Emile Zola
Arbeit
Emile Zola

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V

Lucas verlöschte das Licht und legte sich zu Bett, in der Hoffnung, daß seine körperliche und geistige Ermattung ihm den Schlaf bringen werde, in dem das Fieber seines Wesens zur Ruhe käme. Aber er lag in der Dunkelheit und tiefen Stille des großen Zimmers, ohne die Lider schließen zu können. Mit weitgeöffneten Augen starrte er in die Finsternis, der nicht abzuweisende, verzehrende Gedanke brannte glühend in seiner Seele und hielt ihn in qualvoller Schlaflosigkeit wach.

Und wieder und immer wieder tauchte Josine vor seinen Augen auf, mit ihrer zarten Gestalt, mit dem leidensvoll anmutigen Kindergesichtchen. Er sah sie weinend, hungernd, eingeschüchtert beim Tor der Hölle warten, er sah sie in der Schenke, von Ragu zur Tür hinausgestoßen, er sah sie auf der Bank am Ufer der Mionne sitzen, allein und verlassen in der unbarmherzigen Nacht, ohne anderen Ausweg als das Versinken in den tiefsten Pfuhl der Schande, gierig ihren Hunger stillend wie ein verirrtes Tier. Und jetzt, nach diesen ereignisreichen drei Tagen, in denen ihm das Schicksal unverhofft und fast ohne sein Dazutun Bild auf Bild vom entsetzlichen Elend der Arbeit gezeigt hatte, vereinigte sich alles Gesehene für ihn in der leidenden Gestalt dieses armen Mädchens, das so Schreckliches zu erdulden hatte.

Und nun erhoben sich die Erinnerungen in Masse und fluteten in qualvollem Gedränge durch sein Gehirn. Durch die schmutzigen Straßen Beauclairs wehte der Schreckenshauch, während die dunkle Menge der elenden Enterbten schweigend dahinzog, geheimen Rachedurst im Herzen. In der armseligen, kalten Behausung Bonnaires lebten die Opfer der überlebten, planmäßigen, unglücklich endenden Revolution, denen der Streik alle Qualen des Hungers gebracht hatte. Auf der Guerdache machte sich der schamlose Übermut des Luxus breit, die vergiftende Genußsucht, die den Untergang der oberen Klassen beschleunigte, die bis zum Halse in den ungerechten Gütern saßen, die sie dem Schweiße und den Tränen der ungeheuren Mehrheit der Menschen erpreßten. Ja, auch oben auf der Crêcherie, bei dem in ungeschlachter Majestät sich erhebenden Hochofen, wo kein einziger Arbeiter sich beklagte, war die uralte menschliche Arbeit wie von einem Fluche belegt, in ewiger, qualvoller Mühsal versteinert, ohne Hoffnung auf die vollständige Befreiung der Menschen, auf die endliche Erlösung aus der Sklaverei, auf den Eingang aller in das Reich der Gerechtigkeit und des Friedens. Und er hatte gesehen und hatte gehört, wie es in Beauclair auf allen Seiten knisterte und krachte, denn der mörderische Kampf tobte nicht nur zwischen den verschiedenen Klassen, das zersetzende Ferment war in die Familien eingedrungen, ein Hauch von Tollheit und Haß fuhr über die Menschen hin und vergiftete die Herzen. Grauenhafte Dramen befleckten den häuslichen Herd, stießen Vater, Mutter und Kinder in die Kloake. Sie logen, sie stahlen, sie mordeten. Das Elend und der Hunger führten unabwendbar zum Verbrechen, das Weib verkaufte sich, der Mann verfiel dem Alkohol, das zur Verzweiflung getriebene Tier durchbrach blindlings alle Schranken und wütete gegen sich selbst. Und eine Überfülle furchtbarer Zeichen kündigten die baldige, unentrinnbare Katastrophe an, das alte, morsche Bauwerk war nahe daran, in eine Pfütze von Blut und Kot niederzubrechen.

Von diesen Bildern der Schmach und der Vergeltung erregt, das Herz blutend über den Jammer der Menschen, sah Lucas in der dichten Finsternis, die ihn umgab, wieder das blasse Gesicht Josinens auftauchen, sah ihr sanftes, trauriges Lächeln, sah ihre Arme mit rührendem Flehen gegen ihn ausgestreckt. Und er sah nur noch sie, auf sie, auf sie allein drohte das wurmzerfressene, verfaulte Gebäude niederzustürzen. Sie, die kleine, schwächliche Arbeiterin mit der verwundeten Hand, die dem Verhungern nahe war, die der Prostitution zuglitt, sie wurde das einzige Opfer, sie verkörperte das Elend des Proletariats in einer jammervollen Gestalt, deren trauriger Reiz ihn ganz gefangennahm. Er litt alles das, was sie leiden mußte, und auf das heiße Begehren, sie zu retten, richtete sich sein Traum, Beauclair zu retten. Wenn ein höherer Wille ihn mit der Kraft, alles zu vollbringen, ausgestattet hätte, so hätte er aus der von Egoismus durchseuchten Stadt ein glückliches Gemeinwesen gemacht, damit sie darin glücklich sei. Und er erkannte nun, daß dieser Traum seiner Seele weit zurückreichte, daß er ihn immer geträumt hatte, seit der Zeit, da er in Paris in einem armen Viertel mitten unter den namenlosen Helden und leidensvollen Opfern der Arbeit gelebt hatte. Es trieb und arbeitete in ihm wie das unruhige Hinstreben zu einer Zukunft, die er nicht näher zu bestimmen wagte, wie das Mahnen einer Mission, von der er sich ergriffen fühlte. Und inmitten der Gedankenwirrnis, in der er noch tastend seinen Weg suchte, empfand er plötzlich, daß die entscheidende Stunde da sei. Josine litt und hungerte, Josine weinte bittere Tränen: das konnte nicht länger so bleiben. Es mußte endlich etwas geschehen, es mußte Hilfe gebracht werden all diesem Elend und diesem Leiden, die grauenvolle Ungerechtigkeit mußte ein Ende haben.

Von Müdigkeit überwältigt, schlummerte Lucas endlich ein. Aber da glaubte er plötzlich Stimmen zu hören, die ihn riefen, und er fuhr auf. Waren das nicht Klagetöne aus der Ferne? Hatte er nicht die Verzweiflungsschreie Unglücklicher gehört, die in Todesgefahr schwebten? Im Bette aufgerichtet, horchte er hinaus, und hörte nichts. Sein Herz blutete, zog sich in schrecklicher Qual zusammen unter der Gewißheit, daß in diesem selben Augenblicke Tausende armer Menschen sich unter der Folter der sozialen Ungerechtigkeit wanden. Er sank mit fiebernden Pulsen auf das Kissen zurück und versuchte wieder zu schlafen, aber kaum dem Einschlummern nahe, hörte er die Rufe wieder in seine Ohren tönen, mußte wieder den Kopf erheben und horchen. Im Halbschlummer verschärften sich seine Gefühle und drangen mit außerordentlicher Macht auf ihn ein. Und immer, sooft der Schlaf ihn umfangen wollte, hörte er die Rufe ertönen und anschwellen, hörte, wie sie ihn verzweifelt und dringend um etwas anflehten, dessen gebieterische Notwendigkeit er fühlte, ohne sagen zu können, was es eigentlich war. Wohin eilen, um am schnellsten auf das Schlachtfeld zu gelangen? Was tun, um einzugreifen und dem Siege den Weg zu bahnen? Er wußte es nicht, und er litt schrecklich unter dem Alpdruck formloser Drohgebilde, die ihn erstickend umdrängten. Ihm war es, als strebe er in der Finsternis einer ewig zögernden Morgenröte zu, als höre er unablässige, inständige Bitten, eine Sache zu tun, die in Dunkelheit verschwamm, sooft er glaubte, daß er im Begriffe sei, ihre Natur zu erkennen. Und nun auf einmal übertönte alle Rufe der Ruf einer einzigen, zarten Stimme, die er als die Stimme Josinens erkannte, die wehklagte und ihn anflehte. Sie allein war nur noch da, er fühlte die warme Berührung des Kusses, den sie auf seine Hand gedrückt hatte, er sog den Geruch des kleinen Sträußchens ein, das sie ihm heute zugeworfen hatte, den starken Geruch, der das Zimmer zu erfüllen schien.

Da gab Lucas den nutzlosen Kampf auf und schüttelte die Schläfrigkeit ab, die auf seinen Augen lag, um zu versuchen, im Wachen mehr Ruhe zu finden. Er zündete die Kerze an, erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Er wollte an nichts denken, wollte sein Gehirn von der fixen Idee befreien. Er suchte nach einer Ablenkung für seine Gedanken, betrachtete die wenigen alten Stiche an den Wänden, die alten Möbel, die die Gewohnheiten eines gelehrten und gemütvollen Mannes verrieten, ließ beim Kerzenschein das ganze ehrwürdige, trauliche Gemach auf sich wirken, in dem alles von der Güte, der Vornehmheit und Weisheit seines früheren Bewohners sprach. Dann zog der Bücherschrank seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein ziemlich großer Schrank mit Glastüren, in dem der alte Herr eine vollständige Sammlung aller humanitären Werke vereinigt hatte, an denen einst die Begeisterung seiner Jugendzeit sich entflammte. Alle waren sie da, die menschenfreundlichen Sozialphilosophen, die Vorläufer, die Apostel des neuen Evangeliums: Saint-Simon, Fourier, Auguste Comte, Proudhon, Cabet, Pierre, Leroux und viele andere, die vollständige Reihe bis hinab zu den unbekanntesten Schülern. Und Lucas leuchtete mit der Kerze an den Bücherreihen entlang, las die Namen und die Titel der Werke, war erstaunt über ihre große Anzahl, über soviel guten, in den Wind geworfenen Samen, über so viele gute Worte, die hier schlummerten und auf den Tag warteten, da die Ernte aufgehen sollte.

Er hatte schon viel gelesen, er kannte die wichtigsten Seiten der meisten dieser Werke, die philosophischen und wirtschaftlichen Systeme aller dieser Autoren waren ihm nicht fremd. Aber wie er sie da so alle vereinigt sah, in einer festen Masse beisammenstehend, da schien ihm ein neuer Hauch von ihnen auszugehen. Nie hatte er einen so starken Begriff bekommen von ihrer Kraft, von ihrem Wert, von der mächtigen Entwicklung der Menschheit, die sie vorbereiten. Sie bildeten einen Sturmtrupp, eine Vorhut der künftigen Zeit, der allmählich die ungeheure Masse der Völker nachfolgen sollte. Und was ihn besonders ergriff, wie er sie hier so Seite an Seite, von überwältigender Macht in ihrer Vereinigung, aufgereiht sah, das war ihre Brüderlichkeit. Wohl wußte er, daß widersprechende Ideen sie seinerzeit getrennt, daß sie einander selbst heftig bekämpft hatten, aber heute waren sie alle Brüder, innig verbunden in dem gemeinsamen Evangelium, in den grundlegenden, unumstößlichen Wahrheiten, die sie alle verkündet hatten. Und die erhabene Morgenröte, die aus ihren Werken emporstieg, war die Religion der Menschlichkeit, zu der sie sich alle bekannt hatten, ihre Liebe zu den Enterbten dieser Welt, ihr Haß gegen die soziale Ungerechtigkeit, ihr Glaube an die erlösende Kraft der Arbeit.

Lucas öffnete den Schrank, um einen der Bände herauszunehmen. Da er nicht schlafen konnte, so wollte er einige Seiten lesen, bis sich der Schlaf wieder einstellte. Nach kurzer Wahl entschied er sich für einen ganz dünnen Band, in dem ein Schüler Fouriers die Lehre des Meisters kurz zusammengefaßt hatte. Der Titel: »Zusammengehörigkeit« hatte ihn ergriffen. Sollte er nicht in diesen Blättern die Kraft und die Hoffnung finden können, nach denen er so schmerzliches Bedürfnis empfand? Er legte sich wieder nieder und begann zu lesen. Schon nach den ersten Seiten las er mit leidenschaftlichem Interesse, wie in einem erschütternden Drama, das das Schicksal der ganzen Menschheit darstellte. So in ihrem Wesen zusammengefaßt, auf die Essenz ihrer Wahrheiten konzentriert, wirkte die Lehre mit außerordentlicher Kraft. Er kannte das alles schon, er hatte es in den Werken des Meisters selbst gelesen, aber nie hatte es ihn so gewaltig gepackt, so im Innersten überzeugt. In welcher Geistesverfassung befand er sich, an welcher entscheidenden Stunde seines Schicksals war er angelangt, daß er Hirn und Herz so umfangen fühlte, überwältigt von der Kraft der Gewißheit ? Das kleine Buch gewann glühendes Leben, alles nahm eine neue und unmittelbare Bedeutung an, als ob die Sätze aus den Seiten herauswüchsen und in greifbarer Körperlichkeit vor ihm stünden.

