Emile Zola
Arbeit
Emile Zola

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II

So wirkte in der Entwicklung Beauclairs zu seinem neuen Zustande, in dem steten Wachsen der Zukunftsstadt, die Liebe als mächtige Triebkraft mit jungem, feurigem, siegreichem, unwiderstehlichem Schwung. Immer neue Paare vereinigten sich zum Ehebunde, die einst getrennten Klassen wurden immer inniger vermischt, jede neue Ehe bildete einen Schritt weiter zum Zustande der vollkommenen Eintracht, des endgültigen Friedens. Die siegreiche Liebe warf alle Hindernisse nieder, triumphierte über jeden Widerstand, richtete in allen Herzen ihr fröhliches, sonniges Reich auf, lehrte alle Menschen die köstliche Freude am Leben, am Lieben, am Fortpflanzen des Geschlechtes.

Lucas und Josine hatten das Beispiel gegeben. Während der zwölf Jahre, die verflossen waren, entsprangen fünf Kinder ihrem Bunde, drei Knaben und zwei Mädchen. Hilaire, der älteste, der noch vor dem Untergang der Hölle geboren worden, war bereits elf Jahre alt; dann waren in Abständen von zwei zu zwei Jahren gefolgt: Charles, neun Jahre, Therese sieben, Pauline fünf, Jules drei Jahre alt. In dem alten Häuschen, das durch einen Anbau vergrößert worden, tummelte sich diese blühende Jugend, lachte und tollte und wuchs der Zukunft entgegen. Wie der glückliche Lucas häufig zu der lächelnden Josine sagte: ihre unwandelbare gegenseitige Liebe entstand aus dieser triumphierenden Fruchtbarkeit; mit jedem neuen Kinde, das sie ihm gab, wurde Josine mehr seine Frau. Das liebende Weib, das einst sein Verlangen erweckt und ihn zum Kämpfer, zum Sieger gemacht hatte, war nun verwandelt in die Mutter seiner Kinder, in die Hausfrau, die an seinem Herde waltete, während er unablässig daran arbeitete, das eroberte Gebiet der neuen Ordnung zu gewinnen. Trotzdem liebten sie sich immer noch wie ein Liebespaar, die Liebe alterte nicht, sie blieb die unsterbliche Flamme, der ewige Feuerherd, an dem sich alles Leben entzündet. Ihr Haus war erfüllt von sonniger Freude, von Kinderlachen und Blumenduft. Alle, die darin wohnten, liebten einander so warm, so innig, so fröhlich, daß das Unglück nicht an sie heran konnte. Und wenn die Erinnerung an die schmerzensreiche Vergangenheit auftauchte, wenn Josine ihrer schrecklichen Leiden gedachte und wie sie nahe daran gewesen, vollends in den Abgrund zu sinken, wenn Lucas ihr nicht hilfreiche Hand geboten hätte, dann warf sie sich in überströmender Dankbarkeit an seine Brust, während er tief bewegt fühlte, daß sie ihm gerade durch die ungerechte Schande, aus der er sie gerettet hatte, teuer geworden war.

Sie waren beide geläutert und erhöht durch diese Schöpfung der Gerechtigkeit und des Friedens, die ihnen entstammte, und sie sagten auch:

»Wir müssen die anderen lieben, wie wir uns lieben, dasselbe Gefühl vereinigt alle Wesen, unser Glück als Liebende und Gatten kann nur Bestand haben im Glücke aller. Göttliche Liebe, da alles nur durch dich entstehen und dauern kann, hilf uns unser Werk vollenden, entzünde die Herzen, mache, daß alle Paare unserer Stadt lieben und Kinder zeugen, verknüpfe uns alle durch dein holdes Band!«

