzte.

»Gnädige Frau sind doch nicht krank?«

Da sie keine Antwort erhielt, ging sie, nachdem sie einen Augenblick gewartet hatte, zum Fenster hin, um wie gewöhnlich die Gardinen aufzuziehen. Aber ein Flüstern, das aus dem Bette kam, ließ sie innehalten.

»Gnädige Frau wollen noch ruhen?«

Noch immer keine Antwort. Da konnte Félicie nicht länger an sich halten.

»Gnädige Frau wissen noch nichts?«

Ein tiefes, bebendes Schweigen erfüllte das verdunkelte Zimmer. Aus dem Bette kam nichts als der schwache, kaum vernehmbare Hauch des glühenden, gesteigerten Lebens, das sich unter der dichten Hülle der Decke barg.

»Einer von unseren Arbeitern, der Ragu, den Sie ja kennen, gnädige Frau, hat den Herrn Lucas von der Crêcherie mit dem Messer erstochen.«

Wie von einer Feder emporgeschnellt fuhr Fernande auf und saß mit weißem Gesicht, mit aufgelösten Haaren und entblößter Brust auf dem zerwühlten Bette.

»Oh!« sagte sie bloß.

»Ja, gnädige Frau, er hat ihm das Messer von rückwärts zwischen die Schultern gestoßen. Es ist wegen seiner Frau, heißt es. Solch ein Unglück!«

Mit starren Augen ins Weite blickend, als ob sie das Unsichtbare sähe, mit wogender Brust, die Haut durchbebt von der noch immer lebendigen wollüstigen Erinnerung, saß Fernande unbeweglich im Halbdunkel des Zimmers.

»Es ist gut«, sagte sie endlich. »Lassen Sie mich schlafen.«

Und als die Zofe leise die Tür geschlossen hatte, sank sie in das aufgewühlte Bett zurück, wandte sich mit dem Gesicht gegen die Wand und lag wieder regungslos. Ein grauenhafter Blutgeschmack mischte sich nun in den tierischen Geruch, der sie einhüllte, und ihre Wollust war vermischt mit dem entsetzlichen Reiz des Verbrechens. In ihrem Blute glühte das Unvergeßliche, das Beseligende, das Überwältigende, ihr ganzes Wesen war im Banne der Verzückung, wie sie sie nie empfunden hatte und nie wieder empfinden würde. So lag sie selbstvergessen Stunden und Stunden lang von Dunkelheit umgeben in dem heißen Bette, das Gesicht der Wand zugekehrt, als wollte sie nie wieder in die Öde des gewöhnlichen Lebens zurückkehren, als wollte sie für immer in dem Nachgefühl jener entsetzlichen Wonne fortschwelgen.

Es war gegen neun Uhr, im schwachen Morgenlicht des Wintertages, als Lucas vom Messer des Mörders getroffen wurde. Wie es seine Gewohnheit war, begab er sich zur Schule, um da seinen Morgenbesuch zu machen, seine freudigste Verrichtung des Tages, und während er auf der Schwelle stand und mit einigen kleinen Mädchen scherzte, die ihm entgegengelaufen waren, sprang Ragu, der hinter einem Gebüsch gelauert hatte, hervor und stieß ihm sein Messer in den Rücken. Mit einem lauten Schrei stürzte er zu Boden, während der Mörder die Flucht ergriff, sich den Hängen der Monts Bleuses zuwandte und zwischen den Felsen und Gebüschen verschwand. Soeurette war gerade nicht in der Nähe, sie befand sich in der Milchwirtschaft auf der anderen Seite des Parkes. Die Kinder stoben entsetzt nach allen Seiten auseinander und schrien, Ragu habe Herrn Lucas ermordet. Es vergingen einige Minuten, ehe die Arbeiter herbeikamen und den Verwundeten aufhoben, der bewußtlos geworden war. Rings um ihn hatte sich eine große Blutlache gebildet, die Stufen des rechten Flügels des Gemeindehauses, in dem sich die Schulen befanden, waren davon ganz gerötet, gleichsam damit getauft. Niemand dachte an die Verfolgung des fliehenden Ragu. Die Arbeiter waren gerade im Begriffe, Lucas in einem benachbarten Räume auf ein eilig bereitetes Lager zu betten, als der Verwundete aus seiner Ohnmacht erwachte und mit schwacher Stimme bat:

»Nein, liebe Freunde, zu mir nach Hause.«

Man gehorchte ihm und brachte ihn auf einer Tragbahre nach dem Häuschen, das er bewohnte. Unter Anwendung großer Mühe und Sorgfalt legte man ihn hier aufs Bett, auf dem er vor Schmerz und Blutverlust wieder in Bewußtlosigkeit verfiel.

