Emile Zola
Arbeit
Emile Zola

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II

Bonnaire, der Werkmeister, einer der besten Arbeiter der Fabrik, hatte im letzten Streik eine große Rolle gespielt. Als intelligenter Kopf und Mann von starkem Rechtsgefühl, den die Unbill des Lohnsklaventums empörte, hatte er sich aus der Lektüre der Pariser Blätter, die er eifrig las, eine eigene revolutionäre Theorie gebildet. Das Ziel war vorläufig nur ein Zukunftstraum, der eines fernen Tages in Erfüllung gehen mochte. Einstweilen handelte es sich aber darum, soviel Gerechtigkeit, wie augenblicklich erreichbar war, zu erkämpfen, damit die Genossen so wenig wie möglich litten.

Seit einiger Zeit war der Streik unvermeidlich geworden. Drei Jahre vorher waren die Werke unter Michel Qurignon, des Sohnes Monsieur Jérômes, bis an den Rand des Ruins geraten. Da hatte der Schwiegersohn Michels, Boisgelin, ein eleganter Pariser Lebemann, der dessen Tochter Suzanne geheiratet hatte, sich entschlossen, mit den stark geschmolzenen Resten seines Vermögens die Werke zu kaufen, und zwar auf den Rat eines armen Vetters, Delaveau, der die Garantie übernommen hatte, daß die Werke ein dreißigprozentiges Erträgnis des investierten Kapitales abwerfen würden. Und seit drei Jahren machte Delaveau, ein tüchtiger Ingenieur und rastloser Arbeiter, seine Versprechungen wahr, leitete das Unternehmen mit starker und energischer Hand, machte seinen Willen bis in die letzten Einzelheiten geltend und hielt alle Untergebenen in eiserner Disziplin. Eine der Ursachen des Unterganges Michel Qurignons war eine schwere Krise, die über die Metallindustrie der Gegend hereingebrochen war, als die Schienen- und Trägererzeugung anfing unrentabel zu werden, und zwar infolge der Entdeckung eines neuen chemischen Verfahrens, das die Ausbeutung von Erzlagern im Norden und Osten mit ungemein geringen Kosten ermöglichte. Die Stahlwerke von Beauclair konnten den gedrückten Marktpreisen nicht mehr folgen, und der Ruin war unabwendbar. Aber die geniale Idee Delaveaus bestand darin, die Fabrikation von Schienen und Trägern, die der Norden und Osten zu zwanzig Centimes das Kilo lieferte, ganz aufzugeben und sich auf die Herstellung von Dingen zu werfen, die eine sorgfältige Ausführung erfordern, von Kanonen und Geschossen zum Beispiel, für die zwei bis drei Frank für das Kilo erzielt werden. Damit war das Gedeihen der Werke wieder gesichert, und das Geld, das Boisgelin hineingesteckt hatte, lieferte reichen Ertrag. Die Umwandlung erforderte jedoch natürlicherweise eine neue maschinelle Einrichtung und geschicktere, sorgfältigere Arbeiter, die besser bezahlt werden mußten.

Die ursprüngliche Veranlassung des Streiks lag in dieser Lohnerhöhung. Die Arbeiter wurden für je hundert Kilo bezahlt, und Delaveau gestand selbst die Notwendigkeit neuer Lohnsätze, zu. Aber er wollte unbedingter Herr der Situation bleiben und besonders jeden Schein vermeiden, als gehorche er den Geboten seiner Arbeiter. Von jeher nur im Vorstellungskreis seiner Berufsinteressen lebend, eine befehlshaberische Natur, starr an seinen Rechten festhaltend, wenn auch bemüht, billig und gerecht zu sein, hielt er besonders den Sozialismus für eine zersetzende Phantasterei und erklärte, daß solche Unmöglichkeiten zu furchtbaren Katastrophen führen müßten. Und der Zwiespalt zwischen ihm und der kleinen Welt von Arbeitern, über die er herrschte, hatte sich verschärft an dem Tage, da es Bonnaire gelungen war, eine Gewerkschaft ins Leben zu rufen. Denn wenn Delaveau die Hilfs- und Pensionskassen, sowie die Arbeiterkonsumvereine zugestand, indem er anerkannte, daß es dem Arbeiter nicht verwehrt werden könne, seine Lage zu erleichtern, so war er ein heftiger Gegner der Gewerkschaften, der Interessenvereinigungen, in denen sich die gemeinsame Kraft organisiert. Von da ab trat der Kampfzustand ein, Delaveau zeigte keinerlei guten Willen bei der neuen Festsetzung der Lohnsätze, er glaubte sich ebenfalls bewaffnen, den Werken gewissermaßen den Belagerungszustand erklären zu müssen. Seitdem er seine rauhe Seite hervorkehrte, beklagten sich die Arbeiter, daß sie keine persönliche Freiheit mehr hätten. Sie wurden genau überwacht in ihren Handlungen, in ihren Gedanken, selbst außerhalb der Werke. Die, die sich unterwürfig und schmeichlerisch zeigten, vielleicht auch spionierten, genossen die Gunst der Direktion, während die Stolzen und Unabhängigen als gefährliche Menschen behandelt wurden. Und da der Chef, als Konservativer und instinktiver Verteidiger des Bestehenden, offenkundig nur Leute haben wollte, die ihm ergeben waren, so taten alle seine nächsten Untergebenen, die Ingenieure, die Werkmeister, die Aufseher noch ein übriges und forderten mit unerbittlicher Strenge Gehorsam und das, was sie gute Gesinnung nannten.

Bonnaire, in seinem Freiheits- und Gerechtigkeitsgefühl verletzt, stand natürlich an der Spitze der Unzufriedenen. Er begab sich eines Tages mit einigen Kameraden zu Delaveau, um ihre Beschwerden vorzubringen. Er sprach sehr freimütig, was aber nur zur Folge hatte, daß der Chef aufgebracht wurde und sich in der Frage der Lohnerhöhung ungefügiger als je erwies. Er glaubte nicht an die Möglichkeit eines allgemeinen Streiks seiner Leute, denn die Metallarbeiter sind schwer erregbar, und seit Jahren hatte es in der Hölle keinen Streik gegeben, während die Minenarbeiter in den Kohlengruben von Brias alle Augenblicke in den Ausstand traten. Und als dieser allgemeine Streik, entgegen seiner Annahme, dennoch ausbrach, als eines Morgens kaum zweihundert Arbeiter von tausend antraten und er den Betrieb einstellen mußte, da versetzte ihn dies in einen solchen Zorn, daß er ganz starrsinnig und unnachgiebig wurde. Er begann damit, daß er die Delegierten der Gewerkschaft mitsamt Bonnaire vor die Tür setzte, als sie zu Unterhandlungen zu ihm kamen. Er sei Herr in seinem Hause, der Zwiespalt bestehe zwischen ihm und seinen Arbeitern, und er habe es nur mit seinen Arbeitern zu tun. Bonnaire kehrte also, bloß von drei Kameraden begleitet, wieder um. Aber sie erreichten von ihm nur Berechnungen, die darauf hinausliefen, daß er das Gedeihen der Werke in Frage stellen würde, wenn er die Löhne erhöhte. Man habe ihm Kapitalien anvertraut, man habe ihm die Leitung eines Werkes übertragen, und seine Pflicht sei es, dafür zu sorgen, daß die Werke gewinnbringend blieben, daß die Kapitalien den versprochenen Ertrag abwürfen. Sicherlich verschloß er sich der Menschlichkeit nicht, aber er glaubte vollkommen ehrenhaft zu handeln, wenn er die Verpflichtungen erfüllte, die er auf sich genommen hatte, und aus den Werken, die er leitete, soviel Gewinn wie möglich zog. Alles andere war nur Träumerei, sinnloser Optimismus, gefährliche Spielerei. Und so war es gekommen, daß nach mehreren ähnlichen Unterredungen, wobei jede Partei ihren Standpunkt immer schroffer hervorkehrte, der Streik volle zwei Monate gedauert hatte, verderblich für die Arbeiter, deren Elend dadurch bis zur Unerträglichkeit gesteigert wurde, und verderblich für das Werk, dessen ganzer Mechanismus feierte und in seiner Brauchbarkeit Schaden litt. Endlich hatte man sich gegenseitig Zugeständnisse gemacht und sich auf neue Lohnsätze geeinigt. Aber noch eine Woche lang hatte sich Delaveau geweigert, einzelne Arbeiter wieder aufzunehmen, und zwar die, die er die Rädelsführer nannte und unter denen sich Bonnaire befand. Und als er endlich nachgab und ihn gleich den anderen wieder aufnahm, erklärte er, daß er nur dem Zwang weiche, daß er etwas tue, was ihm gegen die Natur gehe, bloß um Frieden zu haben.

Als Bonnaire dies hörte, hielt er sein Urteil für gesprochen. Zuerst wollte er sich nicht in dieser Weise begnadigen lassen und weigerte sich, seinen Posten wieder einzunehmen. Aber als die anderen Arbeiter, die ihn sehr liebten, erklärten, daß sie ohne ihn nicht antreten würden, hatte er in schöner Selbstüberwindung nachgegeben, um nicht Schuld an einem neuen Bruche zu tragen. Die Genossen hatten genug gelitten, sein Entschluß war gefaßt, er wollte das einzige Opfer sein, ohne daß ein anderer die Kosten des errungenen halben Sieges zu tragen habe. Und so hatte er denn am Donnerstag zugleich mit den anderen die Arbeit aufgenommen, aber mit dem stillen Entschlüsse, am Sonntag auszutreten, da er überzeugt war, daß seines Bleibens nicht länger sei. Er vertraute sich niemand an, sondern verständigte einfach am Samstagmorgen die Direktion, daß er am Abend austrete. Und wenn er diese Nacht noch in der Hölle arbeitete, so geschah es lediglich, weil er eine begonnene Arbeit zu vollenden hatte. Er wollte als gewissenhafter, ehrlicher Arbeiter abtreten.