Sie nannten das lächelnd das Vaterunser der neuen Religion der Menschlichkeit. Und bei ihnen, in ihrem glückerfüllten Hause, war denn auch die Blume der Liebe köstlich erblüht in den ersten Jahren nach dem Brande der Qurignonschen Werke. Nanet, der kleine Nanet, der nun zum Manne wurde, wohnte bei Lucas, bei seiner großen Schwester, wie er Josine noch immer nannte. Mit scharfem Verstand, mit einem tapferen Herzen begabt, hatte er Lucas so vollständig bezaubert, daß dieser ihn zu seinem Lieblingsjünger machte, und der Jünger erfüllte sich begeistert mit der Lehre des Meisters. Mittlerweile wuchs im Hause nebenan bei den Geschwistern Jordan Nise, die kleine Nise, unter der mütterlichen Fürsorge Soeurettes heran, die sie nach der Katastrophe zu sich genommen hatte und sich mit diesem anmutigen Adoptivkinde innig freute. Und die jungen Leute, die sich täglich sahen, hatten bald nur noch Augen und Gedanken füreinander. Ihre Verlobung reichte ja bis zu ihrer Kinderzeit zurück, bis zu den fernen Tagen, da der unschuldige Trieb der Natur sie zueinander hingezogen hatte, da sie den Verboten getrotzt und Mauern überklettert hatten, um sich zu treffen und miteinander zu spielen. Sie waren damals beide blonde Krausköpfe, sie lachten dasselbe fröhliche, silberne Lachen, sie fielen einander in die Arme, sooft sie sich sahen, ohne zu wissen, daß die Gesetze der Welt sie voneinander schieden, sie, das Bürgerskind und Tochter des Herrn, und ihn, den barfüßigen Gassenjungen, das Kind der verachteten, elenden Arbeit. Dann war der schreckliche Flammensturm gekommen, und das Feuer hatte sie zu neuen Menschen gemacht, hatte sie vereinigt, die Gerettete und den Retter, beide von Brandwunden bedeckt und dem Tode nahe. Und heute waren sie wieder blond und krausköpfig beide, lachten beide dasselbe fröhliche Lachen, einander beinahe ähnlich geworden wie Geschwister. Aber sie war nun ein großes Mädchen und er ein großer Junge, und sie liebten einander.

Die Idylle dauerte noch nahezu sieben Jahre, währenddessen Lucas einen Mann aus Nanet machte und Nise unter der Aufsicht Soeurettes in Schönheit und Herzensgüte erblühte. Sie war dreizehn Jahre alt gewesen zur Zeit des schrecklichen Endes ihrer Eltern, von deren Körpern man nicht einmal eine Spur in der Asche hatte finden können, und sie bewahrte noch lange schaudernd die entsetzliche Erinnerung. Man drängte sie daher auch nicht, man wartete ab, bis sie ihr zwanzigstes Jahr erreicht hatte, damit sie selbst mit gereiftem Verstande, freien Willens über sich verfügen könne. Auch Nanet war übrigens noch jung, kaum drei Jahre älter als sie, und noch im Begriffe, seine Lehrjahre unter der liebevollen Leitung des Meisters zu vollenden. Und sie waren beide noch so kindlich, so voll heiterer Unbefangenheit, daß sie keine Ungeduld verspürten, daß ihnen nichts zu ihrem Glücke fehlte, wenn sie nur fröhlich beisammen sein und einander anlachen konnten. Sie trafen sich jeden Abend und unterhielten sich köstlich, indem sie einander die Erlebnisse des Tages erzählten, unbedeutende kleine Ereignisse, die sich stets wiederholten. So saßen sie stundenlang Hand in Hand in glücklicher Gemeinschaft, und nur beim Abschiednehmen für die Nacht gaben sie sich einen einzigen Kuß. Freilich wurde dieses zärtliche Einvernehmen hier und da durch einen Liebesstreit unterbrochen. Nanet fand Nise zu stolz und eigenwillig, sie spielte die Prinzessin, wie er sagte. Sie war ihm auch zu gefallsüchtig, liebte schöne Kleider und Feste, bei denen sie sich darin zeigen konnte. Es war gewiß nichts Arges dabei, schön zu sein, im Gegenteil, je schöner man sein konnte, desto besser. Aber es war nicht recht, wenn man seine Schönheit damit verdarb, daß man andere, weniger Begünstigte, von oben herab ansah. Nise, in der etwas von ihrer genußsüchtigen Mutter und ihrem despotischen Vater lebte, wurde erst böse, denn sie wollte haben, daß Nanet sie für die Vollkommenheit in Person erkläre. Da sie aber heftig verliebt in Nanet war, unterwarf sie sich schließlich, hörte auf seine Ermahnungen und bemühte sich, um ihm zu gefallen, bescheiden und sanftmütig zu werden. Und wenn ihr das nicht gelang, was häufig genug der Fall war, sagte sie lachend, daß ihre Tochter, wenn sie eine haben sollte, in dieser Hinsicht gewiß besser sein würde. Man müsse eben dem Blute der Vornehmen dieser Welt Zeit lassen, sich in einer immer brüderlicher werdenden Nachkommenschaft zu vereinfachen.