In diesem Augenblick eilte Soeurette herbei. Eines der Mädchen hatte daran gedacht, sie zu benachrichtigen, während ein Arbeiter nach Beauclair lief, um den Doktor Novarre zu holen. Als sie Lucas regungslos, bleich und blutig auf dem Bette liegen sah, hielt sie ihn für tot. Sie fiel vor dem Bette in die Knie, und in der Verzweiflung ihres Schmerzes verriet sie das Geheimnis ihrer Liebe. Sie nahm seine regungslose Hand, bedeckte sie mit Küssen und ergoß in stammelnden Worten alle ihre bezwungene, in die Tiefe ihres Herzens zurückgedrängte Leidenschaft. Sie nannte ihn ihr einziges Kleinod, das Teuerste ihrer Seele, da er dahingegangen war, konnte sie nicht mehr lieben, konnte sie nicht mehr leben. Und im Übermaß ihrer Verzweiflung bemerkte sie nicht, daß Lucas wieder zu sich gekommen war und ihre Worte mit unendlicher Zärtlichkeit, mit unendlicher Traurigkeit vernahm.

Dann hauchte er mit schwacher Stimme:

»Sie lieben mich! Oh, meine arme, arme Soeurette!«

Überglücklich, ihn noch lebend zu sehen, sprang Soeurette auf. Es war ihr nicht im geringsten peinlich, daß sie ihr Geheimnis verraten hatte, ja sie empfand sogar ein Gefühl freudiger Erleichterung bei dem Gedanken, daß sie nun nicht mehr werde lügen müssen. Und sie wußte, daß sie ihn stark genug liebe, daß er niemals würde unter ihrer Liebe zu leiden haben.

»Ja, ich liebe Sie, Lucas, aber was liegt an mir? Sie leben, das ist genug, ich bin nicht eifersüchtig auf Ihr Glück.«

In diesem schicksalsschweren Augenblicke, da er dem Tode nahe zu sein glaubte, erfüllte ihn die Entdeckung dieser stummen, selbstverleugnenden Liebe, die ihn wie ein guter Schutzgeist begleitet und bewacht hatte, mit süßer und schmerzlicher Bewegung.

»Arme, arme Soeurette! Liebe, liebe Freundin!« flüsterte er leise.

Wieder ging die Tür auf und der Doktor Novarre trat tiefbewegt ein. Er machte sich sogleich daran, die Wunde zu untersuchen, unter der Beihilfe Soeurettes, die er als ausgezeichnete Krankenpflegerin kannte. Ein tiefes Schweigen herrschte, mit unaussprechlicher, angstvoller Beklemmung erwartete Soeurette den Ausspruch des Arztes. Und wie atmete ihr Herz in froher Erleichterung, in seliger Hoffnung auf, als der Doktor endlich sagte, daß das Messer auf das Schulterblatt getroffen habe, von diesem abgelenkt worden war und keinen edeln Teil verletzt hatte! Aber die Wunde war schrecklich, der Knochen war gesplittert und Komplikationen konnten sich ergeben. Es war augenblicklich keine ernste Gefahr vorhanden, aber die Genesung würde sicherlich sehr langwierig sein. Aber doch, welche Freude, daß das Schlimmste abgewendet war!

Lucas hielt die Hand Soeurettes mit einem schwachen, freudigen Lächeln in der seinigen. Dann sagte er:

»Weiß es mein guter Jordan schon?«

»Nein, er weiß noch nichts, er ist seit drei Tagen in seinem Laboratorium verbarrikadiert, aber ich will ihn herführen. Oh, lieber Freund, wie glücklich bin ich, daß es nicht zu schlimm ist!«

So saß sie noch bei ihm, als die Tür wieder aufgestoßen wurde und Josine hereinstürzte. Sie war auf die Nachricht von dem Morde herbeigerannt, verzweifelt, sinnlos vor Schmerz. Es war also eingetroffen, was sie so sehr gefürchtet hatte! Irgendein Elender hatte ihr kostbares Geheimnis verraten, und Ragu hatte Lucas getötet, ihren Gatten, den Vater ihres Kindes. Nun hatte sie nichts mehr zu verbergen, ihr Leben war ihr wertlos geworden, sie wollte sterben, bei ihm, wo sie hingehörte.

