Emile Zola
Arbeit
Emile Zola

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V

Es traten Komplikationen ein, und fast wäre Lucas gestorben. Zwei Tage lang gab man ihn verloren. Josine und Soeurette verließen sein Bett nicht. Jordan hatte sich an das Schmerzenslager des Freundes gesetzt und sein Laboratorium verlassen, was er seit der Krankheit seiner Mutter nicht getan hatte. Und welche Verzweiflung erfüllte all diese liebenden Herzen, als sie von Stunde zu Stunde glaubten, das teure Leben erlöschen zu sehen!

Der Messerstoß, den Ragu gegen Lucas geführt hatte, hatte die ganze Crêcherie in Aufruhr versetzt. In den Werkstätten ging die Arbeit rastlos weiter, aber die Arbeiter waren traurig und niedergeschlagen. Alle vereinigten sich in demselben Gefühl schmerzlichen Mitleids für das Opfer, alle fragten mit demselben ängstlichen Interesse nach Neuigkeiten aus dem Krankenzimmer. Die brutale, unsinnige Meucheltat, das vergossene Blut hatten die brüderlichen Bande fester gezogen, viel mehr, als es Jahre menschenfreundlicher Wirksamkeit hätten tun können. Und bis nach Beauclair pflanzte sich die Welle der Sympathie fort, viele Herzen wandten sich wieder diesem noch jungen, schönen und tatkräftigen Mann zu, dessen einziges Verbrechen, außer seinem Reformwerke, darin bestand, eine hübsche junge Frau geliebt zu haben, deren Mann sie beschimpft und mißhandelt hatte. Niemand hielt sich auch darüber auf, daß Josine, deren Schwangerschaft schon sehr vorgeschritten war, sich mit Lucas vereinigt hatte. Man fand das ganz natürlich. War er nicht der Vater ihres Kindes? Hatten sie nicht mit bitteren Tränen das Recht erkauft, beisammen zu bleiben? Die Gendarmen, die sich auf die Verfolgung Ragus begeben hatten, konnten keine Spur von ihm finden. Vierzehn Tage lang blieben alle Nachforschungen vergebens, dann fand man in der Tiefe einer Schlucht der Monts Bleuses den halb von Wölfen verzehrten Leichnam eines Mannes, in dem man die schrecklichen Überreste Ragus zu erkennen glaubte. Es konnte keine formelle Todeserklärung erfolgen, aber es bildete sich die allgemeine Überzeugung, daß Ragu, sei es durch Unfall, sei es durch Selbstmord, im Wahnsinnstaumel seines Verbrechens den Tod gefunden hatte. Da also Josine Witwe war, warum sollte sie nicht bei Lucas bleiben, warum sollten die Geschwister Jordan ihnen nicht ihr Haus öffnen? Und ihre Vereinigung war so natürlich, so stark, so unlöslich, daß auch später niemand mehr daran dachte, daß sie nicht gesetzlich verheiratet waren.

An einem schönen, sonnenhellen Februarmorgen glaubte Doktor Novarre endlich aussprechen zu dürfen, daß Lucas gerettet sei, und wenige Tage darauf befand er sich in der Tat in voller Wiederherstellung. Jordan war frohen Herzens in sein Laboratorium zurückgekehrt, und bei Lucas blieben nur noch Josine und Soeurette, beide sehr ermattet von Nachtwachen, aber unendlich glücklich! Besonders Josine, die sich trotz ihres Zustandes nicht hatte schonen wollen, litt sehr viel, ohne es zu gestehen. Und wieder eines Morgens, als die Sonne eines vorzeitigen Frühlings durch die Fenster schien und Josine eben Lucas das erste Ei, das der Arzt erlaubt hatte, zum Frühstück reichte, steigerten sich die Schmerzen, die sie seit dem Aufstehen gefühlt und bekämpft hatte, derart, daß sie einen leichten Schrei ausstieß.

»Was hast du, Josine?«

Noch versuchte sie, der Schmerzen Herr zu werden, aber es überwältigte sie.

»Lucas, ich glaube, der Augenblick ist da.«

Sein Herz jubelte auf, und zugleich empfand er schmerzliches Mitleid, als er sie erbleichen und wanken sah.

»Josine, Josine, nun ist es an dir zu leiden, aber um eines großen Glückes willen!«

Soeurette, die im benachbarten kleinen Salon beschäftigt war, eilte herbei und wollte sogleich Josine anderswohin schaffen lassen, denn es war kein anderes Schlafzimmer da, und es schien unmöglich, daß die Entbindung hier stattfinden sollte. Aber Lucas bat sie:

»Nein, o nein, liebe Freundin, nehmen Sie Josine nicht fort, ich könnte es vor Sorge und Ungeduld nicht aushalten! Sie ist hier zu Hause, und sie soll hier bleiben. Wir können uns schon einrichten, wir werden im Salon ein Bett aufstellen lassen.«

Josine, die in einen Sessel gesunken war und von schmerzhaften Krämpfen geschüttelt wurde, hatte auch zuerst anderswohin gehen wollen. Aber nun lächelte sie glücklich in ihren Schmerzen. Er hatte recht: konnte sie ihn jetzt verlassen, sollte das kommende teure Wesen nicht ihre unlösliche Vereinigung vollenden? Und auch Soeurette begriff und fügte sich in ihrer engelhaften Güte. Da trat der Doktor Novarre ein, um seinen Morgenbesuch zu machen.

»Ich komme also gerade zur rechten Zeit«, sagte er heiter. »Nun habe ich zwei Patienten. Aber der Vater macht mir keine Sorge mehr, und die Mutter macht mir nicht viel Sorge. Sie sollen einmal sehen!«

In wenigen Minuten waren alle Vorbereitungen getroffen. Im Salon befand sich ein großer Diwan, der in die Mitte des Raumes geschoben und mit Hilfe einer herbeigeschafften Matratze in ein Bett verwandelt wurde. Und es war höchste Zeit, denn fast sofort erfolgte die Entbindung, die mit außerordentlicher Raschheit und Leichtigkeit verlief. Der Doktor fuhr fort zu scherzen und sagte, er hätte ganz gut zu Hause bleiben können, denn es ginge alles von selbst. Lucas hatte gebeten, daß die Tür zwischen Schlafzimmer und Salon offengelassen werde. Jeden Augenblick rief er Fragen hinein, wollte er wissen, wie es stehe. Die Klagelaute der geliebten Frau, die da nahe bei ihm und doch unsichtbar Schmerzen litt, schnitten ihm ins Herz. Er hatte das heiße Verlangen, daß sie selbst ihm etwas sage, nur ein Wort, um ihn zu beruhigen. Und sie fand die Kraft dazu, sie warf ihm abgerissene Worte, schwache Erwiderungen zu, in die sie sich bemühte einen fröhlichen Ton zu legen, um ihn glauben zu lassen, daß sie nicht zu sehr leide.

»So seien Sie doch still und lassen Sie uns in Ruh!« schalt der Doktor endlich. »Wenn ich Ihnen sage, daß alles großartig gut geht, daß noch nie ein Junge so schön zur Welt gekommen ist! Denn es wird ein Junge, dessen bin ich sicher!«

Plötzlich wurde ein feiner Schrei hörbar, der Schrei des Lebens, das zum Licht emporkommt. Und Lucas, der mit Anspannung aller Seelenkräfte horchte, fühlte sein Herz hoch aufschlagen.

»Ein Junge, ist es ein Junge?« fragte er atemlos.

»So warten Sie doch!« rief Novarre lachend. »Ich muß erst sehen.«

Und gleich darauf:

»Natürlich, ein Junge, ein kleiner Mann, ich hab's ja gleich gesagt!«

Überströmend vor Freude klatschte Lucas in die Hände wie ein Kind und rief überlaut:

»Dank, tausend Dank, Josine, Dank für das schöne Geschenk! Ich liebe dich, Josine, und ich danke dir tausendmal!«

Sie konnte nicht gleich antworten, sie war so erschöpft, daß ihr die Stimme versagte. Da wurde er unruhig und rief wieder:

»Ich liebe dich, Josine, und ich danke dir tausendmal!«

Und angestrengt gegen die offene Tür hinhorchend, hörte er endlich eine schwache Stimme, kaum ein Flüstern, aber voll innigen Glückes:

»Ich liebe dich, und ich muß dir danken, tausendmal danken, Lucas!«

Einige Minuten später brachte Soeurette das Kind dem Vater, daß er es küsse. Ihre Liebe war so geläutert, so unirdisch, daß sie selbst voll Freude war über die glückliche Entbindung und das starke Kind, daß das Glück Lucas' sie ebenso glücklich machte. Nachdem Lucas das Kind geküßt hatte, sagte er in der überströmenden Dankbarkeit und Seligkeit seines Herzens: »Ich muß auch Sie küssen, Soeurette, Sie haben es mehr als verdient, und ich bin so glücklich!«

Und sie erwiderte in ihrer sanften und heiteren Art:

»Ja, mein lieber Lucas, küssen Sie mich, wir sind alle sehr glücklich.«

Die folgenden Wochen waren dann erfüllt von der Freude der doppelten Genesung. Sobald der Arzt Lucas erlaubte aufzustehen, ging er ins nächste Zimmer und verbrachte eine Stunde in einem Sessel am Bette Josinens. Ein vorzeitiger Frühling erfüllte den Raum mit Sonnenlicht, auf dem Tische stand stets ein Strauß herrlicher Rosen, die der Doktor täglich aus seinem Garten mitbrachte, als eine Medizin der Jugend, Gesundheit und Schönheit, wie er sagte. Zwischen ihnen stand die Wiege des kleinen Hilaire, den die Mutter selbst stillte. Das Kind erfüllte nun ihr Leben mit immer mehr Kraft und Hoffnung.

Wenn Lucas, während er die Wiederkehr seiner Kräfte abwartete, von der Zukunft sprach und tausend Pläne entwarf, sagte er immer, er sei nun ganz ruhig, sei gewiß, die Stadt der Gerechtigkeit und des Friedens vollenden zu können, seitdem ihm die Liebe zuteil geworden war, die fruchtbare Liebe, Josine und Hilaire. Nichts kann gegründet werden ohne das Kind, es ist das lebende Werk, es fördert und erweitert das Leben, es setzt das Heute in einem Morgen fort. Nur das Paar, das Kinder zeugt, arbeitet mit am menschlichen Glück, nur dieses wird die Armen aus der Ungerechtigkeit und dem Elend erlösen.

Als Josine endlich zum erstenmal das Bett verließ, um ein neues Leben an der Seite Lucas' zu beginnen, schloß dieser sie in seine Arme und rief:

»Du gehörst nur mir, du hast immer, immer nur mir gehört, da dein Kind von mir ist! Nun sind wir vollzählig, wir fürchten nun nichts mehr vom Leben!«

Sobald Lucas die Leitung des Werkes wieder übernehmen konnte, zeigten sich die Wunderwirkungen der Sympathie, die ihm von allen Seiten entgegenflog. Und nicht nur das vergossene Blut, mit dem die Crêcherie getauft worden war, entschied endgültig über das Gedeihen des Unternehmens, das nun mächtig, unaufhaltsam in die Höhe wuchs, ein glücklicher Zufall trug das seinige dazu bei: die Mine warf glänzende Erträgnisse ab, denn man war endlich, wie Morfain es immer vorausgesagt hatte, auf eine starke Ader ausgezeichneten Erzes gestoßen. Dadurch konnte die Crêcherie das Eisen und den Stahl in vorzüglicher Qualität und zu so billigem Preise herstellen, daß selbst die Hölle in ihrer Fabrikation bedroht wurde. Jede Konkurrenz wurde unmöglich. Dazu kam noch der mächtige demokratische Aufschwung, der allerorten die Verkehrswege vermehrte, die endlose Ausdehnung der Eisenbahnen, die zahllosen Brücken und Bauten, was alles die Verwendung des Eisens und Stahles in gewaltigem Maße steigerte. Seitdem die ersten Zyklopen das Eisen in einem Erdloch schmolzen, um Waffen daraus zu schmieden, hat die Verwendung des Eisens von Tag zu Tag zugenommen, und das segensreiche Metall wird zur Quelle der Gerechtigkeit und des Friedens werden, sobald die Wissenschaft es vollständig erobert haben, es fast kostenlos herstellen und zu allen Gebrauchszwecken formen wird. Aber was vor allem anderen den Erfolg, den Sieg der Crêcherie entschied, das waren die natürlichen inneren Ursachen: eine bessere Verwaltung, mehr Wahrheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Gemeinsamkeit. Sie trug von Anfang an die Bürgschaft des Erfolges in sich dadurch, daß sie auf dem Übergangssystem einer weisen Bundesgenossenschaft von Kapital, Arbeitskraft und Geist gegründet worden war. Und die schweren Tage, die sie durchgemacht, die Hindernisse aller Art, die für tödlich gehaltenen Krisen, die sie überwunden hatte, waren nichts anderes gewesen als die unvermeidlichen Unebenheiten der Straße, die harten Schwierigkeiten des Anfangs, die es zu überwinden gilt, wenn man das Ziel erreichen will. Jetzt wurde es klar, daß sie immer lebenskräftig gewesen war, geschwellt von fruchtbaren Säften, aus denen die Ernte der Zukunft sich bereitete.

Die werbende Kraft der Tatsachen, das überzeugende Beispiel, das hier geboten wurde, konnte nicht verfehlen,, allmählich jedermann zu gewinnen. Wie konnte man noch an der Kraft dieser Vereinigung von Kapital, Arbeit und Geist zweifeln, wenn die Gewinne von Jahr zu Jahr größer wurden und die Arbeiter der Crêcherie schon das Doppelte der Löhne ihrer Kameraden aus den anderen Fabriken verdienten? Wie konnte man nicht anerkennen, daß die achtstündige, die sechsstündige, die dreistündige Arbeit, die Arbeit; die angenehm gemacht wurde durch den vielfachen Wechsel der Verrichtung, durch helle, fröhliche Werkstätten, durch Maschinen, die ein Kind hätte lenken können, daß diese Arbeit die Grundlage der Gesellschaftsordnung der Zukunft war, wenn man sah, wie die elenden Lohnsklaven von gestern zu neuem Leben erwachten, wie dieser erste Schritt zur vollkommenen Freiheit und Gerechtigkeit sie zu gesunden, intelligenten, fröhlichen und sanftmütigen Menschen verwandelte? Wie nicht die Notwendigkeit der Genossenschaft einsehen, die die parasitischen Zwischenglieder, den Handel vernichten sollte, der soviel Kraft und Reichtum verzehrt, wenn die Genossenschaftslager ohne jede Störung funktionierten, wenn sie das Wohlleben der gestern noch Hungernden vermehrten, ihnen alle die Genüsse darboten, die bis jetzt das ausschließliche Vorrecht der Reichen gebildet hatten? Wie nicht an die Wunder der Solidarität glauben, die das Leben erfreulich, zu einem fortwährenden Feste für alle Lebenden machen sollte, wenn man den fröhlichen Veranstaltungen im Gemeindehaus beiwohnte, das bestimmt war, eines Tages der Königspalast des Volkes zu werden, mit seinen Bibliotheken, seinen Museen, seinen Theatern, seinen Gärten, seinen Spielen und Zerstreuungen? Wie schließlich nicht den Unterricht und die Erziehung neugestalten, sie nicht mehr auf die Trägheit, sondern auf den unstillbaren Wissensdrang des Menschen gründen, das Lernen angenehm machen, jeder Persönlichkeit seine Eigenart lassen und die Kinder beider Geschlechter neben- und miteinander unterrichten, wenn hier Schulen blühten und gediehen, die alle überflüssigen Bücher beseitigt hatten, die den Unterricht durch häufige Erholungsstunden unterbrachen und mit der Erlernung der grundlegenden Handwerksfertigkeiten verknüpften, die jede neue Generation dem idealen Zukunftsreich näherbrachten, zu dem die Menschheit seit so vielen Jahrhunderten auf dem Wege ist?