Lucas nannte dem Torwächter seinen Namen und fragte, ob er unverzüglich mit Bonnaire sprechen könne, worauf der Torwächter ihm ohne weiteres die Halle im zweiten Hof links bezeichnete, wo sich die Öfen und die Walzwerke befanden. Die schlecht gepflasterten Höfe glichen infolge der Regenfälle in den letzten Tagen einem Sumpfe. Unter dem blassen Licht der Bogenlampen fuhr eine kleine Lokomotive langsam vorwärts und rückwärts, indem sie von Zeit zu Zeit einen scharfen Warnungspfiff ausstieß, damit ihr niemand unter die Räder gerate. Was den Besuchern der Werke zuerst und am stärksten zum Bewußtsein kam, war der betäubende Doppelschlag der beiden Schnellhämmer, die in einer Art Keller untergebracht waren, deren Köpfe in rasendem Tempo auf das glühende Eisen niederschlugen und es mit ihren stählernen Stirnen in wenigen Sekunden flachdrückten, ausdehnten und zu Stangen streckten. Die Arbeiter, die hier beschäftigt waren, die Strecker, waren stille, schweigsame Leute, die sich inmitten dieses unaufhörlichen, entsetzlichen Getöses nur durch Zeichen verständigten. Nachdem Lucas ein niedriges Gebäude passiert hatte, in dem zwei andere Hämmer wüteten, erreichte er den zweiten Hof, auf dessen durchwühltem Boden Haufen von Abfall darauf warteten, wieder eingeschmolzen zu werden. Einige Männer verluden gerade ein mächtiges Gußstück, eine Schraubenwelle für ein Torpedoboot, auf einen Eisenbahnwagen, den die kleine Lokomotive fortführen sollte. Diese kam eben mit lautem Pfiff heran und zwang ihn auszuweichen. Er folgte einem schmalen Gang und erreichte endlich die große Halle und die Walzwerke.

Diese Halle, eine der größten des Werkes, war tagsüber erfüllt von dem furchtbaren Getöse der Walzwerke. Aber jetzt, in der Nacht, standen diese still, und mehr als die Hälfte des gewaltigen Raumes lag in tiefer Finsternis. Von den zehn Öfen waren nur vier in Tätigkeit, die von zwei Quetschhämmern bedient wurden. Da und dort flackerte eine schwache Gasflamme im Luftzug, von den dicken Massen der Dunkelheit umlagert, die die Halle erfüllte und in der man kaum die schweren, rauchgeschwärzten Träger unterscheiden konnte, die das Dachgebälke bildeten. Wasserrauschen drang aus der Finsternis hervor, der gestampfte Boden, buckelig und durchfurcht, bildete hier eine übelriechende Lache, dort einen Haufen von Kohlenasche und Abfällen. Überall der Schmutz der vernachlässigten, aller Fröhlichkeit beraubten, der verwünschten, zum Fluch gewordenen Arbeit! In ungehobelte Bretter, die eine Art von Verschlag bildeten, waren Nägel eingeschlagen, an denen die Straßenkleider der Arbeiter, blaue Leinenhosen und Lederschürzen hingen. Und dieser finstere, trübselige Ort erhellte sich nur dann mit einem grellen Schein, wenn ein Meister die Tür seines Ofens öffnete, aus dem dann eine blendende Lichtgarbe emporschoß, die die Finsternis der Halle durchdrang wie die Strahlen eines Gestirns.

Als Lucas eintrat, war Bonnaire im Begriff, die zweihundert Kilogramm Roheisen, die hier in Stahl verwandelt wurden, zum letztenmal umzurühren. Die ganze Prozedur nahm vier Stunden in Anspruch, und die schwerste Arbeit war dieses Umrühren, nach den ersten Stunden ruhigen Zusehens. Mit beiden Händen eine fünfzig Pfund schwere Stange haltend, wendete der Meister, in der brennendheißen Ausstrahlung stehend, zwanzig Minuten lang das glühende Metall auf der Sohle des Ofens herum. Mit dem flachen Ende der Stange fuhr er am Boden des Herdes hin, drehte und knetete die riesige, einem Sonnenball gleichende Kugel, in die nur er mit seinen glutgewohnten Augen blicken konnte, um an ihrer Farbe zu erkennen, wieweit die Arbeit fortgeschritten war. Und als er die schwere Stange zurückzog, war ihr flaches unteres Ende rotglühend, von Funken umsprüht.

Mit einer Gebärde bedeutete Bonnaire seinem Heizer, das Feuer zu verstärken, während der andere Arbeiter eine Stange ergriff, um noch eine Umrührung vorzunehmen.

»Sie sind wohl Herr Bonnaire?« fragte Lucas, der sich genähert hatte.

Erstaunt über den Besuch zu dieser Stunde, antwortete der Arbeiter mit einem Kopfnicken. Bloß mit Hemd und blauer Leinenhose bekleidet, bot er einen schönen Anblick mit seinem weißen Halse und rosigen Gesicht, in der sieghaften Anstrengung der Arbeit. Er war ein Mann von kaum fünfunddreißig Jahren, ein blonder Riese mit kurzgeschnittenen Haaren, mit breitem, kräftigen Gesicht, das einen gelassenen Ausdruck trug. Sein großer fester Mund, seine ruhig blickenden Augen verrieten eine gerade und gutherzige Natur.

»Ich weiß nicht, ob Sie mich erkennen«, fuhr Lucas fort. »Ich habe Sie letzten Sommer kennengelernt und habe damals längere Zeit mit Ihnen gesprochen.«

»Richtig«, sagte nach kurzem Besinnen der Arbeiter. »Sie sind ein Freund von Herrn Jordan.«

Aber als der junge Mann nun, ein wenig verlegen, auf den Anlaß seines Besuches überging und ihm von seiner Begegnung mit der unglücklichen Josine erzählte, verfiel der Arbeiter wieder in Schweigen. Auch er war verlegen, und beide Männer blieben eine Weile stumm, während der Hammer, der die beiden Rücken an Rücken stehenden Öfen bediente, seine betäubenden Schläge ertönen ließ. Als der Werkmeister sich wieder verständlich machen konnte, sagte er einfach:

»Gut, ich werde tun, was ich kann. Sobald ich fertig bin, in dreiviertel Stunden, gehe ich mit Ihnen.«

Obgleich es schon nahe an elf Uhr war, entschloß sich Lucas zu warten, und er wandte seine Aufmerksamkeit zunächst der Schere zu, die in einem dunkeln Winkel die aus den Öfen kommenden Stahlbarren in Stücke schnitt, mit einer leichten Ruhe, als ob sie Butter schnitte. Bei jedem Niedergehen der Scherenbacke fiel ein Stück herab, die Stücke häuften sich rasch und wurden in Schubkarren in die Füllkammer geführt, wo sie zu je dreißig Kilogramm in Blechkästen gefüllt wurden, um dann in die Halle der Tiegelgußöfen transportiert zu werden. Durch den rosigen Schein angezogen, der aus dieser Halle drang, trat Lucas dort ein.

Es war ein weiter und hoher Raum, ebenso schwarz, schmutzig und vernachlässigt wie die Halle der Öfen, die er eben verlassen hatte. Auf dem unebenen Boden öffneten sich, von Asche und anderen Abfällen umgeben, sechs Ofenbatterien, jede mit drei Abteilungen. Diese schmalen und langen glühenden Gruben, deren massige Fundamente durch das ganze Untergeschoß hinabreichten, wurden durch ein Gemisch von Gas und Luft erhitzt, dessen Temperatur der Gießmeister mit Hilfe eines Ventils regulierte. Auf den Zentralherd, auf den unterirdischen, unaufhörlich tätigen Glutvulkan mündeten also sechs Spalten, die den gestampften Boden der finsteren Halle durchschnitten. Lange Deckel, aus Ziegeln bestehend, die in einem Eisenrahmen festgehalten wurden, bedeckten die Öfen. Aber diese Deckel berührten sie nicht, und aus den Spalten drang ein intensives rosiges Licht hervor.

