Emile Zola
Arbeit
Emile Zola

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IV

Weitere zehn Jahre gingen hin, die neue Stadt entwickelte sich zur Vollendung, und mit ihr die neue Gesellschaftsordnung des Friedens und der Gerechtigkeit. Und an einem 20. Juni, am Vorabend eines der großen Arbeitsfeste, die viermal im Jahr stattfanden, hatte Bonnaire eine wunderbare Begegnung.

Nahezu fünfundachtzig Jahre alt, wurde Bonnaire als Patriarch, als Held der Arbeit von allen verehrt und geliebt. Er war gesund und fröhlich, seine Gestalt war noch immer kräftig und aufrecht, sein Kopf mit dem dichten weißen Haar aufrecht getragen. Der ehemalige Revolutionär, den das verwirklichte Glück seiner Kameraden mit dem Bestehenden versöhnt hatte, lebte jetzt in behaglicher Ruhe nach langer, schwerer Lebensarbeit, die mitgeholfen hatte, die Eintracht und allgemeine Liebe zu schaffen. Er war einer der letzten Überlebenden des großen Kampfes, einer der Vorkämpfer der Neuordnung der Arbeit, die eine gerechte Verteilung der Güter herbeigeführt und dem Arbeiter seinen Menschenadel, seine freie Persönlichkeit und seine Bürgerrechte wiedergegeben hatte. So lebte er reich an Jahren und an Ehren, stolz darauf, durch seine zahlreiche Nachkommenschaft zu der Verschmelzung der feindlichen Klassen beigetragen zu haben, am Abend seines Lebens noch nützlich durch seine Greisenschönheit und Güte.

Am Abend dieses Tages gegen Sonnenuntergang war Bonnaire auf einem Spaziergang an den Eingang der Schlucht von Brias gelangt. Einen einfachen Stock in der Hand, machte er oft weite Wege zu Fuß, um bekannte Orte aufzusuchen und sich alte Erinnerungen zurückzurufen. Er war eben an der Stelle der Straße angelangt, wo sich einst das Tor der Hölle befunden hatte, das nun schon seit langem verschwunden war. Hier hatte auch einst eine Holzbrücke über die Mionne geführt, von der ebenfalls keine Spur mehr vorhanden war, denn der Fluß war auf eine Strecke von etwa hundert Metern eingedeckt worden, um die Fortsetzung eines breiten Straßenzuges zu ermöglichen. Wer hätte sich noch den schwarzen, kotigen Eingang der fluchbeladenen Fabrik vorstellen können, an diesem Punkte der breiten, hellen, von lachenden Häusern eingefaßten Straße! Als Bonnaire nun hier einen Augenblick stehenblieb, sah er zu seinem lebhaften Erstaunen auf einer Bank zusammengesunken einen alten Mann sitzen, in zerfetzten Kleidern, mit abgezehrtem, von einem struppigen Bart umgebenen Gesicht, mit kraftlosen, schlotternden Gliedern.

»Ein Bettler!« sagte er laut in seiner Überraschung.

Seit Jahren hatte er keinen Bettler gesehen. Dieser da war auch sichtlich ein Fremder, der eben erst hergekommen war. Seine Kleider und Schuhe waren weiß vom Straßenstaub, und er war am Eingang der Stadt ermattet auf diese Bank gesunken, nachdem er viele Tage unterwegs gewesen war. Sein Stock war seinen müden Händen entglitten und lag zu seinen Füßen. Verwirrt sah er sich um.

Mitleidsvoll ging Bonnaire auf ihn zu.

»Mein armer Freund, kann ich Ihnen behilflich sein? Sie scheinen erschöpft und niedergeschlagen.«

Der Arme antwortete nicht und blickte immer noch betäubt und ratlos von einer Seite des Horizonts zur anderen.

»Haben Sie Hunger? Wollen Sie ein gutes Bett? Ich will Sie führen, und Sie werden hier Hilfe und Unterstützung finden.«

Endlich öffnete der gebrochene, armselige alte Mann den Mund und sagte halblaut, wie zu sich selbst:

»Beauclair – kann das Beauclair sein?«

»Freilich ist dies Beauclair. Sie sind in Beauclair«, sagte der ehemalige Werkmeister lächelnd.

Doch als der Arme immer größeres Erstaunen und unüberwindlichen Zweifel zeigte, verstand er, was in ihm vorging.

»Sie haben Beauclair wohl früher gekannt, sind lange nicht hier gewesen?«

»Ja, mehr als fünfzig Jahre«, sagte der Unbekannte dumpf.

Da lachte Bonnaire fröhlich auf.

»Ja, da wundert's mich freilich nicht, wenn Sie sich nicht zurechtfinden! Es sind seither einige Veränderungen vorgegangen. So sind zum Beispiel die Qurignonschen Werke, die hier standen, verschwunden, und dort drüben ist das alte Beauclair, der Haufen schmutziger Häuser, ganz demoliert worden. Und an dessen Stelle ist, wie Sie sehen, eine neue Stadt entstanden, der Park der Crêcherie hat sich ausgedehnt, hat den Platz, auf dem die alte Stadt gestanden, mit seinem Grün überzogen.«

Der Arme war der Erklärung gefolgt und hatte die Blicke auf die Punkte gerichtet, die der gütige Greis ihm bezeichnete. Dann schüttelte er wieder den Kopf. Er konnte nicht an die Wirklichkeit dessen glauben, was ihm da gesagt wurde.

»Nein, nein, das ist nicht Beauclair! Da sind wohl die beiden Ausläufer der Monts Bleuses, dazwischen die Schlucht von Brias, und dort drüben liegt die Ebene der Roumagne. Das ist aber auch alles, was geblieben ist. Diese Gärten und diese Häuser sind ein anderes Land, das ich nicht kenne, das ich nie gesehen habe. Nein, nein, ich muß weiter, ich habe mich verirrt.«

Er erhob sich mit Anstrengung von der Bank und nahm seinen Stock und seinen Rucksack wieder auf. Jetzt erst richtete er zum erstenmal die Augen auf den Mann, der ihm so liebreich seine Hilfe anbot. Bis jetzt hatte er in sich versunken dagesessen und wie in einem Traum befangen mit sich selbst gesprochen. Aber beim ersten Blick, den er auf Bonnaire warf, zuckte er zusammen, erbebte und machte eine Bewegung, als wollte er sich hastig entfernen. Hatte er ihn also erkannt, er, der die Stadt nicht erkannte? Bonnaire selbst war so betroffen über die plötzlich aufzuckende Veränderung in dem entstellten, struppigen Gesichte, daß er seinerseits den Mann schärfer ins Auge faßte. Wo hatte er nur diese hellen Augen, in denen zuzeiten eine heftige Wildheit aufflammte, schon gesehen? Plötzlich erwachte seine Erinnerung, auch er erbebte, und die ganze Vergangenheit lebte auf in dem Schrei, der sich seinen Lippen entrang:

»Ragu!«

Seit fünfzig Jahren hatte man ihn tot geglaubt. Der verstümmelte, unkenntliche Leichnam, den man bald nach seiner Flucht in einem Abgrund der Monts Bleuses gefunden hatte, war also nicht der seinige gewesen? Er lebte, er lebte noch, er kam wieder zum Vorschein, und diese Auferstehung eines Toten nach so vielen, vielen Ereignissen erfüllte Bonnaire mit ahnungsvoller Angst vor dem, was geschehen war und was geschehen würde.

»Ragu, du bist es!«

Der Mann hatte den Stock in der Hand, den Sack auf der Schulter. Aber da er erkannt war, warum sollte er weiterziehen? Er hatte sich also nicht verirrt.

»Ja, ja, Bonnaire, sehr beschädigt allerdings, das ist richtig!«

Dann setzte er in seinem alten spöttischen Tone hinzu:

»Du versicherst mir also auf dein Wort, daß dies Beauclair ist, dieser prächtige große Garten mit den hübschen Häusern? Da wäre ich denn angelangt, und ich muß mich nur noch um eine Herberge umsehen, wo man mir erlaubt, die Nacht zu verbringen.«

Warum war er zurückgekommen? Welche Gedanken bargen sich hinter dieser kahlen, runzligen Stirn, hinter diesem von ausschweifendem Leben verwüsteten Gesichte? Die Befürchtungen Bonnaires verstärkten sich, er sah den unheimlichen Gast schon die Festesfreude des morgigen Tages durch irgendeinen Skandal stören. Er wagte es noch nicht, ihn zu befragen, aber er wollte ihn unter seiner Obhut behalten, und fühlte sich auch mitleidig bewegt von dem jammervollen Zustande, in dem er den Mann wiederfand.

»Es gibt hier keine Herberge, mein Freund, und du kommst mit mir. Du sollst essen, was dir schmeckt und in einem reinen Bett schlafen. Dann wollen wir uns aussprechen, du wirst mir sagen, was du willst, und ich werde dir helfen, wenn es mir möglich ist.«

»Oh, was ich will?« sagte Ragu wieder in seiner spöttischen Weise. »Nichts. Was soll ein alter, halbverkrüppelter Bettler wollen? Ich wollte euch wiedersehen und einmal wieder einen Blick auf meinen Geburtsort werfen. Der Gedanke ließ mir keine Ruhe, ich hätte nicht ruhig sterben können, wenn ich nicht noch einmal einen kleinen Spaziergang hierher gemacht hätte.

Da habe ich mich also auf den Weg gemacht – oh, das sind schon Jahre und Jahre her! Wenn man schlecht zu Fuß ist und keinen Sou in der Tasche hat, kommt man nicht schnell vorwärts. Aber man kommt doch schließlich ans Ziel, wie du siehst. Also, gehen wir zu dir.«

Die Nacht war hereingebrochen, und die beiden Alten konnten Beauclair durchschreiten, ohne daß jemand sie sah. Ragus Erstaunen wuchs, er warf Blicke nach rechts und links, ohne irgendeinen Punkt, an dem sie vorüberkamen, zu erkennen. Und als Bonnaire bei einem der nettesten Häuschen unter einer großen Baumgruppe stehenblieb, fragte er:

»Du bist wohl ein reicher Mann geworden?«

Der ehemalige Werkmeister lachte.

»Nein, ich war und bin nichts als ein Arbeiter. Aber doch ist es wahr, wir sind jetzt alle reich und sind alle Herren.«

Ragus neidische Furcht war wieder beruhigt.

»Ein Arbeiter kann kein Herr sein, und wenn man arbeitet, so ist das ein Zeichen, daß man noch nicht reich geworden ist.«

»Na gut, ich werde dir das noch erklären. Komm herein.«

Bonnaire war für den Augenblick allein in diesem Hause, das seiner Enkelin Claudine gehörte, die mit Charles Froment verheiratet war. Seit langer Zeit war der alte Ragu tot, und seine Tochter, die Schwester Ragus, Frau Bonnaire, war ihm im vergangenen Jahr nachgefolgt, nach einem heftigen Streite. Als Ragu erfuhr, daß sein Vater und seine Schwester nicht mehr lebten, nahm er dies mit einer wortlosen Gebärde auf, die auszudrücken schien, daß er darauf wohl gefaßt sein mußte, nach so vielen Jahren. Wenn man ein halbes Jahrhundert fort gewesen ist, kann man sich nicht wundern, niemand wiederzufinden.