Die ganze Lehre Fouriers entrollte sich vor ihm. Ihr genialer Gedanke war, die Leidenschaften der Menschen als treibende Kräfte des Lebens zu benützen. Die langwährende unselige Verirrung, die Katholizismus heißt, wollte sie gewaltsam niederdrücken, wollte den Menschen im Menschen vernichten, um ihn als willenlosen Sklaven seinem tyrannischen und lebensfeindlichen Gotte auszuliefern. In der freien Gesellschaft der Zukunft sollten die Leidenschaften ebensoviel Gutes vollbringen, wie sie in der gefesselten, tyrannisierten Gesellschaft der vergangenen Jahrhunderte Böses vollbracht hatten. Sie waren das unsterbliche Verlangen, das in allen Wesen lebt, die einzige Kraft, die die Welt bewegt, der innere Glutherd, von dem jeder Mensch den Willen und den Antrieb zur Tat empfängt. Der Leidenschaft beraubt, wäre der Mensch verstümmelt, als ob ihm ein Sinn fehlte. Die bisher gleich wilden Tieren zurückgedrängten, niedergehaltenen Instinkte sollten, endlich befreit, sich geltend machen als der mächtige Zug zur Einigkeit, sollten bewirken, daß über alle Hindernisse hinweg die Menschen in vollendeter Harmonie dem endgültigen Zustande allgemeinen Glücks verschmolzen. Es gab keine Egoisten, es gab keine Trägen mehr, es gab nur sehnsüchtig zur Einigkeit und Harmonie Hinstrebende, die brüderlich nebeneinander hinschreiten würden an dem Tage, da sie erkennen würden, daß die Straße breit genug ist, um allen für bequeme und glückliche Wanderung Raum zu bieten. Es gab nur Opfer der schweren Sklaverei, die auf den armen Arbeitern lastete, die sich gegen die maßlosen, ungerechten, drückenden Verrichtungen auflehnten, die aber freudig bereit wären, ihre Arbeit zu leisten, wenn sie nur den auf sie entfallenden, angemessenen, gerechten Teil der großen Arbeitssumme zu leisten hätten.

Und der zweite geniale Gedanke war, daß die Arbeit zur höchsten Ehre erhoben, die Pflicht, der Stolz, die Gesundheit, die Freude, das Gesetz des Lebens werden sollte. Es genügte, die Arbeit umzugestalten, um die ganze Gesellschaft umzugestalten, deren oberste bürgerliche Pflicht, deren eigentlicher Lebensnerv sie werden würde. Aber es sollte nicht mehr eine Besiegten gewaltsam aufgezwungene Arbeit sein, eine Arbeit, zu der man Söldner preßt, die man herabwürdigt und gleich halbverhungerten Lasttieren bis zur Erschöpfung anspannt, sondern eine Arbeit, die von allen in freier Wahl auf sich genommen, nach Geschmack und Eigenart der Individuen verteilt wird, die ihre freiwilligen Arbeiter nur wenige Stunden im Tage festhält und ihnen einen fortwährenden Wechsel nach ihrem Gutdünken gestattet. Eine Stadt, eine Gemeinschaft war nur noch ein großer Bienenkorb, in dem es keinen einzigen Untätigen gab, in dem jeder Bürger seinen Teil zu der Gesamtarbeit beisteuerte, deren die Gesellschaft zu ihrer Existenz bedurfte. Das Hinstreben zur Einigkeit, zur vollendeten Harmonie näherte die Bürger einander, ließ sie ganz natürlich zu einzelnen Gruppen und Parteien sich zusammenschließen. Und die Gewähr für das leichte Arbeiten des Mechanismus lag in der Teilung der Arbeit, in der Möglichkeit für jeden Arbeiter, sich die ihm am besten zusagende Verrichtung zu wählen, ohne jedoch stets an dieselbe Tätigkeit gefesselt zu sein. Die Welt sollte natürlich nicht mit einem Schlage umgestaltet werden, man würde im kleinen anfangen, das System vorerst an einem Gemeinwesen von einigen tausend Seelen erproben, um ein lebendes Beispiel aufzustellen. Und der Traum gewann Körper, die Grundeinheit der großen menschlichen Armee wurde geschaffen, die gemeinsame Wohnstätte wurde erbaut. Um einen Anfang zu machen, um den ersten Schritt aus dem jetzigen Zustande hinauszutun, brauchte man nichts, als an den guten Willen derer zu appellieren, die sich melden wollen, an alle die, denen die Ungerechtigkeit der heutigen Welt auf der Seele brennt. Diese vereinigte man dann und schuf eine große Gesellschaft von Kapital, Arbeit und Talent. Man sagte denen, die heute das Geld hatten, denen, die die Körperkraft hatten, und denen, die die geistige Fähigkeit hatten, sie mögen einig sein, sie mögen sich zusammenschließen, um ihre Gaben zum Vorteil aller zu verwerten. Diese Vereinigung arbeitete dann mit hundertfacher Kraft und Leistungsfähigkeit, erzielte reiche Gewinne, die möglichst gleichmäßig an alle verteilt wurden, bis zu dem Tage, da Kapital, Körperkraft und Geist nur noch eine einzige Macht bildeten, das gemeinsame Gut einer freien Gemeinschaft von Brüdern geworden waren, in der alles endlich allen gehörte und der Zustand vollendeter Harmonie erreicht war.

Und auf jeder Seite des kleinen Buches erstrahlte das herrliche Wort Zusammengehörigkeit, das seinen Titel bildete. Da und dort glänzte ein Satz auf wie Leuchtfeuer: Die Vernunft des Menschen ist unfehlbar, die Wahrheit ist nur eine, was die Wissenschaft festgestellt hat, ist unwiderruflich, ewig. Die Arbeit soll zum Freudenfeste werden. Das Glück eines jeden wird eines Tages nur noch im Glück der anderen bestehen, es wird keinen Neid, keinen Haß mehr geben, wenn genug Platz auf der Erde sein wird für das Glück aller Menschen. Die Zwischenräder der gesellschaftlichen Maschinerie müssen beseitigt werden, da sie unnütz sind und Kraft verzehren. Der Handel war damit zur Vernichtung verurteilt, der Verbraucher sollte nur mit dem Erzeuger zu tun haben. Mit einem Sensenhiebe waren alle Schmarotzer hinweggemäht, alle die unzähligen Schädlinge zerstört, die von der sozialen Verderbtheit leben, von dem unaufhörlichen Kriege aller gegen alle, unter dem die Menschheit leidet. Keine Armeen, keine Gerichtshöfe, keine Gefängnisse mehr. Und über alledem strahlte in der endlich aufgegangenen Morgenröte die Gerechtigkeit wie eine flammende Sonne, vertrieb das Elend von der Erde, gab jedem Wesen, das geboren wurde, sein Recht auf das Leben, sein tägliches Brot, sein ihm gebührendes Maß an wirklichem Glück.

Lucas ließ das Buch sinken und verlor sich in Gedanken. Das große und heldenhafte neunzehnte Jahrhundert stand vor seinem Geiste auf, mit seinen unablässigen Kämpfen, seinem tapferen und leidensvollen Ringen um Wahrheit und Gerechtigkeit. Von einem Ende zum anderen war es erfüllt von der unwiderstehlichen demokratischen Bewegung, von dem Aufwärtsstreben des Volkes. Die Revolution hatte nur das Bürgertum zur Macht gebracht, es bedurfte noch eines Jahrhunderts, damit die Entwicklung sich vollende, damit das ganze Volk sein Teil erhalte. Die Samenkörner keimten in dem ohne Unterlaß durchwühlten alten monarchischen Boden. Und seit den Tagen von 1848 erhob die soziale Frage ihr Haupt, die Forderungen der Arbeiter traten immer stärker hervor, rüttelten an den Säulen des neuen bürgerlichen Regiments, das an der Macht war und das durch den egoistischen, tyrannischen Besitz der Fäulnis verfiel. Und nun, im neuen Jahrhundert, wird, sobald das unaufhaltsame Wachstum des Proletariats den alten sozialen Bau gesprengt hat, der Wiederaufbau der Arbeit die Grundlage der künftigen Gesellschaft bilden, die nur durch eine gerechte Verteilung der Güter wird bestehen können. Der ganze Fortschritt, der nahe bevorstehend und unausweichlich ist, liegt darin. Die furchtbare Krise, die die Monarchien stürzte, als die alte Welt von der persönlichen Sklaverei zur Lohnsklaverei überging, ist nichts im Vergleiche zu der jetzigen Krise, die seit hundert Jahren die Völker rüttelt und schüttelt, zu der Krise des in Entwicklung begriffenen Proletariats, das sich umgestaltet, das etwas anderes wird. Und aus diesem anderen wird das glückliche und brüderliche Reich der Zukunft herauswachsen.

Lucas legte das Buch aus der Hand und löschte das Licht aus. Das Lesen hatte ihn wunderbar beruhigt, er fühlte den friedlichen und erquickenden Schlaf nahen. Wohl hatte er keine klare Antwort gefunden auf die drängenden Fragen, auf die klagenden Hilferufe, die aus der Finsternis zu ihm gedrungen waren und seine Seele in ihren Tiefen aufgerüttelt hatten. Aber er hörte die Rufe nicht mehr, als ob die Enterbten, die sie ausgestoßen hatten, sich nun, in der Überzeugung, daß sie gehört worden waren, in Geduld gefaßt hätten. Der Same war ausgestreut, die Ernte würde aufgehen. Das kleine Buch hatte Leben bekommen in der Hand eines Helden und Apostels, und die Mission wird erfüllt werden, wenn die Stunde dafür gekommen ist in der Entwicklung der Dinge. Und Lucas selbst hatte kein Fieber mehr, er suchte nicht mehr angstvoll nach einem Ausweg, obgleich die Lösung des großen Problems, das seine Seele erfüllte, gleichsam in der Schwebe blieb. Er fühlte sich befruchtet von der Idee, in der festen Zuversicht, daß er sie zur Welt bringen werde. Vielleicht morgen schon, wenn er gut schlafen konnte. Und er gab endlich seinem großen Ruhebedürfnis nach und versank, erfüllt von Zuversicht und Willenskraft, in einen köstlichen Schlaf.

Als Lucas am nächsten Morgen um sieben Uhr erwachte und die Sonne am weiten, klaren Himmel aufgehen sah, war sein erster Gedanke, aus dem Hause zu gehen, ehe seine Wirte ihn sehen konnten, und die Felsentreppe zum Hochofen hinaufzusteigen. Er wollte Morfain aufsuchen, mit ihm sprechen und bei ihm gewisse Erkundigungen einziehen. Er gehorchte einer plötzlichen instinktiven Regung, die ihn vor allem drängte, sich ein genaues Urteil über die aufgelassene Mine zu bilden, in der Morfain, der auf dem Berge geboren und aufgewachsen war, jeden Stein kennen mußte. Und in der Tat, der Gußmeister geriet in Eifer, sobald das Gespräch auf die Mine kam. Er hatte über die Sache immer seine eigenen Gedanken gehabt, auf die niemand hören wollte, obgleich er sie oft genug wiederholte. Nach seiner Ansicht hatte der alte Laroche unrecht getan, so rasch die Hoffnung aufzugeben und den Abbau einzustellen, sobald dieser aufgehört hatte, lohnend zu sein. Freilich war das Erz so schlecht geworden, so schwefel- und phosphorhaltig, daß es keinen guten Guß mehr ergab. Aber Morfain war überzeugt, daß man lediglich auf eine durchziehende schlechte Ader gestoßen sei und daß man nur die Stollen weiter vorbauen oder noch besser einen neuen an einer anderen, von ihm bezeichneten Stelle hätte eintreiben müssen, um wieder auf das frühere vorzügliche Erz zu stoßen. Er stützte diese Überzeugung auf eine Reihe von Anzeichen, auf seine genauen Kenntnisse aller benachbarten Berge, die er seit vierzig Jahren beging und untersuchte. Er war freilich nicht gebildet, er war nur ein einfacher Arbeiter, der sich mit den Herren Ingenieuren nicht in einen Streit einlassen konnte. Trotzdem war er erstaunt, daß man nicht mehr Vertrauen in seinen Spürsinn setzte und daß man es achselzuckend abgelehnt hatte, sich durch einige Sondierungen von der Richtigkeit seiner Behauptungen zu überzeugen.