Als dann Nise zwanzig und Nanet dreiundzwanzig Jahre alt geworden war, fand endlich ihre lang ersehnte und vorausgesehene Vereinigung statt. Seit sieben Jahren war kein Tag vergangen, der nicht einen neuen Schritt zu diesem Ende der langen und glücklichen Idylle bedeutet hätte. Und da diese Heirat, die die Tochter Delaveaus mit dem Bruder Josinens und Schwager Lucas' verband, allen Haß für immer vertilgte und den Bund der Eintracht besiegelte, wurde beschlossen, die Hochzeit zu einem großen Feste zu gestalten, das die vollzogene Sühne der Vergangenheit, das strahlende Aufgehen der Zukunft freudig feiern sollte. Gesang und Tanz sollten auf dem Gebiet der ehemaligen Hölle stattfinden, in einer der Arbeitshallen des neuerbauten Werkes, das nun eine Fortsetzung der Crêcherie und mit ihr zusammen eine ganze Industriestadt bildete, die viele Hektare bedeckte und noch immer wuchs.

Lucas und Soeurette, die die Brautführer waren, er für Nanet, sie für Nise, nahmen auch die Anordnung des Festes auf sich. Es sollte ein prächtiger Tag werden, ein Freudenfest endlich erfüllter Hoffnung, eine Siegesfeier der Stadt der Arbeit und des Friedens, die nun fest begründet und des Gedeihens sicher war. Es ist gut, dem Volke häufig Gelegenheit zur Fröhlichkeit zu geben, das öffentliche Leben bedarf zahlreicher Tage der Schönheit, der Freude, der Begeisterung. Lucas und Soeurette wählten also die Halle der großen Gußstücke zum Festschauplatz, einen gewaltigen Raum mit riesigen Dampfhämmern, hohen Rollbrücken und mächtigen Kränen. Die neuen Bauten, ganz aus Ziegel und Eisen, mit großen Fensterscheiben, durch die Licht und Luft in breiten Strömen eindringen konnten, waren ungemein hell, sauber und fröhlich. Man ließ selbstverständlich alle Maschinen an Ort und Stelle, denn man hätte für dieses Fest der siegreichen Arbeit keinen schöneren Schmuck erdenken können als diese Riesenwerkzeuge, deren Linien eine eigenartig erhabene Schönheit zeigten, die Schönheit ungeheurer Kraft, die sich mit Klugheit und Zweckmäßigkeit vereint. Aber man umwand sie mit Grün, man bekränzte sie mit Blumen wie die Altäre in alter Zeit. Längs der Wände zogen sich Girlanden hin, und der Fußboden wurde mit Rosenblättern bestreut. So wurde hier die menschliche Arbeit köstlich geschmückt, das jahrhundertelang mühselig zum Glück hinstrebende Geschlecht war endlich zum Licht emporgedrungen, die Schönheit des Lebens umduftete die Tätigkeit des Arbeiters, die einst qualvoll und ungerecht gewesen war und nun frei und fröhlich wurde und nur Glückliche schuf.

Zwei Hochzeitszüge setzten sich in Bewegung, einer aus dem Hause der Braut, einer aus dem Hause des Bräutigams. Lucas führte den Helden des Tages, Nanet, begleitet von Josine und ihren Kindern. Soeurette führte die Heldin des Tages, Nise, ihre und ihres Bruders Adoptivtochter. Jordan verließ heute sein Laboratorium, in dem er Jahre in unermüdlichen Forschungen verbrachte, als ob es Stunden wären. Auf dem ganzen weiten Gebiete der jungen Arbeitsstadt ruhte heute die Arbeit wie an einem frohen Festtage, und alle ihre Bewohner standen in den Straßen, die das junge Paar durchzog, und begrüßten es mit herzlichen Zurufen. Die Sonne strahlte hell hernieder, die buntgezierten Mauern der Häuser glänzten fröhlich, die Bäume blühten, und in den Zweigen sangen die Vögel. Hinter dem Hochzeitszuge drängte sich dann die Menge der Arbeiter und erfüllte die hohen und weiten Hallen der Werke. Das junge Paar begab sich in die Halle der großen Gußstücke, die alsbald, trotz ihres mächtigen Raumes, zu eng wurde für die Zahl der Hochzeitsgäste. Außer Lucas und seiner Familie und den Geschwistern Jordan befanden sich da das Ehepaar Boisgelin, Paul, der Vetter der Braut, der damals noch nicht mit Antoinette vermählt war, denn ihre Hochzeit fand erst vier Jahre später statt; dann die Familien Bonnaire, Bourron, Fauchard, alle die Arbeiter, deren Arme diesen Sieg der Arbeit hatten miterringen helfen. Sie hatten sich vermehrt, die Männer voll Kraft und Treue, die Arbeiter der ersten Tage, denn alle die Leute, die sich nun hier drängten, die waren ihre Nachkommen, ihre Brüder, deren Zahl immer noch wuchs und wuchs. Sie waren ihrer fünftausend, und sie sollten bald zehntausend zählen, hunderttausend, eine Million, die ganze Menschheit.