Lucas kam gerade dazu, wie ein Ofen gefüllt wurde. Die Arbeiter ließen die Tiegel aus feuerfestem Ton, die vorher glühend gemacht worden waren, hinab, und schütteten dann mit Hilfe eines Trichters die mit Stahlstücken gefüllten Blechkästen hinein: dreißig Kilogramm für jeden Tiegel. In drei oder vier Stunden war der Schmelzprozeß vollendet. Dann kam die mörderische Arbeit: das Herausheben und Ausleeren der Tiegel, das Ausziehen und Gießen. Und als Lucas sich einem anderen Ofen näherte, wo die Gehilfen mit Hilfe langer Stangen sich eben überzeugten, daß der Guß gar sei, erkannte er in dem Auszieher, der die Tiegel herausheben sollte, Fauchard. Bleich, ausgedörrt, mit hagerem, vertrockneten Gesicht, hatte Fauchard Riesenkraft in den Armen und Beinen behalten. Die furchtbare Arbeit, die er seit vierzehn Jahren verrichtete, hatte nicht nur seinen Körper verzerrt und verbogen, sondern noch mehr seinen Geist beeinträchtigt: jede Eigenart in ihm war vernichtet, er war zur Maschine herabgesunken, die gedankenlos, mit stets wiederholten Bewegungen ihre Arbeit verrichtete, zum seelenlosen Element, das mit dem anderen Element, dem Feuer, im unablässigen Kampfe lag. Zu allen körperlichen Schäden, den hinaufgezogenen Schultern, den von der Glut verbrannten und geschwächten Augen, war er sich auch seiner geistigen Verkümmerung bewußt. Denn mit sechzehn Jahren in den Rachen des Ungeheuers gefallen, nach einer höchst unvollkommenen und plötzlich unterbrochenen Erziehung, erinnerte er sich immer noch, daß er einmal Intelligenz besessen, eine Intelligenz, die heute dem Erlöschen nahe war, vernichtet von der mörderischen, zersetzenden Arbeit, ertötet von der unbarmherzigen Tretmühle, in der er gleich einem blinden Tiere arbeitete. Er hatte nur noch ein Bedürfnis, nur noch eine Freude: trinken, seine vier Liter Wein trinken an jedem Tag oder in jeder Nacht, die er arbeitete, trinken, damit der Ofen ihm nicht seine ausgedorrte Haut wie Zunder verbrenne, trinken, um nicht zu Staub zu zerfallen, trinken, um sich ein letztes Glücksgefühl zu schaffen und sein Dasein in dem stumpfen Behagen eines unaufhörlichen Rausches zu verleben.

Diese Nacht hatte Fauchard sehr gefürchtet, aber gegen acht Uhr war ihm die freudige Überraschung geworden, daß ihm Natalie, seine Frau, die vier Liter brachte, die sie von Caffiaux auf Kredit genommen und auf die er schon nicht mehr gerechnet hatte. Sie entschuldigte sich, daß sie ihm nicht einen Bissen Fleisch geben könne, da Dacheux unerbittlich geblieben sei. Niedergedrückt und mutlos in ihrem schweren Schicksal, klagte sie, daß sie morgen nichts zu essen haben würden. Er aber war wieder ganz froh, da er seinen Wein hatte, und sagte ihr, sie möge nur ruhig nach Hause gehen, er werde wie die anderen einen Vorschuß an der Kasse verlangen. Ein Bissen Brot genügte ihm. Wenn er nur zu trinken hatte, war er wieder voll Zuversicht. Als die Zeit des Ausziehens da war, leerte er noch einen halben Liter auf einen Zug, tauchte hierauf seine große Leinenschürze in den gemeinsamen Wasserbottich und nahm die Schürze, die ihn ganz einhüllte, wieder vor. Die Füße in großen Holzschuhen, die Hände von nassen Handschuhen bedeckt, mit einem langen eisernen Haken bewaffnet, stellte er sich dann mit gespreizten Beinen über den Ofen, von dem man den Deckel entfernt hatte. Aus dem geöffneten Vulkan lohte eine entsetzliche Glut zu ihm empor, und seine ganze Gestalt erschien flammend rot wie eine lebende Fackel. Seine Holzschuhe dampften, seine Schürze und seine Handschuhe dampften, sein ganzer Körper schien zu schmelzen. Ohne jede Hast suchte er mit seinen flammengewohnten Augen auf dem Boden der gluterfüllten Grube den Tiegel, beugte sich ein wenig vor, um ihn mit dem langen Haken zu fassen, straffte dann plötzlich seinen Körper, und mit drei geschmeidigen, rhythmischen Bewegungen, wobei eine Hand erst an der Eisenstange hinabglitt und die andere ihr folgte, zog er den Tiegel empor, hob mit ruhiger Leichtigkeit Tiegel, Guß und Haken und setzte den Tiegel zu Boden, der gleich einem Stück Sonne ein blendend weißes Licht ausstrahlte, das sofort in Rosa überging. Dann folgte wieder das Beugen, Fassen, Ziehen, Heben, und so förderte er einen Tiegel nach dem anderen herauf, von immer wachsender Glut umgeben, inmitten dieser grelleuchtenden Gefäße, gelassen, ohne sich je zu verbrennen, ohne scheinbar ihre unerträgliche Lichtausstrahlung zu fühlen.

Es sollten kleine Geschosse von je sechzig Kilogramm gegossen werden. Die flaschenartigen Formen standen in zwei Reihen bereit. Nachdem die Gehilfen die Schlacke abgeschöpft hatten, faßte der Gießmeister rasch mit den runden Backen seiner großen Zange die Tiegel und goß immer zwei in eine Form: das Metall floß in weißglühendem, ganz leicht rosig angehauchten Strahle, unter einem Regen feiner, herrlich blauer Funken heraus. Es war, als ob der Meister leuchtenden, goldfunkelnden Likör von einem Gefäß ins andere gegossen hätte. Die ganze Prozedur vollzog sich geräuschlos, mit leichten, sicheren Bewegungen, in einfacher Schönheit, während die weite Halle unter dem Glutschein des geschmolzenen Metalls in blendender Helle erstrahlte.

Lucas, der an derlei nicht gewohnt war, meinte zu ersticken und konnte es nicht länger aushalten. Auf vier oder fünf Meter Entfernung von den Öfen versengte ihm die Hitze das Gesicht, Schweiß brach aus allen Poren seines Körpers. Die Geschosse interessierten ihn jedoch sehr. Er sah zu, wie sie sich abkühlten und fragte sich, wo die Menschen seien, die sie vielleicht eines Tages töten würden. Dann trat er in den nächsten Raum, die Halle der Dampfschmiedehämmer und der Schmiedepresse, die um diese Stunde ruhten. In der Halbdunkelheit ragten die drohenden Formen der Presse empor, die einen Druck von zweitausend Tonnen ausüben konnte, standen die schwarzen, massigen Hämmer verschiedener Größe wie phantastische Götzengebilde in finsterer Unbeweglichkeit. Hier fand er die Geschosse wieder, andere Geschosse, die eben an diesem Tage, nachdem sie aus den Gießformen herausgenommen und von neuem erhitzt wurden, unter dem kleinsten der Hämmer geschmiedet worden waren.

Um alles zu sehen, durchschritt Lucas auch diese Halle, die größte von allen, in der die großen Stücke gegossen wurden. Der Martin-Ofen gestattet das Gießen des geschmolzenen Stahles in gewaltigen Quantitäten auf einmal. Acht Meter hoch über dem Boden rollten elektrisch bewegte Brücken, die die viele Tonnen wiegenden Riesenstücke mit Leichtigkeit nach allen Punkten hin bewegten. Dann betrat Lucas die Dreherei, einen riesigen geschlossenen Schuppen, der etwas besser gehalten war als die anderen Werkstätten und in dem in zwei Reihen wunderbare Werkzeugmaschinen von unvergleichlicher Feinheit und Kraft nebeneinanderstanden. Da waren Hobelmaschinen für Schiffspanzerplatten, die das Metall hobelten, wie ein Tischler ein Brett hobelt. Und da waren vor allem Drehbänke mit kompliziertem und feinem Mechanismus, zierlich und glänzend wie Schmuckstücke, unterhaltend wie ein Spielzeug. Jetzt zur Nachtzeit waren nur einige in Tätigkeit, jede von einer einzelnen Glühlampe beleuchtet. Sie drehten sich mit leichtem Geräusch, mit einem sanften Surren. Auch hier fand er Geschosse wieder, Ein Geschoß war, nachdem die Gußnähte entfernt worden waren, in die Drehbank eingespannt, um zunächst außen kalibriert zu werden. Es drehte sich mit fabelhafter Schnelligkeit, und die dünnen, gerollten Stahlspäne flogen unter dem unbeweglichen Messer hervor wie Silberfedern. Nachher mußte es noch in der Mitte ausgebohrt und schließlich gehärtet werden, um fertig zu sein. Wo waren die Menschen, die es töten sollte, wenn es erst seine furchtbare Ladung erhalten hatte? Aus dieser gewaltigen menschlichen Tätigkeit, aus der Riesenarbeit, die das gezähmte, dienstbar gemachte Feuer leistete, um das Reich des Menschen, des Bezwingers der Naturkräfte, zu befestigen, sah Lucas die Vision des Massenmordes sich erheben, die blutige Raserei des Schlachtfeldes. Er schritt weiter und kam vor eine große Drehbank, in die ein Kanonenrohr gespannt war. Es war bereits außen kalibriert und glänzte wie frischgemünztes Silber.

Lucas öffnete eine Tür, die ins Freie führte, und atmete tief auf in der warmen, feuchten Nachtluft, bot seine heiße Stirn erquickt dem wehenden Winde. Er erhob die Augen und sah keinen einzigen Stern unter der eiligen Flucht der dunkeln Wolken. Aber die weit abstehenden Bogenlampen der Höfe ersetzten den verhängten Mond, und er unterschied wieder die qualmenden Schornsteine, den rußgeschwärzten Himmel, der nach allen Richtungen von den elektrischen Leitungsdrähten durchschnitten war. Die elektrischen Kraftmaschinen, zwei schöne Dynamos, sausten gleich neben ihm in einem neuen Gebäude. Dann war da noch eine Ziegelei zur Erzeugung der Ziegel und der feuerfesten Tiegel, eine Tischlerei für die Modelle und die Kisten, zahllose Magazine für die fertigen Stücke. Lucas verlor sich in dieser kleinen Stadt, glücklich, darin einsame Orte, dunkle und friedliche Winkel zu finden, in denen er sich sammeln und erholen konnte. Mit einem Male sah er sich wieder vor der Halle der Tiegelgußöfen, und er betrat die Hölle aufs neue.

Nach mehr als halbstündiger Wanderung durch die Werke kehrte Lucas endlich in die Halle der Öfen und Walzwerke zurück, wo Bonnaire gerade im Begriffe war, seine Arbeit zu vollenden.