Die ruhige Sicherheit des Mannes machte tiefen Eindruck auf Lucas, um so mehr als er die Fahrlässigkeit strenge verurteilte, mit der der alte Laroche die Mine auch dann noch nutzlos hatte liegenlassen, als die Erfindung des neuen chemischen Verfahrens die Nutzbarmachung auch des schlechten Erzes ermöglicht hätte. Nach dem heutigen Stande der Wissenschaft war der Betrieb der Mine unbedingt wieder aufzunehmen, selbst wenn man gezwungen wäre, das Erz chemisch zu behandeln. Und erst recht, wenn Morfain mit seiner Überzeugung recht behalten sollte, wenn man auf neue, reiche und reine Adern stieße! Er nahm bereitwillig den Vorschlag des Gußmeisters an, mit ihm einen Spaziergang zu den verlassenen Stollen zu machen, damit er ihm seine Ansicht an Ort und Stelle darlegen könne. Der Aufstieg in der klaren, kühlen Morgenluft durch die felsige, wilde Einsamkeit, in der der Lavendel duftete, war köstlich. Drei Stunden lang kletterten die beiden Männer durch die Schluchten der Felswand, drangen in Höhlen ein, folgten den tannenbewachsenen Hängen, wo stellenweise das nackte Gestein hervortrat wie das Skelett eines verscharrten Riesenkörpers. Und allmählich übertrug sich die Überzeugung Morfains auf Lucas, erfüllte ihn wenigstens mit einer gewissen Hoffnung, daß die Trägheit der Menschen hier einen Schatz habe ungehoben liegenlassen, den die Erde, die unerschöpfliche Mutter, noch immer herzugeben bereit war.

Es war Mittag vorüber, und Lucas verzehrte ein einfaches Mahl von Eiern und Milchspeise oben auf den Monts Bleuses. Als er gegen zwei Uhr gutgelaunt, die Brust geweitet von der freien Bergluft, zurückkehrte, wurde er von seinen Wirten, die seinetwegen schon in Unruhe gewesen waren, da sie sich sein Ausbleiben nicht erklären konnten, mit lebhaften Ausrufen empfangen. Er entschuldigte sich, daß er ihnen nichts von seiner Absicht eines Spazierganges auf die Höhe gesagt hatte, erzählte, daß er sich verirrt und bei Bauersleuten gegessen habe. Er gestattete sich diese kleine Lüge, weil er die Geschwister Jordan nicht allein und noch bei Tische traf. Wie an jedem zweiten Dienstag des Monats hatten sie drei Gäste: den Abbé Marle, den Doktor Novarre und den Lehrer Hermeline, die Soeurette gern an ihrem Tisch vereinigte, und die sie scherzhaft ihren Großen Rat nannte, weil sie ihr in ihren wohltätigen Werken beistanden. Die festverschlossene Crêcherie, in der Jordan in klösterlicher Abgeschiedenheit ein stilles Gelehrtendasein führte, öffnete sich diesen drei Männern, die als vertraute Freunde behandelt wurden. Man hätte freilich nicht sagen können, daß sie diese Gunst ihrer Einigkeit dankten, denn sie stritten fortwährend miteinander. Aber ihre Diskussionen unterhielten Soeurette, und sie freute sich darüber, daß sie auch Jordan zu zerstreuen schienen, denn er hörte lächelnd zu.

»Sie haben also schon gegessen?« sagte sie zu Lucas. »Aber Sie trinken doch eine Tasse Kaffee mit uns, nicht wahr?«

»Die Tasse Kaffee wird gern angenommen«, erwiderte er heiter. »Sie sind wirklich zu liebenswürdig gegen mich, während ich eigentlich die stärksten Vorwürfe verdiente.«

Die kleine Gesellschaft begab sich in den Salon, durch dessen geöffnete Fenster man auf die Rasenflächen und die Bäume des Parkes sah, die ihren kräftigen Duft hereinsandten. Auf einem Tischchen stand eine Porzellanvase mit einem Strauß herrlicher Rosen, die der Doktor Novarre liebevoll züchtete und von denen er jedesmal Soeurette einige mitbrachte, wenn er auf die Crêcherie geladen war.

Während der Kaffee gereicht wurde, setzten der Pfarrer und der Lehrer ihre Diskussion fort. Seit dem Beginn der Mahlzeit hatten sie nicht aufgehört, über Fragen der Bildung und Erziehung miteinander zu streiten.

»Wenn Sie bei Ihren Schülern nichts ausrichten«, sagte der Abbé Marle, »so liegt es daran, daß Sie Gott aus Ihrer Schule verjagt haben. Gott ist der Herr der Geister, wir wissen alles nur durch ihn.«

Der große, starke Mann mit der Adlernase und dem vollen Gesicht mit den regelmäßigen Zügen sprach mit der starren Autorität seines Glaubens, setzte alles Heil der Welt auf den Katholizismus und auf die strikte, buchstabengetreue Befolgung seiner Dogmen. Und ihm gegenüber saß Hermeline, der Lehrer, ein kleiner, magerer Mann mit knochigem Gesicht, spitzem Kinn und eckiger Stirn, ebenso starrsinnig, der mit kaltem Grimme seine Religion des mechanischen, durch Gesetze und militärische Strenge zu fördernden Fortschritts verfocht.

»Ach, lassen Sie mich zufrieden mit Ihrem Gott, der die Menschen nur zum Irrtum und zu Leiden führt! Wenn ich bei meinen Schülern nichts ausrichte, so kommt dies einmal davon, daß man mir sie zu früh wegnimmt, um sie in die Fabriken zu schicken. Und ferner kommt es hauptsächlich davon, daß die Zucht sich immer mehr lockert und daß der Lehrer gar kein Ansehen mehr hat. Wenn ich meinen Jungen ein paar ordentliche Stockstreiche geben dürfte, so würde ihnen das schon den Schädel öffnen.«

Da Soeurette einen kleinen Ruf des Entsetzens ausstieß, setzte er seine Ansicht ausführlicher auseinander. Nach seiner Überzeugung gab es nur eine Rettung aus der allgemeinen Verderbnis: die Kinder unter die Zucht der Freiheit zu beugen, ihnen das republikanische Bewußtsein so einzuprägen, mit Gewalt, wenn es sein muß, daß es ihnen zeitlebens im Blute blieb. Sein Ideal war, aus jedem Schüler einen Diener des Staates, einen Sklaven des Staates zu machen, der seine Persönlichkeit dem Staate vollständig opfert. Für ihn gab es nichts Höheres, als daß alle dasselbe auf dieselbe Art lernen sollen, zu demselben Zwecke, der Allgemeinheit zu dienen. Das war seine harte und trostlose Religion einer von den Erinnerungen der Vergangenheit mit Stockstreichen zu befreienden Demokratie, die dann aufs neue zu Zwangsarbeit verurteilt sein und unter der Zuchtrute der Herren ihr vorgeschriebenes Glück finden sollte.

»Außerhalb des Katholizismus herrscht nur Finsternis«, wiederholte starrsinnig der Abbé Marle.

»Aber er steht ja vor dem Zusammenbruch!« rief Hermeline. »Eben darum bedürfen wir eines neuen gesellschaftlichen Gerüstes.«

Der Pfarrer war sich zweifellos sehr wohl bewußt, daß der Katholizismus im entscheidenden Kampfe mit der Wissenschaft lag, die jeden Tag siegreich weiter vordrang. Aber er wollte es nicht offen zugeben, er gestand nicht einmal ein, daß seine Kirche leerer und leerer wurde.

»Das Gerüst des Katholizismus«, versetzte er, »ist noch so stark, so ewig, so göttlich, daß Sie seine Konstruktion nachahmen, wenn Sie davon sprechen, was weiß ich was für einen atheistischen Staat aufzubauen, in dem Gott durch eine Maschine ersetzt würde, die die Menschen regierte und erzöge!«

»Eine Maschine, warum nicht?« rief Hermeline, gereizt durch das Stück Wahrheit, das in dem Angriff des Priesters lag. »Rom ist nie etwas anderes gewesen als eine Presse, die das Blut der Welt ausgepreßt hat.«

Wenn der Streit zwischen den beiden sich zu solcher Heftigkeit gesteigert hatte, pflegte der Doktor Novarre in seiner leichtironischen, versöhnlichen Art einzugreifen.

»Nun, nun, meine Herren, ereifern Sie sich nicht. Sie sind nicht mehr weit von einer Verständigung, da Sie sich gegenseitig vorwerfen, daß der eine des anderen Religion nachahme.«

Der Doktor, ein kleiner, schmächtiger Mann mit feingeformter Nase und glänzenden Augen, war ein duldsamer, ein wenig ironischer Geist, der, ganz der Wissenschaft ergeben, den politischen und sozialen Fragen sein tieferes Interesse verweigerte. Er sagte, gleich Jordan, dessen intimer Freund er war, daß er die Wahrheiten nur an dem Tage in sich aufnehmen werde, da sie wissenschaftlich bewiesen seien. Im übrigen war er ein bescheidener, fast schüchterner Mann, ohne jeden Ehrgeiz, der sich damit begnügte, seine Kranken nach bestem Wissen zu behandeln, und der keine andere Leidenschaft hatte, als die Pflege seiner Rosen innerhalb der Mauern seines Gartens, wo er einsam in glücklichem Frieden lebte.

Bis jetzt hatte Lucas nur zugehört. Aber nun sprach er, noch ganz erfüllt von dem, was er in der Nacht gelesen hatte.

»Das Schreckliche in unseren Schulen ist«, sagte er, »daß man von dem Gedanken ausgeht, daß der Mensch von Natur schlecht, daß er Unbotmäßigkeit und Faulheit mit auf die Welt bringt, und daß es eines ganzen Systems von Belohnungen und Bestrafungen bedarf, wenn man etwas aus ihm machen will. Daher hat man den Unterricht zur Folter gestaltet, das Lernen ist so hart für unser Hirn geworden, wie die Arbeit für unsere Glieder. Unsere Lehrer sind die Gefangenenaufseher der Schulengaleeren, und ihre Aufgabe ist es, die Vernunft der Kinder nach vorgeschriebener Methode zu kneten, sie alle in dieselbe Form zu gießen, ohne den Eigenarten irgendwie Rechnung zu tragen. So ertöten sie jedes Streben und ersticken den kritischen Geist, das freie Urteil, die persönliche Regung des Talents unter einem Haufen fertig fabrizierter Ideen und offiziell eingesetzter Wahrheiten. Und das schlimmste bei diesem Unterrichtssystem ist, daß es den Charakter ebenso verbildet wie den Geist und daß es nur Schwächlinge und Heuchler züchtet.«

Hermeline empfand diese Vorwürfe als gegen sich persönlich gerichtet. Er entgegnete gereizt:

»Und wie sollte man nach Ihrer Ansicht verfahren? Nehmen Sie doch eine Zeitlang meinen Platz ein, und Sie werden sehen, wie weit Sie mit den Schülern kommen, wenn Sie sie nicht alle unter dieselbe Disziplin beugen, wenn Sie nicht als Lehrer die höchste Autorität für sie verkörpern.«

»Der Lehrer«, sagte Lucas in seiner stillen Weise, »hat keine andere Aufgabe, als die Kräfte der Schüler zu erwecken. Er ist ein Professor der Energie, dem es einfach obliegt, die Fähigkeiten des Kindes zu entwickeln, seine Fragen hervorzurufen, seine Persönlichkeit zur Entfaltung zu bringen. Im Menschen liegt ein unendliches und unstillbares Lern- und Wissensbedürfnis, das zum einzigen Ansporn des Studiums gemacht werden sollte, ohne daß es der Strafen und Belohnungen bedürfte. Nichts anderes wäre nötig, als daß man jeden in das Studium einführte, das ihm gefällt, und daß man es ihm anziehend machte, indem man ihn allein mit der Kraft seines wachsenden Begriffsvermögens vordringen läßt, ihm die Freude immer neuer Entdeckungen ermöglicht. Die Menschen sollen Menschen bilden, indem sie sie als Menschen behandeln – liegt darin nicht das Ganze des Erziehungs- und Unterrichtsproblems?«

Der Abbé Marle, der langsam seinen Kaffee trank, zuckte die Achseln und sagte im Tone priesterlicher Unfehlbarkeit:

»Die Sünde ist des Menschen Erbteil, und er kann nur gerettet werden durch die Buße. Die Trägheit, eine der sieben Todsünden, kann nur vertrieben werden durch die Arbeit, die Gott dem ersten Menschen nach dem Sündenfall als Strafe auferlegt hat.«

»Sie irren sich, Abbé«, sagte gelassen der Doktor Novarre, »die Trägheit ist nur eine Krankheit, wenn sie wirklich vorhanden ist, das heißt, wenn der Körper jede Arbeit verweigert, der geringsten Anstrengung widerstrebt. In solchem Falle können Sie sicher sein, daß diese Schlaffheit das Anzeichen schwerer innerer Störungen ist. Aber wo haben Sie sonst wirklich Träge gefunden? Nehmen wir einmal die Nichtstuer von Geburt, Gewohnheit und Prinzip. Strengt eine elegante Dame, die die ganze Nacht tanzt, ihre Augen nicht mehr an, gibt sie nicht mehr Muskelkraft aus als eine Arbeiterin, die an ihrem Tischchen bis zum Morgen stickt? Nehmen die Genußmenschen mit ihren unaufhörlichen gesellschaftlichen Verpflichtungen und erschöpfenden Festen nicht eine aufreibendere Arbeit auf sich als der Handwerker an der Hobelbank oder am Schraubstock? Und betrachten Sie nur, mit welch freudiger Willigkeit wir uns nach einer widerwärtigen Verrichtung in eine anstrengende Erholung stürzen, die unsere Körperkraft erschöpft. Das beweist, daß die Arbeit, die körperliche Mühe uns nur dann eine Last ist, wenn sie uns nicht gefällt. Wenn man es daher so einrichten würde, daß jeder Mensch nur die ihm angenehme Arbeit nach freier Wahl zu verrichten hätte, so gäbe es sicherlich keine Trägen mehr.«

Auch Hermeline zuckte nun die Achseln.