»Wir sind also hier bei meiner Enkelin Claudine, der Tochter meines ältesten Sohnes Lucien, welcher Louise Mazelle, die Tochter der Rentner, deren du dich wohl noch erinnerst, geheiratet hat. Claudine selbst ist mit Charles Froment, einem Sohne des Direktors der Crêcherie, verheiratet. Aber sie haben heute ihre Alice, ein Mädchen von acht Jahren, zu einer Tante nach Formeries gebracht und werden vor morgen abend nicht wieder hier sein.«

Und heiter setzte er hinzu:

»Seit einigen Monaten haben die Kinder mich zu sich genommen, um mich zu verwöhnen. Das Haus gehört uns, iß und trink, dann werde ich dir dein Bett zeigen, und morgen werden wir dann weiter sehen.«

Ragu hatte ihm betäubt zugehört. Diese Namen, diese Heiraten, diese im Fluge vorbeieilenden drei Generationen verursachten ihm Schwindel. Er verstand nichts von alledem, er fand sich nicht zurecht in dem Gewirr all dieser unbekannten Ereignisse, dieser Ehen, Verschwägerungen und Geburten. An dem behaglichen, reichlich gedeckten Tische sitzend, aß er schweigend und gierig von dem kalten Fleisch und den Früchten. Die Wohlhabenheit und das Behagen, die ihn umgaben, schienen schwer auf den Schultern des alten Landstreichers zu lasten. Er sah noch gealterter, noch zusammengesunkener aus, während er über seinen Teller gebeugt dasaß und finstere Seitenblicke auf all dieses Glück warf, von dem er ausgeschlossen war. Sein lange aufgehäufter Groll, seine ohnmächtige Rachgier, das nun für immer unerfüllbare Verlangen, mit Hilfe des Unglücks anderer sein Glück zu begründen, waren erkennbar in seinem düsteren Schweigen, in der Niedergedrücktheit, in die ihn der Anblick solches Reichtums versetzte. Und Bonnaire saß ihm gegenüber, voll geheimer Unruhe, da er den Mann so finster sah, neugierig, was er in diesem halben Jahrhundert erlebt haben mochte, und zugleich verwundert, daß er trotz seines Elends noch immer am Leben war.

»Woher kommst du denn?« fragte er ihn endlich.

»Oh, von überall«, erwiderte Ragu mit einer Handbewegung, die den ganzen Horizont umfaßte.

»Da hast du wohl viele Länder und Menschen gesehen?«

»O ja, ich war in Frankreich, in Deutschland, in England, in Amerika, habe mich durch die ganze Welt geschleppt.«

Ehe er schlafen ging, zündete er seine Pfeife an und gab in großen Umrissen ein Bild seiner Irrfahrten als wandernder Arbeiter, der sich, träge und genußsüchtig, gegen die Arbeit empörte. Er war eine der verdorbenen Früchte des Lohnsklaventums, der Sklave, dessen höchster Traum es ist, den Herrn von seinem beneideten Platze herunterzustoßen, bloß um diesen Platz selber einzunehmen und seinerseits die Kameraden auszusaugen. Für ihn gab es kein anderes Glück, als ein großes Vermögen zu besitzen und in Genuß und Wohlleben zu schwelgen auf Kosten des Elends Tausender von armen Menschen. Aufbrausend von Natur, dabei feige dem Herrn gegenüber, ein gewissenloser Arbeiter, ein Trunkenbold, der zu keiner ausdauernden Tätigkeit fähig war, war er von Werkstatt zu Werkstatt, von Land zu Land gewandert, überall bald davongejagt, manchmal selber in plötzlicher sinnloser Aufwallung davongehend. Niemals hatte er einen Pfennig beiseitelegen können, überall war er beim Elend zu Gaste gewesen, jedes neue Jahr hatte ihn tiefer sinken sehen. Und als das Alter kam, war es wirklich ein Wunder, daß er nicht vor Hunger und Erschöpfung irgendwo im Straßengraben verendete. Bis an sein sechzigstes Jahr arbeitete er, konnte er sich noch da und dort leichtere Beschäftigungen verschaffen. Dann kam er in ein Spital, mußte es nach einiger Zeit verlassen und wurde bald darauf in ein anderes gebracht. Fünfzehn Jahre lebte er nun schon so zähe weiter, ohne recht zu wissen wie.

»Aber«, sagte Bonnaire, zahllose Fragen unterdrückend, »alle diese Länder müssen ja in Aufruhr sein. Hier ist es freilich sehr schnell gegangen, und wir haben einen Vorsprung vor den anderen, wie ich weiß. Trotzdem ist die ganze Welt in Vorwärtsbewegung begriffen, nicht wahr?«

»O ja«, erwiderte Ragu in seiner geringschätzigen Art, »sie schlagen sich herum und bauen überall die Gesellschaft neu auf, was aber doch nicht hinderte, daß ich nichts zu essen hatte.«

In Deutschland, in England und besonders in Amerika hatte er große Streiks, furchtbare Empörungen mitgemacht. In allen Ländern, in die ihn Trägheit und Unbeständigkeit verschlagen hatten, war er Zeuge gewaltsamer Ereignisse gewesen. Die letzten Königreiche stürzten, Republiken entstanden an ihrer Stelle, Bündnisse zwischen benachbarten Völkern begannen die Grenzen verschwinden zu lassen. Es war wie die Umwälzung im Frühling, wenn das Eis zerbricht und wegschmilzt, so daß die fruchtbare Erde frei wird und unter den warmen Strahlen der Sonne in wenigen Tagen alles sprießt und aufblüht. Unverkennbar befand sich die ganze Menschheit im Zustande der Umwälzung, war endlich am Werke, das Reich des Glücks zu begründen. Aber er, der schlechte Arbeiter, der stets unzufriedene, genußgierige Mensch, hatte nur gelitten unter diesen Katastrophen, die ihm, wie er mit verbissenem Grimm sagte, bloß Hiebe und Wunden eingetragen hatten, ohne daß er je auch nur Gelegenheit gefunden hätte, den Keller eines Reichen zu plündern, um sich einmal nach Herzenslust volltrinken zu können. Heute, wo er ein alter Landstreicher, ein alter Bettler war, gab er keinen Pfifferling für ihr Reich des Friedens und der Gerechtigkeit! Damit bekam er seine zwanzig Jahre nicht wieder, damit konnte er nicht in einem Palast wohnen, mit Sklaven zu seinen Befehlen, und dort in Jubel und Freuden bis ans Ende seiner Tage leben wie die Könige, von denen die Bücher erzählen. Und er sprach mit Spott von der dummen Menschheit, die es sich sauer werden ließ, ihren Urenkeln, den Bürgern des nächsten Jahrhunderts, ein schöneres Haus zu bauen.

»Diese Träume haben lange Zeit das Glück der Menschen ausgemacht«, erwiderte Bonnaire ruhig. »Aber was du sagst, ist nicht mehr wahr, heute steht das neue Haus schon fast vollständig fertig, und es ist sehr schön, ich werde es dir morgen zeigen, und du sollst sehen, ob es nicht ein Vergnügen ist, darin zu wohnen.«

Er erklärte ihm sodann, daß er ihn morgen an einem der vier großen Arbeitsfeste teilnehmen lassen werde, die am ersten Tage einer jeden Jahreszeit Beauclair mit Freude und Jubel erfüllten. Jedes dieser Feste hatte seine eigenen, der Jahreszeit angemessenen Belustigungen. Und das von morgen, das Fest des Sommers, schmückte sich mit allen Blumen und Früchten der Erde, mit dem überquellenden Reichtum der Natur, mit der Pracht des tiefblauen, weitgespannten Himmels, an dem die machtvolle Junisonne strahlte.

Ragu war in seine düstere Unruhe zurückversunken, in die geheime Furcht, in Beauclair den alten Traum vom sozialen Glück verwirklicht zu sehen. Sollte er wirklich, nachdem er unter qualvollen Kämpfen so viele Länder durchstreift hatte, die in den Wehen der Geburt der künftigen Gesellschaftsordnung lagen, sollte er wirklich diese Gesellschaftsordnung hier fast vollständig aufgerichtet sehen, in dieser Stadt, in seiner Heimat, die er infolge einer wahnsinnigen Mordtat hatte fliehen müssen? Dieses so gierig überall gesuchte Glück, es war hier, bei ihm zu Hause, während seiner Abwesenheit geschaffen worden, und er war nur zurückgekehrt, um zu sehen, wie glücklich die anderen waren, während es für ihn keine Freude mehr in diesem Leben geben konnte. Der Gedanke, daß er so durch eigene Schuld sein ganzes Dasein hoffnungslos verwüstet hatte, drückte ihn vollends nieder, und er trank schweigend, in finsteres Brüten verloren, die Flasche Wein aus, die sein Wirt vor ihn hingestellt hatte. Als dann Bonnaire sich erhob, um ihn in sein Schlafzimmer zu führen, folgte er ihm schweren, müden Schrittes. Das Zimmer war sauber und freundlich, das Bett weiß und duftend, und der armselige Bettler fühlte diese brüderliche, freigebige, reichliche Gastfreundschaft wie eine schwere Last auf sich ruhen.

»Also schlaf wohl!«

Bonnaire konnte jedoch, nachdem er sich ebenfalls zu Bette begeben hatte, nicht gleich einschlafen. Der Gedanke, mit welchen Absichten Ragu zurückgekehrt sein mochte, ließ ihm keine Ruhe und machte sein Herz beklommen. Zehnmal war er auf dem Sprunge gewesen, ihn direkt zu fragen und hatte es wieder unterlassen, aus Furcht, einen gefährlichen Ausbruch herbeizuführen. Es war doch wohl das beste, abzuwarten und dann nach den Umständen zu handeln. Er fürchtete irgendeine gewaltsame Szene, fürchtete, daß dieser herabgekommene Landstreicher, von Elend und Entbehrung toll gemacht, seine Heimat nur wieder aufgesucht hatte, um einen schrecklichen Skandal hervorzurufen, um Lucas und Josine zu beschimpfen, um vielleicht gar sein Verbrechen zu wiederholen! Er nahm sich daher fest vor, ihm morgen nicht einen Augenblick von der Seite zu weichen, ihn überall selber hinzuführen, damit er niemals allein sei. Indem er übrigens beschloß, ihm alles zu zeigen, verfolgte er zugleich eine kluge Taktik. Er hoffte, ihn durch den Anblick so großen Reichtums, so gewaltiger Macht zu lähmen, ihm das Bewußtsein einzuflößen, wie wirkungslos und nutzlos dagegen die wütende Auflehnung eines einzelnen sei. Und mit dem Entschluß zu diesem letzten Kampfe für die Harmonie, den Frieden und das Glück aller schlief Bonnaire endlich ein.

Am nächsten Morgen um sechs Uhr ertönten Trompetenfanfaren und sandten ihren lauten, fröhlichen Ruf über die Dächer von Beauclair, um das Fest der Arbeit anzukündigen. Die Sonne stand schon hoch an der herrlich blauen, unermeßlich weiten Wölbung des Junihimmels. Fenster öffneten sich, Grüße flogen über die Bäume hinweg von Haus zu Haus, die Volksseele der neuen Stadt erwachte fröhlich zum festlichen Tage. Und die Trompeten schmetterten fortwährend.

Bonnaire fand, als er bei Ragu eintrat, diesen fertig. Er hatte im anstoßenden Badezimmer ein Bad genommen und anständige Kleider angezogen, die auf einem Stuhl für ihn bereitgelegt worden waren. Und der ausgeruhte, erfrischte, wohlgekleidete Ragu hatte seine alte Spottsucht wiedergefunden, war offenbar entschlossen, sich über alles lustig zu machen und keinen Fortschritt anzuerkennen. Als er seinen Wirt eintreten sah, zeigte er sein häßliches, beleidigendes und herabwürdigendes Lächeln.