»Ich bin gleich fertig«, sagte der Werkmeister.

Seit zwanzig Minuten stand er vor dem verzehrenden Schlund. Er blickte fest auf die flammende Stahlkugel, die er auf dem Grunde des Glutherdes mit sicheren Bewegungen herumrollte, er schien größer geworden, ein Former von Gestirnen, ein Schöpfer von Welten. Jetzt war er fertig, und die funkensprühende Stange zurückziehend, überließ er die letzte fünfzig Kilo schwere Masse seinem Gehilfen.

Der Heizer wartete bereits mit dem kleinen eisernen Schiebkarren. Mit seiner Zange faßte der Gehilfe die Masse, eine Art glühenden Schwammes, zog sie mit Anstrengung heraus und warf sie in den Karren, den der Heizer rasch zum Quetschhammer hinrollte. Dort faßte wieder ein Schmiedearbeiter das glühende Stück und hob es auf den Amboß des Hammers, der im selben Augenblicke mit einem heftigen Ruck auf und ab zu tanzen begann. Es war ohrenbetäubend und augenblendend. Der Boden erzitterte, wie Glocken dröhnte es durch die Luft, während der Schmied, mit Lederschürze und Lederhandschuhen bekleidet, in einem dichten Funkenregen verschwand. Das Sprühen war in manchen Augenblicken so heftig, daß es nach allen Seiten hin knatterte wie Maschinengewehrfeuer. Unbeweglich inmitten dieses wütenden Aufruhrs wandte der Arbeiter die Masse hin und her, brachte alle ihre Seiten unter den Hammer, um daraus den Stahlbarren zu formen, der dann dem Walzwerke überantwortet werden sollte. Und der Hammer gehorchte ihm, schlug dahin und dorthin, verlangsamte oder beschleunigte seinen Schlag, ohne daß man etwas von den Zeichen hätte bemerken können, die er dem Hammerführer gab, der hoch oben auf seinem Sitz den Steuerhebel handhabte. Lucas, der sich genähert hatte, während Bonnaire die Kleider wechselte, erkannte in dem Hammerführer Fortune, den jungen Schwager Fauchards, der hoch in der Luft unbeweglich saß und nur durch eine kleine mechanische Handbewegung das Getöse entfesselte. Den Hebel nach rechts, damit der Hammer falle, den Hebel nach links, damit er sich hebe, und das war alles, das Geistesleben des Knaben drehte sich in diesem engen Bezirke. Einen Augenblick konnte man ihn beim Aufsprühen der Funken sehen, klein und schwächlich, mit seinem blassen Gesichte, seinen farblosen Haaren, seinen stumpfen Augen, ein armes Geschöpf, dessen körperliches und geistiges Wachstum von der tierischen Arbeit ohne Freude unterbunden worden war.

»Bitte, ich bin bereit«, sagte Bonnaire, als der Hammer endlich schwieg.

Lucas wandte sich rasch und sah den Werkmeister in Joppe und Beinkleid aus grober Wolle vor sich, ein kleines Paket unterm Arm, das seine Arbeitskleider und sonstigen kleinen Besitztümer enthielt, denn er verließ die Werke dieses Mal, um nicht wiederzukehren.

»Gewiß, gewiß, gehen wir.«

Aber Bonnaire blieb noch. Als ob er fürchtete, etwas vergessen zu haben, warf er einen letzten Blick auf den Bretterverschlag, der als Garderobe diente. Dann ruhte sein Auge auf dem Ofen, den er seit zehn Jahren bedient, von dessen Flamme er gelebt, in dessen glühendem Schöße er in Tausenden von Kilogrammen den Stahl bezwungen hatte, um ihn dann den Walzwerken zu überliefern. Wenn er auch aus freien Stücken ging, weil er dies als seine Pflicht gegen sich selbst und seine Kameraden erachtete, so kostete ihn das Losreißen doch schwere Überwindung. Er drängte die Bewegung zurück, die ihm die Kehle zuschnürte, und ging voran.

»Nehmen Sie sich in acht, dieses Stück ist noch heiß, es würde Ihnen den Stiefel verbrennen.«

Kein weiteres Wort wurde gewechselt. Sie durchschritten die halbdunkeln, vom blassen Licht der fernen Bogenlampen schwach erhellten Höfe, gingen an den niedrigen Schuppen vorbei, in denen die Schnellhämmer wüteten. Sobald sie das Tor der Hölle hinter sich hatten, umfing die schwarze Nacht sie wieder, und die Glut und das Toben des Ungeheuers versanken hinter ihnen. Noch immer blies der Wind und jagte am Himmel die schwarzen, zerrissenen Wolkenmassen vor sich her. Das andere Ufer der Mionne jenseits der Brücke war verödet, kein lebendes Wesen war zu sehen.

Als Lucas auf der Bank, auf der er sie verlassen hatte, Josine wiederfand, unbeweglich, mit weitgeöffneten Augen in die Dunkelheit starrend, den Kopf des schlafenden Nanet an ihre schmale Hüfte gedrückt, da wollte er sich entfernen, denn er hielt seine Aufgabe für beendet, da Bonnaire es nun übernehmen wollte, dem armen Geschöpfe ein Obdach zu verschaffen. Aber Bonnaire schien mit einemmal ziemlich verlegen, er fürchtete offenbar die Szene, die ihn zu Hause erwartete, wenn seine Frau ihn mit »dieser Dirne« heimkehren sah. Zu allem Überfluß hatte er ihr auch von seinem Entschlusse, die Hölle zu verlassen, noch nichts gesagt, und er sah einen heftigen Zank voraus, wenn sie hörte, daß er ohne Arbeit, aus eigenem Willen aufs Pflaster gesetzt war.

»Soll ich Sie begleiten?« fragte Lucas. »Ich könnte dann erzählen, wie alles kam.«

»O ja, das wäre mir sehr erwünscht«, sagte Bonnaire sichtlich erleichtert.

Zwischen ihm und Josine war kein Wort gewechselt worden. Diese schien sich vor dem Werkmeister zu schämen. Und wenn er auch in seiner Gutherzigkeit eine Art väterliches Mitleid für sie empfand, obendrein auch wußte, was sie von Ragu zu erdulden hatte, so nahm er ihr es doch übel, daß sie sich diesem schlechten Kerl hingegeben hatte. Als sie die Männer kommen sah, hatte sie Nanet sanft aufgerüttelt. Dann erhoben sich beide unter einem aufmunternden Wort von Lucas und folgten den Männern. Alle vier wandten sich nach rechts und gelangten, am Eisenbahndamm entlang, nach Alt-Beauclair. Es war ein Gewirr enger, krummer Gassen, ohne Licht und ohne Luft, erfüllt von dem widerwärtigen Gestank der Gosse, die nur durch Regengüsse gereinigt wurde. Es schien unbegreiflich, daß die armselige Bevölkerung hier in solcher Weise zusammengedrängt war, während dicht vor ihnen die Roumagne ihre unermeßliche Ebene dehnte, über die die freien Winde des Himmels hinfuhren wie über ein Meer. Es bedurfte des erbarmungslosen Kampfes um Geld und Eigentum, um Menschen einen so kärglichen Teil der Erde zuzumessen, um ihnen nicht einmal den zum Leben notwendigen Bodenraum zu gönnen. Spekulanten hatten den Grund und Boden aufgekauft, und ein oder zwei Jahrhunderte des Elends hatten schließlich zu dieser Kloake von Wohnungen zu billigem Preis geführt, aus denen trotzdem häufig Leute auf die Straße gesetzt wurden. Wahllos und unsymmetrisch waren die engen Häuser hingestellt, feuchte Baracken, Brutstätten für Ungeziefer und Epidemien.

Bonnaire, der vorausging, bog in ein Gäßchen ein, dann in ein anderes und erreichte endlich die Rue des Trois-Lunes. Es war eine der engsten Gassen, ohne Fußsteige, mit Kieseln aus dem Bette der Mionne gepflastert. Das schwarze, rissige Haus, dessen ersten Stock er bewohnte, hatte sich eines Tages so stark gesenkt, daß es mit vier starken Balken gestützt werden mußte. Ragu bewohnte mit Josine die zwei Zimmer im zweiten Stock, deren Dielen von diesen vier Balken vor dem Einsinken bewahrt wurden. Die Treppe ging, steil wie eine Leiter, direkt vom Haustor, ohne Vorplatz, in die Höhe.

»Bitte«, sagte Bonnaire zu Lucas, »haben Sie die Freundlichkeit, mit mir hinaufzukommen.«

Wieder war ihm eine Verlegenheit anzumerken. Und Josine begriff, daß er es aus Furcht vor irgendeiner Beschimpfung nicht wagte, sie mit in seine Wohnung zu nehmen, obgleich es ihm peinlich war, sie mit dem Kinde abermals auf der Straße zu lassen. Sie sagte mit ihrer resignierten Sanftmut:

»Wir beide brauchen nicht mitzukommen. Wir werden oben auf der Treppe warten.«

Bonnaire stimmte rasch zu.

»So ist's recht, wartet ein wenig, setzt euch auf die Treppe, und wenn ich den Schlüssel habe, bringe ich ihn euch hinauf, und ihr könnt schlafen gehen.«

Josine und Nanet verschwanden in der dichten Finsternis der Treppe. Man hörte kein Lebenszeichen mehr von ihnen, sie hatten sich oben verborgen. Dann schritt Bonnaire als Führer voran.