Das erstaunliche Beispiel, das die Crêcherie täglich unter dem hellen Licht der Sonne gab, wirkte denn auch ansteckend. Hier handelte es sich nicht mehr um bloße Theorien, sondern um eine Tatsache, die sich unter den Augen aller begab, um ein täglich sich mehr entwickelndes, blühendes Gedeihen. Die Genossenschaft gewann Schritt für Schritt immer mehr Menschen und Boden, die Arbeiter strömten, von den reichen Gewinnen und der Behaglichkeit des Daseins angezogen, in Menge herbei, auf allen Seiten entstanden neue Baulichkeiten und schlossen sich den schon bestehenden an. In drei Jahren verdoppelte sich die Bevölkerung der Crêcherie, und die Zunahme steigerte sich in außerordentlichem Maße. Hier wuchs die ideale Stadt, die Stadt der neugeordneten, wieder in ihren erhabenen Rang eingesetzten Arbeit, die Stadt des dereinstigen vollkommenen Glückes aus dem Boden, rings um die sich ebenfalls mächtig dehnende Fabrik, die der Mittelpunkt, das Herz, die Lebensquelle, das verteilende und ordnende Organ des sozialen Körpers wurde. Die Werkstätten und großen Arbeitshallen erweiterten sich und bedeckten Hektare, und die hellen und fröhlichen, von Gärten umgebenen Häuschen vermehrten sich in dem Maße, wie sich die Arbeiter und die anderen Hilfskräfte aller Art vermehrten. Dieser Strom neu erstehender Bauten wälzte sich gegen die Hölle zu und drohte sie zu überfluten und wegzuschwemmen. Anfangs hatte sich zwischen der Crêcherie und der Hölle ein großer unbebauter Zwischenraum befunden, das ungenutzte Gebiet, das Jordan am Fuße der Monts Bleuses besaß. Dann waren zu den wenigen Häusern nächst der Crêcherie neue hinzugekommen, dann wieder neue, eine immerzu steigende Flut von Bauten, die nur noch zwei bis dreihundert Meter von der Hölle entfernt war. In kurzer Zeit mußte die Flut gegen ihre Mauern branden, und würde sie sie dann nicht bedecken, sie forttragen, um den Platz, auf dem sie gestanden hatte, mit ihrem siegreichen Wachstum, mit Glück und Gesundheit zu erfüllen? Und auch das alte Beauclair war bedroht, denn eine Spitze der sich dehnenden Stadt drang dorthin vor und war nahe daran, diesen schwarzen und übelriechenden Arbeiterpferch, diese Pest- und Leidenshöhle hinwegzufegen, in der die Lohnsklaven unter den dem Einsturz nahen Decken ein elendes Dasein lebten.

Zuweilen blickte Lucas, der Städtebauer und Städtegründer, auf seine wachsende Stadt, die er in einer Vision vor sich gesehen hatte an jenem Abend, da er den Entschluß zu seinem Werke faßte. Nun wurde sie zur Wirklichkeit, nun erstand sie vor seinen Augen, um die Vergangenheit zu besiegen, nun wuchs hier das Beauclair der Zukunft aus dem Boden, der glückliche Wohnsitz einer glücklichen Menschheit. Ganz Beauclair mußte erobert werden, das ganze Gebiet zwischen den Ausläufern der Monts Bleuses, bis zu den weitgedehnten fruchtbaren Feldern der Roumagne hinaus, sollte sich mit hellen, von Grün umgebenen Häuschen bedecken. Und wenn auch noch Jahre und Jahre darüber hingehen sollten, er sah sie bereits mit seinen Prophetenaugen, diese Stadt des Glücks, die er zu schaffen beschlossen hatte und die nun kräftig erstand.

Eines Abends führte ihm Bonnaire Babette, die Frau Bourrons, zu, und sie sagte in ihrem gewohnten fröhlichen Tone:

»Herr Lucas, mein Mann möchte gern wieder in der Crêcherie Arbeit nehmen, aber er traut sich nicht selber zu kommen, da er weiß, daß er auf eine sehr unschöne Art fortgegangen ist. Da bin ich statt seiner gekommen.«

Bonnaire fügte hinzu:

»Wir müssen Bourron verzeihen, der sich ganz von dem unglücklichen Ragu hat beherrschen lassen. Er ist kein böser Mensch, sondern nur schwach, und wir können ihn gewiß noch retten.«

»So bringen Sie mir den Bourron nur wieder her!« rief Lucas fröhlich. »Ich will den Tod des Sünders nicht, im Gegenteil. Wie viele sinken unter, bloß weil sie von Kameraden verführt werden und keine Widerstandskraft gegen die Lockungen leichtsinniger und müßiggängerischer Menschen besitzen. Er ist ein willkommener Zuwachs, er soll uns zum Beispiel dienen.«

Er war hocherfreut, die Rückkehr Bourrons schien ihm von glücklichster Bedeutung, obgleich er als Arbeiter ziemlich mittelmäßig geworden war. Ihn wieder erwerben, ihn retten, wie Bonnaire sagte, war das nicht ein Sieg über die Lohnsklaverei? Und dann fügte das seiner Stadt wieder ein Haus hinzu, noch eine Welle zu der Flut, die die alte Welt wegschwemmen sollte.

Bald darauf kam Bonnaire wieder zu ihm, um die Aufnahme eines Arbeiters der Hölle von ihm zu erbitten. Aber diesmal war die zu erwerbende Kraft so armselig, daß Bonnaire ihm nicht zuredete.

»Es ist der arme Fauchard, der sich endlich entschlossen hat«, sagte er. »Sie erinnern sich, daß er wiederholt hier hereingekommen ist, ohne sich zu einer Entscheidung aufraffen zu können. Er fürchtete sich davor, irgend etwas zu unternehmen, so hat die schwere, immer gleichbleibende Arbeit ihn verblödet und entkräftet. Er ist kein Mensch mehr, er ist nichts als ein verbogenes, verkrümmtes Rad. Ich fürchte, wir würden nichts Rechtes mehr aus ihm machen können.«

Lucas erinnerte sich an seine ersten Tage in Beauclair.

»Ja, ich weiß, er hat eine Frau, Natalie, nicht wahr, eine traurige, kummervolle Frau, die immer auf der Suche nach Kredit ist? Und er hat einen Schwager, Fortune, der damals, als ich ihn sah, nicht älter als sechzehn Jahre war, und der blaß und verstumpft aussah, zugrunde gerichtet von der mechanischen Arbeit, der er in so frühem Alter anheimgefallen war. Ja, sie mögen nur kommen, alle, warum nicht? Auch dieser arme Fauchard wird uns als Beispiel dienen, selbst wenn wir aus ihm keinen freien und fröhlichen Menschen mehr machen können.«

Dann fügte er in heiterem Tone hinzu:

»Noch eine Familie mehr, noch ein Haus mehr zu unseren Häusern. Die Bevölkerung steigt, wie, Bonnaire? Wir sind nun auf dem besten Wege zu einer großen Stadt, zu der Stadt, von der ich Ihnen von allem Anfang an sprach und an die Sie nicht glauben wollten. Erinnern Sie sich, der Versuch schien Ihnen keinen Erfolg zu versprechen. und Sie blieben nur aus Vernunftgründen und aus Erkenntlichkeit an meiner Seite? Sind Sie nun wenigstens überzeugt?«

Bonnaire war ein wenig verlegen und antwortete nicht gleich. Dann sagte er mit seiner gewohnten Offenheit:

»Ist man je überzeugt? Man muß die Resultate mit den Händen greifen können. Sicherlich gedeiht die Fabrik aufs beste, unsere Genossenschaft vergrößert sich, der Arbeiter lebt besser, es herrscht ein bißchen mehr Gerechtigkeit und Glück. Aber Sie kennen meine Ansichten, Herr Lucas: alles das ist noch immer die verwünschte Lohnarbeit, und ich sehe nicht, daß wir der idealen Gesellschaft näherkommen.«

Im übrigen wehrte sich nur noch der Theoretiker in ihm. Wenn er auch seiner Überzeugung nicht untreu werden konnte, wie er sagte, so war er doch ein unvergleichlich treuer und fleißiger Arbeiter voll Mut und Zuversicht. Er war der Held der Arbeit, der Führer, der den Sieg der Crêcherie entschieden hatte, indem er den Kameraden ein brüderliches Beispiel der Zusammengehörigkeit gab. Wenn er in den Werkstätten erschien, der große, kraftstrotzende, gutmütige Mann, streckten sich ihm alle Hände entgegen. Und er war bereits mehr überzeugt, als er zugeben wollte, er war beglückt zu sehen, daß die Genossen weniger litten, daß ihnen alle Genüsse zu Gebote standen, daß sie in gesunden Wohnungen, von Blumen umgeben, lebten. Er sollte also doch nicht aus diesem Leben scheiden, ohne daß das Gelübde, das er abgelegt hatte, erfüllt war: daß es weniger Elend und mehr Gerechtigkeit auf der Welt geben sollte.

»Ja, ja, die ideale Gesellschaftsordnung«, sagte Lucas, der ihn kannte, lächelnd, »wir werden sie verwirklichen, wir werden sogar Besseres verwirklichen, und wenn es uns nicht gegönnt sein sollte, dann werden unsere Kinder unser Werk vollenden, unsere Nachkommen, die wir zu dieser Aufgabe erziehen. Haben Sie Vertrauen in unsere Sache, Bonnaire, sagen Sie sich, daß die Zukunft uns gehört, da unsere Stadt unaufhaltsam wächst und wächst.«

Und mit breiter Gebärde wies er auf die unter jungen Bäumen hervorleuchtenden Dächer mit den buntglasierten Ziegeln, die fröhlich in den Strahlen der untergehenden Sonne erglänzten. Immer wieder kehrten seine Blicke zu diesen Häusern zurück, die ihm Lebewesen schienen, die sein Wort aus der Erde hatte herauswachsen lassen, und die er nun vordringen sah gleich einer friedlichen Armee, um die Zukunft auf den Trümmern des alten Beauclair und der Hölle aufzubauen.

Doch wenn bloß das Volk der Arbeiter auf der Crêcherie erfolgreich gewesen wäre, so wäre dies lediglich ein glückliches Ereignis gewesen, über dessen Folgen man hätte streiten können. Aber was dieses Ereignis entscheidend machte und ihm außerordentliche Bedeutung verlieh, das war, daß die Bauern von Combettes auch erfolgreich waren in ihrer Vereinigung und in der Genossenschaft, die sich zwischen der Fabrik und dem Dorf gebildet hatte. Auch hier war man erst am Anfang, aber welch gewaltiger Reichtum kündigte sich bereits an! Seit dem Tage, da der Gemeindevorsteher Lenfant und sein Stellvertreter Yvonnot sich unter dem Zwang ihrer Interessen versöhnt und alle kleinen Grundeigentümer der Gemeinde überredet hatten, sich zu vereinigen und ihre kleinen Bodenstücke zusammenzulegen, um ein einziges großes Gut von mehreren Hektaren daraus zu bilden, hatte der Boden eine außerordentliche Fruchtbarkeit entwickelt. Bis dahin schien, und besonders in letzterer Zeit, die Erde Bankerott gemacht zu haben, wie auf der ganzen weiten Ebene der Roumagne, die, einst so fruchtbar, nun einen mageren Anblick bot mit ihren leichten, dünnstehenden Halmen. In Wirklichkeit war dies aber nichts anderes als die Folge der faulen Nachlässigkeit und der eigensinnigen Unwissenheit der Menschen, der veralteten Bebauungsmethode, des Mangels an Maschinen, an Dünger und an gutem Einvernehmen. Welche überwältigende Lehre der Tatsachen ergab sich daher, als die Bauern von Combettes begannen, ihre Äcker gemeinschaftlich als ein einziges großes Gut zu bewirtschaften. Sie kauften den Dünger zu billigem Preis, sie versorgten sich in der Crêcherie mit Geräten und Maschinen, dafür lieferten sie dieser Getreide, Gemüse und Wein. Das bildete eben ihre Stärke, daß sie nicht mehr allein waren, daß sich, fortan unzerreißbar, das Band der Gemeinschaft zwischen Dorf und Fabrik geschlungen hatte. Was so lange für unmöglich gehalten worden war, die Versöhnung zwischen Bauer und Arbeiter, das war hier verwirklicht, der Bauer lieferte das nährende Brot, der Arbeiter das Eisen, womit die Erde bearbeitet wird, damit das Brot auf ihr wachse. Wenn die Crêcherie Combettes' bedurfte, so hätte Combettes nicht ohne die Crêcherie bestehen können. Nun war die Vereinigung vollzogen, die fruchtbare Ehe geschlossen, aus der die glückliche Gesellschaft der Zukunft entspringen sollte. Und welch wunderbares Schauspiel, das Wiedererwachen dieser Ebene, die gestern fast öde dagelegen hatte und sich heute mit reicher Ernte bedeckte! Inmitten der anderen Äcker, die noch unter dem Fluch der Uneinigkeit und Fahrlässigkeit litten, breiteten sich die von Combettes wie ein kleines Meer üppigen Grüns, das die ganze Umgebung mit Staunen und immer größerem Neid betrachtete. Solche Dürre, solche Unfruchtbarkeit gestern, und soviel Segen, soviel Überfluß heute! Warum also nicht das Beispiel derer von Combettes befolgen? Schon begannen die Nachbargemeinden sich für die Sache zu interessieren und sich darüber zu erkundigen, schon schickten sich einzelne an, das lockende Muster nachzuahmen. Es verlautete, daß die Gemeindevorstände von Fleuranges, von Lignerolles, von Bonneheux Genossenschaftspläne entworfen hätten und nun Unterschriften dafür sammelten. Bald wuchs wohl das kleine grüne Meer, vereinigte sich mit anderen Meeren, dehnte seine Flut fruchtbaren Wachstums immer weiter und weiter, bis die ganze große Roumagne, soweit der Blick reichte, nur ein einziges großes Gut, ein einziger Ozean von Halmen war, der ein ganzes glückliches Volk nähren konnte. Und diese Zeit war nahe, denn auch die nährende Erde war auf dem Wege zum glücklicheren Zustand der Zukunft.

Oft machte Lucas zu seinem Vergnügen lange Spaziergänge durch die fruchtbaren Felder, und er begegnete dabei manchmal Feuillat, dem Pächter Boisgelins, der ebenfalls, die Hände in den Taschen, an den Äckern entlangschlenderte und in seiner schweigsamen, verschlossenen Weise auf die reichen Ernten blickte, die aus dem wohlbebauten Boden wuchsen. Lucas wußte, welch großen Anteil der Pächter an den Entschlüssen Lenfants und Yvonnots hatte, er wußte, daß er auch heute noch ihr Ratgeber war. Und er war höchst erstaunt, zu sehen, in welchem Zustand der Vernachlässigung Feuillat die von ihm gepachteten Äcker ließ, so daß ihre schwachbewachsenen Flächen sich von denen von Combettes deutlich abhoben und neben ihrer reichen Fruchtbarkeit fast wie ödes Land erschienen.