»Lassen Sie doch einmal einem Kinde die freie Wahl zwischen der Grammatik und der Arithmetik. Sie werden sehen, daß es weder das eine noch das andere wählt. Die Erfahrung hat gelehrt, daß das Kind ein junger Baum ist, den man anbinden und gerade ziehen muß.«

»Und man zieht ihn nur gerade«, setzte der Priester hinzu, diesmal mit dem Lehrer übereinstimmend, »indem man in der menschlichen Seele alles vernichtet, was die Erbsünde darin Schändliches und Teuflisches zurückgelassen hat.«

Es trat ein Stillschweigen ein. Soeurette hatte aufmerksam zugehört, während Jordan Blick und Gedanken durchs Fenster in die Weite schweifen ließ. Lucas fand hier wieder die pessimistische Anschauung des Katholizismus, die sich auch die Fanatiker des Fortschritts, des vom Staate mittels Gesetzen zu erzwingenden Fortschritts zu eigen gemacht haben. Nach ihr war der Mensch verdammenswert, war schon einmal der Verdammnis verfallen, von ihr erlöst worden, und jederzeit geneigt, ihr wieder zu verfallen. Ein eifervoller und zornmütiger Gott behandelte ihn als stets fehlendes Kind. Seine Leidenschaften wurden verfolgt und gehetzt, man strebte seit Jahrhunderten, sie zu vernichten, man trachtete den Menschen im Menschen zu ertöten. Und wieder tauchte Fourier vor seinem Geiste auf, der die Leidenschaften nutzbar machte, veredelte, zu unentbehrlichen, schöpferischen Kräften gestaltete, der die Menschen endlich von der erdrückenden, ertötenden Last der lebensverneinenden Religionen befreite, die nichts anderes sind als abscheuliche soziale Schutzeinrichtungen, um die Willkürherrschaft der Mächtigen und Reichen aufrechtzuerhalten.

Dann sagte Lucas wieder langsam und träumerisch, als denke er laut:

»Es würde sich nur darum handeln, die Menschen mit der Wahrheit zu durchdringen, daß das größtmögliche Glück des einzelnen im größtmöglichen Glück aller besteht.«

Hermeline und der Abbé Marle lachten.

»Vortrefflich!« sagte der Lehrer ironisch. »Sie beginnen, um alle Kräfte zu wecken, damit, daß Sie das persönliche Interesse zerstören. Sagen Sie mir nur einmal, welcher Antrieb den Menschen zur Tat drängen wird, im Augenblick, da er nicht für sich selbst arbeitet? Das persönliche Interesse ist das Feuer unter jedem Kessel, das erfahren wir beim Entstehen eines jeden Werkes. Und dieses vernichten Sie, Sie beginnen damit, dem Menschen seinen Egoismus zu nehmen, Sie, der Sie ihn mit allen seinen Instinkten wollen! Sie rechnen wohl auf das Gewissen, auf das Ehr- und Pflichtgefühl?«

»Ich brauche nicht darauf zu rechnen«, versetzte Lucas mit derselben Ruhe. »Der Egoismus übrigens, wie wir ihn bis heute verstehen, hat eine so entsetzliche, so von Haß und Leiden zerwühlte Menschheit geschaffen, daß es wohl erlaubt wäre, einmal ein anderes Triebmittel zu versuchen. Aber ich wiederhole Ihnen, daß ich den Egoismus gelten lasse, wenn Sie darunter den sehr berechtigten Trieb, das unbesiegliche Verlangen nach dem Glück verstehen, das uns allen innewohnt. Weit entfernt, das persönliche Interesse zu zerstören, verstärke ich es, indem ich es enger umschreibe, indem ich es auf das einzig richtige Ziel lenke, das schöne Reich schaffen zu helfen, in dem das Glück aller das Glück eines jeden in sich begreift. Und zu diesem Zweck brauchen wir nur überzeugt zu sein, daß wir für uns selbst arbeiten, wenn wir für alle arbeiten. Die soziale Ungerechtigkeit sät den ewigen Haß und erntet das allgemeine Leiden. Daher ist es nötig, daß alle sich vertragen, daß die Arbeit neugestaltet werde auf der Grundlage dieser unerschütterlichen Wahrheit: daß die größte Summe unseres Glückes eines Tages bestehen wird aus dem Glücke aller, aus dem Glücke jedes unserer Nebenmenschen.«

Hermeline lächelte spöttisch, und der Abbé Marle sagte:

»Liebet euch untereinander, das ist die Lehre unseres göttlichen Meisters Jesus Christus. Aber er hat auch gesagt, daß das Glück nicht von dieser Welt ist und daß es sündhafte Torheit ist, auf dieser Erde das Reich Gottes verwirklichen zu wollen, das im Himmel ist.«

»Trotzdem wird es eines Tages verwirklicht werden«, sagte Lucas. »Alle Arbeit der strebenden Menschheit, aller Fortschritt, alle Wissenschaft drängen unaufhaltsam diesem Ziele zu.«

Aber ohne auf ihn zu achten, stürzte sich der Lehrer wieder auf den Priester:

»Nein, nein, lieber Abbé, fangen Sie nur nicht wieder mit Ihrem Hinweis auf ein Paradies an, womit die Armen dieser Erde genarrt werden! Im übrigen gehört euer Christus uns, ihr habt ihn uns genommen, ihr habt ihn den Bedürfnissen eurer Herrschaft angepaßt. Im Grunde war er nichts als ein Freidenker und ein Revolutionär.«

Der Kampf entbrannte aufs neue, und wieder mußte der Doktor Novarre zwischen sie treten, indem er bald dem einen, bald dem anderen recht gab. Wie gewöhnlich blieben übrigens die Fragen unentschieden, denn noch nie war eine endgültige Lösung gefunden worden. Die Kaffeetassen waren längst geleert, als Jordan gedankenvoll gleichsam das Schlußwort sprach:

»Die einzige Wahrheit liegt in der Arbeit: die Welt wird eines Tages das sein, wozu die Arbeit sie gemacht haben wird.«

Soeurette, die Lucas mit innigem Anteil zugehört hatte, ohne sich in den Streit zu mischen, brachte nun das Gespräch auf ein Heim, dessen Gründung sie plante, in dem die kleinen Kinder der Arbeiterinnen tagsüber gepflegt werden sollten. Von da ab entwickelte sich zwischen dem Arzt, dem Lehrer und dem Pfarrer ein ruhiger und freundschaftlicher Gedankenaustausch über die Art, wie dieses Heim ins Werk zu setzen wäre und wie bei der Durchführung die Mißbräuche anderer ähnlicher Anstalten vermieden werden sollten. Im Park warfen die Bäume lange Schatten über die Rasenplätze, auf denen die Tauben in der gelben Septembersonne umhertrippelten.

Es war bereits vier Uhr, als die drei Gäste die Crêcherie verließen. Jordan und Lucas begleiteten sie bis an die ersten Häuser der Stadt, um sich ein wenig Bewegung zu machen. Als sie dann über die steinigen Halden zurückkehrten, die Jordan unbenutzt liegenließ, schlug dieser vor, einen Umweg zu machen, um bei Lange, dem Töpfer, vorbeizukommen. Jordan hatte diesem gestattet, an einer einsamen und wilden Stelle seiner Besitzung, gerade unterhalb des Hochofens, seinen Wohnsitz aufzuschlagen, ohne daß er von ihm eine Miete oder Gegenleistung irgendeiner Art verlangte. Lange hatte sich gleich Morfain in einer Felsenhöhle eingenistet, die einst von Bergbächen aus der vorspringenden Felswand der Monts Bleuses ausgewaschen worden war. Er hatte sich im Laufe der Zeit drei Öfen nahe an der Stelle errichtet, wo er seine Töpfererde gewann, und lebte nun hier ohne Gott und ohne Herrn in der freien Unabhängigkeit seiner Arbeit.

»Er ist fraglos ein Brausekopf«, sagte Jordan, den Lucas mit lebhaftem Interesse befragte. »Was Sie mir von ihm erzählt haben, von seinem heftigen Losbrechen auf der Rue-de-Brias neulich des Abends, setzt mich gar nicht in Erstaunen. Er kann von Glück sagen, daß er wieder freigelassen worden ist, denn es kann ihm noch einmal schlecht ergehen, so unvorsichtig stellt er sich bloß. Aber Sie können sich nicht vorstellen, wie intelligent er ist und welche Kunstfertigkeit er in seinen einfachen Töpfen entwickelt, obgleich ihm jede Bildung fehlt. Er ist hier als Kind armer Arbeiter geboren, war mit zehn Jahren Waise, gezwungen, als Handlanger bei Maurern sein Brot zu verdienen, wurde dann Töpferlehrling und schließlich sein eigener Herr, wie er lachend sagt, seitdem ich ihm gestattet habe, sich bei mir niederzulassen. Ich interessiere mich besonders für seine Versuche mit feuerfesten Erden, denn wie Sie wissen, suche ich die Erde, die den furchtbaren Temperaturen der elektrischen Öfen am besten widerstehen könnte.«

Sie waren nun vor der Wohnung Langes angelangt, und Lucas sah zwischen den Büschen ein förmliches Barbarenlager, von einer kleinen Steinmauer umgeben. An der Schwelle sah er ein hochgewachsenes schwarzes junges Weib stehen und fragte:

»Ist er denn verheiratet?«

»Nein, aber er lebt mit diesem Mädchen, das zugleich seine Sklavin und sein Weib ist. Es ist eine ganze Geschichte. Vor fünf Jahren, sie war damals wohl kaum älter als fünfzehn, fand er sie eines Tages krank, dem Tode nahe in einem Straßengraben, wahrscheinlich von einer Zigeunerbande dort zurückgelassen. Kein Mensch weiß eigentlich genau, woher sie stammt, sie selbst schweigt, wenn man sie darüber befragt. Lange trug sie auf seinen Armen nach Hause, pflegte sie, bis sie wieder gesund war, und Sie haben keinen Begriff, wie glühend dankbar sie ihm ist, wie sie sich als sein Hund, sein willenloses Eigentum fühlt. Sie hatte keine Schuhe an den Füßen, als er sie fand, und sie trägt auch jetzt noch keine, wenn sie nicht etwa nach der Stadt hinabgeht. Daher nennen alle Leute und Lange selbst sie nicht anders als Barfuß. Er beschäftigt keine anderen Arbeiter als sie, Barfuß ist sein einziger Gehilfe, und ebenso hilft sie ihm den kleinen Karren ziehen, wenn er seine Töpfe von Markt zu Markt führt. Das ist seine Art, seine Fabrikate abzusetzen, und sie sind in der ganzen Gegend wohlbekannt.«

An der Schwelle ihrer Behausung stehend, die bloß durch eine Halbtür verschlossen war, sah Barfuß den Ankommenden entgegen, und Lucas konnte sie genau betrachten mit ihrem braunen, regelmäßigen Gesichte, ihren kohlschwarzen Haaren und ihren großen, glänzenden Augen, in denen scheue Wildheit lag, die aber einen unendlich sanften Ausdruck annahmen, wenn sie sie auf Lange richtete. Er sah ihre nackten Füße, kleine, bronzefarbene Kinderfüße, auf dem stets feuchten Lehmboden. Sie stand im Arbeitskleid da, einer Art von Hemd aus grauer Leinwand, aus dem sich ihre kleine, feste Brust abhob, und das ihre schönmodellierten Beine, ihre kräftigen Arme sehen ließ. Als sie sich vergewissert hatte, daß der Herr, der mit dem Grundeigentümer herankam, ein Freund sei, verließ sie ihren Beobachtungsposten, rief Lange herbei und kehrte zu dem Ofen zurück, den sie zu bewachen hatte.