»So, da wären wir. Gehen Sie keinen Schritt weiter. Die Stufen sind nicht sehr breit, und wenn einer fiele, so wär's ein böser Sturz.«

Er öffnete die Tür und ließ Lucas höflich als ersten in ein ziemlich großes Zimmer eintreten, das vom gelben Licht einer Petroleumlampe erhellt war. Trotz der späten Stunde saß Bonnaires Frau noch bei dieser Lampe und besserte Wäsche aus, während ihr Vater, der alte Ragu, in einem dunkeln Winkel eingeschlummert war. In einem Bett an der Wand schliefen die zwei Kinder des Ehepaares, Lucien und Antoinette, sechs und vier Jahre alt, beide schön und sehr kräftig für ihr Alter. Die Wohnung enthielt neben diesem gemeinschaftlichen Zimmer, in dem gekocht und gegessen wurde, nur noch zwei Räume, das Schlafzimmer des alten Ragu und das des Ehepaares.

Aufs höchste erstaunt, ihren Mann um diese Stunde heimkehren zu sehen, blickte sie von der Arbeit auf.

»Wie, du bist's?«

Er wollte noch nicht den großen Streit beginnen und ihr sagen, daß er die Werke ganz verlassen habe, sondern zunächst die Angelegenheit Josinens austragen. Er antwortete also ausweichend:

»Ja, ich bin fertig geworden und nach Hause gegangen.«

Und ohne ihr Zeit zu einer weiteren Frage zu lassen, stellte er ihr Lucas vor.

»Das ist ein Herr, ein Freund von Herrn Jordan, der etwas von uns haben will. Er wird dir erklären, um was es sich handelt.«

Immer mehr erstaunt und mißtrauisch, wandte sich die Frau zu dem jungen Mann, der nun ihre große Ähnlichkeit mit ihrem Bruder Ragu bemerken konnte. Klein und cholerisch, hatte sie ausgeprägte Züge, dichtes rotes Haar, niedere Stirn, kleine Nase, breite Kinnladen. Der weiße Teint, der den Rothaarigen eigen ist und der ihr mit ihren achtundzwanzig Jahren ein frisches, jugendliches Aussehen gab, erklärte zur Genüge die lebhafte Begierde, die sie Bonnaire eingeflößt und die ihn veranlaßt hatte, sie zu heiraten, obgleich er ihren boshaften Charakter kannte. Nun, als seine Frau, verleidete sie ihm das Haus mit ihren unaufhörlichen Zornesausbrüchen, und er mußte sich in allen Einzelheiten des täglichen Lebens ihrem Willen beugen, um Frieden zu haben. Kokett, von dem einzigen Ehrgeiz verzehrt, schön gekleidet zu sein und Schmucksachen zu tragen, wurde sie nur sanftmütig, wenn sie ein neues Kleid zum Geschenk bekam.

Lucas fühlte die Notwendigkeit, ehe er mit seinem Anliegen herausrückte, sie durch eine Schmeichelei zu gewinnen. Er hatte sogleich beim Hereinkommen den Eindruck empfangen, daß das Zimmer in all seiner Ärmlichkeit sehr sauber gehalten war. Er näherte sich nun dem Bett und rief entzückt:

»Oh, die hübschen Kinder, sie schlafen wie die Engel!«

Die Frau lächelte, aber sie sah ihn scharf an und blieb zurückhaltend, denn sie konnte sich leicht denken, daß dieser Herr sich nicht die Mühe genommen hätte, da heraufzukommen, wenn er nicht etwas Wesentliches von ihr erbitten wollte. Und als er endlich zur Sache kam, als er erzählte, wie er Josine auf der Bank gefunden hatte, von Hunger erschöpft, schutzlos in die Nacht hinausgestoßen, da machte sie eine heftig abwehrende Bewegung und biß die Zähne aufeinander. Ohne dem fremden Herrn auch nur zu antworten, fuhr sie wütend gegen ihren Mann herum.

»Was soll das nun wieder heißen? Was gehen mich diese Geschichten an?«

Bonnaire war nun gezwungen einzugreifen und versuchte, sie in seiner gutmütig nachsichtigen Weise zu besänftigen.

»Sieh mal, wenn dir Ragu den Schlüssel dagelassen hat, so mußt du ihn doch dem armen Mädchen geben, denn Ragu sitzt unten bei Caffiaux und kann leicht die ganze Nacht dort bleiben. Man kann doch das Mädchen und das Kind nicht auf der Straße lassen.«

Da brach die Frau los.

»Ja, ich habe den Schlüssel! Ja, Ragu hat ihn mir dagelassen und gerade deswegen, damit dieses Frauenzimmer mit dem Balg nicht wieder hereinkäme! Mich kümmern alle diese schmutzigen Dinge nichts. Ich weiß nur eines, daß Ragu mir den Schlüssel übergeben hat, und daß ich ihn nur Ragu wiedergeben werde.«

Und als ihr Mann sie doch noch zu erweichen suchte, fiel sie ihm heftig ins Wort.

»Willst du mich vielleicht zwingen, mit der Geliebten meines Bruders Freundschaft zu schließen? Eine saubere Geschichte das mit dem kleinen Bruder, den sie überall mitschleppt, und der oben in einer Kammer neben ihr und ihm geschlafen hat! Nein, nein, jeder für sich; sie soll nur auf der Straße bleiben, dort gehört sie hin, ob später oder früher, das ist ganz einerlei!«

Wunden Herzens, voll Empörung hörte Lucas ihre Worte. Er fand bei ihr die Härte und Mitleidlosigkeit der ehrbaren Frauen aus dem Volke gegen die armen Mädchen, die in dem schweren Daseinskampfe, den sie führen, zu Fall kommen. Dazu kam noch eine versteckte Eifersucht, der Haß gegen das anmutige, liebenswürdige Mädchen, dem die Herzen der Männer zuflogen und die von ihnen leicht Seidenkleider und goldene Ketten haben konnte. Dieses Gefühl hatte sie seit dem Tage, da sie erfahren hatte, daß ihr Bruder Josinen einen kleinen Silberring gekauft hatte.

»Man muß gut sein, liebe Frau«, begnügte sich Lucas mit zitternder Stimme zu sagen.

Aber ehe die Frau Zeit fand, etwas zu erwidern, kamen schwere, unsichere Schritte die Treppe herauf, und die Tür öffnete sich unter tastenden Händen. Herein stolperten Ragu und Bourron, einer hinter dem anderen, richtige Trunkenbolde, die sich nicht trennen können, nachdem sie miteinander gezecht haben. Ragu hatte doch noch soviel Vernunft besessen, um sich von Caffiaux loszureißen. Nun kam er mit dem Genossen herein, um von seiner Schwester den Schlüssel zu verlangen.

»Den Schlüssel?« rief die Frau in scharfem Tone. »Da hast du ihn! Und ich sag' dir gleich, daß ich ihn nicht mehr nehme. Ich muß mir Grobheiten sagen lassen, weil ich ihn dem Frauenzimmer nicht geben will. Wenn du ein anderes Mal wieder eine Geliebte hinauszuwerfen hast, so besorge das gefälligst selbst.«

Ragu, der sich offenbar im weichherzigen Stadium der Trunkenheit befand, lachte:

»Sie ist ja dumm, diese Josine. Wenn sie lustig gewesen wäre, anstatt zu flennen, hätte sie sich zu uns gesetzt und ein Glas Wein mitgetrunken. Die Weiber wissen nie, wie sie mit den Männern umgehen sollen.«

Er konnte seine Gedanken hierüber nicht weiter entwickeln, denn Bourron, der seine hagere Gestalt auf einen Sessel hatte fallenlassen und ohne Grund lachte, sagte zu Bonnaire:

»Du, hör einmal, es ist also wahr, du verläßt das Werk?«

Frau Bonnaire fuhr herum, als ob eine Bombe hinter ihr geplatzt wäre.

»Was, du verläßt das Werk?«

Ein Schweigen folgte. Dann sagte Bonnaire entschlossen:

»Ja, ich verlasse das Werk, ich kann nicht anders.« »Du verläßt das Werk, du verläßt das Werk!« zeterte sie, außer sich vor Wut, indem sie sich vor ihm aufpflanzte. »Es war also nicht genug, daß du dir diesen elenden Streik aufgehalst hast, so daß wir in zwei Monaten alle unsere Ersparnisse aufgegessen haben? Jetzt mußt du noch allein die Zeche für alle bezahlen. Da können wir also alle miteinander Hungers sterben, und ich kann nackt gehen!«

Er erwiderte sanft und gelassen:

»Das ist wohl möglich, du wirst vielleicht zu Neujahr kein neues Kleid bekommen, und wir werden vielleicht darben müssen. Aber ich wiederhole dir, daß ich tu', was ich tun muß.«

Sie gab nicht nach und schrie, dicht an ihn herantretend, ihm ins Gesicht:

»Ja, und der Kuckuck wird es dir danken! Schon jetzt genieren sich deine Kameraden nicht, zu sagen, daß sie ohne deinen Streik nicht zwei Monate lang hätten Hunger leiden müssen. Und weißt du, was sie sagen werden, wenn sie hören, daß du austrittst? Sie werden sagen, es ist recht so, und du bist ein Dummkopf! Niemals werde ich zugeben, daß du eine solche Eselei begehst. Hörst du? Morgen gehst du wieder zur Arbeit!«

Bonnaire richtete seinen klaren und festen Blick auf sie. Er gab gewohnheitsmäßig in allen täglichen Fragen nach, unterwarf sich ihrer despotischen Herrschaft im Hause, aber er wurde hart wie Stahl, wenn es sich um eine Gewissenssache handelte. Ohne daher die Stimme zu erheben, begnügte er sich, ihr in ruhig gebietendem Tone, den sie sehr wohl kannte, zu sagen:

»Du wirst so freundlich sein, jetzt zu schweigen. Das sind Männersachen, von denen Frauen wie du nichts verstehen und in die sie sich daher am besten nicht einmischen. Sei so gut und flicke deine Wäsche weiter, wenn du willst, daß wir gute Freunde bleiben.«

Er schob sie zum Sessel bei der Lampe und zwang sie, sich zu setzen. Gebändigt, vor Wut zitternd, nahm sie wieder die Nadel und tat, als kümmere sie sich nicht weiter um die Dinge, in die sie sich nicht mischen sollte. Vom Lärm der Stimmen aufgestört, hatte der alte Ragu, ohne sich über die Anwesenheit aller dieser Leute zu verwundern, seine Pfeife angezündet und hörte mit der Miene eines Philosophen zu. Und auch die Kinder, Lucien und Antoinette, waren in ihrem Bette erwacht und horchten mit weitgeöffneten Augen, als trachteten sie die ernsten Dinge zu verstehen, von denen die großen Leute sprachen.