Als sie eines Morgens miteinander auf einem Wege dahingingen, der die beiden Gebiete voneinander schied, konnte Lucas sich nicht enthalten, den Pächter über diesen Gegenstand zu befragen.

»Sagen Sie mir nur, Feuillat, schämen Sie sich nicht ein wenig, daß Sie Ihre Äcker in so schlechtem Zustande lassen, wenn da gleich nebenan die Ihrer Nachbarn so ausgezeichnet bewirtschaftet sind? Schon Ihr eigenes Interesse sollte Sie zu fleißigerer und intelligenterer Bebauung drängen, zu der Sie auch, wie ich überzeugt bin, alle Fähigkeiten besitzen.«

Der Pächter zeigte statt aller Antwort nur ein schwaches Lächeln. Dann sagte er mit plötzlicher Offenheit:

»Wissen Sie, Herr Lucas, sich schämen ist zuviel Luxus für arme Teufel wie wir. Und was mein Interesse betrifft, so erfordert es, daß ich diesen Äckern, die nicht mir gehören, gerade nur so viel abgewinne, als ich zum Leben brauche. Das tue ich, ich bebaue sie, soweit es nötig ist, um Brot zu haben, denn ich wäre zu dumm, wenn ich sie düngen, wenn ich sie verbessern würde, da dies doch niemand anders zugute käme als Herrn Boisgelin, der mich hinauswerfen kann, sowie die Pacht zu Ende ist. Nein, nein! Damit man aus einem Feld ein gutes Feld mache, muß es einem selber gehören oder, noch besser, allen gemeinsam.«

Er sprach mit grimmigem Spott von denen, die den Bauern zurufen: »Liebet die Erde, liebet die Erde!« O ja, er wollte sie schon lieben, aber nur, wenn sie auch ihn liebte, das heißt, er wollte sie nicht für andere lieben. Er wiederholte, sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater hätten sie unter dem Joch der Ausbeuter geliebt, ohne anderes davon zu haben als Leiden und Elend. Nun denn, er hatte keine Lust, sich länger so schamlos ausbeuten zu lassen, er wollte nicht länger der Narr des Pachtsystems sein, wollte nicht die Erde lieben, umwerben, befruchten, damit der Grundeigentümer ihm dann einfach die Mutter samt dem Kind, allen Ertrag seiner harten Mühe wegnehme.

Ein Schweigen folgte. Dann setzte er noch mit leiserer Stimme, im Tone fester Entschlossenheit hinzu:

»Ja, die Erde muß allen gehören, dann werden wir sie wieder lieben und bebauen. Bis dahin warte ich.«

Lucas sah ihn betroffen an. Er hatte immer gewußt, daß der verschlossene Mann ein kluger Kopf war. Und nun kam hinter dem schlauen Bauern ein feiner Diplomat zum Vorschein, ein Reformator von klarem, weitvorschauenden Blick, der das Tatbeispiel von Combettes ins Leben gerufen hatte und noch immer leitete, zu einem noch fernabliegenden Zweck, den nur er kannte. Lucas vermutete die Wahrheit und wollte sich Gewißheit verschaffen.

»Wenn Sie also Ihre Äcker in diesem Zustande lassen, so wollen Sie auch, daß man sie mit den benachbarten Feldern vergleiche und die entsprechende Lehre daraus ziehe? Aber ist dies nicht bloß ein Hirngespinst? Niemals wird Combettes die Guerdache erobern und verschlingen können.«

Wieder zeigte Feuillat sein stilles Lächeln. Dann sagte er zurückhaltend:

»Vielleicht, es müßte jedenfalls Großes geschehen. Aber wer kann etwas vorauswissen? Ich warte.«

Nachdem sie einige Schritte weitergegangen waren, deutete er mit umfassender Gebärde auf die benachbarten Felder:

»Auf alle Fälle geht es hier vorwärts. Sie erinnern sich, was das für ein trostloser Anblick war, diese kleinen Fetzen von Äckern mit den mageren Beständen. Und sehen Sie nun das hier! Auf einem einzigen großen Gut, mit gemeinsamer Bewirtschaftung, mit Hilfe der Maschinen und der Wissenschaft, verzehnfachen sich die Ernten, das ganze Land wird nach und nach erobert. Ah, so was erfreut das Auge!«

Die heiße Liebe, die er der Erde bewahrte, die er, im eifersüchtigen Verlangen, sie nur für sich allein zu lieben, vor allen Menschen geheimhielt, strahlte aus seinen leuchtenden Augen, bebte im begeisterten Ton seiner Stimme. Und Lucas fühlte sich überwältigt von dem mächtigen Hauch der Fruchtbarkeit, der ihn aus diesem Halmenmeer anwehte. Wenn er sich jetzt so stark fühlte auf der Crêcherie, so war es durch das Bewußtsein, daß er hier einen reichgefüllten Speicher besaß, durch das Brot gesichert war, seitdem er sein kleines Volk von Arbeitern mit einem kleinen Volk von Bauern vereinigt hatte. Und ebenso groß wie seine Freude an seiner wachsenden Stadt war, an dem Strom der Häuser, der immer weiter vordrang, um das alte Beauclair und die Hölle zu erobern, ebenso groß war seine Freude an dem Anblick der fruchtbaren Felder von Combettes, die ebenfalls vordrangen, sich durch die benachbarten Felder immer vergrößerten, bis das gewaltige Meer ihrer Halme von einem Ende der Roumagne zum anderen seine Wogen rollte. Hier wie dort sah er die Früchte derselben segensreichen Tätigkeit, das Herannahen derselben Zivilisation, die Menschheit auf dem Wege zur Wahrheit und Gerechtigkeit, zum Frieden und zum Glück.

Eine unmittelbare Wirkung des Erfolges der Crêcherie war, daß er den kleinen Fabriken der Gegend zum Bewußtsein brachte, wie vorteilhaft es für sie wäre, dem gegebenen Beispiel zu folgen und sich der Genossenschaft anzuschließen. Die Nagelfabrik Chodorge, die ihr ganzes Rohmaterial von ihrer mächtigen Schwester bezog, war die erste, die sich mit dem Unternehmen der Crêcherie verschmelzen ließ. Dann kam die Fabrik Hausser, die Sensen, Sicheln und Säbelklingen schmiedete, an die Reihe und wurde ein natürliches Glied der benachbarten Werke. Etwas schwieriger war die Sache bei dem Hause Mirande & Co., das landwirtschaftliche Maschinen herstellte. Der eine ihrer beiden Eigentümer war ein reaktionärer Mann, der sich jeder Neuerung widersetzte. Aber die Umstände waren so mächtig, daß er sich aus Furcht vor dem Ruin zurückzog, und der andere Gesellschafter beeilte sich, sein Unternehmen der Crêcherie anzuschließen. Alle diese Häuser, die in die unwiderstehliche Bewegung der Genossenschaft und der Gemeinschaft mit hineingezogen wurden, unterwarfen sich demselben Grundgesetz, der Teilung der Gewinne, die auf der Zusammenwirkung von Kapital, Arbeit und geistiger Kraft fußte. Sie waren alle eine einzige große, aus hundert verschiedenen Gruppen bestehende Familie, die immer neue Glieder ansetzen, sich bis ins unendliche ausdehnen konnte. Und sie bildeten den Grundstock der Gesellschaft der Zukunft, die sich auf der Basis einer Neuanordnung der Arbeit aufbaute, die eine glückliche und freie Menschheit umfassen sollte.

In Beauclair war das Staunen, die Verblüffung, die Furcht auf den Gipfelpunkt gestiegen. Wie, die Crêcherie sollte also immer nur weiterwachsen, sich durch jede Fabrik vergrößern, die sie auf ihrem Wege traf, heute diese, morgen jene, übermorgen wieder eine andere? Und die Stadt selbst, und die große Ebene draußen sollten ebenso verschlungen werden, sollten zu Anhängseln, zu Teilen, zu Organen der Crêcherie werden? Die Geister wurden verwirrt, die Leute fingen an darüber zu grübeln, wo der wirkliche Vorteil eines jeden, die Möglichkeit des Glückes läge. In der Welt der kleinen Kaufleute wurde die Bestürzung immer größer, angesichts der sich täglich vermindernden Einnahmen, und viele fragten sich, ob sie nicht bald würden den Laden schließen müssen. Es wirkte daher wie ein Donnerschlag, als sich die Neuigkeit verbreitete, daß Caffiaux, der Gewürzkrämer und Weinhändler, mit der Crêcherie einen Vertrag geschlossen hatte, wonach sein Laden zu einer einfachen Niederlage, zu einem Zweiggeschäft der Genossenschaft wurde. Lange Zeit hatte er für einen Vertrauensmann der Hölle, für eine Art Spion der Direktion gegolten, der die Arbeiter mit Alkohol vergiftete und sie dann an die Arbeitgeber verkaufte, denn die Schenke ist die festeste Stütze des Lohnsklaventums. Auf alle Fälle war er ein zweideutiger Mensch, der stets den Mantel nach dem Winde hängte, immer zum Verrat bereit war und sich mit der Gewandtheit eines Mannes, der nicht auf Seite der Besiegten stehen will, nach der anderen Seite drehte. Daß dieser schlaue Kopf so ohne weiteres zur Crêcherie überging, das verdoppelte die Angst der Leute und drängte sie gleichfalls zur raschen Entscheidung. Eine starke Bewegung zum Anschlusse machte sich geltend, deren Kraft rasch wachsen mußte. Die schöne Frau Mitaine, die Bäckerin, hatte die Bekehrung Caffiaux' nicht abgewartet, um alle die neuen Einrichtungen auf der Crêcherie sehr schön zu finden, und sie war geneigt, der Genossenschaft beizutreten, obgleich ihr Geschäft blühend blieb, dank dem Ruf der Schönheit und Güte, den sie sich erworben hatte. Nur der Fleischer Dacheux verbiß sich in einem wütenden Starrsinn, angesichts des Zusammenbruchs alles dessen, was er für unerschütterlich gehalten hatte. Er sagte, er wolle lieber inmitten seiner letzten Fleischstücke sterben, an dem Tage, an dem keine Hausfrau mehr hereinkäme, um sie ihm zu seinem Preise abzukaufen. Und das schien sich verwirklichen zu wollen, seine Kundschaft verließ ihn allmählich, und er wurde von solchen Wutanfällen erfaßt, daß er in Gefahr war, am Schlagfluß eines plötzlichen Todes zu sterben.

Eines Tages begab sich Dacheux zu Laboque, nachdem er Frau Mitaine dringend gebeten hatte, ebenfalls dahin zu kommen. Es handelte sich, sagte er, um die moralischen und kaufmännischen Interessen des ganzen Viertels. Es ging das Gerücht, daß Laboque, um den Konkurs zu vermeiden, im Begriff sei, seinen Frieden mit Lucas zu machen und der Genossenschaft beizutreten, so daß er fortan nur einer Niederlage der Crêcherie vorstehen sollte. Seitdem diese ihre Fabrikate, die Werkzeuge, Geräte und Maschinen, direkt gegen das Brot der Bauern von Combettes und der anderen benachbarten Dörfer umtauschte, hatte Laboque seine besten Kunden, die Bauern der Umgebung, verloren, abgesehen von den Hausfrauen Beauclairs selbst, die große Ersparnisse erzielten, indem sie ihre Einkäufe in den Geschäften der Crêcherie machten, die Lucas allen Leuten geöffnet hatte. Es war der Tod des Handels, wie man ihn bisher verstanden hatte, des Zwischengliedes zwischen Erzeuger und Verbraucher, der das Leben verteuerte und als Schmarotzer von den Bedürfnissen der anderen lebte. Das unnütze Rad, das nur Kraft und Reichtum verzehrte, mußte verschwinden, im Augenblick, da das lebendige Beispiel zeigte, wie leicht man es entbehren konnte, und wieviel besser sich alle Welt dabei befand. Und in ihrem verlassenen Laden wehklagten Laboque und seine Frau.

Als Dacheux eintrat, saß die kleine schwarze und magere Frau an der Kasse, unbeschäftigt, ohne Mut selbst zum Strümpfestricken, während der Mann mit den Wieselaugen rastlos wie eine Seele im Fegefeuer an den Gestellen mit den verstaubten Waren hin und her ging.

»Was muß ich hören?« rief der Fleischer mit hochrotem Gesicht. »Sie werden fahnenflüchtig, Laboque, Sie ergeben sich dem Feinde? Sie, der Sie gegen den Räuber jenen unglückseligen Prozeß verloren haben, der Sie geschworen haben, den Kerl umzubringen, und wenn es Sie den Kopf kosten sollte – Sie stellen sich jetzt selbst gegen uns und wollen damit unsere Niederlage besiegeln?«

»Lassen Sie mich in Ruhe, ich habe ohnedies Kummer genug!« fuhr ihn Laboque mit der Heftigkeit der Verzweiflung an. »Ihr alle habt mich zu diesem unsinnigen Prozeß gedrängt, und jetzt kommen Sie wohl auch nicht, um mir Geld zu bringen, womit ich Ende dieses Monats meine fälligen Rechnungen bezahlen könnte? Was soll mir also Ihr Gerede?«

Er deutete auf die unverkauft liegenden Waren.

»Da sehen Sie, es kostet mich wirklich den Kopf, und wenn ich bis nächsten Mittwoch nicht einen Ausweg gefunden habe, so habe ich den Gerichtsvollzieher hier. Nun ja, wenn Sie es wissen wollen, ja, es ist wahr, ich bin in Unterhandlungen mit der Crêcherie getreten, wir sind einig, ich werde heute abend den Vertrag unterzeichnen. Ich habe noch gezögert, aber schließlich wird mir die Sache doch zu arg!«

Er ließ sich auf einen Sessel fallen, während Dacheux in seiner Wut und Bestürzung nur abgerissene Flüche stammeln konnte. Da fing Frau Laboque, die niedergedrückt an der Kasse saß, mit schwacher, eintöniger Stimme zu klagen an.

»Mein Gott, mein Gott, was wir uns unser Leben lang geplagt haben, erst um mit unseren Waren von Markt zu Markt zu ziehen, dann um diesen Laden hier zu eröffnen und ihn langsam von Jahr zu Jahr zu vergrößern! Und wir hatten doch auch etwas davon, das Geschäft ging, und wir konnten schon daran denken, uns einmal ganz in ein Landhäuschen zurückzuziehen und dort ruhig von unseren Zinsen zu leben. Auf einmal fällt alles zusammen, ganz Beauclair wird verrückt, und ich weiß noch nicht einmal, warum, du guter Gott!«

»Warum, warum?« sagte der Fleischer wütend. »Weil alles außer Rand und Band geht, und weil die Bürger von Beauclair Feiglinge sind, die sich nicht einmal zu verteidigen wagen. Aber wenn man mich zum äußersten treibt, so nehme ich eines schönen Tages mein großes Messer, und dann soll man was erleben!«

Laboque zuckte die Achseln.