»Sie sind's, Herr Jordan?« rief Lange hervorkommend. »Denken Sie nur, daß Barfuß seit meinem Abenteuer von neulich sich unaufhörlich einbildet, daß man mich verhaften will. Und ich glaube wahrhaftig, wenn ein Häscher da heraufkäme, daß sie ihn nicht unversehrt aus ihren Krallen lassen würde. Sie kommen wohl, um nach meinen neuen feuerfesten Ziegeln zu sehen? Da haben Sie sie. Ich will Ihnen sagen, woraus sie bestehen.«

Lucas erkannte sogleich den stämmigen Menschen mit den verwitterten Zügen, der in der Dunkelheit der Rue-de-Brias die unausbleibliche Katastrophe des Untergangs verkündigt, auf das verderbte, wegen seiner Sünden verdammte Beauclair seinen Fluch geschleudert hatte. Aber er betrachtete ihn nun mit einiger Überraschung näher, die hohe Stirn, über welcher der wirre Wald seiner dichten schwarzen Haare emporstand, die scharfen, klug glänzenden Augen, die im Aufbrausen des Zornes wilde Blitze schossen. Und besonders überraschte es ihn, unter der ungeleckten Hülle, unter der anscheinenden Heftigkeit des Mannes eine nachdenkliche Natur, einen sehnsüchtigen Träumer, einen schlichten ländlichen Poeten zu entdecken, der in der unerbittlichen Logik seines geraden Rechtsgefühles die alte, verlotterte Welt samt und sonders in die Luft sprengen wollte.

Jordan stellte Lucas als einen befreundeten Ingenieur vor und bat Lange, er möge ihm das zeigen, was er, Lange, scherzhaft sein Museum nannte.

»Wenn es den Herrn interessiert, sehr gern. Es sind das Sachen, die ich zu meinem Vergnügen gemacht habe. Sehen Sie, all dieses Töpferzeug da unter dem Schuppen. Sehen Sie sich's an, während ich Herrn Jordan meine Ziegel erkläre.«

Das Erstaunen Lucas' wuchs. In dem Schuppen standen Fayencefiguren, Vasen, Töpfe, Schüsseln von eigenartiger Form und Färbung, die zwar große Unwissenheit verrieten, aber von köstlicher, naiver Ursprünglichkeit waren. Die Zufallswirkungen des Feuers traten prachtvoll hervor, die Glasuren waren von außerordentlicher Farbenglut. Aber was ihm besonders an den Töpferwaren auffiel, die Lange für seine Kunden in den Dörfern und auf den Märkten herstellte, an den gewöhnlichen Tellern, Schüsseln, Töpfen und Krügen, das waren die harmonischen Linien ihrer Formen, die wohltuende Reinheit ihrer Farben, in denen sich ein prächtiges, ungelerntes Talent verriet. In diesem Töpfer schien das Genie seines Stammes hervorzubrechen, seine Werke, in denen die Volksseele sich ausprägte, schienen sich ganz von selbst unter seinen plumpen Fingern geformt zu haben, er hatte instinktiv die edeln, uralten Formen von bewundernswerter praktischer Schönheit gefunden. Jedes Stück war ein Meisterwerk, unmittelbar für seinen Zweck geformt und daher von schlichter Wahrheit und lebensvoller Anmut.

Als Lange mit Jordan zurückkehrte, der bei ihm einige hundert Ziegel bestellt hatte, um damit neue Versuche an seinen elektrischen Öfen zu machen, nahm er lächelnd die Lobsprüche Lucas' entgegen, der sich in bewundernden Ausdrücken über die leuchtenden roten und blauen Farbentöne der Glasuren erging.

»Ja, ja, die Dinger bringen Klatschrosen und Kornblumen ins Haus. Ich denke immer daran, daß man damit die Mauern und Dächer der Häuser schmücken sollte. Das käme nicht teuer, wenn die Kaufleute nicht stehlen würden, und Sie sollten einmal sehen, wie schön das wäre, wie ein Blumengarten mitten im Grün. Aber mit den ekelhaften Bürgern ist ja nichts anzufangen!«

Er geriet sogleich wieder in fanatischen Zorn und machte seinen anarchistischen Gedanken Luft, die er aus einigen Broschüren in sich aufgenommen hatte. Zuerst mußte alles zerstört werden und das Volk sich mit Gewalt alles Besitzes bemächtigen. Das Heil lag einzig in der vollständigen Vernichtung jeglicher Machthaberei, denn wenn nur eine einzige, nur die kleinste Gewalt bestehen blieb, so würde das genügen, um darauf den ganzen Bau von Ungerechtigkeit und Tyrannei wieder aufzurichten. Dann sollte die freie Kommune eintreten, ohne irgendwelche Regierung, auf Grund friedlicher Verständigung zwischen den einzelnen Gruppen, deren Art und Zusammensetzung fortwährend wechseln und sich verändern sollte, nach den Bedürfnissen und Wünschen eines jeden. Lucas war überrascht, in diesem System die Gruppen Fouriers wiederzufinden. Derselbe Idealzustand bildete hier wie dort das Endziel der Sehnsucht: das Hervorrufen der schöpferischen Leidenschaften, die freie Betätigung des Individuums in einer einträchtigen Gemeinschaft, in der das Wohl jedes einzelnen Bürgers die Grundlage des Wohles aller war. Nur die Wege zum Ziele waren verschieden, der Anarchist war nur hoffnungslos und erbittert, und er glaubte nicht mehr an die politischen Mittel, er wollte durch Gewalt und durch Ausrottung des Bestehenden das soziale Glück erzwingen, da die Jahrhunderte langsamer Entwicklung es nicht herbeizubringen schienen. Die Katastrophen, die vulkanischen Ausbrüche lagen im Plane der Natur. Als Lucas den Namen Bonnaire fallen ließ, erging sich Lange in wütendem Spott und sprach von dem Werkmeister mit bittererer Geringschätzung als von einem Bourgeois. Jawohl, das wäre was Sauberes, die Kaserne Bonnaires, in der die Leute eingesperrt, numeriert und exerziert würden wie in einem Bagno! Und die Faust über Beauclair schüttelnd, dessen nächste Dächer ihm zu Füßen lagen, schleuderte er wieder seinen Prophetenfluch auf die verderbte Stadt, die durch Feuer verwüstet und vom Erdboden vertilgt werden würde, damit aus ihrer Asche endlich die Stadt der Wahrheit und Gerechtigkeit entstehe.

Von dieser Heftigkeit überrascht, sah Jordan ihn mit Interesse an.

»Sagen Sie einmal, lieber Lange, Sie sind aber doch nicht unglücklich?«

»Nein, Herr Jordan, ich bin sehr glücklich, so glücklich, wie man sein kann. Ich lebe hier frei, fast in vollkommener Anarchie. Sie haben mich dieses Stückchen Erde nehmen lassen, von der Erde, die uns allen gehört, und ich bin mein eigener Herr und zahle niemand Miete. Ich arbeite wie und wann es mir gefällt, habe keinen Herrn, der mich ausnützt, und keinen Untergebenen, den ich ausnütze, ich verkaufe meine Schüsseln und Krüge selber an die guten Leute, die sie brauchen, so daß weder ich noch sie von den Kaufleuten bestohlen werden. Und dabei bleibt mir immer noch Zeit, um zu meinem Vergnügen diese Figuren und Töpfe und farbigen Platten zu brennen, deren helle Glasuren meine Augen erfreuen. Nein, nein, wir können nicht klagen, wir freuen uns unseres Lebens, wenn die Sonne fröhlich scheint, nicht wahr, Barfuß?«

Sie hatte sich genähert, in ihrem leichten Arbeitskleide, die Hände noch rosig gefärbt von einem Topfe, den sie eben von der Drehscheibe abgenommen hatte. Und sie heftete mit zärtlichem Lächeln ihren ergebenen Blick auf den Mann, der ihr Gott war, zu dessen Sklavin sie sich gemacht hatte, dem sie Körper und Seele in immer erneutem Geschenke hingab.

»Das hindert aber nicht«, fuhr Lange fort, »daß es zuviel arme Teufel gibt, die im Elend leben, und daß Beauclair über kurz oder lang in die Luft gesprengt werden muß, damit es ordentlich wieder aufgebaut werde. Nur die Propaganda der Tat, nur die Bombe kann das Volk aufwecken. Und was sagen Sie dazu: ich habe alles hier, was man braucht, um zwei oder drei Dutzend Bomben von außerordentlicher Kraft herzustellen. Eines schönen Tages ziehe ich mit meinem Karren aus, und Barfuß schiebt hintennach. Er ist anfangs schwer, wenn er mit Töpferzeug beladen ist, und wenn man ihn über die schlechten Straßen von Dorf zu Dorf, von Markt zu Markt schleppen muß. Da ruht man wohl von Zeit zu Zeit unter schattigen Bäumen aus, besonders da, wo es eine frische Quelle gibt. Aber an diesem Tag gehen wir nicht aus Beauclair hinaus: in jedem Topf haben wir eine Bombe, und wir legen eine an der Unterpräfektur nieder, eine am Stadthaus, eine am Gerichtsgebäude, eine am Gefängnis, eine an der Kirche, kurz überall, wo es eine Macht zu zerstören gibt. Die Lunten brennen, auf die nötige Zeit berechnet, und auf einmal fliegt das ganze Beauclair in die Luft, ein furchtbarer Vulkanausbruch zerschmettert und verbrennt es! Wie? Was sagen Sie zu meiner kleinen Spazierfahrt mit meinem Karren, zu meiner Verteilung der kleinen Töpfe, die ich für die Wohlfahrt des Menschengeschlechtes fabriziere?«

Er lachte laut mit erregtem Gesicht, und zu dem ebenfalls lachenden braunen Mädchen gewandt fuhr er fort:

»Nicht wahr, Barfuß, ich ziehe und du schiebst, und das gibt eine noch schönere Fahrt als unter den Weiden längs der Mionne, wenn wir auf den Markt von Magnolles gehen?«

Jordan sagte nichts und drückte nur mit einer leichten Gebärde aus, wie töricht der Gelehrte in ihm diese Auffassung fand. Aber Lucas fühlte noch auf dem Heimwege den Schauer dieser gewaltigen, finsteren Poesie, dieses Traumes vom Glück durch die Zerstörung, der in den Köpfen einiger einfältiger Poeten unter der Menge der Enterbten lebte. Und die beiden Männer gingen schweigend nebeneinander hin, jeder in seine Gedanken versunken.

Im Laboratorium, wohin sie sich sogleich begaben, fanden sie Soeurette an einem Tischchen sitzend, emsig beschäftigt, ein Manuskript ihres Bruders zu kopieren. Oft half sie ihm sogar, eine große blaue Schürze vorgetan, als Assistentin bei manchen seiner schwierigen Experimente. Sie hob nur den Kopf, als die beiden Männer eintraten, und lächelte ihnen zu, dann setzte sie ihre Arbeit fort.

»Ach!« seufzte Jordan, indem er sich in einen Armsessel sinken ließ, »ich fühle mich doch nur hier wohl, inmitten meiner Apparate und Bücher. Sobald ich hier eintrete, kehren Frieden und Hoffnung zurück.«

Er sah zärtlichen Blickes rings um den großen Raum, wie um neuerdings davon Besitz zu ergreifen, sich zu vergewissern, daß er wieder hier sei, sich in dem beruhigenden, kräftigenden Geruch der Arbeit zu baden. Die Flügel des großen Fensters standen offen, die tiefstehende Sonne sandte ihre wärmenden Strahlen herein, und in der Ferne, zwischen den Bäumen hervor, blickten die Dächer und Fenster von Beauclair.

»Was quälen sich doch die Menschen nutzlos mit ihren Streitigkeiten!« fuhr Jordan fort, während Lucas langsam auf und ab ging. »Nach dem Mittagessen habe ich dem Pfarrer und dem Lehrer zugehört und konnte es nicht begreifen, wie man seine Zeit damit verlieren kann, daß man sich gegenseitig überzeugen will, während man an den entgegengesetzten Enden der Frage steht und zweierlei Sprachen spricht. Und Sie müssen wissen, daß sie nicht ein einziges Mal hierherkommen, ohne genau dieselben Debatten zu führen und immer genau am selben Punkte stehenzubleiben! Was ist das doch für unfruchtbares Beginnen, sich so beharrlich auf das Gebiet des Gedanklichen zu beschränken, ohne je die Erfahrung, den Versuch zu Hilfe zu nehmen, sich immer nur mit gegensätzlichen Behauptungen herumzuschlagen! Und wie oft freue ich mich im stillen, wenn der Doktor sich das Vergnügen macht, sie beide vollständig zu vernichten, bloß indem er ihre Theorien einander gegenüberstellt! Ebenso ist es mit diesem Lange. Kann sich wohl ein braver Mensch zu größerem Unsinn versteigen, sich in greifbarere und gefährlichere Irrtümer verlieren als der, bloß weil er aufs Geratewohl vordringen will, ohne sich Gewißheit zu verschaffen? Nein, wirklich, die politische Leidenschaft kann mir nicht ankommen, alles, was diese Leute sagen, scheint mir ohne vernünftigen Sinn, die Fragen, die sie mit solcher Wucht behandeln, sind in meinen Augen nur harmlose Rätselspiele zum Zeitvertreib, und ich kann es nicht begreifen, wie man um unbedeutender Zwischenfälle willen sich so heftige Schlachten liefern kann, während die Entdeckung der geringsten wissenschaftlichen Wahrheit mehr für den Fortschritt tut als fünfzig Jahre sozialer Kämpfe.«

Lucas lächelte.