Bonnaire wandte sich nun an Lucas, wie um ihn zum Zeugen zu nehmen.

»Jeder muß tun, was seine Ehre verlangt, nicht wahr? Der Streik war unvermeidlich, und wenn ich heute wieder vor derselben Sache stünde, so würde ich wieder dasselbe tun, das heißt ich würde die Genossen mit allen meinen Kräften dazu drängen, ihr Recht zu erkämpfen. Man kann sich doch nicht ganz verschlingen lassen, die Arbeit muß auch entlohnt werden, wenn man nicht einfach nur der Sklave sein will. Unser Recht war so fest begründet, daß Herr Delaveau in allen Punkten hat nachgeben und unsere Lohnsätze hat annehmen müssen. Jetzt sehe ich aber deutlich, daß der Mann wütend ist und daß jemand die Zeche bezahlen muß, wie meine Frau sagt. Wenn ich heute nicht freiwillig gehe, so würde er morgen einen Vorwand finden, um mich hinauszuwerfen. Was tu' ich also? Soll ich mich an meinen Platz klammern und ein fortwährender Zankapfel sein? Nein, nein, das würde auf die Kameraden zurückfallen, und sie hätten allerhand Unannehmlichkeiten davon. Das wäre sehr unschön von mir. Ich habe die Arbeit mit den anderen wieder aufgenommen, weil die Kameraden gedroht haben, sonst noch weiter im Ausstand zu bleiben. Aber jetzt, wo sie alle hübsch ruhig wieder bei der Arbeit sind, jetzt verschwinde ich in aller Stille, weil ich muß. Damit ist alles in Ordnung, keiner wird in Aufruhr geraten, und ich habe getan, was ich tun mußte. Das verlangt meine Ehre. Jeder nach seiner Art.«

Er sagte das alles mit so einfacher Größe, so schlicht und tapfer, daß Lucas tief bewegt war. Aus diesem Arbeiter, den er, schwarz und stumm, seine schwere Arbeit am glühenden Ofen hatte verrichten sehen, aus diesem gutmütigen Menschen, der seiner Frau gegenüber so sanft und nachgiebig war, wurde plötzlich ein Held, einer jener namenlosen Kämpfer, die sich mit Leib und Seele der Gerechtigkeit geweiht haben und die sich in brüderlicher Selbstverleugnung schweigend opfern.

»Und wir werden Hungers sterben!«

»Und wir werden Hungers sterben, das ist möglich. Aber ich werde ruhig schlafen.«

Ragu kicherte.

»Oh, Hungers sterben, das ist überflüssig, das hat noch nie etwas genützt. Ich verteidige natürlich die Herren nicht, die sind eine saubere Bande! Aber da man sie nun einmal nötig braucht, so muß man sich schließlich doch mit ihnen vertragen und tun, was sie wollen.«

Er fuhr scherzend in diesem Tone fort und kramte seine ganze Weisheit aus. Er war der Typus des Durchschnittsarbeiters, weder gut noch schlecht, das verdorbene Produkt des Lohnsklaventums, der gegenwärtigen Organisation der Arbeit. Er wetterte wohl gegen das kapitalistische Regime, empörte sich gegen die erdrückende Last der aufgezwungenen Arbeit, war sogar einer kurzen Auflehnung fähig. Aber der Druck von Generationen hatte ihn gebeugt, er war im Grunde nur eine Sklavenseele, voll Ehrfurcht vor dem Bestehenden, voll Neid gegen den Herrn, den Besitzer und Genießer aller Herrlichkeiten, und sein höchster, geheimster Wunsch war, diesen Herrn von seinem Platze zu verdrängen und selber Herr zu werden, zu besitzen und zu genießen. Nichts zu tun, der Herr zu sein, um nichts zu tun.

»Dieser Schweinekerl von einem Delaveau, ich wollte nur, daß ich acht Tage an seiner Stelle wäre und er an meiner. Das wäre ein Spaß, wenn ich ihm zusehen könnte, wie er arbeitet, während ich eine dicke Zigarre rauchte. Aber es kann noch alles kommen. Wenn erst der große Krach kommt, können wir noch alle Herren werden.«

Dieser Gedanke belustigte Bourron ungemein, der Ragu stets mit offenem Munde bewunderte, wenn sie miteinander getrunken hatten.

»Das ist wahr! Donner und Hölle, das soll ein Leben werden, wenn wir erst die Herren sind!«

Bonnaire zuckte die Achseln, voll Verachtung gegen diese kindische Vorstellung von dem einstigen Sieg der Arbeiter über die Ausbeuter. Er hatte gelesen, hatte nachgedacht, er glaubte zu wissen. Er nahm wieder das Wort, erregt von dem Gehörten, voll leidenschaftlichen Verlangens, die anderen eines Besseren zu belehren. Lucas erkannte in dem, was er auseinandersetzte, die Theorie der stärksten Unnachgiebigkeit, wie die Partei sie lehrte. Vorerst müsse der Staat vom ganzen Boden und von allen Werkzeugen Besitz ergreifen, um sie zu sozialisieren und zu aller Eigentum zu machen. Dann müsse die Arbeit allgemein und obligatorisch gemacht werden, auf Grund einer Entlohnung, die in genauem Verhältnis zur aufgewendeten Arbeitszeit stünde. Er wurde jedoch unsicher, als er darauf kam, wie diese Sozialisierung durch Gesetze ins Werk gesetzt werden sollte, und insbesondere, wie das Ganze weiter funktionieren sollte. Lucas, der in seinen Gedanken zur Herbeiführung besserer Zustände noch nicht soweit ging, erhob diese und ähnliche Einwendungen, aber Bonnaire erwiderte ihm mit der unerschütterlichen Zuversicht des Gläubigen:

»Alles gehört uns, und wir werden alles wieder nehmen, damit jedem sein gerechtes Teil an Arbeit und Ruhe, an Mühe und Genuß werde. Es gibt keine andere befriedigende Lösung, die Ungerechtigkeit und das Elend sind zu groß geworden.«

Auch Ragu und Bourron stimmten ihm darin zu. Hatte das Lohnsklaventum nicht alles verdorben, alles vergiftet? Aus ihm wuchsen Wut und Haß empor, es hatte den Klassenkampf entfesselt, den langwierigen Vertilgungskrieg, in dem Kapital und Arbeit miteinander lagen. Um seinetwillen war der Mensch für den Menschen zum reißenden Wolf geworden, im erbarmungslosen Ringen des Egoismus, in der entsetzlichen Tyrannei einer auf Ungerechtigkeit begründeten Gesellschaftsordnung.

»So waren zum Beispiel«, fuhr Bonnaire fort, »die Qurignons, die die Hölle gegründet haben, keine schlechten Menschen. Der letzte, Michel, der ein so trauriges Ende genommen hat, war bemüht, das Los der Arbeiter zu verbessern. Ihm ist die Gründung der Pensionskasse zu danken, zu der er die ersten hunderttausend Frank spendete. Er hat ferner eine Bibliothek gegründet, einen Lesesaal, ein Krankenhaus, eine Arbeitsschule und eine Elementarschule für die Kinder. Und Herr Delaveau, obgleich er viel weniger gutherzig ist, hat natürlich das alles aufrechterhalten müssen. Alle diese Einrichtungen bestehen nun seit Jahren, aber was wollen Sie? Das ist nur eine kleine Anzahlung, wie man sagt, ein Pflaster auf ein hölzernes Bein. Es sind Almosen und nicht Gerechtigkeit. Das alles kann noch Jahre und Jahre bestehen, ohne daß der Hunger aufhört, ohne daß das Elend ein Ende findet. Nein, nein, es ist keine Erleichterung möglich, das Übel muß mit der Wurzel ausgerottet werden.«

In diesem Augenblick rief der alte Ragu, den man wieder eingeschlafen glaubte, aus seinem dunkeln Winkel hervor:

»Die Qurignons, die habe ich gekannt.«

Lucas drehte sich um und sah ihn auf seinem Sessel sitzen und an der ausgegangenen Pfeife saugen. Er war fünfzig Jahre alt und hatte nahe an dreißig Jahre als Auszieher in der Hölle gearbeitet. Klein und dick, mit bleichem, aufgedunsenen Gesicht, sah er aus, als ob das Feuer ihn geschwellt anstatt ausgetrocknet hätte. Vielleicht hatte er von dem Wasser, mit dem er sich befeuchtete und das er auf seinem Körper verdampfen ließ, Rheumatismus bekommen. Auf alle Fälle hatte er ihn in verhältnismäßig jungen Jahren in den Beinen bekommen, und er konnte nur mühsam gehen. Und da er nicht einmal die Bedingungen erfüllte, unter denen die jetzigen Arbeiter Anspruch auf die erbärmliche Pension von dreihundert Frank jährlich hatten, wäre er einfach auf der Straße Hungers gestorben wie ein altes, nutzloses Tier, wenn Frau Bonnaire ihm nicht auf Antrieb ihres Mannes Obdach und Gnadenbrot gewährt hätte, das sie ihn übrigens in fortwährenden Vorwürfen und Entbehrungen aller Art entgelten ließ.