»Das wär' auch was Rechtes! Das geht an, wenn man alles auf seiner Seite hat, aber wenn man sieht, daß man bald allein bleiben wird, so tut man am besten, wenn auch mit Wut im Herzen, dorthin zu gehen, wo alle anderen hingehen. Caffiaux hat das beizeiten eingesehen.«

»Oh, dieser Schuft von Caffiaux!« schrie der Fleischer in einem neuen Wutanfall. »Das ist ein Verräter! Wissen Sie, daß er von diesem Räuber, diesem Herrn Lucas hunderttausend Frank bekommen hat, damit er uns verläßt?«

»Hunderttausend Frank?« sagte Laboque mit gierig funkelnden Augen, aber in spöttisch zweifelndem Tone. »Ich wollte nur, es böte sie mir einer an, ich würde mich keinen Augenblick bedenken, sie anzunehmen! Nein, sehen Sie, es ist Unsinn, gegen den Strom zu schwimmen, man muß immer mit den Stärkeren gehen.«

»Ach, was für ein Jammer, was für ein Jammer!« klagte Madame Laboque wieder. »Alles geht drunter und drüber, es ist das Ende der Welt!«

Die schöne Frau Mitaine war eben eingetreten und hatte die letzten Worte gehört.

»Das Ende der Welt – was Ihnen nicht einfällt!« sagte sie heiter. »Zwei Nachbarinnen haben in den letzten Tagen wieder jede einen gesunden Jungen bekommen! Und wie geht es denn Ihren Kindern, Ihrem Auguste und Ihrer Eulalie? Sind sie nicht da?«

Nein, sie waren nicht da, sie waren nie da. Auguste, der nun bald zweiundzwanzig Jahre zählte, war von unüberwindlicher Abneigung gegen den Handel erfüllt und hatte sich zum Mechaniker ausgebildet. Und Eulalie, ein stilles, überlegendes Mädchen, schon eine kleine Hausfrau mit ihren fünfzehn Jahren, hielt sich am liebsten bei einem Onkel auf, der Landwirt in Lignerolles bei Combettes war.

»Oh, die Kinder!« seufzte Frau Laboque wieder. »Wenn man sich auf die Kinder verläßt!«

»Lauter Undankbare!« sagte Dacheux, der empört darüber war, daß seine Julienne ihm gar nicht glich, ein großes, hübsches, gutherziges Mädchen, das noch immer, trotz ihrer vollen vierzehn Jahre, mit den armen Kindern in den Straßen Beauclairs spielte. »Wenn man sich auf die Kinder verläßt, kann man sicher sein, in Kummer und Elend zu sterben!«

»Ich rechne aber auf meinen Evariste!« sagte die Bäckerin. »Er wird nun bald zwanzig Jahre alt, und wenn er sich auch geweigert hat, das Handwerk seines Vaters zu erlernen, so nehmen wir ihm das nicht übel. Die Jugend wächst natürlich mit anderen Ideen auf als wir, da sie in einer Zeit leben wird, in der wir nicht mehr da sind. Ich verlange von meinem Evariste nichts, als daß er mich liebhabe, und das tut er.«

Dann setzte sie Dacheux gelassen ihre Ansicht auseinander. Sie sei auf seinen Wunsch gekommen, aber nur, um ihm zu sagen, daß es jedem Kaufmann Beauclairs freistehen müsse, nach seinem besten Ermessen vorzugehen. Sie gehöre der Genossenschaft der Crêcherie noch nicht an, aber sie denke ihr eines Tages beizutreten, sobald sie die Überzeugung habe, daß sie in ihrem eigenen und im Interesse aller handle.

»Selbstverständlich!« stimmte Laboque bei. »Ich kann auch nicht anders, ich unterschreibe heute den Vertrag.«

Und Frau Laboque wiederholte ihren klagenden Spruch:

»Ich sagt' es Ihnen ja, alles geht drunter und drüber, es ist das Ende der Welt!«

»Nein, nein!« rief die schöne Frau Mitaine wieder. »Wie können Sie denken, daß das Ende der Welt da ist, wenn unsere Kinder nun bald das heiratsfähige Alter erreichen und Kinder haben werden, die sich auch wieder verheiraten werden, um wieder Kinder zu haben. Die einen nehmen den Platz der anderen ein, die Welt erneuert sich, das ist alles! Es ist das Ende einer Welt, wenn Sie wollen.«

Sie hatte das klar und gelassen gesagt, und Dacheux, der nicht mehr wußte, wie er seinem Ingrimm Luft machen sollte, stürmte, hochrot im Gesichte, hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Freilich war es das Ende einer Welt, das Ende einer ungerechten, vermorschten Welt, das Ende des Handels, der einige wenige reich macht und sehr viele arm.

Dann folgten Ereignisse, die Beauclair ganz aus dem Geleise brachten. Bis jetzt hatte der Erfolg der Crêcherie nur auf die verwandten Industrien und auf den kleinen Handel gewirkt. Es erregte daher ungeheures Aufsehen, als man eines Tages erfuhr, daß der Bürgermeister Gourier selbst sich zu den neuen Ideen bekehrt habe. Er, der wohlhabende Mann, der niemandes bedurfte, wie er stolz erklärte, ließ sich nicht herbei, in die Genossenschaft der Crêcherie einzutreten. Aber er gründete selbst eine ähnliche Genossenschaft, er verwandelte seine Schuhfabrik in eine Aktiengesellschaft, auf der nun wohlerprobten Basis der Vereinigung von Kapital, Arbeit und geistiger Kraft, zwischen denen der Gewinn geteilt werden sollte. Es war einfach eine neue, ähnliche Gruppe, die Gruppe der Bekleidungsindustrie, die neben der der Stahl- und Eisenindustrie entstand, und die Ähnlichkeit wurde noch größer, als es Gourier gelang, alle Interessenten der Bekleidungsindustrie, die Schneider, die Hutmacher, die Putzmacherinnen, die Wäschehändler, die Schnittwarenhändler, seiner Gruppe anzugliedern. Bald darauf ging die Rede von einer dritten Gruppe, die ein großer Bauunternehmer zu bilden unternahm, indem er versuchte, alle Bauhandwerker, die Maurer, die Steinmetze, die Zimmerleute, die Schlosser, die Tischler, die Dachdecker, die Zimmermaler, zu einer großen Gesellschaft zu vereinigen, der sich auch die Architekten und bildenden Künstler anschließen sollten, abgesehen von den Kunsttischlern, den Tapezierern, den Bronzefabrikanten, sogar den Uhrmachern und Juwelieren. Das Beispiel der Crêcherie hatte den fruchtbaren Gedanken der Genossenschaft nach natürlichen Gruppen gesät, und die Gruppen bildeten sich nun ganz von selbst, durch Nachahmung, infolge des Dranges aller nach möglichst viel Leben und möglichst viel Glück. Das Gesetz des menschlichen Schaffens übte seine Wirkung, und es wird seine Wirkung mit wachsender Kraft üben, wenn die Wohlfahrt des Geschlechtes es erheischt. Zwischen den verschiedenen Gruppen schlang sich ein gemeinschaftliches Band, das sie eines Tages, einer jeden ihre Eigenart belassend, vereinigen wird zu einer großen sozialen Neuordnung der Arbeit, die das einzige Gesetz des Reiches der Zukunft bilden wird.

Der Gedanke, der Crêcherie dadurch zu entgehen, daß er sie nachahmte, schien allerdings etwas zu klug für das Gehirn Gouriers. Man vermutete daher, daß dieser Gedanke ihm durch den Unterpräfekten Châtelard eingegeben worden sein müßte, der sich immer tiefer in den Schatten der Unauffälligkeit und gelassenen Untätigkeit zurückzog, je mehr Beauclair sich unter dem lebendigen Hauche der Zukunft verwandelte. Man vermutete richtig. Die Sache hatte sich bei einer kleinen freundschaftlichen Mahlzeit zu dreien zugetragen, als die beiden Männer einander gegenübersaßen, die immer noch schöne Leonore zwischen ihnen.

»Lieber Freund«, sagte der Unterpräfekt mit seinem liebenswürdigsten Lächeln, »ich glaube, mit uns geht's zu Ende. In Paris ist alles außer Rand und Band, und die Revolution ist nahe, deren Sturmwind alles wegblasen wird, was von dem alten, verfaulten, zerbröckelnden Gebäude noch steht. Bei uns hier ist unser Freund Boisgelin ein armer eitler Geck, den die kleine Frau Delaveau bis zum letzten Heller aussaugen wird. Der Gatte ist der einzige Mensch, der nicht weiß, wohin die Gewinne des Unternehmens fließen, dessen Direktor er ist und dessen Zusammenbruch er mit ungeheurer Anstrengung aufzuhalten sucht. Da gibt es eine Katastrophe, Sie werden sehen. Da wäre es denn wirklich dumm, nicht an sich zu denken, wenn man nicht in der Sintflut mit untergehen will.«

»Sind Sie bedroht, lieber Freund?« fragte Leonore, von Unruhe erfaßt.

»Ich – o nein! Wer denkt an mich? Keine Regierung wird sich die Mühe nehmen, sich mit meiner unbedeutenden Person zu befassen, denn ich habe das Talent, so wenig wie möglich zu verwalten und immer derselben Ansicht zu sein wie meine Vorgesetzten. Ich werde hier in glücklicher Vergessenheit sterben, wenn einmal das letzte Ministerium zusammenbricht. Aber ich denke an Sie, liebe Freunde.«

Hierauf entwickelte er seinen Gedanken und zählte alle Vorteile auf, die es mit sich bringen müßte, der Revolution zuvorzukommen und aus der Schuhfabrik eine zweite Crêcherie zu machen. Der Gewinn würde sich dadurch nicht vermindern, im Gegenteil. Und dann, sagte er, sei er zu klug, um nicht klar zu sehen, daß auf diesem Wege die Zukunft liege, daß die reorganisierte Arbeit schließlich die alte, ungerechte bürgerliche Gesellschaftsordnung hinwegfegen werde. In diesem gelassenen, skeptischen Beamten, der eine wohlerwogene Passivität beobachtete, hatte sich ein vollständiger Anarchist herausgebildet, den er unter seiner weltmännisch glatten Außenseite verbarg.

»Natürlich, mein lieber Gourier«, schloß er lachend, »wird mich das nicht hindern, mich offen gegen Sie zu erklären, wenn Sie der Gesellschaft diesen hübschen Streich gespielt haben werden. Ich werde sagen, daß Sie ein Abtrünniger sind und daß Sie den Verstand verloren haben. Aber ich werde Sie umarmen, wenn ich hierherkomme, denn Sie werden da einen ausgezeichneten Schachzug gemacht haben, der Ihnen großen Nutzen bringen wird. Und Sie sollen sehen, was die Leute für Gesichter machen werden!«

Gourier jedoch, entsetzt über die Kühnheit des Vorschlages, weigerte sich durchaus, dem Rate des Freundes zu folgen. Seine ganze Vergangenheit lehnte sich dagegen auf, seine Selbstherrlichkeit als Chef empörte sich gegen den Gedanken, der Gesellschafter seiner Arbeiter zu werden, deren unumschränkter Gebieter er bisher gewesen war. Aber unter seiner dicken Haut verbarg sich ein sehr nüchtern rechnender Geschäftsmann, und er erkannte bald, daß er durchaus nichts wagte und im Gegenteil sein Unternehmen gegen alle Gefahren der Zukunft versicherte, wenn er dem klugen Rate Châtelards folgte. Und dann war auch er von dem Hauch der Gegenwart berührt worden, von der Leidenschaft für Reformen. Gourier glaubte schließlich, der Gedanke sei in ihm selbst entsprungen, wie Léonore es ihm auf den Rat Châtelards hin täglich einredete, und er tat den entscheidenden Schritt.

Der Skandal unter den Bürgern Beauclairs war groß. Man versuchte Gourier umzustimmen, man bat den Präsidenten Gaume, auf ihn einzuwirken, nachdem der Unterpräfekt sich unbedingt geweigert hatte, sich mit dieser traurigen Angelegenheit zu befassen, die er für empörend erklärte und in die er, wie er sagte, die Regierung nicht verwickeln wollte. Aber der Präsident, der sehr zurückgezogen lebte und keinen gesellschaftlichen Verkehr mehr unterhielt, seitdem seine Tochter mit einem jungen Manne in flagranti ertappt worden war und zu ihm hatte zurückkehren müssen, ließ sich gleichfalls nicht herbei, dem Bürgermeister Vorstellungen zu machen, die dieser zweifellos sehr übel aufnehmen würde. Da versuchte man stärkere Mittel. Der Schwiegersohn des Präsidenten, Hauptmann Jollivet, hatte sich, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte, mit verstärkter Wut der Reaktion in die Arme geworfen. Er gab so heftige Artikel in das »Journal de Beauclair«, daß der Drucker Lebleu, von der Wendung, die die Dinge nahmen, beunruhigt, im Gefühl der Notwendigkeit, auf der stärkeren Seite zu stehen, ihm eines Tages sein Blatt verschlossen hatte und seither bemüht war, langsam dessen Übergang zur Partei der Crêcherie zu vollziehen. Entwaffnet und ohnmächtig trug der Hauptmann seinen untätigen Groll mit sich herum, als man darauf verfiel, daß er allein den Präsidenten bestimmen könne, aus seiner Zurückhaltung herauszutreten, denn er hatte mit seinem Schwiegervater nicht gebrochen und tauschte noch immer Grüße mit ihm. Mit dieser heiklen Aufgabe betraut, machte also der Hauptmann eines Tages dem Präsidenten einen offiziellen Besuch, der zwei Stunden dauerte. Als er dann das Haus verließ, hatte er von seinem Schwiegervater nur ausweichende Antworten erhalten, aber er war mit seiner Frau wieder versöhnt. Am nächsten Tag bezog er die eheliche Wohnung wieder und verzieh seiner Frau dieses eine Mal, gegen ihr heiliges Versprechen, daß sie es nicht wieder tun werde. Ganz Beauclair war verblüfft über diese unerwartete Lösung, und die Verblüffung löste sich in allgemeines Gelächter auf.

Durch Zufall und ohne mit irgendeiner Aufgabe betraut zu sein, gelang es dem Ehepaar Mazelle, den Präsidenten zum Eingeständnis seiner wahren Meinung zu bringen. Er hatte die Gewohnheit, jeden Morgen auf dem Boulevard de Magnolles, einer langen, menschenleeren Straße, seinen Spaziergang zu machen. Den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Rücken, ging er hier in düsterem Sinnen lange auf und ab. Seine Schultern waren gebeugt wie unter einer schweren Last, er schien gebrochen unter dem Bewußtsein eines verfehlten Lebens, des Üblen, das er getan hatte, des Guten, das er nicht hatte tun können. Und wenn er die Augen erhob und ins Weite blickte, schien er nach dem Unbekannten, nach der Zukunft auszuschauen, nach etwas, das kommen sollte und nicht kam, das er nicht mehr sehen würde.

Als ihm nun Herr und Frau Mazelle eines frühen Morgens auf dem Wege zur Kirche begegneten, wagten sie es, ihn anzusprechen, um seine Meinung über die öffentlichen Vorgänge zu hören, die sie mit der unbestimmten Furcht vor irgendeiner Rückwirkung auf ihre eigenen Interessen erfüllten.