»Hör mal, Alter, die machen ja einen schrecklichen Lärm mit ihren Trompeten, die Kerle! Das muß nicht sehr angenehm sein für Leute, die sich nicht gern plötzlich aufschrecken lassen. Spielt man euch jeden Morgen diese Musik auf in eurer Kaserne?«

Der ehemalige Werkmeister sah ihn lieber in dieser Laune. Er lächelte gemütlich.

»O nein, diese lustige Reveille wird nur an den Festtagen geblasen. An gewöhnlichen Tagen kann man lange schlafen, wenn man will, während überall tiefste Ruhe herrscht. Aber wenn das Leben schön ist, steht man zeitig auf, und nur die Kranken müssen zu ihrem Bedauern im Bett bleiben.«

Dann sagte er in seiner rücksichtsvollen Güte:

»Hast du gut geschlafen? Hat es dir an nichts gefehlt?«

Ragu bemühte sich wieder, unangenehm zu sein.

»Oh, ich schlafe überall gut. Seit Jahren schlafe ich nur noch in Heuschobern, und die sind besser als das beste Bett.«

Und als Bonnaire schwieg, setzte er hinzu:

»Ihr habt zu viel Wasser in euren Häusern. Sie müssen feucht sein, glaube ich.«

Das Frühstück, das sie in dem freundlichen, hell von der Morgensonne beschienenen Eßzimmer nahmen, war köstlich. Auf dem blendend weißen Tischtuch standen Eier, Milch, Obst und goldgelbes, duftendes Brot. Der greise Hausherr behandelte seinen armseligen Gast mit zarter Aufmerksamkeit, mit einer schlichten, großmütigen Gastfreundschaft, die eine Atmosphäre unendlicher Güte und Sanftmut um ihn verbreitete.

Während des Essens unterhielten sie sich wieder miteinander. Wie gestern abend enthielt sich Bonnaire aus klugem Instinkt aller direkten Fragen. Er ahnte jedoch, daß Ragu, so wie alle Verbrecher, sich unwiderstehlich zu dem Orte seines Verbrechens hingezogen gefühlt hatte. Lebte Josine noch? Was tat sie? Hatte der gerettete Lucas sie zu sich genommen? Und was war schließlich aus ihm und ihr geworden? Alle diese Fragen glühten sicherlich in der Flamme, die in den Augen des alten Landstreichers brannte. Aber da er sein Geheimnis in sich verschloß und kein Wort von alledem über seine Lippen kommen ließ, blieb Bonnaire nichts anderes übrig, als den Plan, den er in der Nacht gefaßt hatte, auszuführen und dem Wiedergekehrten die ganze Herrlichkeit, die ganze Macht und den ganzen Reichtum der neuen Stadt vor Augen zu führen. Und ohne Lucas zu nennen, schickte er sich an, die Größe seines Werkes zu beschreiben.

»Damit du alles begreifst, lieber Freund, muß ich dir zuerst ein wenig erklären, wie es hier steht, ehe ich dich in Beauclair herumführe. Heute hat der neue Zustand, der damals, als du fortgingst, gerade erst begann, den vollen Sieg errungen und steht in herrlichster Blüte.«

Er schilderte die Entwicklung von Anfang an, wie die Werke der Crêcherie auf die Genossenschaft von Kapital, Geist und Arbeitskraft gegründet worden, die sich in den Gewinn teilten. Er beschrieb den Kampf mit den anderen Werken, denen der Hölle, wo die Lohnsklaverei in ihrer barbarischen Form bestand, wie die Crêcherie sie besiegt und sich an ihre Stelle gesetzt hatte und wie sie allmählich das alte, elende Beauclair mit der siegreichen Flut ihrer weißen, fröhlichen Häuschen hinwegschwemmte. Dann erzählte er, wie die anderen benachbarten Fabriken aus Nachahmungstrieb und aus Notwendigkeit mit der Genossenschaft verschmolzen, wie andere Gruppen sich unvermeidlicherweise bildeten, die Gruppe der Bekleidungsindustrien, die der Bauindustrien, wie alle Gewerbe gleicher Art sich zusammenschlossen und alle Gruppen wieder zu einer großen Einheit, zu einer einzigen Familie sich fügten, die ins unendliche neue Glieder ansetzen konnte. Dann hatte die zweifache Vereinigung der Erzeugung und des Verbrauches den Sieg vollendet, und indem die Arbeit auf dieser breiten Grundlage neu geordnet, indem die Solidarität der Menschen praktisch ins Werk gesetzt wurde, war die neue Gesellschaftsordnung aus dem Boden herausgewachsen. Die Arbeitszeit betrug nicht mehr als vier Stunden, die Arbeit konnte frei gewählt und immerfort gewechselt werden, denn jeder Arbeiter war in mehreren Fertigkeiten ausgebildet, was ihm ermöglichte, von einer Werkstatt zur anderen überzugehen und sich so seine Tätigkeit immer neu und anziehend zu machen. Die Handwerke und Berufe gruppierten sich in natürlicher Weise und bildeten die Grundlinien der neuen sozialen Ordnung, die auf der Arbeit, der gesetzgebenden Macht des Lebens, beruhte. Die Maschinen, die Feinde von einst, waren die gehorsamen Sklaven der Menschen geworden, die alle schweren Verrichtungen für sie besorgten. Mit vierzig Jahren hatte jeder Bürger seine Arbeitsschuld an die Gemeinsamkeit bezahlt und arbeitete fortan nur noch zu seinem eigenen Vergnügen. Und während so die Kooperation der Erzeugung diesen Staat der Gerechtigkeit und des Friedens erstehen ließ, der sich auf die von allen freiwillig auf sich genommene Arbeit gründete, hatte die Kooperation des Verbrauches den Handel zum Untergang verurteilt, als ein nutzloses, hemmendes, kraftverzehrendes Rad der sozialen Maschine. Der Bauer lieferte sein Korn an den Arbeiter, der ihm dafür seine Werkzeuge und Geräte lieferte. Die Genossenschaftsmagazine zentralisierten die Produkte und verteilten sie, dem Bedarf entsprechend, unmittelbar an die Verbraucher. Millionen und Millionen wurden so gewonnen, seitdem sie nicht mehr durch Gewinnaufschlag und Diebstahl verlorengingen. Das ganze Leben vereinfachte sich, das vollkommene Verschwinden des Geldes, die Schließung der Gerichtshöfe und Gefängnisse waren in naher Aussicht, denn es gab keine Privatinteressen mehr, die den Menschen wütend auf den Menschen hetzten, ihn zu Betrug, Raub und Mord aufstachelten. Woher hätte das Verbrechen entstehen sollen, da es keine Armen, keine Enterbten mehr gab, da brüderlicher Friede von Tag zu Tag mehr sein Reich ausbreitete unter den Menschen, die endlich einsehen gelernt hatten, daß das Glück eines jeden nur im Glück aller bestand? Ein langdauernder Friede herrschte, es gab keinerlei Abgaben, keinerlei Gebühren, keine Zölle mehr und dafür vollkommene Freiheit der Produktion und des Gütertausches. Und seitdem besonders die Parasiten beseitigt waren, die zahllosen Beamten, Funktionäre und Staatsangestellten, die Soldaten und Priester, war ein gewaltiger Reichtum entstanden, eine solche Riesenanhäufung von Gütern, daß die Speicher zu klein wurden und von der Überfülle des Gemeinvermögens zu bersten drohten.

»Das ist ja alles recht schön«, fiel Ragu ein. »Trotz alledem bleibe ich dabei, daß das einzige wirkliche Vergnügen nur darin besteht, daß man nicht zu arbeiten braucht, und solange ihr arbeiten müßt, seid ihr keine Herren. Darüber komme ich nicht hinaus. Außerdem werdet ihr in dieser oder jener Form doch noch bezahlt, und ihr seid daher nichts anderes als Lohnarbeiter, Lohnsklaven. – Du hast dich also bekehrt, du, der Kollektivist, der die vollständige Vernichtung des Kapitals verlangte?«

»Freilich bin ich schließlich bekehrt worden«, erwiderte Bonnaire lachend. »Ich hielt eine plötzliche Umwälzung für unvermeidlich, einen gewaltsamen Handstreich, womit wir die Macht, den Boden und die Arbeitsmittel mit einem Schlage in die Hände bekommen hätten. Aber wie hätte ich der Macht der Tatsachen widerstehen sollen? Seit so vielen Jahren sehe ich hier die Menschen auf dem geraden, sicheren Wege, die soziale Gerechtigkeit, das brüderliche Glück zu erringen, das mir zeit meines Lebens als Ideal vorschwebte. Da habe ich denn Geduld gelernt, ich bin schwach genug, mich mit dem heute bereits Errungenen zu bescheiden, in der sicheren Überzeugung, daß morgen der vollständige Sieg unser sein wird. Ich gebe dir gerne zu, daß noch viel zu tun übrigbleibt, unsere Freiheit und unsere Gerechtigkeit sind noch nicht vollständig, das Kapital und das Lohnarbeitertum müssen ganz verschwinden, der Gesellschaftspakt darf keinerlei Autorität mehr kennen, die freie Menschheit soll nur freie Persönlichkeiten umfassen. Darauf streben wir nun hin, daß die Kinder unserer Enkel dereinst dieses Reich vollkommener Gerechtigkeit und vollkommener Freiheit verwirklichen können.«

Dann beschrieb er ihm noch die neuen Unterrichts- und Erziehungsgrundsätze in den Krippen, Schulen und Lehrwerkstätten, wie der Mensch im Kinde erweckt wurde, wie alle Kräfte der Leidenschaften frei walten gelassen und verständnisvoll genährt wurden, wie Knaben und Mädchen zusammen aufwuchsen und sich dadurch später um so inniger und fester in der Liebe vereinigten, in der die Kraft des Gemeinwesens begründet war. Die Zukunft immer größerer Freiheit lag hier in diesen keimenden Liebespaaren, die den Willen und die Geisteskraft für entscheidende Taten mit sich ins Leben hinausnahmen. Jede neue Generation in ihrer größeren Freiheit, in ihrer größeren Eignung für die Güte und Gerechtigkeit trug einen neuen Stein zum Baue herbei und brachte ihn seiner Vollendung näher. Mittlerweile wuchs der unberechenbare Reichtum des Gemeinwesens immer mehr an, denn seitdem das Erbrecht fast vollkommen abgeschafft war und niemand mehr den schändlichen Raub an seinen Mitmenschen begehen konnte, ein großes eigenes Vermögen aufzuhäufen, floß der Ertrag der Arbeit aller nur noch dem Eigentum aller zu. Die Renten und Staatsschuldenbücher zerfielen von selbst, und die Rentner, die Nichtstuer, die von der Arbeit anderer oder von dem wucherisch aufgehäuften Gewinn ihrer eigenen lebten, waren eine im Aussterben begriffene Gattung. Alle Bürger waren gleichermaßen reich, denn die Stadt, der das Ergebnis der emsigen Arbeit aller zufloß, die von allen Fesseln befreit, vor Vergeudung und Veruntreuung bewahrt war, sammelte ungeheure Reichtümer auf, so daß es zweifellos eines Tages notwendig werden mußte, die Produktion einzuschränken. Die Genüsse, die einst nur einigen wenigen Bevorrechtigten zugänglich gewesen, die wohlschmeckenden Speisen, die schönen Blumen, aller glänzende und anmutige Schmuck, der das Leben verschönt, daran konnten sich heute alle erfreuen. Während in den Familienhäusern große Einfachheit herrschte und jeder sich mit seinem häuslichen Glück begnügte, prangten die öffentlichen Gebäude in reichster Pracht und bildeten mit ihren weiten Räumen, die gewaltige Mengen fassen konnten, in ihrem Luxus und ihrer Behaglichkeit wahre Paläste des Volkes, wo es sich ergötzen und sich seines Lebens freuen konnte. Es gab Museen, Bibliotheken, Theater, Bäder, Spiel- und Unterhaltungssäle, öffentliche Kurse und Vorlesungen, die in den Feierstunden die ganze Stadt besuchte. Ebenso reichlich waren Wohltätigkeitseinrichtungen vorhanden, abgesonderte Spitäler für jede Krankheit, Asyle, welche die Alten und Arbeitsunfähigen bereitwillig aufnahmen, und vor allem Schutzhäuser für die Mütter, wo die Frauen während der schweren Zeit der Schwangerschaft weilten, und wo sie und das neugeborene Kind bis zur vollkommenen Kräftigung gepflegt wurden. So erstand und befestigte sich in der neuen Stadt der Kultus der Mutter und des Kindes, der Mutter, die die Quelle des ewigen Lebens, des Kindes, das der siegreiche Bote der Zukunft ist.