»Ja, ja«, wiederholte er langsam, »ich habe sie gekannt, die Qurignons! Der letzte war Herr Michel, der heute tot ist und der fünf Jahre älter war als ich. Und vor ihm war Herr Jérôme, unter dem ich in die Hölle eingetreten bin, mit achtzehn Jahren, als er fünfundvierzig war, was nicht hindert, daß er noch immer lebt. Aber vor Herrn Jérôme war Herr Blaise, der Gründer, der mit seinen zwei Hämmern das Werk angefangen hat vor nun beinahe achtzig Jahren. Den habe ich nicht mehr gekannt. Aber mein Vater, Jean Ragu, und mein Großvater, Pierre Ragu, haben mit ihm gearbeitet, und man kann sogar sagen, daß Pierre Ragu sein Kamerad war, da sie beide Streckarbeiter waren. Die Qurignons haben heute ein großes Vermögen, und hier bin ich, Jacques Ragu, noch immer ohne einen Sou in der Tasche, mit meinen schlimmen Beinen, und hier ist mein Sohn August Ragu, der nach dreißig Jahren Arbeit nicht reicher sein wird als ich, ohne von meiner Tochter und ihren Kindern zu reden, die alle davon bedroht sind, Hunger zu leiden, so wie die Ragus nun schon seit beinahe hundert Jahren Hunger leiden!«

Er sagte das alles ohne Zorn, in der ergebenen Weise eines alten, abgearbeiteten Tieres. Einen Augenblick betrachtete er seine Pfeife, erstaunt, daß er ihr keinen Rauch mehr entlocken konnte. Und als er sah, daß Lucas ihm mit mitleidigem Interesse zuhörte, fuhr er fort, indem er leicht die Achseln zuckte:

»Ja, das ist das Schicksal von uns armen Teufeln. Es wird immer Herren und Arbeiter geben. Mein Großvater und mein Vater waren so, wie ich jetzt bin, und mein Sohn wird ebenso sein. Wozu hilft's, sich aufzulehnen? Jeder zieht sein Los bei der Geburt. Nur eins wäre zu wünschen, daß man sich, wenn man alt ist, soviel Tabak kaufen könnte, wie man braucht.«

»Tabak?« schrie Frau Bonnaire. »Du hast heute wieder für zwei Sous verraucht. Glaubst du, daß ich das Geld für Tabak hinauswerfen werde, wenn wir bald nicht einmal Brot zu essen haben werden?«

Sie hielt ihn knapp, das war der einzige Kummer des alten Ragu, der vergeblich versuchte, seine Pfeife wieder anzuzünden, die wirklich nur noch Asche enthielt. Und Lucas fuhr fort, ihn zu betrachten, wie er auf seinem Stuhl zusammengekauert dasaß. Mit fünfzig Jahren war der Mann vollständig zugrunde gerichtet. Sein ganzes Leben lang war er Auszieher gewesen, immer nur Auszieher, und die mechanische Tätigkeit hatte ihn verkrümmt, verblödet, ihn zum Stumpfsinn und zur Paralyse geführt. In diesem armseligen Geschöpfe lebte nur noch das Bewußtsein seines Sklaventums.

Aber Bonnaire verwahrte sich mit blitzenden Augen.

»Nein, nein! Es wird nicht immer so sein, es wird nicht immer Herren und Arbeiter geben. Der Tag wird kommen, da es nur freie und fröhliche Menschen geben wird! Unsere Kinder werden vielleicht diesen Tag erleben, und es lohnt wohl der Mühe, daß wir, die Väter, noch Leiden erdulden, wenn wir ihnen damit das Glück der Zukunft erringen.«

»Zum Kuckuck!« rief Ragu. »Beeilt euch doch, ich möchte gern auch dabei sein. Das würde mir so passen: gar nichts mehr arbeiten zu müssen und zu jeder Mahlzeit mein Huhn zu haben!«

»Und ich auch, ich auch!« stimmte Bourron begeistert bei. »Ich beanspruche meinen Platz!«

Mit hoffnungsloser Gebärde gebot der alte Ragu ihnen Schweigen und sagte:

»Ach, laßt doch, nur wenn man jung ist, hofft man auf derlei. Da hat man den Kopf voll mit allerhand Unsinn, man bildet sich ein, daß man die Welt auf den Kopf stellen wird. Aber die Welt geht ihren Gang weiter, und man wird weggefegt wie alle anderen. Ich trage niemand etwas nach. Wenn ich mich manchmal ein bißchen ins Freie schleppen kann, seh' ich zuweilen Herrn Jérôme in seinem Rollstuhl, den ein Diener fährt. Ich grüße, weil sich das gehört bei einem Mann, der einem Arbeit gegeben hat und der reich ist. Die Qurignons haben das große Los gewonnen, und da muß man sie wohl respektieren. Es gäbe keine Gottesfurcht mehr, wenn man die verunglimpfen wollte, die das Geld haben.«

»Nichts arbeiten, nein, nein, das wäre der Tod!« sagte Bonnaire. »Jeder Mensch soll arbeiten, und wir haben das Glück erreicht, das ungerechte Elend besiegt. Diese Qurignons dürfen wir nicht beneiden. Wenn sie einer als Beispiel aufstellt und sagt: ›Da seht ihr, daß ein einfacher Arbeiter ein großes Vermögen erwerben kann mit Fleiß, Intelligenz und Sparsamkeit!‹ so ärgert mich das immer, denn dieses viele Geld hat nur erworben werden können dadurch, daß die Kameraden ausgebeutet wurden, daß man ihnen das Brot und die Freiheit verkümmerte. Und solche schmutzige Dinge müssen eines Tages ihre Vergeltung finden. Niemals wird sich das Glück aller mit der ungeheuren Bevorzugung des einzelnen vereinigen lassen. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als zu warten, wenn wir sehen wollen, was die Zukunft uns allen bringt. Aber worauf ich hoffe, das habe ich euch schon gesagt: daß diese beiden Kinder, die da liegen und, uns zuhören, eines Tages glücklicher sein mögen, als ich es war, und daß ihre Kinder wieder glücklicher werden mögen, als sie es haben sein können. Um das zu erreichen, braucht es nur Gerechtigkeit, und wir müssen zusammenstehen wie die Brüder und sie uns erringen, selbst um den Preis großen Elends.«

Wirklich waren Luden und Antoinette nicht wieder eingeschlafen. Das Gespräch dieser vielen Leute zu so später Stunde hatte sie wach gehalten, und ihre rosigen Gesichtchen lagen unbeweglich auf dem Polster, die Augen weit geöffnet und nachdenklich, als ob sie verstünden, was vorging

»Eines Tages glücklicher als wir!« sagte Frau Bonnaire trocken. »Jawohl, wenn sie nicht morgen Hungers sterben, da du kein Brot mehr für sie haben wirst.«

Das Wort fiel wie ein Beilhieb. Bonnaire wankte, brutal aus dem Traume gerissen durch das kalte Grinsen des Elends, das er auf sich genommen hatte, indem er die Werke verließ. War das nicht ein hoffnungsloser Kampf, waren nicht Großvater, Vater, Mutter und Kinder zu baldigem Tode verurteilt, wenn der Arbeiter es wagte, sich in ohnmächtigem Trotz gegen das Kapital zu empören? Ein dumpfes Schweigen trat ein, ein schwarzer Schatten legte sich über den Raum und verdüsterte die Gesichter.

Da klopfte es wieder, Lachen wurde hörbar, und herein trat Babette, Bourrons Frau, mit ihrem stets heiteren Kindergesicht. Rundlich, und frisch, mit weißer Haut und schweren, goldblonden Haaren, glich sie dem ewigen Frühling. Da sie ihren Mann bei Caffiaux nicht gefunden hatte, wollte sie ihn hier abholen, denn sie wußte, daß er ohne ihre Unterstützung nur schwer heimfinden würde. Sie machte keine Miene, ihn zu schelten, sah im Gegenteil heiter drein, als fände sie es hübsch, daß ihr Mann sich ein wenig unterhalten hatte.

»Ah, da bist du ja, du Bummler!« rief sie fröhlich. »Ich hab' mir's ja gleich gedacht, daß du Ragu nicht verlassen hast und daß ich dich hier finden werde. Weißt du, Alter, es ist spät. Ich habe Marthe und Sebastien zu Bett gebracht, jetzt muß ich noch dich zu Bett bringen.«

Auch Bourron wurde nie böse, in so gutmütig-lustiger Weise verstand sie es immer, ihn aus der Gesellschaft seiner Kameraden zu entführen.

»Oh, die versteht's! Hört ihr's, meine Frau bringt mich zu Bett. Also komm, mir ist es recht ...«

Er hatte sich erhoben, aber Babette, die bemerkte, daß alle finster dreinsahen und vielleicht infolge eines Streites in bedrückter Stimmung waren, wollte versöhnend eingreifen. Das Elend und die Armseligkeit, in der sie seit ihrer Kindheit lebte, hatten ihrem fröhlichen Humor nicht das geringste anhaben können. Sie war vollkommen überzeugt, daß alles ein gutes Ende nehmen werde, sie war fortwährend auf dem Wege ins Paradies.