»Nun, Herr Präsident, was sagen Sie zu alledem, was sich ereignet?«

Er sah sie mit verlorenem Blicke an und sagte mehr zu sich selbst, gleichsam laut die Gedanken fortsetzend, denen er eben in tiefem Sinnen nachgehangen hatte:

»Ich sage, daß er sehr lange ausbleibt, der Wirbelsturm der Wahrheit und Gerechtigkeit, der endlich diese abscheuliche Welt hinwegfegen wird.« Aufs höchste betroffen, verständnislos, stammelten Mazelles:

»Wie, was sagen Sie, Herr Präsident? Sie wollen uns nur erschrecken, weil Sie wissen, daß wir ein bißchen furchtsam sind. Ja, das sind wir wohl, und man neckt uns auch viel damit.«

Gaume hatte sich gefaßt. Als er Mazelles ihn voll Angst um ihr Geld und ihr Nichtstun mit bleichen Gesichtern anstarren sah, kräuselte ein leichtes, geringschätziges Lächeln seine Lippen.

»Was fürchten Sie?« sagte er. »Zwanzig Jahre wird die Welt wohl noch auf alle Fälle dauern, und wenn Sie dann noch leben sollten, so werden Sie für die Unannehmlichkeiten der Revolution dadurch entschädigt werden, daß Sie interessante Dinge erleben. Höchstens Ihre Tochter könnte sich um die Zukunft bekümmern.«

»Das ist es ja eben, Louise bekümmert sich gar nicht darum«, rief Frau Mazelle klagend, »ganz und gar nicht! Sie ist nun dreizehn Jahre alt, und sie findet alles, was vorgeht, und wovon sie uns natürlich von früh bis abend reden hört, sehr unterhaltend. Und wenn ich ihr manchmal sage: ›Aber, du unglückseliges Kind, du wirst dann nicht einen Heller besitzen!‹ so hüpft sie durchs Zimmer und lacht: ›Das ist mir ganz einerlei, ich werde dafür um so lustiger sein!‹ Freilich, ein liebes Kind ist sie doch, wenn sie auch so gar nicht nach unserem Sinne denkt.«

»Ja, sehen Sie«, sagte Gaume, »das ist eben ein Kind, das sich sein Leben selbst gestalten will. Es gibt solche Kinder.«

Fassungslos hörte ihm Mazelle zu, noch immer zweifelnd, ob sich der Präsident nicht über ihn lustig mache. Er hatte in zehn Jahren ein Vermögen verdient und führte seither das köstliche Leben des Nichtstuns, das sein Ideal von Jugend auf gewesen war. Und der Gedanke, daß dieses Glück der Untätigkeit aufhören, daß er vielleicht gezwungen sein könnte, wieder zu arbeiten, versetzte ihn in eine qualvolle Angst, die ihm keine Ruhe ließ und die an sich schon eine Art Strafe war.

»Aber die Rente, Herr Präsident, was würde nach Ihrer Ansicht aus der Rente, wenn es allen diesen Anarchisten gelänge, die Welt aus den Fugen zu reißen? Sie erinnern sich wohl, daß der Herr Lucas, der jetzt eine so böse Rolle spielt, uns auch einmal damit neckte, daß die Rente für ungültig erklärt werden sollte. Da soll man uns lieber gleich irgendwo am Waldesrand erschlagen!«

»Schlafen Sie nur ruhig«, erwiderte Gaume mit seiner stillen Ironie. »Die neue Gesellschaft wird Ihnen zu essen geben, wenn Sie nicht arbeiten wollen.«

Und Mazelles setzten ihren Weg nach der Kirche fort. Sie opferten dort jetzt Wachskerzen für die Genesung von Frau Mazelle, seitdem der Doktor Novarre eines Tages so rücksichtslos gewesen war, der würdigen Dame geradezu zu sagen, sie sei nicht krank. Nicht krank! Eine Krankheit, die sie seit vielen Jahren mit Liebe betreute, die ihre Hauptbeschäftigung, ihre Freude, ihr Lebenszweck geworden war! Der Arzt hielt sie offenbar für unheilbar, da er sie aufgab. Und von Angst erfaßt, hatte sie sich der Religion zugewandt, in der sie großen Trost fand.

Auf dem Boulevard de Magnolles, dessen Einsamkeit nur selten durch einen Passanten unterbrochen wurde, erging sich noch ein anderer Spaziergänger, der Abbé Marle, der hierherkam, um sein Brevier zu lesen. Aber oft ließ er das Buch sinken und wandelte langsamen Schrittes dahin. Seit den letzten Ereignissen, seit der Umwälzung, die die Stadt einer neuen Gestaltung entgegenführte, war seine Kirche noch leerer geworden und sah kaum noch andere Besucher als alte, einfältige Weiber aus dem Volke und einige Bürgersfrauen, die sich an die Kirche als an den letzten Wall der alten, untergehenden Welt klammerten. Wenn die letzten Getreuen die katholischen Kirchen verlassen haben und diese die Ruinen einer vergangenen Gesellschaft geworden sein werden, zwischen deren Steinen das Unkraut wächst, dann wird eine neue Zivilisation beginnen. Diese drohende Zukunft stand vor dem Geiste des Abbés, und die alten Weiber, die wenigen Bürgersfrauen konnten ihn nicht über die Leere trösten, die sich zusehends um seinen Gott verbreitete. Mochte auch Léonore, die Frau des Bürgermeisters, einen schönen Schmuck für die Sonntagsgottesdienste bilden, mochte sie auch ihre Börse weit öffnen, um für kirchliche Zwecke zu spenden – er wußte wohl, wie unwürdig sie war, er kannte ihren fortgesetzten Ehebruch, den die ganze Stadt wohlwollend duldete, den er selbst mit dem Mantel seines heiligen Amtes bedecken mußte und den er doch als ein schweres Vergehen verurteilte, für das er selbst mit verantwortlich war. Noch weniger genügte ihm das Ehepaar Mazelle, diese kindischen, egoistischen Menschen, die zur Kirche kamen, einzig in der Hoffnung, vom Himmel ihr persönliches Glück zu erlangen, die ihre Gebete anlegten, wie sie ihr Geld angelegt hatten, um Zinsen davon zu heben. Und alle, alle waren sie gleich in dieser sterbenden Gesellschaft, ohne den wahren Glauben, der in den ersten Jahrhunderten die Macht Christi begründet hatte, ohne die Freude am Verzicht und am willenlosen Gehorsam, die heute mehr denn je notwendig waren für die Allmacht der Kirche. Ja, er konnte es sich nicht länger verhehlen, es ging zu Ende, und wenn Gott ihm nicht die Gnade erwies, ihn bald zu sich zu berufen, so mußte er vielleicht die furchtbare Katastrophe mit erleben, mußte es mit ansehen, wie der Turm zusammenstürzte, das Kirchendach durchschlug und den Altar zerschmetterte.

Von diesen düsteren Gedanken erfüllt, ging er stundenlang vor sich hin. Er verbarg seine Befürchtungen im tiefsten Seelengrunde, suchte sich selbst über ihre Trostlosigkeit zu täuschen. Vor den Leuten zeigte er sich stolz und zuversichtlich und sprach geringschätzig von den Ereignissen des Tages, unter dem Vorwande, daß die Kirche Herrin der Ewigkeit sei. Aber wenn er mit dem Lehrer Hermeline zusammentraf, der angesichts der Erfolge der Lehrmethode auf der Crêcherie aus dem Zorn nicht herauskam und nahe daran war, im Namen des Heiles der Republik zur Reaktion überzugehen, dann zeigte er in den Auseinandersetzungen nicht mehr die Schneidigkeit wie einst und sagte gefaßt, er lege alles in Gottes Hand. Denn Gott gestattete offenbar diese anarchistischen Ausschweifungen, um seine Feinde um so sicherer zu zerschmettern und siegreich über sie zu triumphieren. Doktor Novarre sagte scherzend, der Abbé verlasse Sodom am Vorabend des Regens aus Pech und Schwefel. Sodom, das war das alte, verpestete Beauclair, das in seinem bürgerlichen Egoismus erstickende Beauclair, diese zur Zerstörung verdammte Stadt, von der die Erde gereinigt werden mußte, wenn an ihrer Stelle die Stadt der Gesundheit und Fröhlichkeit, der Gerechtigkeit und des Friedens emporwachsen sollte. Alle Anzeichen wiesen auf den Zusammensturz hin, die Lohnsklaven rüttelten wütend an ihren Ketten, die erschreckten Bürger wurden selbst Revolutionäre, die hastige Flucht der egoistischen Interessen führte den Siegern alle lebendigen Kräfte des Landes zu, das, was noch blieb, das Abgebrauchte, Unverwendbare, die nutzlosen Trümmer, wurden vom Sturm weggefegt, und schon entstieg das neue, strahlende Beauclair den Ruinen. Wenn der Abbé Marle unter den Bäumen des Boulevards de Magnolles seine Schritte verlangsamte, das Gebetbuch sinken ließ und mit halbgeschlossenen Augen vor sich hinsah, erhob sich wohl diese Vision vor seinem Geiste und erfüllte sein Herz mit Bitterkeit.

Manchmal begegneten der Abbé Marle und der Präsident Gaume einander auf ihren gemeinsamen Spaziergängen. Sie sahen sich wohl nicht sogleich, denn sie waren beide so in ihre Gedanken vertieft, daß die Erscheinungen der Außenwelt unbeachtet an ihnen vorüberzogen. Jeder wälzte in der Seele seine Entmutigung, seine Klage um die Welt, die im Verschwinden war, seinen Aufruf an die Welt, die neu erstand. Die kraftlose Religion wollte nicht sterben, die kommende Gerechtigkeit zögerte verzweifelt lange. Dann erhoben sie endlich den Kopf, erkannten einander und mußten wohl einige Worte miteinander wechseln.

»Ein trübes, unangenehmes Wetter, Herr Präsident, wir bekommen Regen.«

»Ich fürchte auch, Herr Abbé. Der Juni ist sehr kühl.«

»Ach ja, die Jahreszeiten sind ganz durcheinander. Nichts hat mehr Bestand.«

»Es ist wahr. Und dennoch geht das Leben seinen Gang, und die gute Sonne bringt vielleicht alles wieder in Ordnung.«

Dann setzten beide ihren einsamen Spaziergang fort, versanken wieder in ihr Sinnen, kämpften in ihren Seelen endlos den verzweifelten Kampf der Vergangenheit mit der Zukunft.

Aber am stärksten wurde in der Hölle das Erzittern des in Gärung begriffenen, durch die Neuordnung der Arbeit sich verwandelnden Beauclair gespürt. Bei jedem neuen Erfolg der Crêcherie mußte Delaveau eine gesteigerte Tätigkeit, mehr Klugheit und Energie entwickeln. Und natürlich gereichte alles, was das Gedeihen der Rivalin ausmachte, seiner Fabrik zum Schaden. So war die Auffindung reicher Erzadern in der früher verlassenen Grube ein schwerer Schlag für ihn gewesen, da der Preis des Rohmaterials dadurch außerordentlich herabgesetzt wurde. Er konnte in der Fabrikation nicht mehr konkurrieren, und er wurde selbst auf seinem eigensten Gebiete, auf dem der Kanonen und Geschosse, stark erschüttert. Die Aufträge hatten sich vermindert, seitdem das Geld Frankreichs hauptsächlich den Zwecken des Friedens und der Gemeinwohlfahrt zugewendet wurde, den Eisenbahnen, den Brücken, den Bauten aller Art, bei denen Eisen und Stahl triumphierten. Das schlimmste war, daß die Aufträge, in die sich drei Fabriken teilen mußten, nicht genügten, um diese voll zu beschäftigen, und daß sie daher darauf ausgingen, eine der Konkurrentinnen zu beseitigen, um für sich selbst mehr Raum zu schaffen. Und da die Hölle gegenwärtig die am wenigsten kräftige unter ihnen war, so arbeiteten die anderen Werke erbarmungslos darauf hin, die Hölle zu erdrücken. Die Lage wurde für Delaveau um so schwieriger, als seine Arbeiter ihm nicht mehr treu blieben. Der Messerstoß Ragus hatte eine Art von Zerrüttung unter seinen Kameraden verbreitet. Als dann Bourron, bekehrt und klug geworden, sie verließ, um in die Crêcherie zurückzukehren, und Fauchard mitnahm, war eine starke Bewegung entstanden, und die meisten hatten sich gefragt, warum sie ihrem Beispiel nicht folgen sollten, da ihnen drüben so viele Vorteile winkten. Die Tatsachen sprangen nun in die Augen, die Arbeiter verdienten in der Crêcherie doppelte Löhne bei nur achtstündiger Arbeitszeit, ohne die anderen Begünstigungen zu rechnen, deren sie sich erfreuten, die kleinen, heiteren Häuschen, die immer fröhlichen Schulen, die Unterhaltungen im Gemeindehause, die Geschäfte, die ihnen die Lebensmittel um ein gutes Drittel billiger lieferten, überall Gesundheit, Freude und Behaglichkeit. Nichts wirkt so unmittelbar wie Zahlen. Die Arbeiter der Hölle verlangten eine Erhöhung ihrer Löhne, sie wollten auch soviel verdienen wie die von der Crêcherie, und da es unmöglich war, ihrem Verlangen zu willfahren, gingen viele fort und wandten sich natürlicherweise dorthin, wo ihnen mehr geboten wurde. Was aber Delaveau vollends lahmlegte, das war das Fehlen eines Reservefonds, denn er gab sich nicht besiegt, er hätte sich lange halten können, er hätte sogar schließlich gesiegt, wie er überzeugt war, wenn er einige hunderttausend Frank in der Kasse gehabt hätte, mit deren Hilfe er diese Krise, die er nur als vorübergehend betrachten wollte, hätte überstehen können. Aber wie sollte er den Kampf mit Nachdruck führen, wie in der bösen Zeit alle Erfordernisse decken, wenn es an Geld fehlte? Die Anleihen, die er schon aufgenommen hatte, legten ihm obendrein eine schreckliche Zinsenlast auf, die ihn erdrückte. Aber er kämpfte heldenhaft weiter, mit dem Einsatz aller seiner geistigen und körperlichen Kräfte, mit dem Einsatz seines Lebens, in der Hoffnung, doch noch die zerbröckelnde Vergangenheit, die Autorität, die Lohnsklaverei, die bürgerliche und die kapitalistische Gesellschaft retten zu können, die er verteidigte, und gedrängt von seinem Ehrgefühl, für das ihm anvertraute Kapital den versprochenen Ertrag zustande zu bringen.

Ja, Delaveau litt eigentlich am meisten darunter, daß er Boisgelin nicht mehr die Gewinne auszahlen konnte, zu denen er sich verpflichtet hatte, und sein Mißerfolg kam ihm grausam zum Bewußtsein an den Tagen, an denen er eine geforderte Summe verweigern mußte. Obgleich die letzte Bilanz höchst traurig war, wollte Boisgelin in nichts die Lebensführung auf der Guerdache einschränken, aufgereizt von Fernande, die ihren Mann ein Zugtier nannte, das man bis aufs Blut stacheln müsse, um es zur vollen Arbeitsleistung anzutreiben. Seit der schrecklichen Vergewaltigung Ragus, deren Erinnerung im tiefsten Innern ihres Wesens saß, war sie toll nach neuen Gewissen. Noch nie hatte sie sich darin so heißhungrig, so unersättlich gezeigt. Man fand sie verjüngt und schöner geworden, mit einem verzehrenden Glanz in den Augen, wie von der Gier nach etwas Unmöglichem, nie Erreichbarem. Sie erschien den Freunden des Hauses sehr seltsam, und der Unterpräfekt Châtelard sagte im Vertrauen zum Bürgermeister Gourier, daß diese kleine Frau sicherlich eines Tages etwas sehr Böses anstellen werde, worunter sie alle würden zu leiden haben. Bis jetzt hatte sie sich damit begnügt, ihr Haus zur Hölle zu gestalten, indem sie Boisgelin mit unaufhörlichen Geldforderungen auf ihren Mann hetzte. Delaveau wurde dadurch so zur Verzweiflung gebracht, daß er sich nachts schlaflos im Bette wälzte und laut aufstöhnte. Sie selbst reizte ihn durch boshafte Bemerkungen. Er aber vergötterte sie nach wie vor, er sah in dieser herrlich schönen, bezaubernden Frau seinen Gott, an den er keinen Vorwurf, keine Kritik herankommen ließ.