Als er sie sah, stieß Lucas einen leisen Schrei aus und streckte ihr beide Arme entgegen.

»O Josine, du bist es, du kehrst zu mir zurück!«

Wankend vor Schmerz und Angst und in der Schwere ihrer schon weit vorgeschrittenen Mutterschaft sank sie an seinem Bette hin. Er beeilte sich, sie zu beruhigen.

»Verzweifle nicht, Josine, der Doktor gibt mir Hoffnung, ich werde leben für dich und für unser Kind.«

In einem tiefen, schweren Seufzer löste sich der furchtbare Druck von ihrer Seele. Gütiger Gott, war also die Erfüllung ihrer unbesieglichen Hoffnung schon da, sollte sich das verwirklichen, was sie gläubig vom Leben erwartet hatte, das so grausam scheint und doch in seiner Weise sein Werk tut? Er sollte am Leben bleiben, und nun hatte diese abscheuliche Bluttat sie für immer vereinigt, sie, die einander bereits für immer gehörten!

»Ja, ja, Lucas, wir werden uns nie mehr, nie mehr trennen, da wir nun nichts mehr zu verbergen haben. Erinnerst du dich, daß ich dir versprochen habe, daß ich zu dir kommen werde an dem Tage, da du meiner bedürfen wirst, da ich dir nicht mehr ein Hindernis, sondern eine Gehilfin sein werde, und daß ich dir das geliebte Kind mitbringen werde, das dann für uns beide eine neue Quelle der Kraft sein wird. Alle anderen Bande sind gelöst, ich bin dein Weib vor aller Welt, und mein Platz ist hier an deinem Bette!«

Er war so tief bewegt und selig, daß Tränen seine Augen füllten.

»Josine, du bringst die Liebe und das Glück hier herein!«

Plötzlich erinnerte er sich Soeurettes. Er erhob die Augen und sah sie aufrecht an der anderen Seite des Bettes stehen, ein wenig blaß, aber lächelnd. Liebevoll erfaßte er ihre Hand.

»Meine liebe Soeurette, das war ein Geheimnis, das ich Ihnen verbergen mußte.«

Ein leichter Schauer durchlief sie, dann sagte sie sanft:

»Ich habe alles gewußt, ich sah Josine eines Morgens aus Ihrem Hause kommen.«

»Sie haben es gewußt?«

Er erriet mit einem Male alles, was in ihr vorgegangen sein mußte, und unendliches Mitleid, unendliche Bewunderung und Zärtlichkeit erfüllten ihn. Ihr klagloser Verzicht, die selbstlose Liebe, die sie ihm widmete, mit dem vollen Reichtum ihres Herzens, mit Hingabe ihres ganzen Lebens, erhoben sie in seinen Augen zur Höhe reinsten Heldentums. Ganz leise, fast in sein Ohr, sagte sie noch:

»Seien Sie ohne Sorge, Lucas. Ich habe alles gewußt, und ich werde nie etwas anders sein als Ihre treueste Freundin und Schwester!«

»Soeurette!« hauchte er wieder, kaum hörbar. »Liebe gute Freundin!«

Nun aber trat der Doktor Novarre dazwischen und verbot ihm alles weitere Sprechen. Er lächelte leise, der gute Doktor, über alles, was er da erfuhr. Es war ja ganz gut, daß sein Patient eine Frau und eine Schwester hatte, die ihn pflegen wollten, aber er mußte nun vernünftig sein und durfte sich nicht aufregen, damit kein Fieber eintrete. Und Lucas versprach zu gehorchen, verhielt sich ganz ruhig und warf nur liebevolle Blicke auf Josine und Soeurette, seine beiden guten Engel, zur rechten und linken Seite seines Bettes.

Es folgte ein langes Schweigen. Während die beiden Frauen um ihn bemüht waren, öffnete der Verwundete die Augen und lächelte ihnen zu. Dann flüsterte er noch, ehe er einschlief:

»Endlich ist die Liebe gekommen, und nun ist der Sieg unser.«


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