»Was habt ihr denn alle? Sind die Kinder krank?«

Frau Bonnaire brach aufs neue los, erzählte ihr, daß Bonnaire die Arbeit verlassen habe, daß sie alle Hungers sterben würden, ehe eine Woche um sei, daß es übrigens mit ganz Beauclair dahin kommen werde, es gebe zuviel Unglück, man könne nicht mehr leben. Aber Babette widersprach ihr in ihrer gewohnten heiteren Zuversicht, prophezeite glückliche Tage voll Sonnenschein, die bald kommen müßten.

»Nicht doch, nicht doch, sehen Sie nicht so schwarz, liebe Nachbarin! Sie werden sehen, es wird alles wieder gut. Ihr Mann wird wieder Arbeit finden, und Sie werden glücklich sein.«

Damit führte sie ihren Mann unter lustigen und zärtlichen Worten fort, und er folgte ihr gehorsam.

Lucas war im Begriffe, ihnen zu folgen, als Frau Bonnaire, die ihre Arbeit auf dem Tische zusammenräumte, den Schlüssel fand, den sie ihrem Bruder hingeworfen und den dieser noch nicht an sich genommen hatte.

»Nun, nimmst du ihn endlich oder nicht? Gehst du schlafen? Dein Frauenzimmer erwartet dich da irgendwo, wie ich höre. Du kannst sie dir noch immer mitnehmen.«

Ragu lachte schwerfällig und drehte den Schlüssel in der Hand. Er hatte dieses Mädchen besessen, wie er viele besessen hatte. Es war zum Vergnügen für alle beide, und wenn man genug hatte, Gott befohlen, dann ging eben jeder seiner Wege. Aber seitdem er hier saß, war er allmählich etwas nüchterner geworden, und seine eigensinnige Bosheit war verflogen. Dann ärgerte ihn auch seine Schwester, daß sie ihm immer Vorschriften machen wollte.

»Natürlich werde ich sie zurücknehmen, wenn es mir paßt. Schließlich ist sie mehr wert als manche andere. Wenn man sie erschlüge, würde sie einem kein böses Wort sagen.«

Darin wandte er sich zu Bonnaire, der noch immer schwieg:

»Sie ist dumm, daß sie immer Angst hat. Wo steckt sie denn nur?«

»Sie wartet auf der Treppe mit Nanet«, sagte der Werkmeister.

Da öffnete Ragu weit die Tür und schrie hinaus:

»Josine! Josine!«

Niemand antwortete, kein Ton kam aus der dichten Finsternis der Treppe. Und im schwachen Licht der Petroleumlampe, das aus der geöffneten Tür auf den Treppenabsatz fiel, sah man nur Nanet, der hier auf Vorposten zu stehen schien.

»Ah, da bist du ja, du Taugenichts!« schrie Ragu. »Was machst du da, he?«

Der Knabe verlor die Fassung nicht, wich nicht einmal zurück. Er antwortete tapfer:

»Ich habe zugehört, um zu wissen, was geschieht.«

»Und wo ist deine Schwester? Warum antwortet sie nicht, wenn man sie ruft?«

»Die Schwester war oben auf der Treppe mit mir. Aber als sie dich kommen hörte, hatte sie Furcht, daß du heraufkommst und sie schlägst, und da ist sie lieber hinuntergegangen, damit sie fortlaufen kann, wenn du böse bist.«

Ragu lachte. Die Dreistigkeit des Knaben belustigte ihn.

»Du hast also keine Furcht?«

»Wenn du mich anrührst, schrei' ich so stark, daß meine Schwester mich hört und fortlaufen kann.«

Vollkommen besänftigt, beugte der Mann sich über die Treppe und rief wieder:

»Josine! Josine! So komm doch und sei nicht dumm. Du weißt doch, daß ich dich nicht umbringen werde.«

Wieder folgte tiefes Schweigen, nichts rührte sich, kein Laut kam aus der Finsternis. Lucas, dessen Anwesenheit nicht mehr nötig war, verabschiedete sich. Die Kinder waren wieder eingeschlafen. Der alte Ragu hatte sich, die erkaltete Pfeife im Munde, die Wände entlang zu dem Zimmer geschleppt, in dem er schlief. Und Bonnaire, der schweigend auf einem Stühle saß und seinen Blick in die Leere des armseligen Raumes richtete, wartete nur, bis alle gegangen waren, um sich ebenfalls zur Ruhe zu begeben.

»Nur Mut, mein Freund! Auf Wiedersehen!« sagte Lucas und drückte ihm kräftig die Hand.

Auf dem Treppenabsatz rief Ragu noch immer, jetzt mit einem bittenden Ton in der Stimme:

»Josine! So komm doch, Josine! Wenn ich dir sage, daß ich nicht mehr böse bin!«

Und da die Finsternis stumm blieb, wandte er sich an Nanet, der sich nicht einmischte und seine große Schwester nach ihrem Gefallen handeln ließ.

»Sie ist vielleicht fortgelaufen.«

»O nein, wohin hätte sie gehen sollen? Sie muß unten auf der Treppe sitzen.«

Lucas stieg die schmalen und hohen Stufen hinunter. Es schien ihm, als stiege er auf einer schmalen Leiter zwischen feuchten Mauern in einen Abgrund hinab. Und je weiter er hinunterkam, desto deutlicher glaubte er ein ersticktes Schluchzen zu hören, das aus der dunkeln Tiefe heraufdrang.

Von oben rief wieder die Stimme Ragus in entschlossenem Tone:

»Josine! Josine! Wenn du nicht heraufkommst, so komme ich dich holen!«

Da blieb Lucas stehen, denn er hörte einen leichten Atem. Etwas Lindes, Warmes schien heraufzusteigen, leise, kaum hörbar, zitternd. Er drückte sich gegen die Wand, denn er erriet, daß ein armes Geschöpf vorüberkommen werde, unsichtbar, bloß erkennbar am leisen Vorbeistreifen ihres Körpers.

»Ich bin es, Josine!« sagte er sehr leise, damit sie nicht erschrecke.

Der leichte Atem kam immer näher, und keine Antwort folgte. Aber mit kaum fühlbarer Berührung streifte das unglückliche, unsichtbare Geschöpf an ihm vorüber. Und eine kleine, fieberische Hand erfaßte die seinige, ein brennender Mund drückte sich auf seine Hand und küßte sie heiß und innig, in unendlicher Dankbarkeit. Sie dankte ihm. Kein Wort wurde gewechselt, nur dieser Kuß in der Finsternis.

Der leichte Atem war vorüber, die luftige Gestalt stieg weiter. Und Lucas stand tieferschüttert, im Innersten ergriffen von dieser traumhaften Berührung. Denn der Kuß dieses unsichtbaren Mundes war ihm ins Herz gedrungen. Er wollte sich überreden, daß er lediglich froh sei, es durchgesetzt zu haben, daß Josine für diese Nacht ein Obdach gefunden hatte. Aber warum hatte sie geweint? Warum hatte sie so lange auf die Rufe des Mannes oben nicht geantwortet, der sie wieder bei sich aufnahm? Hatte sie um etwas Verlorenes geschluchzt, verzweifelt einen unerfüllbaren Traum beweint, ehe sie sich endlich entschloß, hinaufzugehen und das Leben wieder aufzunehmen, zu dem sie verdammt war?

Von oben ließ sich die Stimme Ragus ein letztes Mal vernehmen.

»Ah, da bist du ja, es war Zeit! So komm schlafen, du dummes Mädel, ich bring' dich heute noch nicht um.«

Und Lucas eilte fort, so tief unglücklich, daß er versuchte, die Ursache der schrecklichen Bitterkeit zu ergründen, die ihn erfüllte. Während er mit Mühe seinen Weg in dem dunkeln Gewirre der schmutzigen Gassen fand, dachte er über die letzten Ereignisse nach und fühlte brennendes Mitleid mit dem armen Kinde. Sie war das Opfer ihrer Verhältnisse, sie hätte sich nie diesem Ragu hingegeben, wäre sie nicht von dem Elend ihrer Klasse erdrückt und verderbt worden. Wie tief mußte der Boden der Menschheit umgepflügt werden, damit die Arbeit wieder zur Ehre und zur Freude werde, damit die starke, gesunde Liebe aufblühen könne aus der herrlichen Aussaat der Wahrheit und Gerechtigkeit!

Mittlerweile war es allerdings das beste, daß das unglückliche Mädchen bei Ragu blieb, wenn dieser sie nicht zu sehr mißhandelte. Der heftige Wind hatte aufgehört, und am Himmel erschienen einzelne Sterne inmitten der dunkeln, jetzt unbeweglichen Wolken. Aber wie finster war die Nacht, und in welch unendliche Traurigkeit hüllte die Dunkelheit sein Herz!

Eine ferne Uhr schlug Mitternacht in der Finsternis. Lucas überschritt die Brücke und ging die Straße nach Brias hinab, um in die Crêcherie heimzukehren, wo sein Bett ihn erwartete. Kurz ehe er sie erreichte, erhellte plötzlich ein starker Schein die ganze Gegend, die beiden Hänge der Monts Bleuses, die schlafenden Dächer der Stadt, bis hinaus in die endlose Fläche der Roumagne.

Auf der Berglehne fand abermals ein Abstich des Hochofens statt, dessen Profil sich schwarz erhob, wie in einer Feuersbrunst. Lucas hatte den Blick erhoben, und wieder schien es ihm, als sähe er eine Morgenröte, den Sonnenaufgang der neuen Menschheit, die er erträumte.


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