Inmitten der gewaltigen, blumengeschmückten Maschinen vollzog sich nun die Zeremonie in ergreifender, würdevoller Einfachheit. Lucas und Soeurette legten lächelnd die Hände Nanets und Nises ineinander.

»Liebet euch mit Leib und Seele und zeuget schöne Kinder, die einander lieben werden, wie ihr euch geliebt habt.«

Die Menge brach in jubelnden Beifall aus und ließ die Liebe hochleben, die Königin Liebe, die allein die Arbeit erheben konnte, indem sie das Geschlecht immerzu vermehrte durch die Begierde, den ewigen Feuerherd des Lebens.

Lucas hatte für Jordan eine Überraschung vorbereitet. Er wollte heute auch ihn feiern, dessen stille Gelehrtenarbeit mehr für das Glück der Menschen tat als hundert Jahre Politik. Sowie es Nacht geworden war, erstrahlte das ganze Werk im hellen Lichte tausender elektrischer Lampen. Die Forschungen Jordans waren nämlich zum Ziele gelangt, er hatte endlich, nach hundertmaligem Mißlingen, das Mittel gefunden, die elektrische Kraft ohne jeden Verlust weiterzuleiten. Die Kosten des Transports der Kohle wurden nun erspart, diese wurde gleich am Förderungsorte verbrannt, genial erdachte Maschinen verwandelten die Wärme in Elektrizität, die dann in besonders konstruierten Kabeln, die jeden Stromverlust vermieden, zur Crêcherie geleitet wurde. Dadurch waren mit einem Schlag die Kosten der Elektrizität auf die Hälfte vermindert, und dank dieser glorreichen Erfindung war die Crêcherie nun reich beleuchtet, alle Maschinen und Apparate mit Überfluß an Kraft versehen, die Arbeit unendlich erleichtert, der Reichtum vermehrt, das Leben verschönert. Es war ein großer Schritt weiter auf dem Wege zum Glück.

Als Jordan die liebevolle Absicht Lucas' erkannte, ihm mit dieser festlichen Beleuchtung eine Huldigung darzubringen, lachte er kindlich beglückt.

»Vielen Dank, liebster Freund, für diese schöne Aufmerksamkeit! Ich habe sie vielleicht ein wenig verdient, denn wie Sie wissen, mühe ich mich nun schon zehn Jahre, um die Lösung des Problems zu finden. Welche Hindernisse haben sich mir in den Weg gestellt, welche Niederlagen habe ich erlitten, gerade wenn ich schon den Sieg zu halten glaubte! Aber trotz allem begann ich auf den Trümmern meiner verfehlten Experimente am nächsten Tage neu zu bauen. Man muß schließlich durchdringen, wenn man unentwegt weiterarbeitet.«

Lucas drückte ihm die Hand, wie immer erquickt und gestärkt durch den Mut und die Zuversicht des Freundes.