Der November kam mit vorzeitiger strenger Kälte. Die Fälligkeiten in diesem Monate waren so groß, daß Delaveau die Erde unter sich wanken fühlte. Das Geld, über das er verfügte, reichte für die Verbindlichkeiten nicht aus. Am Tage vor dem Fälligwerden der Zahlungen schloß er sich in sein Arbeitszimmer ein, um nachzudenken und Briefe zu schreiben, während Fernande sich nach der Guerdache begab, wo sie zum Diner geladen war. Ohne daß sie es wußte, war er selbst heute morgen dort gewesen und hatte mit Boisgelin eine entscheidende Unterredung gehabt, in der er ihn, nach rücksichtsloser Enthüllung der verzweifelten Sachlage, endlich dazu bewogen hatte, seine Ausgaben zu vermindern. Nun schritt er, nachdem seine Frau fortgegangen war, in Gedanken versunken in seinem Arbeitszimmer auf und ab und schürte von Zeit zu Zeit mechanisch das Feuer in dem kleinen eisernen Ofen, der vor dem Kamin stand. Die einzige Rettung lag darin, daß er trachten mußte, Zeit zu gewinnen, indem er von den Gläubigern, die das Schließen des Werkes nicht wünschen konnten, eine Stundung ihrer Forderungen verlangte. Aber er beeilte sich nicht damit, die entsprechenden Briefe zu schreiben, er verschob es bis nach dem Essen. In tiefes Sinnen verloren, ging er von einem Fenster zum anderen, verweilte immer wieder vor dem, durch das er das große Gebiet der Crêcherie übersah, bis zu dem fernen Park, bis zu dem Häuschen, das Lucas bewohnte. Die Sonne ging an einem kristallklaren Winterhimmel unter, und von dem purpurnen Hintergrunde des Horizonts hoben sich die blaßgoldenen Linien der jungen Stadt mit außerordentlicher Reinheit ab. Nie hatte er sie so klar, so scharf umrissen vor sich liegen sehen, er hätte die kleinen abstehenden Zweige der Bäume zählen können, er unterschied jede Einzelheit der Häuschen, er sah deutlich den bunten Zierat, der ihnen ein so fröhliches Aussehen lieh. Eine kurze Weile ließen die Strahlen des tiefstehenden Gestirns die Fenster brennen und glühen, gleich Hunderten von Freudenfeuern. Und er stand unbeweglich zwischen den Vorhängen, das Gesicht an die Scheiben gedrückt, und blickte auf diesen flammenden Triumph.

Wie Lucas von drüben, vom anderen Rande des Gebiets, häufig auf seine Stadt sah, wie sie vordrang, sich ausbreitete, sich anschickte, die Hölle zu überschwemmen, so sah auch Delaveau von seiner Seite auf sie hin, wie sie drohend und unaufhaltsam gegen ihn heranrückte. Wie oft in den letzten Jahren hatte er selbstvergessen an diesem Fenster gestanden, die Augen auf die besorgniserregende Aussicht geheftet, und jedesmal hatte er die Flut der Häuser steigen und gegen die Hölle heranschwellen sehen. Sie war ganz weit drüben entstanden, am jenseitigen Rande des großen bebauten Geländes. Erst war ein Haus erschienen, gleich einer kleinen Welle, dann wieder eins, dann wieder eins. Die Linie der weißen Fassaden hatte sich verlängert, die Wellen hatten sich immerzu vermehrt, sich gegenseitig vorwärtsgedrängt und im Lauf beschleunigt. Und nun hatten sie den ganzen Zwischenraum bedeckt, sie waren nur noch einige hundert Meter entfernt, sie bildeten ein Meer von unberechenbarer Macht, das alles wegzureißen drohte, was sich ihm entgegenstellte. Es war das unwiderstehliche Vordringen der Zukunft, die Vergangenheit war im Begriffe zusammenzustürzen, die Hölle und Beauclair selbst mußten der jungen, siegreichen Stadt Platz machen. Delaveau konnte ihr Herannahen beobachten und sah den Tag voraus, da die Gefahr tödlich werden würde. Einen Augenblick hatte er gehofft, daß ihrem Wachstum Einhalt getan sei, um die Zeit, als die Crêcherie eine schwere Krisis durchmachte. Aber sehr bald hatte die Stadt sich aufs neue in Bewegung gesetzt, und mit einer solchen Gewalt, daß die alten Mauern der Hölle davon erzitterten. Trotzdem ließ er die Mutlosigkeit seiner nicht Herr werden, er stemmte sich gegen die Tatsachen, er hoffte, daß seine Energie den Wall bilden werde, an dem sich die feindliche Flut brach. Aber an diesem Abend ergriffen ihn Befürchtungen, die seine Seele mutlos machten, und etwas wie Reue überschlich ihn. Hatte er damals nicht unrecht getan, Bonnaire ziehen zu lassen? Er erinnerte sich der prophetischen Worte dieses schlichten, seelenstarken Mannes zur Zeit des Streiks. Und wenige Wochen später hatte Bonnaire als tüchtiger Arbeiter an der Gründung der Crêcherie mitgewirkt. Seit der Zeit war das Werk stetig zurückgegangen, Ragu hatte es mit einem Mord befleckt, Bourron, Fauchard und andere verließen es, wie einen verwünschten, dem Untergang geweihten Ort. Dort drüben flammte die neue Stadt noch immer in der untergehenden Sonne, und ihn überkam plötzlich ein starker Zorn, der ihn sich selbst und allen Grundsätzen seines Lebens wiedergab. Nein und nein! Er hatte recht gehabt, die Wahrheit lag in der Vergangenheit, die Menschen waren zu nichts nütze, wenn man sie nicht unter das Joch der Autorität beugte, das Lohnverhältnis war die einzig mögliche feste Grundlage der Arbeit, und wenn man diese verließ, so mußte das zur Katastrophe führen. Er wollte nichts mehr sehen, er zog die Vorhänge zu, entzündete die elektrische Lampe auf seinem Schreibtisch und vertiefte sich wieder in seine geschäftlichen Sorgen, während der glühende Ofen das Zimmer mit starker Hitze erfüllte.

Nachdem er sein einsames Mahl genommen hatte, setzte sich Delaveau an den Schreibtisch, um die Briefe zu schreiben, über die er als letztes Rettungsmittel seit Stunden nachgesonnen hatte. Um Mitternacht saß er noch immer da, mit der schweren, peinlichen Aufgabe dieser Korrespondenz beschäftigt. Neue Zweifel, neue Sorgen waren ihm aufgestiegen: war dies wirklich die Rettung? Angenommen, man bewilligte ihm den Aufschub, was dann? Erschöpft von der übermenschlichen Anstrengung, die er aufwandte, um das Werk zu retten, stützte er den Kopf in beide Hände und versank in qualvolle Mutlosigkeit. Da hörte er unten einen Wagen vorfahren, im Vorhaus wurden Stimmen laut: Fernande war von der Guerdache heimgekehrt und schickte die Mädchen zu Bett.

Kaum war sie in das Arbeitszimmer eingetreten, da rief sie in dem scharfen, nervösen Ton einer heftig erregten Frau, in der seit Stunden der Zorn wühlt:

»Du lieber Gott, was für eine entsetzliche Hitze! Ich begreife nicht, wie du es hier aushalten kannst!«

Sie warf den prachtvollen Pelzmantel ab, der sie umhüllte, und erschien in blendender Schönheit, in Seide und herrliche Spitzen gekleidet, ausgeschnitten, mit entblößten Armen. Die Kostbarkeit ihrer Kleidung setzte ihren Mann nicht in Erstaunen, er sah sie nicht einmal, er sah nur sie, er liebte nur sie, die Begierde, die sie ihm stets aufs neue einflößte, verblendete ihn und raubte ihm ihr gegenüber jeden Willen und jede Kraft. Und niemals war ein berauschenderer Duft von ihr ausgegangen als heute.

Nachdem er sie noch wirbelnden Kopfes von all dem qualvollen Nachdenken, eine Weile angesehen hatte, bemerkte er etwas an ihr, was ihn beunruhigte.

»Was hast du, liebes Kind?«

Eine heftige Erregung war ihr deutlich anzumerken. Ihre großen blauen Augen, die sonst so weich blickten, brannten in düsterer Glut. Ihr kleiner Mund, dessen Lächeln sonst soviel Liebenswürdigkeit geheuchelt hatte, war verzerrt und zeigte die festen, herrlich weißen Zähne, die etwas zerreißen zu wollen schienen. Alle Linien des feinen Ovals ihres von schwarzen Haaren gekrönten Gesichtes waren verändert durch das Beben verhaltener Wut.

»Was ich habe?« sagte sie scharf. »Nichts.«

Es trat ein Schweigen ein, und durch die Winterstille drang das Dröhnen des Werkes herüber, unter dessen rastloser Tätigkeit das Haus erzitterte. Gewöhnlich kam ihnen das Geräusch nicht zum Bewußtsein. Aber in dieser Nacht war, obgleich die Aufträge stark abgenommen hatten, der große fünfundzwanzig Tonnen-Dampfhammer in Tätigkeit gesetzt worden, um ein großes Kanonenrohr zu schmieden, das bald fertig werden mußte. Und jeder Stoß des Riesenhammers schien sich durch die leichte Holzgalerie, die das Arbeitszimmer mit den Werkstätten, verband, bis hierher fortzupflanzen.

»Du hast aber doch etwas«, begann Delaveau wieder. »Warum willst du es mir nicht sagen?«

Statt aller Antwort machte sie eine Gebärde zorniger Ungeduld und sagte:

»Gehen wir lieber schlafen.«

Aber sie blieb unbeweglich in ihrem Sessel sitzen, drehte fieberhaft den Fächer in ihrer Hand, während ihre entblößte Brust heftig atmete. Endlich entfuhr es ihr:

»Du warst heute früh auf der Guerdache?«

»Ja, ich war dort.«

»Und ist es wahr, was mir Boisgelin sagt? Das Werk ist in Gefahr, Konkurs zu machen, wir stehen vor dem Ruin, und es wird uns bald nichts übrigbleiben, als trockenes Brot zu essen und billige Kleider zu tragen?«

»Ja, ich mußte ihm endlich die Wahrheit sagen.«

Sie erbebte, aber sie beherrschte sich noch, um nicht sogleich in Vorwürfe und scharfe Worte auszubrechen. Das Furchtbare war also eingetreten, ihre Genüsse waren bedroht, waren vernichtet. Vorüber war es mit den Festen, den Einladungen, den Bällen, den Jagden auf der Guerdache. Ihre Türen schlossen sich fortan, ja Boisgelin hatte ihr gesagt, daß er den Besitz vielleicht werde verkaufen müssen. Und vorüber war es auch mit der Rückkehr nach Paris als Gebieterin über Millionen. Alles, was sie endlich zu halten geglaubt hätte, der Reichtum, der Luxus, das gierige Auskosten des Genusses bis zur Sättigung, alles stürzte zusammen. Sie sah plötzlich nichts als Ruinen rings um sich. Und Boisgelin hatte sie außer sich gebracht durch seine Energielosigkeit, durch die schwächliche Feigheit, mit der er sein Haupt unter dem Unheil beugte.

»Du hast mich nie von dem Stand der Geschäfte unterrichtet«, sagte sie heftig. »Ich war ganz betäubt, mir war, als ob mir die Zimmerdecke auf den Kopf fiele. Und was soll nun geschehen?« »Wir werden arbeiten«, erwiderte er fest. »Es gibt keine andere Rettung.«

Aber sie hörte ihn kaum an.

»Konntest du einen Augenblick glauben, daß ich einwilligen werde, nichts zum Anziehen zu haben, abgetretene Schuhe zu tragen, das ganze Elend wieder durchzumachen, dessen Erinnerung noch wie ein entsetzlicher Alpdruck auf mir liegt? Nein und nein, ich bin nicht so wie ihr, ich will nicht, hörst du, ich will nicht! Findet einen Ausweg, du und Boisgelin, ich will nicht wieder arm werden!«

Und sie fuhr fort, in immer leidenschaftlicheren Worten ihren Zorn, ihre Verzweiflung, ihre wahnsinnige Auflehnung hinauszuschreien. Alle Erinnerungen ihres Lebens erwachten neu in ihr. Ihre armselige Jugend, als sie und ihre Mutter von dem Ertrag der Klavierstunden lebten, die diese gab. Die abscheuliche Erfahrung, die sie mit zwanzig Jahren machen mußte, als ein rücksichtsloser Egoist sie verführte und dann verließ, diese entsetzliche Erinnerung, die sie im tiefsten Grunde ihrer Seele verschloß, ihre berechnende Vernunftehe mit Delaveau, dessen Werbung sie angenommen hatte, trotz seiner Häßlichkeit und seiner untergeordneten sozialen Stellung, um eine feste Basis im Leben, um einen Gatten zu haben, den sie ausnützen konnte, das Aufblühen der Stahlwerke, das Gelingen ihrer Berechnung, ihr Gatte zum Mittel und zur Stufe ihres Ehrgeizes geworden, Boisgelin ihr Sklave, die Guerdache ihr Reich, alle Freuden, alle Genüsse des Lebens zu ihren Befehlen, und schließlich alles das, was das genußgierige und verderbliche Weib Köstliches und Erlesenes erraffen konnte, um ihre Unersättlichkeit zu befriedigen, die dämonische Freude, die sie an ihren Lügen, an ihren Meineiden, an ihrem Verrate, an der Verwirrung und Zerstörung empfand, die sie verursachte, und an den Tränen besonders, die sie der sanften Suzanne erpreßte. Und das sollte nicht immer so weitergehen, sie sollte als Besiegte in die Armseligkeit ihres früheren Lebens zurückgeschleudert werden?!

»Findet einen Ausweg, hörst du? Ich will nicht nackt gehen, ich werde mein Leben nicht im geringsten einschränken!« Delaveau, der anfing, ungeduldig zu werden, zuckte die breiten Schultern. Er hatte seinen massigen Bulldoggkopf in beide Fäuste gestützt, und sah sie mit den großen braunen Augen in dem von der Hitze geröteten, vom Barte halb verdeckten Gesichte fest an.