»Und nun«, schloß Bonnaire heiter, »da du mit dem Frühstück fertig bist, wollen wir uns einmal alle die schönen Sachen, unser neuerbautes glorreiches Beauclair im Festgewande ansehen. Ich werde dir alles zeigen.«

Ragu, der entschlossen war, sich nicht zu ergeben, zuckte im voraus die Achseln und wiederholte seinen Ausspruch, den er für entscheidend hielt:

»Wie du willst, aber ich sage dir, daß ihr trotz allem keine Herren, sondern arme Teufel seid, wenn ihr immer noch arbeiten müßt. Die Arbeit ist euer Herr, und ihr seid nichts als ein Volk von Sklaven.«

Vor der Haustür wartete ein kleiner elektrischer Wagen mit zwei Plätzen. Solche Wagen standen überall zu jedermanns Verfügung. Der ehemalige Werkmeister, der trotz seines hohen Alters klare Augen und eine feste Hand behalten hatte, ließ seinen Gefährten einsteigen und setzte sich selbst ans Steuer.

»Du wirst mich doch hoffentlich mit der Maschine da nicht ganz zum Krüppel machen?«

»Sei ohne Sorge. Die Elektrizität kennt mich, wir leben schon viele Jahre in guter Gemeinschaft.«

Er sagte das in zärtlichem und zugleich ehrfürchtigem Tone, als spräche er von einer neuen Gottheit, von einer wohltätigen Macht, der die Stadt den besten Teil ihres Gedeihens und ihrer Freuden verdankte.

Der kleine Wagen rollte glatt und schnell durch die breiten baumbepflanzten Straßen. Bonnaire wollte zuerst, ehe sie Beauclair durchstreiften, bis hinaus nach Combettes fahren und seinem Gefährten die herrliche Domäne zeigen, die die Roumagne in ein fruchtbares Paradies verwandelt hatte. Der sonnenhelle Festmorgen sah die Straßen von lauter Fröhlichkeit belebt. Andere Wagen in unendlicher Zahl fuhren an ihnen vorbei, besetzt mit singenden, lachenden Menschen. Viele Fußgänger kamen aus den nahen Dörfern, meistens in größeren Gruppen, die jungen Leute und Mädchen mit Bändern geschmückt, und alle grüßten fröhlich den Alten, den Ahnherrn. Und welche üppige Fruchtbarkeit breitete sich zu beiden Seiten der Straße aus, ungeheure Getreidefelder, deren Ende nicht abzusehen war, ein Getreidemeer von tiefem, sattem, kräftigem Grün! Anstatt der früheren Bodenlappen, der engherzig abgesonderten kleinen Äcker, deren magere, schlecht bebaute Schollen armseligen Ertrag lieferten, war die ganze Ebene jetzt nur noch ein einziges unermeßliches Feld, das von vereinigten reichen Besitzern gedüngt, gepflügt und besät wurde, und welchem die Solidarität der miteinander versöhnten Menschen überquellend reiche Ernten für ein brüderliches, gerechtes Volk abgewann. Wenn der Boden nicht gut war, wurde er zubereitet, man verlieh ihm auf chemischem Wege die Eigenschaften, die ihm fehlten, man heizte ihn, man schützte ihn vor Wetterunbilden, durch wohlberechnete, intensive Bebauung erzielte man zwei Ernten, hatte man Obst und Gemüse zu jeder Jahreszeit. Dank der Hilfe der Maschinen wurde die Kraft der Menschen geschont, und meilenlange Ackerfurchen bedeckten sich wie durch Zauberkraft mit dichten Halmen.

»Du siehst«, sagte Bonnaire, mit umfassender Gebärde über den ganzen Horizont weisend, »wir haben Brot. Hier wächst das Brot für alle, das Brot, auf das jeder durch seine Geburt ein Recht hat.«

»Ihr gebt also auch denen zu essen, die nicht arbeiten?« fragte Ragu.

»Gewiß. Aber außer den Kranken und Gebrechlichen gibt es kaum einen, der nicht arbeitet. Wenn man gesund ist, hält man es nicht aus, nichts zu tun.«

Der Wagen durchlief jetzt Obstgärten, und die endlosen Reihen mit roten Früchten behangener Kirschbäume boten einen reizenden Anblick. Es war, als stünden da Tausende von Zauberbäumen, deren rote Beeren in der Sonne hüpften und spielten. Die Aprikosen waren noch nicht reif, die Äste der Apfel- und Birnbäume bogen sich unter der Last ihrer noch grünen Früchte. Es war ein überquellender Reichtum, der einem ganzen Volke bis zum nächsten Frühjahr köstliches Dessert bot.

»Brot für alle, das ist ein bißchen trocken«, sagte Ragu ironisch.

»Oh«, erwiderte Bonnaire, ebenfalls einen scherzhaften Ton anschlagend, »wir bekommen auch noch etwas Obst dazu. Wie du siehst, fehlt es daran nicht.«

Sie waren in Combettes angelangt. Das armselige Dorf war verschwunden, weiße Häuser erhoben sich überall inmitten von Gärten, längs des Grand Jean, des früheren schmutzigen Baches, der jetzt kanalisiert war und mit seinem frischen, klaren Wasser die Fruchtbarkeit ringsum ausbreiten half. Verschwunden waren der Schmutz, die Vernachlässigung, das Elend, worin die Bauern seit Jahrhunderten in Verblödung und gegenseitigem Haß verkamen.

»Du erinnerst dich doch an das alte Combettes«, fragte Bonnaire wieder, »mit seinen elenden Hütten, die von Schmutz und Düngerhaufen umgeben waren, mit seinen Bauern, die sich beklagten, daß sie Hunger leiden müßten? Sieh her, was die Gemeinschaft daraus gemacht hat.«

Ragu jedoch, den brennender Neid verzehrte, wollte sich nicht überzeugen lassen; er suchte um jeden Preis doch irgendwo das Unglück zu entdecken, das Elend der Arbeit, das der durch alte Überlieferungen an seine Kette geschmiedete Lohnsklave für unzertrennlich mit ihr verbunden hielt.

»Wenn sie arbeiten, sind sie nicht glücklich«, sagte er starrsinnig. »Ihr Glück ist nur eine Täuschung, das höchste Wohlergehen liegt nur im Nichtstun.«

Und er, der früher gegen die Geistlichen losgezogen war, setzte hinzu:

»Sagt der Katechismus nicht, daß die Arbeit die Strafe, die Entwürdigung des Menschen ist? Wer ins Paradies eingeht, der braucht gar nicht mehr zu arbeiten.«

Auf dem Rückweg kamen sie an der Guerdache vorbei, einem der öffentlichen Gärten der neuen Stadt, der immer von jungen Müttern und spielenden Kindern erfüllt war. Das große Schloß, das noch vergrößert worden war, diente noch immer als Rekonvaleszentenhaus für Wöchnerinnen, die hier unter hohen Bäumen und duftenden Blumen ihrer vollständigen Genesung entgegensahen. Es war ein prächtiger Wohnsitz, einer der Paläste der früheren Zeit, die das Volk geerbt hatte, und wo es nun seinem ihm zukommenden Range gemäß herrschte. Herrliche Blumenbeete schmückten den Rasen, die hohen Baumkronen wölbten sich zu tiefen, schattigen, köstlich stillen Alleen. Und durch diesen stolzen Park, der früher vom Lärm der Jagden widergehallt hatte, wandelten jetzt hellgekleidete junge Mütter und schoben Kinderwagen vor sich her.

»Was soll mir das«, sagte Ragu wieder, »ein Luxus und ein Wohlleben, die jedem zu Gebote stehen? Wenn ich das nicht für mich allein haben kann, dann hat es keinen Wert mehr.«

Der Wagen rollte immer weiter, und sie hatten bald Beauclair wieder erreicht. Der Gesamtanblick der neuen Stadt war der eines gewaltigen Gartens, in dem die Häuser einzeln mitten im Grün standen. Anstatt sich zusammenzudrängen wie in den Zeiten der Tyrannei und des Schreckens, hatten sie sich zerstreut, um mehr Licht, mehr Luft, mehr Freiheit für sich zu haben. Der Boden, der Gemeingut geworden war, kostete nichts, und die Stadt dehnte sich von einem Fuß der Monts Bleuses zum anderen. Warum hätte man sich eng aneinanderdrücken sollen, wenn die unermeßliche Ebene sich da bis an den Horizont ausbreitete? Sind denn einige tausend Quadratmeter zuviel für eine Familie, wenn so viele ungeheure Gebiete der Erde überhaupt noch nicht bewohnt sind? So hatte sich denn jeder sein Stück Grund und Boden genommen und sein Haus nach eigenem Geschmack darauf errichtet. Es gab keine Häuserreihen, die Gärten waren nur von Verbindungsstraßen durchschnitten, und in jedem Garten stand ein Haus, wo es dem Eigentümer gefiel. Wie eigenartig aber auch ein jedes angeordnet und eingerichtet sein mochte, so behielten sie doch alle eine gewisse Ähnlichkeit, einen gemeinsamen Zug von Sauberkeit und Fröhlichkeit. Insbesondere schmückte man alle mit buntfarbigen Fayencen, glasierten Dachziegeln, bemalten Plastiken, bunten Friesen und Fresken, deren leuchtende blaue, gelbe und rote Töne ihnen das Aussehen großer Blumenbuketts mitten im Grün der Bäume gaben. In der erquickenden Anmut und Heiterkeit dieser Häuser blühte die volksmäßige Schönheit wieder auf, jene Schönheit, auf die das Volk ein Recht hat, und die sein ungefesseltes Genie immer weiter entwickeln wird bis zu vollendeten Meisterwerken. Auf den Plätzen und Straßenkreuzungen erhoben sich die öffentlichen Gebäude, gewaltige Bauten, bei welchen Eisen und Stahl zu kühnen Spannungen und Konstruktionen verwendet waren. Das ganze Volk war hier bei sich zu Hause, die Museen, die Bibliotheken, die Theater, die Bäder, die Laboratorien, die Spiel- und Unterhaltungssäle waren nichts als Gemeindehäuser, die der ganzen Nation offenstanden, in denen das soziale Leben sich frei und brüderlich entfaltete. Und schon entstanden kurze mit Glas gedeckte Galerien, überdachte Straßen, die im Winter geheizt werden sollten, um bei heftigem Regen und bei starker Kälte den bequemen Verkehr zu ermöglichen.

Ragu gab gegen seinen Willen Zeichen lebhaften Staunens, und Bonnaire, der sah, daß er sich durchaus nicht zurechtfinden konnte, lachte.