»Nun verfallen Sie selber ins Gedankliche. Der Mensch muß kämpfen, und die Politik ist nur die Form, in der er gezwungen ist, seine Bedürfnisse zu verteidigen, sich so viel Glück zu verschaffen, wie ihm erreichbar ist.«

»Sie haben recht«, gestand Jordan mit seiner einfachen Ehrlichkeit. »Vielleicht ist meine Verachtung der Politik nur eine instinktive Selbstverteidigung gegen die leisen Vorwürfe meines Gewissens über meine gewollte Unkenntnis der politischen Vorgänge in unserem Lande. Aber ehrlich gesprochen, ich glaube, daß ich trotz alledem ein guter Bürger bin, wenn ich mich in mein Laboratorium einschließe, denn jeder dient dem Lande mit den Fähigkeiten, die ihm eigen sind. Und, sehen Sie, die wahren Revolutionäre, die wahren Männer der Tat, die, die für die Zukunft die meiste Wahrheit, die meiste Gerechtigkeit aufspeichern, das sind zweifellos die Gelehrten. Eine Regierungsform kommt und geht, ein Volk wird groß, mächtig, blühend und verfällt dann wieder – was liegt daran? Die Wahrheiten der Wissenschaft werden immer weiter überliefert, vermehren sich immerzu, bringen immer mehr Licht und feste Gewißheit in die Welt. Der Rückschritt eines Jahrhunderts zählt nicht, das Vorrücken beginnt doch immer wieder, die Menschheit schreitet dem Wissen zu, trotz aller Hindernisse. Einzuwenden, daß man nie alles wissen wird, ist eine Torheit, es handelt sich darum, soviel wie möglich zu wissen, um soviel Glück wie möglich zu erreichen. Und so betrachtet, sind, ich wiederhole es, die politischen Zwischenspiele, die die Völker in Aufruhr versetzen, vollkommen belanglos! Während man das Heil des Fortschritts im Erhalten oder Stürzen eines Ministers sucht, ist der Gelehrte der wahre Herrscher der Zukunft, indem er die Menge mit immer neuer Wahrheit erleuchtet. Alle Ungerechtigkeit wird vergehen, wenn alle Wahrheit bestehen wird.«

Ein Stillschweigen folgte. Soeurette hatte die Feder hingelegt und hörte zu. Nachdem er einige Augenblicke sinnend dagesessen hatte, fuhr Jordan ohne ersichtlichen Zusammenhang fort:

»Die Arbeit, die Arbeit! Ihr danke ich mein ganzes Leben. Sie sehen, was für ein armer, schwächlicher Mensch ich bin, und ich erinnere mich, daß meine Mutter mich in warme Decken hüllen mußte, wenn ein starker Wind wehte. Dennoch war sie es, die mich zur Arbeit anhielt wie zu einer Kur, deren heilsamer Einfluß außer Zweifel steht. Sie verurteilte mich nicht zu peinlichen Studien, an die man die in Entwicklung begriffenen Kinder schmiedet. Sie gewöhnte mich an regelmäßige, aber abwechslungsreiche und anziehende Arbeit. Und so habe ich arbeiten gelernt, wie ein Kind atmen und gehen lernt. Die Arbeit ist zur Betätigung meines Daseins, zur Funktion meiner Glieder und Organe, zum Zweck und Mittel meines Lebens geworden. Ich lebe, weil ich arbeite. Zwischen der Welt und mir hat sich das Gleichgewicht hergestellt, ich gebe ihr in Werken wieder, was sie mir an Empfindungen bringt, und ich glaube, daß darin der ganze Begriff der Gesundheit liegt: in einer wohlgeordneten Wechselwirkung, in der vollkommenen Anpassung des Organismus an die Bedingungen seiner Umgebung. Und so gebrechlich ich bin, so habe ich die Gewißheit, daß ich sehr alt werden werde, weil ich eine sorgfältig konstruierte und mit Verständnis in Gang gehaltene kleine Maschine bin.«

Lucas hatte sein langsames Hin- und Herwandern unterbrochen und hörte gleich Soeurette mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

»Darin liegt die Gewähr der Gesundheit, das ist die beste hygienische Methode, um sich wohl zu fühlen«, fuhr Jordan fort. »Die Arbeit ist das Leben selbst, das Leben ist eine unablässige Arbeit chemischer und physikalischer Kräfte. Seitdem das erste Atom sich in Schwingung versetzte, um sich mit den umgebenden Atomen zu verbinden, hat die große schöpferische Tätigkeit nicht aufgehört, und diese Schöpfungstätigkeit, die noch immer dauert, die immer dauern wird, ist die Aufgabe der Ewigkeit selbst, das unendliche Werk, zu dem wir alle unseren Stein herbeitragen. Das Weltall ist eine gewaltige Werkstatt, in der die Arbeit nie ruht, in der die unendlich Kleinen ungeheure Leistungen vollbringen, in der die Materie ohne Unterlaß sich regt, erzeugt und gebiert, von den einfachsten Gärstoffen bis zu den vollendetsten Lebewesen. Die Felder, die sich mit Halmen bedecken, arbeiten, der unmerklich wachsende Wald arbeitet, die durch die Täler rinnenden Flüsse arbeiten, die Meere, die ihre Wogen von Erdteil zu Erdteil rollen, arbeiten, die Welten, die der Rhythmus der Schwerkraft durch die Unendlichkeit des Raumes trägt, arbeiten. Es gibt kein Wesen und kein Ding, das in unbeweglicher Trägheit verharren könnte, alles wird mitgerissen, zur Arbeit angehalten, gezwungen, sein Teil am gemeinsamen Werke zu leisten. Wer nicht arbeitet, verschwindet dadurch von selbst, wird als nutzlos und störend abgestoßen, muß dem notwendigen, unentbehrlichen Arbeiter Platz machen. Dies ist das einzige Gesetz des Lebens, das in seiner Gesamtheit nichts anderes ist, als die in Arbeit begriffene Materie, eine Kraft in unaufhörlicher Tätigkeit, der Gott aller Religionen, die Bereitung des endgültigen Glücks, nach dem wir alle verlangen.«

Wieder schwieg er einen Augenblick, die Augen sinnend in die Ferne gerichtet.

»Und welch wunderbarer Lenker ist die Arbeit, welche Ordnung schafft sie überall, wo sie herrscht! Sie ist der Friede und der Genuß, wie sie auch die Gesundheit ist. Ich kann es nicht fassen, wenn ich sie verachtet, herabgewürdigt sehe, gefürchtet gleich einer Strafe und einer Schande. Sie hat mich nicht nur vom sicheren Tode gerettet, sie hat mir auch alles gegeben, was Gutes in mir ist, sie hat meinen Geist gebildet, meine Seele veredelt. Und welch ausgezeichneter Organisator ist sie, wie regelt sie die Kräfte des Geistes, die Tätigkeit der Muskeln, die Funktion jeder einzelnen Gruppe in einer zahllosen Menge von Arbeitern! Sie würde für sich allein eine politische Staatsform bilden, eine menschliche Verfassung, eine feste soziale Basis. Wir werden nur geboren, um eine Biene im Bienenkorb zu sein, um eine Sekunde lang unsere kleine Kraft mit den anderen Kräften zu vereinigen, wir können die Notwendigkeit unseres Lebens nicht anders erklären, als daß die Natur noch eines Arbeiters bedurft hat, um ihr Werk zu fördern. Jede andere Erklärung ist hochmütig und falsch. Unsere eigenen Existenzen dienen nur zur Vorbereitung des allgemeinen Lebens der Zukunft. Es ist kein Glück denkbar, wenn wir es nicht im gemeinschaftlichen Glück der ewigen, gemeinsamen Arbeit suchen. Und daher möchte ich, daß endlich die Religion der Arbeit zur Menschenreligion werde, daß wir Hosianna singen der erlösenden Arbeit, der einzigen Wahrheit, der höchsten Glückseligkeit, der Gesundheit, dem Frieden!«

Er schwieg, und Soeurette rief voll Liebe und Begeisterung:

»Ja, ja, so ist es! Wie wahr und wie schön ist alles, was du gesagt hast!«

Aber noch tiefer ergriffen schien Lucas. Er stand unbeweglich, und in seinen Augen hatte sich ein heller Strahl entzündet, wie in denen eines Apostels, den göttliche Erleuchtung überkommt. Plötzlich sagte er:

»Hören Sie, Jordan. Sie dürfen nichts an Delaveau verkaufen. Sie müssen den Hochofen und die Mine behalten. Hier haben Sie meine Antwort, denn ich sehe nun vollkommen klar.«

Aufs höchste überrascht von diesem unerwarteten Ausspruch, dessen Zusammenhang mit dem eben Gesagten er nicht begriff, blinzelte der Besitzer der Crêcherie leicht mit den Augen.

»Wie meinen Sie das, mein lieber Lucas? Wie kommen Sie darauf? Erklären Sie sich näher.«

Der junge Mann konnte jedoch in der starken Erregung, die ihn beherrschte, nicht gleich Worte finden. Dieser Hymnus auf die Arbeit, diese Verherrlichung der Friedensstifterin und Weltverjüngerin hatte ihn mit einem Ruck emporgehoben, hatte mit einem Male vor seinem Blick den ganzen weiten Horizont entrollt, der bisher von Nebeln verhüllt gewesen. Alles schien ihm plötzlich klar, greifbar, zweifellos sicher. Ein heiliger Glaube erfüllte ihn und lieh ihm Worte von hinreißender Überzeugungskraft.

»Sie dürfen nichts an Delaveau verkaufen. Ich habe heute morgen die aufgelassene Mine besucht. In der Beschaffenheit, wie jetzt das Erz gewonnen werden kann, würde es noch immer mit Hilfe des neuen chemischen Verfahrens einen ganz lohnenden Ertrag geben. Und Morfain hat mich zu der Ansicht überzeugt, daß man auf der anderen Seite der Schlucht wieder auf reiche Adern stoßen müßte. Da liegen noch unberechenbare Reichtümer. Der Hochofen könnte Roheisen mit sehr billigen Gestehungskosten liefern, und wenn man ihm ein Stahlwerk angliedern würde, mit Tiegelgußöfen, Walzwerken und Dampfhämmern, so könnte man die Fabrikation von Schienen und Trägern im großen wieder aufnehmen und erfolgreich mit den mächtigsten Werken im Norden und Osten konkurrieren.«

Das Erstaunen Jordans wuchs, wurde zur starren Verblüffung.

»Aber ich will nicht reicher werden!« rief er lebhaft. »Ich habe schon zuviel Geld, und ich will gerade darum alles losschlagen, um aller dieser Sorgen enthoben zu sein.«

Mit schöner, feuriger Gebärde fiel Lucas ein:

»Lassen Sie mich vollenden, lieber Freund. Nicht Sie reicher machen will ich, sondern die Arbeiter, von denen wir sprachen, die Enterbten, die Opfer der ungerechten, entwürdigten, zur grausamen Galeere gewordenen Arbeit will ich aus dieser Galeere befreien. Sie haben eben so schön gesagt, daß die Arbeit die feste soziale Basis sein sollte. In diesem Augenblicke ist es mir plötzlich klar geworden, worin das Heil liegt, ich habe erkannt, daß die gerechte und glückliche Gemeinschaft der Zukunft nur durch die Neuordnung der Arbeit begründet werden kann, die allein eine gerechte Verteilung der Güter ermöglicht. Wie ein leuchtender Blitz hat mich die Gewißheit durchzuckt, daß hier das einzige Heil für unser Elend und unsere Leiden liegt, daß das alte, morsche, in allen Fugen krachende Gebäude nur dauernd wieder erneuert werden kann auf dem Boden der Arbeit aller und für alle, die als höchstes Gesetz, als das Lebensprinzip, das die Welt beherrscht, anerkannt werden muß. Und das will ich hier versuchen! Ich will wenigstens ein Beispiel geben, will die Neuordnung der Arbeit im kleinen versuchen, eine Fabrik auf Basis der Brüderlichkeit gründen, ein Modell der künftigen Gemeinschaft schaffen und es den anderen Fabriken entgegenstellen, die auf der Lohnsklaverei begründet sind, der alten Galeere, auf der der Arbeiter gepeinigt und entwürdigt wird!«

Er fuhr fort, mit vor Begeisterung bebender Stimme zu sprechen, er entwickelte in großen Zügen sein Ideal, alles, was in ihm seit der Lektüre des kleinen Buches über Fourier gekeimt hatte, seinen Traum einer Vereinigung von Kapital, Arbeit und geistiger Kraft. Jordan sollte das Geld beisteuern, Bonnaire und seine Kameraden ihre Arme, er selber das Hirn, das erfindet und leitet. Er hatte wieder begonnen, auf und ab zu gehen, er deutete mit erregter Gebärde auf die nahen Dächer von Beauclair: dieses Beauclair wollte er retten, wollte er der Schande und dem Verbrechen entreißen, in denen er es seit drei Tagen versinken sah. Je mehr er den Plan seines Unternehmens aufrollte, desto mehr ergriffen ihn selbst Staunen und Verwunderung. Seine Mission sprach aus ihm, diese Mission, von der er erfüllt gewesen war, ohne es zu wissen, deren Wesen zu erkennen er unruhvollen Geistes, mitleidgequälten Herzens gestrebt hatte. Nun sah er endlich klar, seine Bahn lag vor ihm. Er fand jetzt von selbst die Antworten auf die peinigenden Fragen, die ihm während seiner Schlaflosigkeit in der vergangenen Nacht aufgestiegen waren, ohne daß er sie hätte lösen können. Und vor allem wandte er seine Seele ganz den Klagerufen der Unglücklichen zu, die aus der leiderfüllten Finsternis zu ihm gedrungen waren, er hörte sie jetzt deutlich, er eilte ihnen zu Hilfe, er wollte sie retten durch die verjüngte, veredelte Arbeit, die die Menschen nicht mehr in feindliche, einander zerfleischende Klassen trennen, sondern sie zusammenschließen sollte zu einer einzigen brüderlichen Familie, in der sich alle ihre Kräfte vereinigen.