»Mein liebes Kind, du hattest recht, sprechen wir nicht von diesen Dingen, du scheinst mir heute abend ein wenig unvernünftig. Du weißt, wie ich dich liebe, und ich bin bereit, alles aufzubieten, was in meinen Kräften steht, um dir Kummer zu ersparen. Aber ich hoffe, daß du dich damit abfinden wirst, meinem Beispiel zu folgen, der ich bis zum letzten Atemzug kämpfen will. Wenn es sein muß, werde ich um fünf Uhr morgens aufstehen, werde von einem Stück Brot leben, werde den ganzen Tag über schonungslos arbeiten und werde trotzdem des Abends zufrieden schlafen gehen. Du lieber Gott, wenn du einfachere Kleider tragen und zu Fuße gehen mußt, so wird das doch nicht so schrecklich sein! Erst neulich hast du mir ja gesagt, daß du aller dieser stets gleichbleibenden Vergnügungen überdrüssig bist, daß sie dir zum Ekel geworden sind.«

So war es allerdings. Ihre weichen blauen Augen verdunkelten sich noch, wurden fast schwarz. Seit einiger Zeit war sie von einer wahnsinnigen Begierde durchtobt und verzehrt, der sie nicht zu genügen wußte. Die Erinnerung an die entsetzliche Wollust, die sie unter der Vergewaltigung Ragus empfunden hatte, in der Umarmung des vor Wut und Rachedurst rasenden Menschen mit der noch vom Schweiße der Arbeit feuchten, vom Feuer verbrannten Haut, mit den von der Handhabung der schweren Eisenstange gestählten Muskeln, mit der Ausdünstung eines wilden Tieres – diese Erinnerung verfolgte sie unablässig, reizte das lüsterne und perverse Weib in ihr mit qualvollem Verlangen nach neuen Empfindungen. Nie hatte sie die Umarmung des Arbeiters Delaveau, noch die des Nichtstuers Boisgelin in so qualvolle Verzückung gesetzt. Der eine war immer in Gedanken mit anderem beschäftigt, der andere unausstehlich korrekt, fast phlegmatisch. Sie empfand einen dumpfen Groll gegen diese Männer, die ihr kein Vergnügen boten, und der Groll steigerte sich zum knirschenden Zorn bei dem Gedanken, daß ihr niemand mehr Vergnügen bieten werde. Darum hatte sie die Klagen Boisgelins mit beleidigender Verächtlichkeit aufgenommen, als er ihr vorjammerte, wie schrecklich es ihm sei, daß er seine Ausgaben einschränken müsse. Und darum war sie so wütend heimgekehrt, zum Zerspringen voll von der Begierde, zu beißen und zu zerstören.

»Ja, ja«, stammelte sie außer sich, »dieses ewige Einerlei des Vergnügens! Und du bist der letzte, von dem ich ein neues Vergnügen erwarten könnte!«

In der Fabrik stampfte der Dampfhammer noch immer mit gewaltigen Stößen, unter denen die Erde erzitterte. Solange hatte er ihr Wohlleben geschmiedet, hatte dem Stahl den Reichtum erpreßt, nach dem sie gierig begehrte, während die schwarze Herde der Arbeiter ihr Leben hinopferte, damit sie in üppigem, uneingeschränkten Genießen leben könne. Eine kurze Weile horchte sie auf das qualvolle Keuchen der Arbeit inmitten des tiefen Schweigens. Und wieder erwachte ein glühendes, unvergeßliches Bild in ihrer Seele, das des halbnackten Ragu, wie er sie auf einen Haufen schmutziger Fetzen warf und sie inmitten der Feuersglut der Schmelzöfen umarmte. Niemals, niemals wieder! Und mit verdoppelter Wut wandte sie sich gegen ihren Gatten.

»Alles das ist nur deine Schuld. Ich habe es Boisgelin gesagt. Wenn du diesen elenden Lucas Froment sogleich besiegt hättest, stünden wir jetzt nicht vor dem Ruin. Aber du hast es nie verstanden, deine Angelegenheiten richtig zu führen.«

Delaveau erhob sich mit rascher Bewegung. Er unterdrückte seine zornige Aufwallung und sagte:

»Gehen wir schlafen. Du könntest mich sonst dazu verleiten, dir Dinge zu sagen, die ich nachher bereuen würde.«

Aber sie blieb auf ihrem Platze und fuhr fort, in so höhnischem, so aufreizendem Tone zu sprechen, indem sie ihm vorwarf, ihr Leben zerstört zu haben, daß er, alle Rücksicht beiseitesetzend, ihr zurief:

»Erlaube einmal, meine Liebe, erinnere dich gefälligst, daß du keinen Heller besaßest, als ich dich heiratete, und daß ich dir deine Hemden kaufen mußte. Wo wärst du heute ohne mich?«

Mit höhnisch verzogenem Munde, mit funkelnden Augen schleuderte sie ihm entgegen:

»Ja, glaubst du denn, daß ich, schön wie ich war, Tochter eines Fürsten, einen Mann wie dich genommen hätte, einen häßlichen, gewöhnlichen Menschen ohne Stellung, wenn ich nur Brot gehabt hätte? Sieh dich doch nur im Spiegel, mein Lieber! Ich habe dich genommen, weil du dich verpflichtet hast, mir Reichtum und eine fürstliche Lebensstellung zu schaffen. Aber du hast keine deiner Verpflichtungen eingehalten.«

Er stand vor ihr, ohne sie mit einem Worte zu unterbrechen, die Fäuste geballt, sich mit übermenschlicher Anstrengung beherrschend.

»Verstehst du wohl?« wiederholte sie mit wütender Beharrlichkeit. »Keine deiner Verpflichtungen, keine einzige! Boisgelin gegenüber ebensowenig wie mir gegenüber, denn du hast ihn zugrunde gerichtet, den armen Menschen. Du hast ihn bewogen, dir sein Geld anzuvertrauen, du hast ihm fabelhafte Erträgnisse versprochen, und jetzt wird er morgen nicht wissen, wovon er seine Schuhe bezahlen soll! Wenn man ein großes Unternehmen nicht leiten kann, mein Lieber, dann bleibt man eben ein kleiner Angestellter und lebt irgendwo in einem Nest mit einer Frau, die häßlich genug und dumm genug ist, um die Kinder zu kämmen und Strümpfe zu stopfen. Wenn wir vor dem Zusammenbruch stehen, so ist das deine Schuld, verstehst du, deine Schuld allein!«

Er konnte nicht länger an sich halten. Was sie ihm so wild zuschrie, das drehte sich ihm wie ein Messer im Herzen herum. Er, der sie so sehr geliebt hatte, mußte sie nun von ihrer Ehe sprechen hören wie von einem niedrigen Handel, bei dem von ihrer Seite nichts mitgesprochen hatte als Zwang und Berechnung! Er, der seit fünfzehn Jahren ehrlich und übermenschlich arbeitete, um seinem Vetter Wort zu halten, mußte hören, daß sie ihm Unfähigkeit und schlechte Verwaltung vorwarf! Er faßte sie mit beiden Händen an den entblößten Armen, schüttelte sie heftig und sagte halblaut, als fürchtete er, daß seine eigene Stimme ihn zum Wahnsinn stacheln könnte:

»Schweig, Unglückliche! Mach mich nicht toll!«

Sie sprang auf, als sie seine Hände wie eiserne Klammern an ihren Armen fühlte, und machte sich mit einem Ruck los. Sie sah auf die zarte weiße Haut, auf der seine Finger rote Spuren zurückgelassen hatten, und außer sich vor Zorn und Schmerz schrie sie:

»Jetzt schlägst du mich auch noch, du gemeiner, brutaler Mensch! Du schlägst mich, du schlägst mich!«

Sie hatte ihr schönes, vor Wut verzerrtes Gesicht vorgestreckt und schleuderte aus nächster Nähe ihre Verachtung in dieses Männerantlitz, das sie hätte zerfleischen mögen. Nie hatte sie ihn tiefer verabscheut, nie hatte seine vierschrötige Gestalt sie heftiger gereizt. Ihr lang aufgehäufter Groll brach wild hervor, und sie suchte ihn mit grausamem Instinkt an der empfindlichsten Stelle zu treffen, damit er aufschrie vor Schmerz.

»Du bist nur ein brutaler Lümmel, du bist nicht einmal fähig, eine Werkstatt mit zehn Arbeitern zu leiten.«

Er brach in krampfhaftes Lachen aus, so albern und kindisch erschien ihm ein solcher Vorwurf. Aber dieses Lachen steigerte ihre Wut zur sinnlosen Raserei. Sie mußte ihn tödlich treffen, sie mußte dieses Lachen ersticken.

»Ja, ich habe dich gehalten, ich allein! Ohne mich wärst du nicht ein Jahr Direktor geblieben!«

Er lachte noch lauter.

»Du bist toll, meine Liebe. Du redest solchen Unsinn, daß er mich nicht berühren kann.«

»So, Unsinn rede ich? Du verdankst also nicht mir deinen Posten?«

Mit einem Male war ihr das Geständnis in die Kehle gestiegen. Ihm das in sein Bulldogg-Gesicht schleudern, ihm zuschreien, daß sie ihn nie geliebt hatte, daß sie die Geliebte eines anderen war! Das war der Dolchstoß, der sein Lachen töten würde. Und welche Erleichterung, welche furchtbare, rasende Wonne, wenn sie selbst den Rest ihres Lebens zerstörte! Wieder tauchte das Bild Ragus auf, und mit einem Schrei wahnsinniger Wollust stürzte sie sich in den Abgrund.

»Ich rede so wenig Unsinn, mein Lieber, daß ich seit zwölf Jahren die Geliebte deines Vetters Boisgelin bin.«

Delaveau, von der ihm unversehens ins Antlitz geschleuderten Schmach betäubt, verstand nicht gleich.

»Was sagst du?«

»Ich sage, daß ich seit zwölf Jahren die Geliebte deines Freundes Boisgelin bin. So, nun weißt du's! Da ohnehin alles aus ist, sollst du auch das wissen.«

Mit knirschenden Zähnen, stammelnd, rasend, warf er sich auf sie, faßte sie wieder an den nackten Armen, schüttelte sie mit aller Kraft und schleuderte sie in den Sessel zurück. Diese entblößten Schultern, diese entblößte Brust, diese herausfordernde Nacktheit unter den Spitzen, er hätte sie mit Faustschlägen zerschmettern, vernichten mögen, damit dieses Weib ihn nicht länger schmähe und quäle. Der Schleier seiner langjährigen Vertrauensseligkeit, seiner blinden Leichtgläubigkeit zerriß, und er sah, er erriet mit einemmal alles. Sie hatte ihn nie geliebt, ihr ganzes Leben an seiner Seite war nichts gewesen als List, Heuchelei, Lüge und Verrat. Hinter dieser schönen, vornehmen, entzückenden Frau, der er mit immer neuer, heißer Liebe genaht war, die er gleich einem Götzenbild angebetet hatte, erschien plötzlich das Raubtier, der brutale Instinkt, die zerstörende Wut. Er sah in ihr mit einemmal, was ihm so lange verborgen geblieben war, die Verderberin, die Vergifterin, die allmählich alles um sich herum zur Fäulnis gebracht hatte, ein grausames, verräterisches Weib, dessen Genuß sich aus dem Blut und den Tränen anderer bereitete.

Und während er noch betäubt, wie einer, der einen Schlag auf den Kopf empfangen hat, keines klaren Gedankens fähig war, fuhr sie fort, ihn zu schmähen:

»Mit Faustschlägen, was, Bestie? Nur zu! Mit Faustschlägen, wie deine Arbeiter, wenn sie betrunken sind? Nur zu, nur zu!«

In dem schrecklichen Schweigen, das folgte, hörte Delaveau die rhythmischen Schläge des großen Dampfhammers, das Dröhnen der Arbeit, das ihn Tag und Nacht ohne Unterlaß umgab. Es schien ihm von weiter Ferne zu kommen, wie eine wohlbekannte Stimme, deren deutliche Sprache ihm das entsetzliche Erlebnis der letzten Stunde zum klaren Verständnis brachte. Alles, was dieser Hammer an Reichtümern geschmiedet, hatte nicht Fernande es verzehrt mit ihren kleinen, elfenbeinweiß schimmernden Zähnen? Der glühende Gedanke der Gewißheit bohrte sich in sein Hirn, daß sie, sie allein die Verderberin war, die Verschlingerin der Millionen, die Urheberin der Katastrophe, des unvermeidlichen und nahe bevorstehenden Untergangs. Während er Übermenschliches leistete, um seine Versprechungen zu halten, achtzehn Stunden täglich arbeitete, alle seine Kraft aufbot, um die alte, zerbröckelnde Welt aufrechtzuerhalten, hatte sie an den Stützen des Gebäudes genagt und seine Fäulnis beschleunigt. Sie hatte an seiner Seite gelebt, schön, ruhig und lächelnd, und war doch das Gift und die Zerstörung seines Lebens gewesen, hatte alles unterwühlt, was er schuf, hatte seine Anstrengungen gelähmt, sein ganzes Werk vernichtet. Ja, der Ruin war dagewesen, an seiner Seite, an seinem Tische, in seinem Bette, und er hatte nichts davon gesehen, und sie hatte alles zermalmt mit ihren weichen kleinen Händen, alles zernagt mit ihren kleinen weißen Zähnen. Die Erinnerung tauchte in ihm auf an die Nächte, da sie von der Guerdache heimgekehrt war, trunken von den Liebkosungen ihres Geliebten, vom Weine und vom Tanze, von allen üppigen Genüssen der Verschwendung, und ihre Trunkenheit auf den Polstern des Ehebettes ausgeschlafen hatte, während er, der Ahnungslose, der verblendete Dummkopf an ihrer Seite lag, mit offenen Augen in die Finsternis starrend, sich den Kopf zermarternd, um ein Mittel zu finden, das Werk zu retten, und es nicht gewagt hatte, sie auch nur mit der leisesten Liebkosung zu berühren, um ihren Schlummer nicht zu stören. Ein wahnsinniges Entsetzen, eine tolle Raserei überkam ihn, und er schrie:

»Du mußt sterben!«

Sie richtete sich in dem Sessel auf, stützte die Hände auf die Lehnen, und das Gesicht, die entblößte Brust vorstreckend, mit flammenden Augen unter ihrem schweren schwarzen Haar rief sie ihm zu:

»Oh, dazu bin ich gern bereit! Ich habe genug von dir und von den anderen, und mir selbst, und dem Leben! Ehe ich ein Leben des Elends führen soll, lieber will ich sterben!«

Ihn faßte die Raserei immer stärker, und er wiederholte schreiend, brüllend:

»Du mußt sterben! Du mußt sterben!«

Aber er hatte keine Waffe, und suchend lief er im Zimmer umher. Kein Werkzeug, kein Messer, nur seine beiden Hände, um sie zu erwürgen. Und er selbst, was sollte er tun? Sollte er weiter leben? Ein Messer hätte für beide genügt. Sie sah seine Verlegenheit, seine sekundenlange Unentschlossenheit und triumphierte in der Gewißheit, daß er nicht die Kraft finden würde, sie zu töten. Sie lachte höhnisch und verächtlich auf.

»Nun du tötest mich nicht? Töte mich doch, töte mich, wenn du den Mut dazu hast!«

Plötzlich fiel sein suchender Blick auf den kleinen eisernen Ofen, in dem ein so starkes Feuer brannte, daß der kleine Raum von Gluthitze erfüllt war. Da flammte ein wahnsinniger Gedanke in ihm auf, der ihn alles vergessen ließ, selbst sein Kind, seine angebetete Nise, die oben im zweiten Stock friedlich in ihrem kleinen Zimmer schlief. Oh, ein Ende machen, sich selbst hinabstürzen in den Abgrund unerträglicher Qual und Raserei, der sich in dieser Stunde zu seinen Füßen geöffnet hatte! Und dieses abscheuliche Weib mitnehmen in den tödlichen Sturz, damit sie auch kein anderer je mehr besitze, sie mit aus dem Leben reißen und selbst nicht länger leben, da sein Dasein fortan hoffnungslos beschmutzt und vernichtet war!