»Ja, ja, es ist nicht leicht, die Straßen von einst wiederzuerkennen. Wir befinden uns jetzt auf dem ehemaligen Rathausplatz, wo, wie du dich erinnern wirst, die vier großen Hauptstraßen, die Rue-de-Brias, die Rue-de-Formeries, die Rue-de-St. Cron und die Rue-de-Magnolles, zusammenliefen. Aber das alte Rathaus, das schon baufällig war, ist inzwischen abgebrochen worden, samt der damaligen Schule, in der so viele Kinder unter der Fuchtel des Lehrers gebüffelt haben. Und an deren Stelle sind, wie du siehst, einige Pavillons errichtet worden, die als chemische und physikalische Laboratorien dienen, und die jedem Gelehrten für seine Studien offenstehen, wenn er glaubt, eine der Allgemeinheit nützliche Entdeckung gemacht zu haben. Ebenso haben sich die vier Straßen verwandelt, die alten Häuser sind verschwunden, es sind Bäume gepflanzt worden, und nur noch einige der früheren Bürgerhäuser mit ihren Gärten sind stehengeblieben und sind jetzt infolge der verschiedenen Heiraten von unseren Nachkommen bewohnt, von den Kindern der armen Teufel, die wir einst waren.«

Nun begann Ragu sich ein wenig in diesem ehemaligen schönen Viertel von Beauclair zurechtzufinden, das natürlicherweise am wenigsten verändert war. Gleichwohl mußte ihm Bonnaire immer neue Anhaltspunkte geben, indem er ihm die Umwandlungen erklärte, die der Sieg der neuen Gesellschaft im Gefolge gehabt hatte. Das Gebäude der Unterpräfektur war stehengeblieben und diente jetzt, durch zwei Flügelanbauten vergrößert, als Bibliothek. Das Gerichtsgebäude war ein Museum geworden, während das neue Gefängnis mit seinen Zellen ohne große Kosten in ein Badehaus verwandelt worden war. Der auf dem Schutt der alten Kirche angelegte Garten enthielt schon kräftige, schattige Bäume, und an der Stelle, wo einst unter dem Kirchenboden die Gruft sich gewölbt hatte, spiegelte jetzt ein runder Teich das Blau des Himmels wider. In dem Maße, wie die Machtfaktoren der Verwaltung und der Unterdrückung verschwanden, fielen die von ihnen errichteten Gebäude an das Volk zurück, und dieses verwendete sie für seine Behaglichkeit und sein Vergnügen.

Als aber der kleine Wagen eine breite Straße hinanfuhr, hatte Ragu wieder alle Orientierung verloren.

»Wo sind wir jetzt?« fragte er.

»In der ehemaligen Rue-de-Brias«, erwiderte Bonnaire. »Die hat sich allerdings gewaltig verändert. Da der Kleinhandel ganz verschwunden ist, wurden die Läden einer nach dem anderen geschlossen, die alten Häuser wurden niedergerissen und machten diesen Neubauten Platz.«

Er rief seinem Begleiter die enge, schwarze Rue-de-Brias in Erinnerung zurück, mit ihrem stets kotigen Pflaster, über welches die Herde der Proletarier langsam dahinzog. Der bleiche, verbissene Arbeiter schleppte sich ermüdet durch sie hin, der Hunger und die Prostitution streiften hier des Abends herum, die armen Weiber gingen sorgenvoll und ängstlich von Laden zu Laden, um kleine Kredite zu erbetteln. Hier herrschte Laboque und erhob seinen Tribut von den Käufern, hier vergiftete Caffiaux die Arbeiter mit seinem fuselhaltigen Alkohol, hier überwachte Dacheux das Fleisch, das heilige Fleisch, die Nahrung der Reichen; und nur die gute Madame Mitaine, die schöne Bäckerin, drückte die Augen zu, wenn ein oder zwei Brote aus ihrem offenen Schaukasten verschwanden, an den Tagen, wo die Kinder der Straße zu sehr Hunger litten. Und heute war die Straße frei von all dem Elend und all dem Leiden, ein befreiender Sturmhauch hatte alle die Läden weggefegt, wo die Armut noch durch den Gewinn des Handels verschärft wurde, des unnützen Rades, das nur Kraft und Reichtum verzehrte. Frei, breit, gesund, in Sonnenlicht gebadet zog die Straße hin, an beiden Seiten nur noch von Häusern glücklicher Arbeiter eingefaßt.

»Wenn also hier der Clouque war«, rief Ragu, »unter diesen Bäumen und Rasenplätzen, dann lag ja dort Alt-Beauclair, an Stelle dieses neuen Parkes.

Nun war er wirklich starr vor Staunen. Ja, das war die Stelle des alten Beauclair, des Haufens schmutziger Hütten, die in einem Sumpf standen, die enge, lichtlose, luftlose, von offenen Rinnsteinen verpestete Gassen bildeten. Das elende Volk der Arbeiter lebte hier in dieser Brutstätte für Ungeziefer und Epidemien, vertrauerte hier seit Jahrhunderten sein Dasein unter der grauenhaften sozialen Ungerechtigkeit. Er erinnerte sich besonders der Rue des Trois-Lunes, der finstersten, winkligsten, schmutzigsten aller Gassen. Und nun war auf einmal ein rächender, reinigender Windstoß über diese Kloake hingefahren, hatte all den abscheulichen Unrat weggetragen und hatte an deren Stelle diesen herrlichen Garten ausgesät, in welchem gesunde, von Lebensfreude erfüllte Wohnstätten entstanden waren! Keine Spur war von der alten Schmach übriggeblieben, von der schändlichen Galeere, von dem fressenden Krebsgeschwür, an dem die Menschheit gestorben wäre. Mit der Gerechtigkeit war das Leben wiedergekehrt, und auch hier scholl Lachen und Gesang aus jedem Hause, und die breiten neuen Straßen waren erfüllt von festlich übermütiger Jugend.

Bonnaire, dem das Erstaunen Ragus viel Vergnügen machte, lenkte seinen Wagen langsam durch die Straßen der glücklichen Stadt der Arbeit. Musik erscholl von überall, Chöre junger Mädchen und junger Männer drangen in breiten Schallwellen heraus, helle Kinderstimmen stiegen hoch auf zum reinen Himmel. Die Sonne selbst flammte festlich und freudig und breitete ihren herrlichen Goldmantel weit über das unendlich funkelnde, blaue Zelt des Firmaments. Die ganze Bevölkerung strömte allmählich ins Freie, in helle, reiche Stoffe gekleidet, die einst so teuer gewesen waren und die heute jedermann zu Gebote standen. Neue Formen der Kleidung, in einfachen und vornehmen Linien, verliehen den Frauen köstlichen Reiz. Das Gold wurde, da man kein Geld prägte, bloß zum Schmuck verwendet; jedes Mädchen hatte von Geburt an seine Armbänder, Halsbänder und Ringe, so wie früher jedes Kind sein Spielzeug gehabt hatte.

»Wo gehen sie denn jetzt hin?« fragte Ragu.

»Sie machen einander Besuche«, erwiderte Bonnaire, »sie laden sich gegenseitig zum großen Festessen für heute abend ein, an dem du auch teilnehmen sollst.«

Er kam eben an einem Hause vorüber, dessen Bewohner im Begriffe waren auszugehen, und brachte den Wagen zum Stehen.

»Willst du eines unserer neuen Häuser ansehen ? Dieses da gehört meinem Enkel Félicien, und da er noch zu Hause ist, wird er uns darin herumführen.«

Félicien war der Sohn von Séverin Bonnaire, der Léonie, die Tochter von Blauchen und Achille Courier, geheiratet hatte. Félicien selbst hatte vor vierzehn Tagen Hélène Jollivet, eine Tochter von André Jollivet und Pauline Froment, heimgeführt. Als Bonnaire versuchte, Ragu diese Verschwägerungen auseinanderzusetzen, machte dieser eine abwehrende Gebärde, wie einer, dem der Kopf von all diesen sich kreuzenden Verwandtschaften wirbelt. Das junge Paar bot einen reizenden Anblick, sie sehr jung, eine reizende Blondine, er ebenfalls blond, von großer, kräftiger Gestalt. In ihrem Hause, in dem die Kinder vorläufig noch fehlten, in den hellen Räumen, mit den neuen, einfach-eleganten Möbeln, wehte ein warmer Hauch von Liebe. Unter Lachen wurden alle Räume durchschritten, bis die Gesellschaft wieder in die Werkstatt zurückgekehrt war, ein großes Gemach, in welchem ein Elektromotor aufgestellt war. Félicien, der, außer seinen drei oder vier ordnungsmäßigen Gewerben, die Metalldreherei zu seinem Vergnügen betrieb, zog es vor, zu Hause zu arbeiten. Viele andere junge Leute machten es ebenso, in der neuen Generation war eine Bewegung entstanden zugunsten des kleinen Arbeiters, der in seinem Hause frei und als eigener Herr schaffte, im Gegensatz zu den großen gemeinsamen Werkstätten, die bisher die unentbehrliche Grundlage der Stadt gebildet hatten. Für diese Einzelarbeiter war die elektrische Kraft unschätzbar, die ihnen frei zu Gebote stand wie das Trinkwasser.

»Auf heute abend, Kinder«, sagte Bonnaire beim Abschied, »Eßt ihr an unserem Tisch?«

»Diesmal leider unmöglich, Großvater, wir sind bei Großmutter Morfain eingeladen. Aber wir besuchen euch zum Nachtisch.«

Ragu nahm schweigend seinen Platz im Wagen wieder ein. Er hatte, ohne zu sprechen, das Haus besichtigt und war einen Augenblick vor dem kleinen Elektromotor stehengeblieben. Abermals bemühte er sich, die Gefühle abzuschütteln, die ihn angesichts dieses offenkundigen Wohlstandes und Glücks ergriffen hatten.

»Nun sag einmal, ist das ein behagliches, wohlhabendes Bürgerhaus, wo im größten Zimmer eine Maschine steht? Ich gebe zu, daß eure Arbeiter besser wohnen und angenehmer leben, seitdem das Elend verschwunden ist. Aber trotz alledem sind es noch immer Arbeiter, Mietlinge, die zur Fron verurteilt sind. Früher hat es wenigstens einige Glückliche gegeben, einige Reiche, die nichts zu tun brauchten. Heute besteht euer ganzer Fortschritt darin, daß das ganze Volk ohne Unterschied unter das Sklavenjoch gebeugt wird.«

Bonnaire zuckte leicht die Achseln gegenüber dieser krampfhaften Auflehnung eines Anbeters der Faulheit, der sein Idol stürzen sah.

»Wir müßten uns erst darüber verständigen, mein Lieber, was du Sklaverei nennst. Wenn atmen, essen, schlafen, leben mit einem Wort, eine Sklaverei ist, dann ist die Arbeit eine. Da man lebt, muß man arbeiten, denn man kann keine Stunde ohne Arbeit leben. Aber davon sprechen wir noch. Jetzt wollen wir nach Hause gehen und Mittag essen. Nachmittags werden wir dann die Werkstätten und Magazine besuchen.«

Nach dem Essen setzten sie denn auch ihren Rundgang fort, diesmal gemächlich zu Fuß. Sie durchschritten das ganze Werk, die von hellem Sonnenlicht durchfluteten Hallen, wo die Stahl- und Messingteile der Maschinen wie Schmuckstücke glänzten. Heute wurde die Arbeit gefeiert, und da mußte man wohl auch sie feiern, die riesenstarken und zugleich so gehorsamen, so geduldigen Arbeiter, die Menschen und Tieren alle schweren Verrichtungen abnahmen.