Und er nahm die Gelegenheit wahr, um eine Prüfung seines Gewissens anzustellen. Die Theorien von Bonnaire, die Zukunftsbilder des Anarchisten Lange erwachten in seiner Erinnerung. Die Auseinandersetzungen des Abbés Marle, des Lehrers Hermeline und des Doktors Novarre klangen ihm wieder in die Ohren, setzten sich fort ins unendliche. Er war ein ewiges Chaos gegensätzlicher Meinungen. Er kannte wohl einige erfolgreiche Verwirklichungen, aber er war sich der Langwierigkeit der Versuche, der Schwierigkeit der Erfolge bewußt. Vielleicht weil er einen tiefwurzelnden Widerwillen gegen gewaltsame Revolutionen empfand, weil er seinen wissenschaftlichen Glauben auf die ununterbrochene Entwicklung setzte, die die Ewigkeit vor sich hat, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Die vollständige und plötzliche Aufhebung des Eigentums, die er übrigens für undurchführbar hielt, konnte nicht ins Werk gesetzt werden ohne schreckliche Katastrophen, deren schlimmste Folge wäre, daß noch mehr Elend und Leiden entstehen würden. War es daher nicht das beste, die Gelegenheit zu ergreifen, die sich ihm bot, um einen praktischen Versuch zu machen, einen schöpferischen Versuch, dem sein ganzes Wesen entgegenstrebte, der seiner angeborenen Herzensgüte, seinem Glauben an die Güte der Menschen, seiner warmen Liebe und seinem innigen Mitgefühl für die Unglücklichen so hohe Befriedigung versprach? Er war hingerissen von Begeisterung und Heldenmut, durchglüht von Zuversicht und freudiger Gewißheit, daß er den Erfolg erringen werde. Und wenn auch die Anwendung des Fourierschen Systems die Lohnarbeit noch nicht beseitigte, so war es doch eine bahnbrechende Vorarbeit, die zum endlichen vollen Siege führen mußte: Vernichtung des Kapitals, Abschaffung des Handels, Überflüssigwerden des Geldes, das die Quelle aller Übel ist. Der Widerstreit der sozialistischen Theorien bezieht sich nur auf die Mittel, aber alle sind einig über das zu erstrebende Ziel, alle werden sich eines Tages in dem endlich errichteten Reiche des Glücks einträchtig zusammenfinden. Und er wollte die ersten Steine zum Fundament in den Grund senken, indem er alle Menschen um sich scharte, die guten Willens sind, indem er die zerstreuten Kräfte vereinigte zum gemeinschaftlichen Werke, in der festen Überzeugung, daß kein besserer Anfang zum Besseren gemacht werden könne.

Jordan war skeptisch.

»Fourier hat geniale Ideen gehabt, das ist nicht zu bestreiten. Aber er ist nun seit mehr als sechzig Jahren tot, und wenn er auch noch einige beharrliche Anhänger behalten hat, so sehe ich doch nicht, daß seine Religion im Begriffe wäre, die Welt zu erobern.«

»Der Katholizismus hat vier Jahrhunderte gebraucht, um einen Teil zu erobern«, erwiderte Lucas lebhaft. »Und dann halte ich mich nicht in allem an Fourier, er ist für mich nur ein Weiser, der in einer Stunde genialen Hellsehens eine Ahnung der Wahrheit gehabt hat. Er ist übrigens nicht der einzige, andere haben das System vorbereitet, und andere werden es vervollständigen. Sie werden aber nicht leugnen wollen, daß die Entwicklung, die heute eilig vorwärts drängt, aus weiter Ferne herkommt, und daß unser ganzes Jahrhundert eine mühevolle Zeugung der neuen Gesellschaftsordnung war, die morgen geboren werden soll. Seit hundert Jahren wächst das Proletariat immer höher und stärker ins soziale Leben hinein, und es wird morgen Herr seines Schicksals sein, auf Grund des Gesetzes, daß der Stärkste, der Gesündeste, der des Daseins Würdigste bestehenbleibt. Wir sind nun Zeugen des letzten Kampfes einiger Bevorzugter, die den Reichtum gestohlen haben, mit der ungeheuren Menge der Arbeiter, die von den Gütern wieder Besitz ergreifen wollen, deren sie Jahrhunderte hindurch beraubt worden sind. Die ganze Geschichte erzählt uns nichts anderes, als daß einige wenige sich der größtmöglichen Menge von Glück bemächtigten auf Kosten aller anderen, und daß die beraubten Unglücklichen nicht aufgehört haben, in erbittertem Kampfe immer wieder zu versuchen, soviel Glück wie möglich für sich zurückzuerobern. Seit fünfzig Jahren ist dieser Kampf erbarmungslos geworden, und daher sehen Sie, wie die Bevorzugten, von Furcht ergriffen, freiwillig auf einzelne ihrer Vorrechte verzichten. Die Zeit der Vollendung naht, das fühlt man an all den Zugeständnissen, die die Besitzer des Bodens und des Reichtums den Enterbten machen. Auf dem politischen Gebiete hat man ihnen schon viel gegeben, und man wird gezwungen sein, ihnen auch noch auf wirtschaftlichem Gebiete viel zu geben. Neue Gesetze zugunsten der Arbeiter, wohltätige Einrichtungen und Maßregeln, Triumphe der Arbeitervereinigungen und Gewerkschaften folgen einander und kündigen die neue Ära an. Der Kampf zwischen Arbeit und Kapital ist an einem entscheidenden Punkte angelangt, und man kann schon jetzt die Niederlage des Kapitals vorhersagen. Innerhalb einer gegebenen Zeit wird das Lohnsklaventum verschwunden sein. Und daher habe ich die feste Zuversicht, daß ich siegen werde, indem ich helfe, das andere vorzubereiten, jenes andere, das an Stelle des Lohnsklaventums treten wird, die Neuordnung der Arbeit, die uns eine gerechtere Gemeinschaft, eine höhere Zivilisation bringen wird.«

Er strahlte von Zuversicht, Hoffnung und Menschenliebe. Er sprach weiter, ging auf die Geschichte zurück, wies darauf hin, wie von den ältesten Zeiten an die Stärkeren die Räuber waren, wie die Menge der Schwachen und Elenden in Sklaverei gezwungen wurde, wie die Gewalthaber Verbrechen auf Verbrechen häuften, nur um den Beraubten nichts wiedererstatten zu müssen. Er zeigte, wie die im Laufe der Zeiten immer noch vermehrten Reichtümer heute in den Händen einiger weniger sind, alle die Landgüter, die Häuser, die Fabriken, die Minen mit ihren Schätzen an Kohle und Metallen, die Gewinne an der Güterbeförderung, die Kanäle, die Eisenbahnen, endlich die Renten, das Gold und das Silber, alle Milliarden, die in den Banken kreisen, kurz, alle Güter dieser Erde, alles, was den unermeßlichen Besitz der Menschen ausmacht. Und war es nicht eine Abscheulichkeit, daß soviel Reichtümer nur entsetzliches Elend bewirken? Schrie das nicht nach Gerechtigkeit, sah man nicht die unabweisbare Notwendigkeit ein, zu einer neuen Teilung zu schreiten? Die furchtbare Ungerechtigkeit, daß auf der einen Seite die Trägheit in Überfluß schwelgt, während auf der anderen die rastlose, qualvolle Arbeit in Elend vergeht, hat aus dem Menschen einen reißenden Wolf gemacht. Anstatt sich zu vereinigen, um die Kräfte der Natur zu besiegen und zu zähmen, zerfleischen die Menschen einander, die barbarische soziale Ordnung stößt sie in den Haß, in die Verirrung, in die Tollheit, läßt das Kind und den Greis schutzlos und verlassen, erdrückt das Weib, macht sie zum Lasttier oder zum käuflichen Genußgegenstand. Der Arbeiter selbst, durch das Beispiel der allgemeinen Feigheit verderbt, beugt in stumpfer Ergebung sein Haupt unter das Joch der Sklaverei. Und welch unermeßliche Verschwendung des Vermögens der Allgemeinheit in den Riesensummen, die man für den Krieg ausgibt, in dem Gelde, mit denen man die unnützen Beamten, die Richter, die Gendarmen bezahlt! Und all das Geld obendrein, das zwecklos in den Händen der Kaufleute bleibt, überflüssiger Vermittler, deren Gewinn von der Wohlfahrt der Verbraucher erhoben wird! Aber das alles war nur das tägliche Abbröckeln einer sinnlosen, schlecht konstruierten Gesellschaft, ebenso wie das Verbrechen des mit Absicht herbeigeführten Hungerleidens, das die Eigentümer der Arbeitsmittel ihren Lohnsklaven auferlegten, um ihre Gewinne ungeschmälert hereinzubekommen. Sie verminderten die Produktion der Fabriken, sie zwangen den Grubenarbeitern arbeitslose Tage auf, sie züchteten das Elend aus wirtschaftlicher Kriegstaktik, um die hohen Preise aufrechtzuerhalten. Und man wunderte sich, wenn die Maschine knirschte, wenn sie eines Tages zusammenbrechen würde unter einer solchen Last von Leiden, Ungerechtigkeit und Schändlichkeit!

»Nein, nein!« rief Lucas, »es geht zu Ende, es kann so nicht länger bleiben, wenn nicht die ganze Menschheit in einem Aufflammen allgemeiner Raserei untergehen soll. Der Pakt muß ganz erneuert werden, jeder Mensch, der geboren wird, hat ein Recht auf das Leben, und die Erde ist das gemeinschaftliche Gut aller Menschen. Die Arbeitsmittel müssen allen zur Verfügung stehen, jeder muß seinen Teil am allgemeinen Werke verrichten. Wenn die Geschichte mit ihrem Haß, ihren Kriegen, ihren Verbrechen bis heute nichts gewesen ist als die abscheuliche Folge des ersten Raubes, der Tyrannei einiger Räuber, die das Bedürfnis empfunden haben, die Menschen dazu zu treiben, sich gegenseitig zu erwürgen, die Gerichtshöfe und Gefängnisse errichtet haben, um sich den Besitz ihres Raubes zu sichern, so ist es höchste Zeit, ein neues Buch der Geschichte anzufangen und an den Beginn der neuen Ära einen großen Akt der Gerechtigkeit zu setzen: daß nämlich die Reichtümer der Erde Eigentum aller Menschen bleiben, daß die Arbeit das allgemeine Gesetz für die menschliche Gesellschaft werde, wie sie es für das Weltall ist, damit endlich Friede werde zwischen uns und glückliche Brüderlichkeit herrsche überall. Und das wird sein, und ich werde darauf hinwirken, und ich werde erfolgreich sein!«

Er war so feurig, so groß, so sieghaft in seiner prophetischen Schwärmerei, daß Jordan voll Bewunderung sich an Soeurette wandte und sagte:

»Sieh ihn nur an, ist er nicht schön?«

Und Soeurette, die bebend und bleich vor Erregung den Blick nicht von ihm gewandt hatte, sagte leise, wie in religiöser Verzückung:

»Oh, er ist schön, und er ist gut!«

»Nur, mein lieber Freund«, sagte Jordan wieder lächelnd, »sind Sie einfach ein Anarchist von reinstem Wasser! Und Sie haben sehr recht, wenn Sie sagen, daß man mit dem Fourierschen System anfängt und mit dem freien Menschen in der freien Kommune aufhört.«

Auch Lucas lächelte.

»Fangen wir nur erst an. Wir werden schon sehen, wohin die Folgerichtigkeit der Tatsachen uns führt.«

Jordan war wieder in Sinnen versunken und schien ihn kaum zu hören. Der in sein Laboratorium eingeschlossene Gelehrte war tief bewegt. Und wenn er auch noch immer daran zweifelte, daß jemand imstande wäre, den Schritt der Menschheit zu beschleunigen, so leugnete er doch die Nützlichkeit des Versuches nicht mehr.