Und immer noch stachelte sie ihn mit ihrem höhnischen Lachen:

»So töte mich doch! Töte mich doch! Du bist zu feige, um mich zu töten!«

Ja, ja, alles verbrennen, alles zerstören, eine Feuersbrunst entfachen, die das Haus und die Fabrik einäscherte, damit die Vernichtung vollständig sei, die dieses Weib und ihr Geliebter gewollt hatten! Einen riesigen Scheiterhaufen in Brand setzen, auf dem er selbst von den Flammen verzehrt werden sollte, zusammen mit der meineidigen Verräterin, der Vergifterin und Zerstörerin, zusammen mit den Trümmern der alten, stürzenden Gesellschaft, die er töricht genug gewesen war, aufrechterhalten zu wollen!

Mit einem gewaltigen Fußstoß warf er den Ofen um und schleuderte ihn in die Mitte des Zimmers, indem er seinen furchtbaren Schrei wiederholte:

»Du mußt sterben! Du mußt sterben!«

Die brennenden Kohlen flogen über den Teppich und verwandelten ihn in eine rotglühende Fläche. Einige rollten bis zu den Fenstervorhängen, die sofort aufflammten, während gleichzeitig auch der Teppich zu brennen anfing. Dann entzündeten sich die Möbel, die Wandbekleidungen mit Blitzesschnelle. Das ganze, leicht gebaute Haus fing im Augenblick Feuer wie ein Reisigbündel.

Fernande war entsetzt aufgesprungen. Ihre seidenen Röcke zusammenraffend, suchte sie den Flammen zu entgehen. Sie eilte auf die Tür zu, die ins Vorderhaus führte, um in den Garten zu gelangen. Aber vor dieser Tür fand sie Delaveau, der ihr mit geballten Fäusten den Weg versperrte. Sie wandte sich der Holzgalerie zu, die das Arbeitszimmer mit der Fabrik verband. Aber für diesen Ausweg war es bereits zu spät. Die Holzgalerie hatte schon Feuer gefangen, ihr enger Raum wirkte wie ein Schlot und erzeugte einen solchen Luftzug, daß die Flammen sich schon bis in die Büros erstreckten. Geblendet, erstickend taumelte sie in die Mitte des Zimmers zurück, ihre Kleider, ihre gelösten Haare wurden von den Flammen ergriffen, ihre nackten Schultern und Arme bedeckten sich mit Brandwunden. Verzweifelt schrie sie:

»Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben! Laß mich hinaus! Mörder! Mörder!«

Sie warf sich wieder gegen die ins Vorderhaus führende Tür und versuchte ihren Mann beiseitezustoßen, der mit eiserner Unbeweglichkeit davor stand. Er aber wiederholte nur, nicht mehr heftig, sondern kalt und still:

»Ich sage dir, du mußt sterben!«

Und als sie ihm, um ihn zum Weichen zu zwingen, die Nägel ins Fleisch bohrte, faßte er sie und trug sie in die Mitte des in einen Glutherd verwandelten Zimmers zurück. Hier entspann sich nun ein furchtbarer Kampf. Sie wehrte sich mit von der Todesfurcht verzehnfachter Kraft, suchte instinktiv wie ein verwundetes Tier einen Ausweg durch Türen und Fenster, und er hielt sie inmitten der Flammen fest, in denen sie mit ihm sterben sollte, damit ihrer beider verwüstetes Leben zu gleicher Zeit zerstört werde bis auf den letzten Rest. Er bedurfte aller Kraft seiner sehnigen Arme, die Mauern spalteten sich, und noch zehnmal öffneten sich Auswege, die er ihr verwehrte. Endlich umfaßte er sie und lähmte ihren Widerstand in einer letzten Umarmung – er, der diese Frau angebetet, der sie oft genommen und umarmt hatte. Und ob sie auch ihre Zähne in seine Wange schlug, er ließ sie nicht, er trug sie mit sich in die Vernichtung hinüber, dasselbe rächende Feuer verwandelte sie beide in Asche. Und die brennenden Balken der Decke stürzten krachend zusammen.

Nanet, der auf der Crêcherie seine Lehre als Elektromechaniker durchmachte, trat diese Nacht aus dem Maschinenhaus heraus und sah in der Gegend der Hölle eine starke Röte am Himmel. Er glaubte zuerst, daß der Schein aus den Zementieröfen stamme. Aber die Röte verstärkte sich, und auf einmal sah er die Ursache: das Haus des Direktors stand in Flammen. Der Gedanke an Nise durchfuhr ihn wie ein Blitz. Er begann aus Leibeskräften zu laufen, traf auf die Mauer, die sie seinerzeit im Spiele überklettert hatten, um zusammenzukommen, überstieg sie abermals, ohne zu wissen wie, und durchlief den Garten, in dem noch alles still war. Wirklich brannte das Haus, und das schrecklichste war, daß die Flammen von unten bis oben daran hinaufleckten wie an einem Riesenscheiterhaufen, ohne daß sich etwas im Hause rührte. Die Fenster waren geschlossen, die Tür widerstand seinem Drucke und fing obendrein auch schon zu brennen an. Bloß erstickte Schreie wie in entsetzlicher Todesangst glaubte Nanet herausdringen zu hören. Da wurden die Läden eines der Fenster im zweiten Stock aufgerissen, und Nise erschien in dem Rauch, ganz weiß, bloß mit Hemd und Unterrock bekleidet. Sie neigte sich voll Entsetzen heraus und schrie um Hilfe.

»Fürchte dich nicht, fürchte dich nicht!« schrie Nanet. »Ich komme hinauf!«

Er hatte bei einem Schuppen eine lange Leiter erblickt. Aber als er sie nehmen wollte, sah er, daß sie angekettet war. Eine Minute entsetzlicher Angst folgte. Er ergriff einen großen Stein und schlug mit aller Kraft auf das Vorhängeschloß. Die Flammen brausten im Nachtwinde, der ganze erste Stock brannte schon, und manchmal verstärkten sich der Rauch und die Funken derart, daß Nise ganz darin verschwand. Er hörte ihre verzweifelten Schreie, und er schlug darauflos und schrie seinerseits:

»Warte, warte! Ich komme!« Das Vorhängeschloß brach, und er konnte die Leiter hervorziehen. Später begriff er nicht, woher er die Kraft genommen hatte, um sie aufzustellen. Aber wie durch ein Wunder brachte er es zustande. Da sah er, daß sie zu kurz war, und einen Augenblick verließ ihn der Mut, den sechzehnjährigen Helden, der seine dreizehnjährige Freundin retten wollte um jeden Preis. Er verlor den Kopf, er wußte keinen Rat mehr.

»Warte, warte! Das macht nichts! Ich komme doch!«

Eines der Dienstmädchen, das in einem Dachzimmer wohnte, war zum Fenster herausgestiegen, und sinnlos vor Angst, klammerte sie sich einige Augenblicke lang an die Dachrinne und ließ sich dann hinabfallen. Mit zerschmettertem Schädel blieb sie tot liegen.

Nanet, den die immer verzweifelteren Schreie Nises fast zum Wahnsinn brachten, fürchtete schon, auch sie werde herabspringen. Da schrie er ihr zu:

»Spring nicht, ich komme, ich komme!«

Und er stieg die Leiter hinan bis zum ersten Stock und drang durch eines der Fenster ein, dessen Scheiben von der Hitze gesprungen waren. Inzwischen war das Feuer bemerkt worden, viele Leute waren bereits herbeigeeilt Und folgten mit Todesangst dieser tollkühnen Rettung eines Kindes durch ein anderes. Das Feuer verbreitete sich immer mehr, die Mauern krachten, die Flammen drohten schon die Leiter zu ergreifen, die leer an der Fassade lehnte, an der weder der Knabe noch das Mädchen wieder erschienen. Endlich wurde er am Fenster sichtbar, er trug sie auf den Schultern wie ein junges Lamm. Er war mitten durch die Glut ein Stockwerk hinaufgelaufen, hatte sie ergriffen und hinabgetragen, aber seine Haare waren versengt, seine Kleider brannten. Und als er mit seiner Last die Leiter mehr hinabgeglitten als hinabgestiegen war, waren beide, mit Brandwunden bedeckt und ohnmächtig geworden, in so inniger Umarmung vereinigt, daß man sie zusammen in die Crêcherie bringen mußte, wo Soeurette, die herbeigerufen worden war, ihre Pflege übernahm.

Eine halbe Stunde später stürzte das Haus zusammen, kein Stein blieb auf dem anderen. Aber das Feuer hatte sich durch den hölzernen Verbindungsgang in die Büros verbreitet und dann die nächstgelegenen Werkstätten ergriffen: schon stand die Halle der Öfen und Walzwerke in hellen Flammen. Die alten, fast ganz aus Holz bestehenden, morschen und ausgedörrten Bauten fingen Feuer wie Zunder, und das ganze Werk war von Zerstörung bedroht. Man erzählte, daß das zweite Dienstmädchen Delaveaus, das sich durch die Küche hatte retten können, zuerst die Arbeiter der Nachtschicht alarmiert hatte. Aber die Fabrik besaß keine Feuerspritze, und man mußte warten, bis die Feuerwehr der Crêcherie, eine der Einrichtungen des Gemeindehauses, unter Führung von Lucas, herbeigeeilt war, um der Konkurrentin brüderliche Hilfe zu leisten. Die Feuerwehr von Beauclair, deren Organisation sehr mangelhaft war, kam erst nachher an. Aber es war zu spät. Alle Gebäude des Werkes von einem Ende zum anderen brannten lichterloh, ein Riesenfeuerherd von mehreren Hektaren, aus dem nur die Schornsteine und der Härteturm für die Kanonen herausragten.

Als nach dieser Schreckensnacht der Tag anbrach, umstanden noch zahlreiche Gruppen die Brandstätte, aus der noch immer Flammen und Rauch zu dem fahlen, kalten Novemberhimmel emporstiegen. Die Behörden von Beauclair, der Unterpräfekt Châtelard, der Bürgermeister Gourier hatten den Platz nicht verlassen, ebenso waren der Präsident Gaume und sein Schwiegersohn, Hauptmann Jollivet, herbeigeeilt. Der Abbé Marle, der erst später benachrichtigt worden war, kam erst bei Tagesanbruch, mit ihm eine Schar Neugieriger, darunter die Ehepaare Mazelle, Laboque, Caffiaux und auch der Fleischer Dacheux. Auf allen Gesichtern malte sich Entsetzen. Die Leute sprachen mit leiser Stimme untereinander und fragten sich, wie das Unglück hatte entstehen können. Es war nur eine Zeugin da, das Dienstmädchen, das sich hatte retten können. Sie erzählte, daß die gnädige Frau kurz vor Mitternacht aus der Guerdache heimgekehrt sei. Bald darauf seien heftige Stimmen laut geworden, und dann habe plötzlich alles in Flammen gestanden. Die Erzählung ging von Mund zu Mund, die Eingeweihten errieten das furchtbare Drama, das sich abgespielt hatte. Der gnädige Herr und die gnädige Frau seien sicherlich in den Flammen umgekommen, sagte das Mädchen. Die allgemeine Aufregung verstärkte sich noch, als Boisgelin angefahren kam, todesfahl und so schwach, daß man ihm aus dem Wagen helfen mußte. Dann brach er ohnmächtig zusammen angesichts dieses rauchenden Trümmerfeldes, auf dem die Flammen sein Vermögen verzehrt und die Körper Delaveaus und Fernandes zu Asche verbrannt hatten.

Lucas leitete die Tätigkeit seiner Leute, die im Begriffe waren, die noch immer brennende Halle des großen Dampfhammers zu löschen. Jordan blieb, in seinen Pelz gewickelt, beharrlich auf dem Platze, trotz der großen Kälte. Bonnaire, der als einer der ersten herbeigeeilt war, zeichnete sich durch den Mut aus, mit dem er soviel Maschinen und Werkzeuge wie möglich dem Feuer entriß; Bourron, Fauchard und alle früheren Arbeiter der Hölle, die zur Crêcherie übergegangen waren, halfen ihm, wandten alle ihre Kräfte an das Rettungswerk, auf diesem wohlbekannten Boden, auf dem sie sich so viele Jahre gemüht hatten. Aber es war, als ob eine rasende Schicksalsmacht gegen die Werke wütete, alles wurde vertilgt, zerstört, trotz ihrer Anstrengungen. Das rächende, reinigende Feuer war wie ein Blitzschlag niedergefahren, es warf alles zu Boden, was aufrecht stand, es fegte die Trümmer der alten, stürzenden Welt von dannen, die das Feld bedeckten. Nun war es vollbracht, der Horizont war frei, so weit das Auge reichte, und die wachsende Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit konnte die siegreiche Flut ihrer Häuser bis ans Ende der weiten Ebene ergießen.

In einer Gruppe stand Lange, der Töpfer, und sagte in seiner rauhen Weise:

»Nein, ich kann mir das Verdienst nicht zuschreiben, ich habe dieses Feuerchen nicht angezündet. Aber es ist ein hübsches Feuerchen. Komisch, daß die Herren uns jetzt sogar helfen und sich selber braten!«

Und der Schauer, der alle ergriffen hatte, war so gewaltig, daß keiner ihn schweigen hieß. Die Menge ging zu der siegreichen Macht über, die offiziellen Persönlichkeiten beglückwünschten Lucas zu seiner Umsicht und Unerschrockenheit bei den Löscharbeiten, die Kaufleute und kleinen Bürger umringten die Arbeiter der Crêcherie und machten öffentlich gemeinsame Sachen mit ihnen. Lange hatte recht, es gibt Stunden, da die morschen Gesellschaftsklassen, von Wahnsinn erfaßt, sich selbst in die Flammen stürzen. Und unter dem grauen Winterhimmel blieben von den schwarzen, leiderfüllten Werkstätten der Hölle, in der die Lohnsklaven in den letzten Tagen der verwünschten und entehrten Arbeit gestöhnt hatten, nur noch einige dem Einsturz nahe Mauern und halbzerstörte Dachgerippe, über die die Schornsteine und der Härteturm einsam und nutzlos emporragten.

Als an diesem Vormittag gegen elf Uhr endlich die gelbe Scheibe der Sonne durch die Wolken drang, kam Herr Jérôme in seinem von einem Diener geschobenen Rollwagen vorüber. Er machte seine gewohnte Spazierfahrt, er hatte sich eben längs der Straße nach Combettes hinrollen lassen, an den Werkstätten und der wachsenden Arbeiterstadt der Crêcherie vorbei, die so hell und fröhlich in der Wintersonne lag. Und nun sah er das Feld der Zerstörung vor sich, die Ruinen der Hölle, die von der rächenden Macht des Feuers in Trümmer gelegt worden war. Lange sah er hin mit seinen ausdruckslosen, wasserklaren Augen. Er sprach kein Wort, er machte keine Gebärde, er sah nur hin, und nichts ließ erkennen, ob er gesehen und verstanden hatte.


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