Ragu schritt hier durch, noch immer unbewegt, hob die Augen zu den hohen Fensterscheiben, durch die das Sonnenlicht hereinströmte, blickte auf die von Sauberkeit blinkenden Wände und Fliesen, betrachtete mit Interesse die Maschinen, deren viele ihm unbekannt waren, gewaltige komplizierte Räderwerke, die alle Verrichtungen leisteten, die früher Menschenhände hatten besorgen müssen, die schwersten ebenso wie die feinsten.

»Das ist alles sehr hübsch«, mußte Ragu zugestehen, »sehr sauber und sehr groß, jedenfalls viel besser als unsere schwarzen Baracken von damals, wo wir wie in einem Schweinestall arbeiteten. Es ist nicht zu bestreiten, daß ihr Fortschritte gemacht habt; das einzig Widrige ist nur, daß ihr noch immer nicht das Mittel gefunden habt, jedem einzelnen hunderttausend Frank Rente zu sichern.«

»Wir haben auch die hunderttausend Frank Rente«, erwiderte Bonnaire lächelnd. »Komm und sieh.«

Er führte ihn in die Genossenschaftslager. Es waren riesige Speicher, riesige Vorratskammern, gewaltige Reservedepots, wo die ganze Produktion, der ganze Reichtum der Stadt aufgehäuft war. Von Jahr zu Jahr hatte man sie erweitern müssen, man wußte nicht mehr, wo man die Ernten unterbringen sollte, man war genötigt gewesen, die Fabrikation der Industrieerzeugnisse einzuschränken, damit keine Überfüllung entstehe. Nirgends kam einem unmittelbarer zum Bewußtsein, welch unermeßliche Reichtümer ein Volk erwerben mußte, wenn die nutzlosen Zwischenglieder, wenn die Nichtstuer und Parasiten verschwanden, alle die, welche früher von der Arbeit anderer gelebt hatten, ohne selbst etwas zu produzieren. Heute, wo die ganze Nation während der vierstündigen Arbeitszeit tätig schaffte, sammelte sie solchen reichen Überfluß auf, daß jedem einzelnen alle Güter der Welt zu Gebote standen, daß alle Wünsche befriedigt wurden, daß Neid, Haß und Verbrechen unbekannte Dinge geworden waren.

»Da sind unsere Renten«, sagte Bonnaire. »Aus diesen Vorräten kann jeder schöpfen, ohne zu rechnen. Glaubst du nicht, daß das jedem ein so glückliches, behagliches Leben gewährt, als ob er hunderttausend Frank Rente hätte? Gleichwohl haben wir wenigstens den Vorteil, daß wir nicht Gefahr laufen, bestohlen oder nachts an einer Straßenecke ermordet zu werden.«

Ragu hörte zu, allgemach überwältigt von diesem zur Wirklichkeit gewordenen Glückszustand, den er um keinen Preis zugeben wollte. Und da er nicht wußte, wie er seine Erschütterung verbergen sollte, rief er:

»Du bist ja ein Anarchist reinsten Wassers geworden!«

Bonnaire lachte laut auf.

»Oh, lieber Freund, erst hast du mir vorgeworfen, daß ich kein Kommunist mehr bin, jetzt machst du mich zum Anarchisten. In Wahrheit steht die Sache so, daß wir gar nichts mehr sind, seitdem unser aller gemeinschaftliches Ideal von Glück, Wahrheit und Gerechtigkeit zur Tat geworden ist. – Da fällt mir übrigens noch etwas ein, ich will dir noch etwas zeigen, ehe wir unseren Rundgang beschließen.«

Er führte ihn hinter die Magazine, an den Fuß des Abhangs der Monts Bleuses, an die Stelle, wo einst der Töpfer Lange neben seinen primitiven Öfen eine Art barbarisches Lager errichtet hatte, in dessen von einer Steinmauer umschlossenem Bezirk er außerhalb der menschlichen Gebräuche und Gesetze als freier Künstler und Handwerker hauste. Jetzt erhob sich hier ein weitläufiges Gebäude, eine große Tonwaren- und Fayencefabrik, die alle Ziegel und Platten, glasierten Dachziegel und hunderterlei buntfarbige Zieraten lieferte, mit denen die ganze Stadt sich schmückte.

Lange stand gerade am Tor seiner Fabrik auf der obersten der wenigen Stufen, die hinaufführten. Obgleich er nahe an fünfundsiebzig Jahre zählte, war seine gedrungene kleine Gestalt noch immer stramm und kräftig. Er hatte noch immer denselben bäuerischen, eckigen Kopf mit dem dichten Haar, das mittlerweile schneeweiß geworden war. Aber aus seinen glänzenden Augen lächelte nun seine unendliche Herzensgüte. Eine Schar fröhlich lärmender Knaben und Mädchen umdrängte ihn mit ausgestreckten Händen, um die Geschenke in Empfang zu nehmen, die er an jedem Festtage verteilte.

Er lachte und scherzte, glücklich inmitten dieser glücklichen Kinder, die sich um seine Püppchen rissen, wie er die entzückenden kleinen Figuren nannte.

»Nur langsam, acht geben, daß ihr sie nicht zerbrecht! Stellt sie in eure Zimmer, sie werden euren Augen angenehme Linien, schöne Farben bieten.«

Das war seine Theorie. Das Volk bedurfte der Schönheit, um körperlich vollkommen und guten Herzens zu werden. Nur ein Volk, dessen Geist frei, dessen Seele harmonisch war, konnte ein zufriedenes Volk sein. Alles in der Umgebung der Menschen, alles in ihren Heimstätten mußte ihnen die Schönheit vor Augen führen, und besonders die Gegenstände täglichen Gebrauches, die Gerätschaften, die Möbel, die ganze Einrichtung des Hauses. Der Glaube an die Ausschließlichkeit der Kunst ist ein törichter, die umfassendste, die allgemeinste, die menschlichste Kunst kann allein das Leben erweitern und verschönern. Wenn das Kunstwerk allen zugänglich ist, im Hinblick auf alle geschaffen wird, dann wird erst die Kunst eine gewaltige Höhe und Weite erreichen, die ganze Unendlichkeit der Wesen und Dinge umfassen. Denn sie entstammt der Allgemeinheit, sie kommt aus dem Innersten der Menschheit hervor, und das unsterbliche Kunstwerk, das Jahrhunderte überdauert, ist das Produkt. eines ganzen Volkes, das Ergebnis einer Epoche und einer Zivilisation. Aus dem Volke heraus blüht die Kunst, um sein Dasein zu verschönern, um ihm Duft und Farbe zu verleihen, die zum Leben so nötig sind wie das tägliche Brot.

Ragu hatte unbeweglich zugehört, und sein Gesicht hatte wachsendes Erstaunen verraten. Jetzt brach er in seiner höhnischen Weise los:

»Nun, du großer Anarchist, du sprichst also nicht mehr davon, die ganze Bude in die Luft zu sprengen?«

Lange wandte sich rasch und sah ihn an, ohne ihn zu erkennen. Aber er geriet nicht in Zorn, er lachte nur.

»Du kennst mich also, obgleich ich deinen Namen nicht weiß? Natürlich habe ich die ganze Bude in die Luft sprengen wollen! Ich habe das laut hinausgerufen, habe es über alle Dächer geschrien, habe meinen Fluch auf die verpestete Stadt geschleudert, habe ihr die Vernichtung durch Feuer und Schwert verkündigt. Ich war sogar entschlossen, selbst das Rächeramt auszuüben und das ganze Beauclair zu Staub zu zermalmen. Aber was willst du? Es ist anders gekommen. Die Gerechtigkeit ist so sehr zur Herrschaft gelangt, daß ich entwaffnet worden bin. Die Stadt ist geläutert, ist neu erbaut, und ich kann sie doch unmöglich zerstören, jetzt, da alles verwirklicht ist, was ich gewollt, was ich erträumt habe! Nicht wahr, Bonnaire? Der Friede ist geschlossen.«

Und sie streckten einander die Hände hin, die einst so wütende Debatten miteinander geführt hatten.

»Wir hätten uns am liebsten zerfleischt, nicht wahr, Bonnaire? Wir hatten wohl alle dasselbe Ziel vor Augen, dieselbe Stadt der Freiheit, Gerechtigkeit und Eintracht, nach der wir alle Sehnsucht trugen. Nur über den Weg, der hinführte, waren wir uneins, und die, die dafür hielten, rechts zu gehen, wollten die erschlagen, die es für besser hielten, links zu gehen. Jetzt aber, da wir am Ziele sind, wären wir sehr dumm, wenn wir noch immer im Streit lägen, nicht wahr, Bonnaire? Der Friede ist geschlossen.«

Bonnaire hatte die Hand des Töpfers in der seinen behalten und schüttelte sie kräftig und freundschaftlich.

»Ja, ja, Lange, wir hatten unrecht, uns nicht zu vertragen, das hat uns vielleicht verhindert, fortzuschreiten. Oder eigentlich, wir hatten alle recht, denn heute erkennen wir Hand in Hand an, daß wir im Grunde alle dasselbe gewollt haben.«

»Und wenn die Dinge auch noch nicht so gehen, wie es die vollkommene Gerechtigkeit verlangen würde«, sagte Lange, »wenn die volle Freiheit, die allgemeine Liebe noch kommen sollen, so müssen wir es diesen Buben und Mädeln da überlassen, das Werk fortzusetzen und eines Tages zu vollenden. Hört ihr, Kinder, ihr müßt euch alle untereinander lieben!«

Die Kinder antworteten mit Lachen und lauten Zurufen. Da warf Ragu wieder in brutalem Tone hin:

»Nun, und Barfuß, hast du sie zu deiner Frau gemacht, du mißglückter Anarchist?«

Da füllten sich die Augen Langes mit plötzlich aufsteigenden Tränen. Es war nun schon nahe an zwanzig Jahre, seitdem das hochgewachsene, schöne Mädchen, das er auf der Landstraße aufgelesen hatte und das dann seine Sklavin geworden war, in seinen Armen ihr Leben ausgehaucht hatte, als Opfer eines nicht ganz aufgeklärten Unfalls. Lange erzählte, einer seiner Öfen sei explodiert, und die losgerissene Eisentür habe das Mädchen mit furchtbarer Wucht in die Brust getroffen. Aber in Wahrheit verhielt es sich wohl anders: sie half ihm bei der Herstellung seiner Sprengmittel, und sie war offenbar verunglückt, als sie im Begriffe war, eine der hübschen kleinen Bomben zu laden, von denen er so wohlgefällig sprach und die er an der Unterpräfektur, am Rathaus, am Gerichtsgebäude, überall niederlegen wollte, wo es eine Macht zu zerstören gab. Monate-, jahrelang hatte er sich über diesen schrecklichen Verlust nicht trösten können, und auch jetzt noch beweinte er die hingebende, unterwürfige Geliebte und Gefährtin, die ihm für das mitleidige Almosen eines Stückchen Brots für immer das königliche Geschenk ihrer Schönheit gemacht hatte.

Lange trat heftig auf Ragu zu.