»Zweifellos«, sagte er langsam, »ist die persönliche Initiative allmächtig. Um das Werdende zur Tatsache zu machen, bedarf es immer eines Menschen von Willen und Kraft, eines genialen und freidenkenden Rebellen, der die neue Wahrheit verkündet. Im Augenblick der gewaltigen Ereignisse, wenn es sich darum handelt, ein Tau zu kappen, einen Balken zu durchhauen, bedarf es nur eines Mannes und eines Beils. Der Wille ist alles, der Retter ist der, der das Beil ergreift und zuschlägt. Nichts widersteht, Berge fallen und Meere weichen vor einer Persönlichkeit, die handelt.«

Ja, so war es. Lucas fand in diesen Worten das Feuer des Willens und der Zuversicht, von dem er selbst durchglüht war. Er wußte selbst noch nicht, welche geistige Fähigkeit er für seine Aufgabe mitbringe, aber er war erfüllt von einer seit langem angesammelten Kraft, von der Empörung gegen die jahrhundertealten Greuel. Er war freien und vorurteilslosen Geistes und hielt sich, nur an wissenschaftlich bewiesene Tatsachen. Er war allein, er wollte allein handeln, er setzte all seine Zuversicht auf die Tat. Er war der Mann, der voranging, und das war genug, damit erfüllte er seine Mission.

Nach einem kurzen Schweigen sagte dann Jordan mit einer Gebärde freundschaftlichen Nachgebens:

»Wie ich Ihnen sagte, habe ich Stunden des Überdrusses, in denen ich Delaveau am liebsten den Hochofen mitsamt der Mine und dem Terrain überlassen möchte, um die ganze Sache los zu sein und mich ungestört meinen Studien und Versuchen widmen zu können. So nehmen Sie sie denn, ich gebe sie lieber Ihnen, da Sie glauben, ein gutes Werk damit tun zu können. Alles, was ich von Ihnen verlange, ist, daß Sie mich vollständig befreien, daß Sie mich ruhig in meinem Winkel arbeiten und mein Werk vollenden lassen, ohne mir je wieder von diesen Dingen zu sprechen.«

Lucas sah ihn mit strahlenden Augen voll Liebe und Dankbarkeit an. Dann sagte er ohne Zögern, der Antwort sicher:

»Das ist noch nicht alles, teurer Freund, Ihr großes Herz muß noch mehr tun. Ich kann ohne Geld nichts unternehmen, ich brauche fünfmalhunderttausend Frank, um das Werk zu bauen, das ich plane, in dem ich die Arbeit neugestalten will und das der erste Grundstein zur Stadt der Zukunft werden soll. Ich habe die Überzeugung, daß ich Ihnen ein gutes Geschäft vorschlage, da Ihr Kapital am Werk beteiligt ist und Ihnen einen wesentlichen Anteil am Gewinne einbringen wird.«

Jordan wollte einfallen, aber er fuhr rasch fort:

»Ja, ich weiß, Sie wollen nicht noch reicher werden. Aber Sie müssen leben. Und wenn Sie mir Ihr Geld geben, so werde ich Ihre materielle Existenz sichern, so daß nichts mehr den Frieden störe, in dem Sie an Ihrem großen Werke schaffen.«

Wieder herrschte tiefes, ernstes, bewegtes Schweigen in dem weiten Räume, in dem schon soviel fruchtbare Arbeit der künftigen Ernte entgegenkeimte. Der zu fassende Entschluß war so schwer an Gebilden der Zukunft, daß die hochgestimmte Erwartung dessen, was die nächste Minute bringen sollte, von weihevollem Schauer durchbebt war.

»Sie sind eine Seele voll Entsagung und Menschenliebe«, sagte Lucas wieder. »Haben Sie es mir nicht gestern aufs neue bewiesen? Die Erfindungen, an denen Sie arbeiten, die elektrischen Öfen, die die menschliche Anstrengung herabmindern sollen, die wollen Sie nicht zu eigenem Nutzen herstellen, Sie wollen sie allen zum Geschenk machen. Ich verlange jedoch nicht einmal ein Geschenk von Ihnen, nur eine brüderliche Hilfe, eine Hilfe, die es mir ermöglichen soll, die Ungerechtigkeit zu vermindern und etwas Glück zu schaffen.«

Da willigte Jordan in schlichter Weise ein.

»Gut denn, lieber Freund, Sie sollen das Geld haben, um Ihre Ideen zu verwirklichen. Und da die Wahrheit über allem steht, so will ich Ihnen nicht verschweigen, daß diese Ideen in meinen Augen nach wie vor nichts anderes sind als eine hochherzige Phantasie, denn Sie haben mich nicht vollständig überzeugt. Entschuldigen Sie die Zweifel eines Gelehrten. Aber das tut nichts, Sie sind ein tapferer Mann, versuchen Sie Ihr Werk, ich halte zu Ihnen.«

Lucas stieß einen Ruf des Triumphes aus, ein Aufwallen dankbarer Begeisterung schien ihn von der Erde emporzuheben.

»O tausend Dank! Ich sage Ihnen, das Werk wird erstehen, und wir werden die erhabene Freude erleben, es vollendet zu sehen!«

Soeurette hatte sich nicht gerührt, hatte kein Wort gesprochen. Aber die ganze Güte ihres Herzens war in ihre Augen emporgestiegen und hing in schweren Tränen an ihren Wimpern. Nun erhob sie sich wie unter einem unwiderstehlichen Zwange, ging zu Lucas hin, wortlos, heftig erregt, und küßte ihn auf die Wange, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Dann warf sie sich in die Arme ihres Bruders und brach in leidenschaftliches Schluchzen aus.

Ein wenig überrascht von diesem Gebaren, fragte Jordan beunruhigt:

»Was hast du, Soeurette? Du bist doch hoffentlich unserem Plan nicht entgegen? Freilich, wir hätten dich befragen sollen. Aber noch ist es Zeit. Bist du mit uns?«

»O ja, o ja«, stammelte sie, unter Tränen lächelnd, mit beseligtem Ausdruck. »Ihr seid zwei Helden, und ich will euch helfen.«

Am Abend dieses Tages, gegen elf Uhr, lehnte sich Lucas, wie am Abend vorher, aus dem geöffneten Fenster seines Zimmers, um die frische Luft der ruhigen Nacht einzuatmen. Ihm gegenüber, jenseits der steinigen, unbebauten Hänge ging Beauclair zur Ruhe und löschte eines nach dem anderen seine Lichter aus, während zur Linken die Hölle mit dumpfen Hammerschlägen pochte. Nie hatte ihm der Atem des arbeitenden Riesen schwerer und keuchender geschienen. Und wieder, wie gestern abend, hörte er ein leichtes Geräusch von der anderen Seite der Straße, so schwach und leise, daß er es für das Flattern eines Nachtvogels hielt. Aber sein Herz begann stärker zu schlagen, als das Geräusch sich wiederholte, denn er erkannte nun mit einem Male die Zeichen der leisen Annäherung von gestern wieder. Und wieder sah er die schattenhafte, zarte und feine Gestalt, die auf den Spitzen der Gräser zu schweben schien. Und wieder setzte mit dem leichten Sprung eines Rehes die weibliche Gestalt über die Straße und warf ihm ein Sträußchen zu, so geschickt, daß es seine Lippen traf wie eine Liebkosung. Wie gestern war es ein Sträußchen von Bergnelken, die eben erst gepflückt worden waren, und von so starkem Geruch, daß die Luft um ihn davon ganz durchduftet war.

»O Josine, Josine!« flüsterte er, von unendlicher Zärtlichkeit durchflutet.

Sie war wiedergekommen, sie gab sich ihm wieder, sie wollte sich ihm immer geben mit derselben Gebärde leidenschaftlicher Dankbarkeit, mit diesen Blumen, die ursprünglich und kunstlos waren wie sie. Und er fühlte sich erfrischt und gekräftigt nach den körperlichen und geistigen Anstrengungen eines so ereignisreichen und entscheidenden Tages. War dies nicht schon der Lohn für den ersten Schritt, für die beschlossene Tat? Das kleine Sträußchen schmückte ihn dafür, daß er sich heute entschieden hatte, morgen ans Werk zu gehen. In ihr, in Josine, liebte er das leidende Volk, sie wollte er aus den Klauen des Ungeheuers befreien. Er hatte sie auf seinem Wege gefunden, der tiefsten Schmach so nahe, daß sie auf dem Punkte war, in die Gosse zu sinken. Mit ihrer von der Arbeit verstümmelten Hand war sie die Verkörperung des ganzen Geschlechtes der Opfer, der Sklaven, die ihre Körper der aufreibenden Mühsal oder dem schändlichen Genuß preisgeben mußten. Wenn er sie erlöste, hatte er das ganze Geschlecht mit ihr erlöst. Und in köstlicher Weise fühlte er, daß sie auch die Liebe war, die Liebe, die notwendig war für die Harmonie, für das Glück des Reiches der Zukunft.

Leise rief er sie an.

»Josine, Josine!«

Aber ohne einen Laut entfloh sie, verschwand in der Finsternis des steinigen Geländes.

»Josine, Josine! Sie sind es, ich weiß es! Josine, ich muß mit Ihnen sprechen.«

Da kam sie bebend, glücklich zurück und näherte sich mit ihren leichten Schritten dem Fenster. Und leise hauchte sie:

»Ja, ich bin es, Herr Lucas.«

Ohne sich mit dem zu beeilen, was er ihr zu sagen hatte, versuchte er, sie besser zu sehen, die zarte, leichte Gestalt hatte so undeutliche Umrisse, daß sie einer Vision glich, die eine Welle der Finsternis jeden Augenblick wegtragen konnte.

»Wollen Sie mir einen Gefallen erweisen? Sagen Sie Bonnaire, daß er morgen früh zu mir kommen soll. Ich habe ihm eine gute Neuigkeit zu sagen, ich habe Arbeit für ihn gefunden.«

Sie ließ ein leises, frohes Lachen hören wie das Zwitschern eines Vogels.

»Oh, Sie sind gut, Sie sind gut!«

»Und«, fuhr er mit leiserer Stimme, in liebevollem Tone fort, »ich werde Arbeit für alle haben, die arbeiten wollen. Ja, ich werde dahin wirken, daß allen Menschen Gerechtigkeit und Glück zuteil werde.«

Sie begriff, und lachte wieder leise, voll Liebe und inniger Erkenntlichkeit.

»Dank, tausend Dank, Herr Lucas!«

Die Vision entschwand, er sah den leichten Schatten durch die Büsche davongleiten, und er war begleitet von einem anderen, ganz kleinen Schatten, dem Nanets, den er bisher noch nicht bemerkt hatte und der nun neben seiner großen Schwester herlief.

»Josine, Josine! Auf Wiedersehen, Josine!«

»Dank, tausend Dank, Herr Lucas!«

Er sah nichts mehr von ihr, sie war verschwunden. Aber er hörte noch immer ihren freudigen, innigen Dank, den Ton ihrer leisen Stimme, den der Wind ihm zugetragen hatte, und sein Herz war erfüllt von dem süßen Zauber dieses Tones.

Lange blieb Lucas am Fenster, von unendlicher Hoffnungsfreudigkeit und Begeisterung durchflutet. Zwischen der Hölle, wo der Atem der qualvollen Arbeit schwer und keuchend ging, und der Guerdache, deren Park als schwarzer Fleck auf der ebenen Fläche der Roumagne lag, sah er das alte Beauclair mit seinen morschen, halbverfallenen Häusern, das unter dem dumpfen Druck seines Elends und seiner Leiden schlief. Das war die Kloake, die er ausräumen wollte, der alte Kerker der Lohnsklaverei, mit seinen abscheulichen Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, der dem Erdboden gleichgemacht werden mußte, damit die Menschheit von ihrer jahrhundertealten Vergiftung genese. Und auf demselben Platze baute er im Geiste die Stadt der Zukunft auf, die Stadt der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des Glückes, deren weiße Häuser er schon inmitten der grünen Natur lachen sah, von freien und brüderlichen Menschen bewohnt, von heller, fröhlicher Sonne beschienen.

Plötzlich flammte der Horizont auf, ein starkes rosiges Licht erhellte die Dächer von Beauclair, die Felswand der Monts Bleuses, die unendliche Ebene. Es war ein Abstich am Hochofen der Crêcherie, Lucas hatte es zuerst für eine Morgenröte gehalten. Aber es war keine Morgenröte, es war der Untergang eines Gestirns, der alte Vulkan, in qualvoller Arbeit an seinen Amboß gebannt, sandte zum letztenmal die Flamme seiner Esse empor. Fortan sollte die Arbeit nur noch Gesundheit und Freude bedeuten, der Morgen der Zukunft war nah.


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