»Du bist ein Bösewicht! Warum drehst du mir das Herz um? Wer bist du? Woher kommst du? Weißt du nicht, daß mein geliebtes Weib tot ist, und daß ich noch immer jeden Abend ihre Verzeihung erflehe und mich anklage, sie getötet zu haben? Wenn ich kein schlechter Mensch geworden bin, so danke ich das ihrem teuren Angedenken, denn sie ist noch immer bei mir, sie ist meine gute Ratgeberin! Aber du, du bist ein Bösewicht, und ich will dich nicht kennen, will deinen Namen nicht wissen. Geh, geh, entferne dich aus unserer Gemeinschaft!«

Er war prächtig anzusehen in seinem schmerzlichen Zorn. Der Künstler, der sich unter seiner rauhen Schale barg und dessen Phantasie sich früher in Rachebildern von düsterer Größe ergangen hatte, war nun sanft geworden, und sein ganzes Wesen war durchtränkt von zartfühlender Herzensgüte.

»Hast du ihn erkannt?« fragte Bonnaire unruhig. »Wer ist er? Sag es mir.«

»Ich will ihn nicht erkennen!« erwiderte Lange mit gesteigerter Heftigkeit. »Ich will nichts sagen, er soll gehen, er soll sogleich gehen! Er gehört nicht zu uns!«

Und Bonnaire, überzeugt, daß der Töpfer seinen Mann erkannt hatte, führte ihn sanft fort, um weitere peinliche Auseinandersetzungen zu vermeiden. Ragu folgte ihm übrigens schweigend und ohne Widerspruch. Alles, was er sah, alles, was er hörte, traf ihn mitten ins Herz, erfüllte ihn mit bitterem Bedauern, mit fressendem Neid. Er begann zu wanken angesichts dieses verwirklichten Glücks, an dem er keinen Teil hatte, an dem er nie mehr teilhaben konnte.

Aber am Abend brachte ihn das Schauspiel des festlichen Beauclair ganz um den Rest seiner mühsam bewahrten Fassung. Es hatte sich der Gebrauch eingebürgert, daß an diesem Feste des Sommeranfangs jede Familie ihren Tisch vor die Haustür stellte und auf der Straße, unter freiem Himmel, ihre Mahlzeit nahm. Es war gleich einem gemeinschaftlichen Abendmahl der ganzen Bürgerschaft, alle brachen ihr Brot und tranken ihren Wein vor aller Augen, die Tische rückten zusammen und bildeten nur noch einen einzigen großen Tisch, die ganze Stadt verwandelte sich in einen riesigen Festsaal, in dem eine einzige Familie sich gemeinsam an Speise und Trank erfreute.

Um sieben Uhr, während die Sonne noch am Himmel stand, begann das Aufstellen der Tische. Die weißen Tischtücher, die farbigen Schüsseln und Teller, das blinkende Silbergeschirr und die funkelnden Gläser erglühten im Purpur des untergehenden Gestirns.

Bonnaire bestand darauf, daß Ragu an seinem Tische Platz nahm, am Tisch seiner Enkelin Claudine, die einen Sohn Lucas', Charles Froment, geheiratet hatte.

»Ich bringe euch einen Gast«, sagte er, ohne einen Namen zu nennen. »Er ist ein Fremder, ein Freund.«

»Er ist willkommen«, erwiderten alle.

Bonnaire ließ Ragu an seine Seite setzen. Die Tafel war lang, vier Generationen saßen daran, Ellbogen an Ellbogen.

Ragus Aufmerksamkeit richtete sich besonders auf Louise Mazelle, die noch immer zierlich und hübsch war, noch immer ihren drolligen Zickleinkopf hatte. Der Anblick dieser Bürgerstochter, die so zärtlich gegen ihren Gatten, den Arbeitersohn, war, schien sein Erstaunen zu erregen. Halblaut fragte er Bonnaire:

»Sind Mazelles gestorben?«

»Ja, aus Angst, ihre Renten zu verlieren. Der gewaltige Niedergang aller Werte fiel gleich Donnerschlägen auf sie nieder. Der Mann starb zuerst, in seiner Liebe zum göttlichen Nichtstun tödlich getroffen, gebrochen durch die Furcht, vielleicht wieder arbeiten zu müssen. Die Frau schleppte sich noch eine Weile weiter, ohne ihre eingebildete Krankheit zu pflegen, ohne selbst zu wagen auszugehen, von der fixen Idee beherrscht, daß man die Leute an den Straßenecken ermordete, seitdem man es gewagt hatte, an die Staatsrente zu rühren. Vergebens wollte ihre Tochter sie zu sich nehmen, der Gedanke, von jemand unterhalten zu werden wie eine Arme, war ihr unerträglich. Und eines Tages fand man sie mit blauem Gesicht, vom Schlage getroffen, über einem Bündel ihrer wertlos gewordenen Staatspapiere. Arme Leute! Sie sind dahingegangen, ohne die neue Zeit zu verstehen, betäubt, verstört, zu Tode geängstigt, die Welt anklagend, daß das unterste zu oberst gekehrt sei.«

Ragu nickte, er hatte kein Mitleid mit diesen Bürgern, aber auch er fand, daß eine Welt, aus der das Nichtstun verbannt war, keinen Reiz mehr hatte. Und wieder blickte er um sich, verdüstert durch die wachsende Fröhlichkeit der Tafelnden, durch den Reichtum des Gedecks und des Mahles, der allen ganz natürlich schien und für niemand einen Anlaß zu eitler Selbstgefälligkeit bot.

Er erhob sich plötzlich und sagte zu Bonnaire:

»Ich ersticke hier, ich muß mir ein bißchen Bewegung machen. Und dann will ich auch noch mehr sehen, alles, alle Tische, alle Leute!«

Bonnaire erriet seine Absicht. Waren es nicht Lucas und Josine, die er sehen wollte, zu denen seine brennende Neugierde seit seiner Rückkehr hindrängte? Bonnaire erwiderte:

»Sehr gern, ich werde dir alles zeigen, wir wollen einen Rundgang machen.«

Der erste Tisch, den sie erreichten, war der der Familie Morfain. Dada saß an seiner Spitze, ihm zur Seite seine Frau, Honorine Caffiaux. Neben ihnen reihten sich auf ihr Sohn Raymond, seine Frau Thérèse Froment und deren Ältester, Maurice Morfain, schon ein großer Junge von neunzehn Jahren. Ihnen gegenüber saß mit ihrer Nachkommenschaft Blauchen, Witwe von Achille Courier, deren Augen noch immer ihr strahlendes Himmelblau behalten hatten, obgleich sie nahe an siebzig Jahre alt war. Sie sollte bald Urgroßmutter werden durch ihre Tochter Léonie, die an Séverin Bonnaire verheiratet war, und durch ihren Enkel Félicien, den Sohn ihrer Tochter, der Hélène, Tochter von Pauline Froment und André Jollivet, geheiratet hatte.

Bonnaire, der hier seinen jüngsten Sohn Séverin fand, wurde mit lauten, fröhlichen Zurufen begrüßt. Ragu, von allen diesen sich kreuzenden Verbindungen immer mehr verwirrt, nahm besonderes Interesse an den beiden nebeneinander sitzenden Schwestern Froment, Pauline und Thérèse, die beide schon nahe an Vierzig, aber höchst anziehend in ihrer gesunden Schönheit waren. Der Anblick von Blauchen erinnerte ihn an den ehemaligen Bürgermeister Gourier und an den Unterpräfekten Châtelard, und er fragte nach ihrem Ende. Sie waren beide innerhalb weniger Tage gestorben, nachdem sie bis zuletzt in enger Freundschaft verbunden gewesen waren. Gourier, der zuerst gestorben war, hatte sich nur schwer an den neuen Zustand gewöhnt, hatte oft die Arme klagend zum Himmel erhoben und mit der Melancholie eines alten Mannes von der Vergangenheit gesprochen, die ihm mit allem, was dazu gehörte, so verklärt erschien, daß er selbst um Weihrauch und Glockengeläute klagte er, der einst ein so wütender Pfaffenfeind gewesen war. Châtelard jedoch war in ruhiger Fassung entschlummert als der Anarchist, der allmählich unter seiner weltmännischen Außenseite herangewachsen war, hatte sein Leben beschlossen, wie er es immer gewollt hatte, als ein Vergessener in dem neuerbauten, triumphierenden Beauclair, war unauffällig verschwunden, zusammen mit der alten Regierungsform, die er heiter zu Grabe getragen hatte, war mit dem letzten Ministerium zugleich vom Schauplatz abgetreten. Aber es gab von einem noch größeren, noch schöneren Tode zu berichten, dem des Präsidenten Gaume, dessen Erinnerung wieder erweckt wurde durch die Anwesenheit seines Enkels André und seiner Urenkelinnen Hélène und Berthe. Er hatte an der Seite seines Enkels André sein zweiundneunzigstes Jahr erreicht, als er sein leiderfülltes, verfehltes Leben beschloß. An dem Tage, da der Gerichtshof und das Gefängnis geschlossen wurden, hatte er sich von dem schrecklichen Alpdruck seiner Richterschaft befreit gefühlt. Daß ein Mensch über Menschen richten, daß er sich unterfangen sollte, die unfehlbare Wahrheit, die unbedingte Gerechtigkeit darzustellen, trotz der Unzulänglichkeit seiner Einsicht, trotz der Unvollkommenheit der menschlichen Natur, das hatte ihn mit Schauder erfüllt, ihn zur Beute quälender Zweifel und schrecklicher Gewissensbisse gemacht, ihn keine Ruhe finden lassen unter dem furchtbaren Gedanken, daß er ein schlechter Richter gewesen sei. Endlich war aber die Gerechtigkeit, die er erwartet und die er nicht mehr zu erleben gefürchtet hatte, doch gekommen, nicht die Gerechtigkeit einer unbilligen Gesellschaftsordnung, die mit dem Schwerte ihrer Macht die wenigen Räuber verteidigte und die ungeheure Menge elender Sklaven zu Boden schlug, sondern die Gerechtigkeit einer freien Menschheit, die jedem sein Teil an Glück gewährte, die die Wahrheit, die Brüderlichkeit, den Frieden mit sich brachte. Und am Tage seines Todes ließ er einen alten Wilderer zu sich rufen, den er einst zu einer schweren Strafe verurteilt hatte, weil er einen Gendarm tötete, der ihm einen Säbelhieb versetzt hatte, und leistete ihm öffentlich Abbitte, sprach laut die Zweifel aus, die sein Leben als Richter vergiftet hatten, rief alles hinaus, was er bisher verschwiegen hatte, sein Verdammungsurteil über die Irrtümer und Lügen der menschlichen Gesetze, über die Gewaltmittel der Unterdrückung und des Hasses, über den ganzen sozialen Sumpf, aus dem die Giftpflanzen des Diebstahls und des Mordes erwuchsen.

»Dieses junge Ehepaar, das hier sitzt«, sagte Ragu, »Félicien und Hélène, in deren Hause wir heute früh kurz verweilt haben, sind also zugleich die Enkel der Familien Froment, Morfain, Jollivet und Gaume? Und all dieses feindliche Blut vergiftet sich nicht gegenseitig, wenn es nun in denselben Adern rollt?«

»Durchaus nicht«, erwiderte Bonnaire ruhig. »Es hat sich versöhnt, und das Geschlecht hat dadurch nur an Schönheit und Kraft gewonnen.«

Eine neue Bitterkeit erwartete Ragu am nächsten Tische. Es war Bourrons Tisch, seines ehemaligen unzertrennlichen Genossen im Herumlungern und Trinken, den er damals so leicht beherrschte und mit sich zog. Bourron saß, trotz seines hohen Alters, stolz und strahlend neben seiner Frau Babette, der ewig Heiteren und Fröhlichen, deren unerschütterliche Zuversicht und steter Optimismus recht behalten hatten, ohne daß sie darüber auch nur erstaunt war. War das nicht ganz natürlich? Sie waren glücklich, weil man schließlich immer glücklich wird.

Bonnaire berichtete Ragu von denen, die der Tod weggerafft hatte. Fauchard und seine Frau Natalie waren dahingegangen, ohne die neue Zeit begriffen zu haben. Feuillat hatte vor seinem Tode noch die Freude genossen, den vollen Triumph des großen Grundbesitzes von Combettes, seines Werkes, mitanzusehen.

Aber Ragu hörte nur mit halbem Ohr hin, er konnte die Augen nicht von Bourron wenden.

»Er sieht geradezu jung aus!« murmelte er vor sich hin. »Und seine Babette hat noch immer ihr altes helles Lachen!«

Alles jubelte dem Alten zu. Ragu entfloh und zog Bonnaire mit sich fort. Er zitterte, er war dem Umsinken nahe. Als sie ein wenig abseits gegangen waren, sagte er plötzlich heiser:

»Höre, wozu soll ich es länger verschweigen? Ich bin nur gekommen, um sie zu sehen. Wo sind sie? Zeige sie mir!«

Er meinte Lucas und Josine. Und als Bonnaire zögerte, fuhr er fort:

»Seit dem Morgen führst du mich herum, ich tue, als ob ich mich für alles interessierte, und dennoch denke ich nur an sie, ihr Bild verfolgt mich, sie allein haben mich hierher zurückgebracht, den ganzen unendlichen, mühseligen Weg lang. Ich habe in der Fremde erfahren, daß ich ihn nicht getötet habe, und beide leben noch, nicht wahr? Sie haben viele Kinder, sie leben glücklich, in vollem Triumph, nicht wahr?«

Bonnaire überlegte. Aus Furcht vor einem Skandal hatte er bisher die unvermeidliche Begegnung hinausgeschoben. Aber war seine Taktik nicht erfolgreich gewesen? War es ihm nicht gelungen, Ragu mit einer Art Ehrfurcht vor der Größe des vollendeten Werkes zu erfüllen? Er sah nun, daß Ragu tief erschüttert war, daß seine Hände keine Kraft mehr zu einem neuen Verbrechen hatten. So erwiderte er denn mit heiterer Gutmütigkeit:

»Da du sie sehen willst, Alter, so werde ich sie dir zeigen. Und es ist wahr, du wirst zwei glückliche Menschen sehen.«

Der Tisch Lucas' befand sich gleich neben dem Bourrons. Lucas selbst saß in der Mitte, zu seiner Rechten Josine. Und die ganze zahlreiche Nachkommenschaft saß an der Tafel.

Als Ragu sich näherte, vergoldete ein letzter Strahl der untergehenden Sonne den ganzen Tisch. Aber was diesem Abschiedsgruß des für kurze Zeit scheidenden Gestirns eine besondere Heiterkeit verlieh, war das massenhafte Herbeiflattern der kleinen Vögel, die sich noch ein letztes Mal auf dem Tisch niederließen, ehe sie in den Bäumen zur Ruhe gingen. Sie kamen in so dichten Schwärmen herbeigeflogen, daß der Tisch von ihnen bedeckt war wie von einem Schneefall kleiner lebender, warmer Federn. In der Sonne, die ihn mit einem Strahlenkranze umgab, stand Lucas herrlich da, noch immer jung und kraftvoll, voll Zuversicht und voll frohen Glücks über das Erreichte. Er gab seiner Freude Ausdruck, daß er sein Werk endlich verwirklicht und lebenskräftig vor sich sah. Er war der Gründer, der Schöpfer, der Vater, und dieses ganze fröhliche Volk, alle die Gäste an all den Tischen, an denen man nebst der Arbeit die Fruchtbarkeit des Sommers feierte, waren seine Freunde, seine Verwandten, seine sich unablässig vergrößernde Familie. Und laute, jubelnde Zurufe antworteten ihm, der Weihespruch, den er der Stadt gewidmet hatte, stieg in die Luft empor und pflanzte sich brausend von Tisch zu Tisch fort bis in die entlegensten Gassen.

Zitternd und bleich stand Ragu da, kaum imstande, sich auf den Beinen zu erhalten unter dem brausenden Sturm der Begeisterung. Er konnte den Glanz der Schönheit und Güte nicht ertragen, in dem Lucas und Josine erstrahlten. Er wich zurück, er taumelte, er war im Begriffe, zu entfliehen, als Lucas, der ihn bemerkt hatte, sich an Bonnaire wandte.

»Lieber Freund, nur Sie fehlten noch, denn Sie waren der tapferste, der klügste, der seelenstärkste Arbeiter am Werke, und man darf mich nicht feiern, ohne auch Sie zu feiern! Und sagen Sie mir, wer ist der Alte an Ihrer Seite?«

»Ein Fremder.«

»Ein Fremder? Unsere Stadt bietet Willkomm und Frieden allen Menschen. Josine, rücke ein wenig zur Seite, und Sie, guter Freund, den wir nicht kennen, kommen Sie näher, setzen Sie sich zwischen mich und meine Frau, denn wir wollen in Ihnen alle unsere unbekannten Brüder der anderen Städte der Welt ehren.«

Aber Ragu wich zurück.

»Nein, nein! Ich kann nicht!«

»Warum nicht?« fragte Lucas sanft. »Wenn Sie weit gewandert, wenn Sie ermattet sind, so werden Sie hier Hilfe und Pflege finden. Wir wollen weder Ihren Namen noch Ihre Vergangenheit wissen. Bei uns ist alles Vergangene verziehen, nur die Brüderlichkeit herrscht hier, das Glück eines jeden ruht im Glück aller Menschen.« Aber wieder wich Ragu zurück, noch bleicher und zitternder als vorher.

»Nein, nein! Ich kann nicht!«

Ahnten Lucas und Josine in diesem Augenblicke die Wahrheit, erkannten sie den Elenden, der zurückgekommen war, um noch mehr zu leiden, nachdem er so lange sein wüstes, arbeitsscheues Dasein hingeschleppt hatte? Sie sahen ihn mit ihren von Glück und Güte erfüllten Augen an, in denen ein Ausdruck mitleidiger Trauer erschien. Dann sagte Lucas:

»Gehen Sie denn nach Ihrem Gefallen, wenn Sie nicht mit zu unserer Familie gehören wollen, in der Stunde, da sie sich von allen Seiten vereinigt und zusammenschließt. Sehen Sie nur, sehen Sie nur, wie sie in eins verschmilzt, die Tische reihen sich aneinander, sie bilden alle bald nur einen einzigen Tisch für eine ganze Stadt von Brüdern!«

Und in der Tat, die Tischgenossen fingen an, zusammenzurücken, jeder Tisch schien sich zum nächsten hinzubewegen, und allmählich stießen alle Tische aneinander, wie dies immer bei den Sommerfesten an schönen Juniabenden geschah.

Bonnaire hatte sich still verhalten, aber er hatte keinen Blick von Ragu gewandt. Als er ihn nun so gebrochen und wankend sah, faßte er ihn bei der Hand.

»Komm, gehen wir ein wenig, die Abendluft ist so milde! Sag mir, glaubst du nun an unser Glück? Du siehst, daß man arbeiten kann und glücklich sein, denn die Daseinsfreude, die Gesundheit, das Leben selbst liegt in der Arbeit. Arbeiten heißt leben, nichts anderes. Und es hat einer quälerischen und lebensfeindlichen Religion bedurft, um die Arbeit zum Fluch zu stempeln und die Seligkeit im ewigen Nichtstun zu suchen! Die Arbeit ist nicht unsere Gebieterin, sondern der Atem in unserer Brust, das Blut in unseren Adern, der einzige Daseinszweck, kraft dessen wir lieben, Kinder zeugen, die unsterbliche Menschheit bilden.«

Aber Ragu war so besiegt, so todesmatt, daß er auch zum Widerspruch keine Kraft mehr fand.

»Oh, laß mich, laß mich! Ich bin ein Feigling – ein Kind hätte mehr Mut gehabt –, ich verachte mich selbst!« Dann leiser:

»Ich war gekommen, um sie beide zu töten ... Oh, die endlose Reise über Berge und Täler, durch unbekannte Länder, auf staubigen Straßen, jahrelang – immer nur vorwärtsgetrieben von der Wut im Herzen, von dem einen Vorsatz: nach Beauclair zurückkehren, diesen Mann und dieses Weib wieder aufsuchen und ihnen das Messer in den Leib rennen! ... Und nun hast du mich einen Tag lang zerstreut, und nun habe ich vor ihnen gezittert und bin zurückgewichen wie ein Feigling, da ich sie so glücklich sah!«

Bonnaire war erbebt bei diesem Geständnis. Schon gestern hatte er den verbrecherischen Vorsatz geahnt, aber angesichts der Gebrochenheit des armen Menschen erfaßte ihn Mitleid.

»Komm, armer Kerl. Schlafe heute noch bei mir. Morgen werden wir weiter sehen.«

»Noch einmal bei dir schlafen? O nein! Ich muß fort, gleich fort!«

»Aber du kannst unmöglich jetzt fort, du bist zu matt, zu schwach! Warum willst du nicht bei uns bleiben? Du wirst unser Glück ganz kennenlernen und wirst den Frieden finden.«

»Nein, nein, nein! Ich muß fort, gleich fort! Der Töpfer hat es mir gesagt, und er hat recht: ich gehöre nicht zu euch!«

Und im Tone eines Gefolterten, mit dumpfer Wut setzte er hinzu:

»Ich kann euer Glück nicht mit ansehen. Ich würde zuviel Qualen ausstehen!«

Da drang Bonnaire nicht länger in ihn, auch er war von Widerwillen und Grauen ergriffen. Schweigend führte er Ragu in sein Haus zurück, und. dieser nahm seinen Stock und seinen Sack wieder auf. Kein Wort mehr, keine Abschiedsgebärde wurde zwischen ihnen gewechselt. Und Bonnaire sah dem Manne nach, dem elenden, gebrochenen Greise, wie er von dannen ging und bald in der Nacht verschwand.

Aber Ragu konnte dem festlichen Beauclair nicht so rasch entgehen. Er drang langsam in die Schlucht von Brias ein und stieg mühselig Schritt für Schritt durch die Felsen der Monts Bleuses hinan. Jetzt sah er die Stadt zu seinen Füßen liegen. Der dunkelblaue, unermeßlich weite Himmel funkelte von Sternen. Und in der linden, schönen Juninacht dehnte sich unten die Stadt gleich einem zweiten Himmel, von zahllosen kleinen Gestirnen besät. Es waren die Tausende und Tausende elektrischer Lampen, die auf den festlichen Tischen im Freien entzündet worden waren. Diese Tische sah er bei jeder Biegung immer wieder vor sich, in langen Flammenlinien die Finsternis besiegend. Sie verlängerten sich, sie erfüllten den ganzen Horizont. Und er hörte Gesang und Lachen herauftönen, er war noch immer Zeuge dieses Riesenfestes eines ganzen Volkes, das als eine einzige Familie an demselben Tische saß.

Er floh vor diesem Anblick, stieg immer höher und sah, sooft er sich umwendete, die Stadt immer leuchtender, immer herrlicher vor sich liegen. Er stieg weiter und weiter. Aber je höher er kam, desto mehr schien die Stadt sich zu dehnen und zu weiten, sie nahm die ganze Ebene ein, sie wurde zum Himmel selbst mit seiner dunkelblauen Fläche und seinen funkelnden Sternen. Das Lachen und der Gesang tönten heller zu ihm herauf, die große menschliche Familie feierte das Freudenfest der Arbeit auf der fruchtbaren Erde. Da wandte er sich ein letztes Mal und ging lange, lange, bis er sich in den Schatten der Nacht verloren hatte.


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