»Ich weiß es, und Sie sind der lebende Beweis dafür. Ich kenne keinen besseren und größeren Lehrmeister der Tatkraft als Sie, und ich habe mich nach Ihrem Beispiel gebildet.«

Jordan, den Soeurette warm eingehüllt hatte, um ihn vor der kühlen Nachtluft zu bewahren, blickte sinnend auf die gewaltigen Bauten der Werke, deren Umrisse in Flammenlinien erstrahlten gleich Feenpalästen. Klein, schwächlich und blaß, wie immer aussehend, als ob er keinen Tag mehr zu leben hätte, wandelte er durch die weiten, taghell erleuchteten Hallen. Und da er seit zehn Jahren sein Laboratorium kaum verlassen hatte, so ging er hier umher wie ein Gast aus einem anderen Planeten, staunte über die erzielten Resultate, über den Erfolg des großen Werkes, dessen unscheinbarster und wertvollster Mitschöpfer er war.

Das Nachtfest war prächtig, alles Volk nahm daran teil, in all den lichtdurchfluteten Hallen erscholl Gesang, drehten sich die Paare im Tanz. Was alle so froh und glücklich machte, war die befreite, wieder zu Ehren gekommene, zur Gesundheit und Freude gewordene Arbeit, war, daß das Elend beseitigt, das allgemeine Gut allmählich der Allgemeinheit wiedergegeben worden war, im Namen des heiligen Rechtes, das jedes Wesen an das Leben und an das Glück hat. Und es war die Hoffnung auf eine Zukunft noch höherer Gerechtigkeit und vollendeten Friedens, in der das Ideal einer freien und brüderlichen Gemeinschaft endlich vollkommen erreicht wäre. Die Liebe wird dieses Wunder vollbringen. Und man geleitete Nanet und Nise in ihr neues Heim und ließ die Liebe hochleben, die sie vereinigt hatte, die Liebe, die aus ihnen immer neue liebende Wesen würde entspringen lassen.

Um diese Zeit verwandelte die Liebe auch die Bürgerschaft von Beauclair, und gerade durch das Haus des Ehepaares Mazelle, der friedlichen Rentner, der liebenswürdigen Nichtstuer, blies ihr gewaltiger Sturmhauch. Ihre Tochter Louise hatte die guten Leute von Kindheit auf in Erstaunen gesetzt und aus dem Gleichgewicht gebracht, so ganz und gar verschieden war sie von ihnen. Sie war ungemein lebhaft und beweglich und von einem so unzähmbaren Tätigkeitstriebe erfüllt, daß sie sagte, sie müßte sterben, wenn sie eine Stunde müßig bliebe. Das war nun den Eltern vollkommen unfaßbar, deren höchstes Glück gerade im Nichtstun bestand, und die sich dieses Glück durch weisen, gefahrlosen, von allem Ehrgeiz freien Gebrauch ihres einst gewonnenen Reichtums zu sichern gewußt hatten. Sie konnten nicht begreifen, wie sich Louise den ganzen Tag mit überflüssiger Arbeit abquälen konnte. Sie war eine einzige Tochter, sie erbte einmal ein schönes, in guten Staatspapieren angelegtes Vermögen, wie konnte sie nur so töricht sein und nicht in ihrem gesicherten Winkel sorgenlos ihr Leben genießen? Sie selbst fühlten sich so behaglich in ihrem egoistischen Glücke, von dem kein Fenster nach dem Unglück anderer sah, und lebten im wechsellosen Gleichmaß der Tage als ehrenhafte, gutmütige Leute, die ungemein liebevoll gegeneinander waren, die einander pflegten, betreuten, verhätschelten, als zärtliche und treue Gatten. Warum kümmerte sich ihre einzige Tochter um den Bettler auf der Straße, um die neuen Ideen, die die Welt veränderten, um die Ereignisse, die das Volk in Aufregung versetzten? Sie war immer voll Leben und Bewegung, nahm an allen Dingen leidenschaftliches Interesse, verteilte ihr Herz an alle Menschen. Die guten Alten, die ihr Kind vergötterten, staunten es zugleich an wie ein unerforschliches Wunder, begriffen nicht, wie sie hatten eine Tochter in die Welt setzen können, die so gar nichts von ihnen hatte. Und nun brachte sie sie vollends außer Fassung durch eine Leidenschaft, über die sie zuerst wie über eine kindische Liebelei die Achseln gezuckt hatten, die aber mittlerweile so ernst geworden war, daß sie das Ende der Welt nahe glaubten.

Louise Mazelle, die die innige Freundin Nise Delaveaus geblieben war, besuchte sie häufig bei den Boisgelins, seitdem diese in der Crêcherie wohnten. Und hier war sie wieder mit Lucien Bonnaire zusammengetroffen, ihrem Spielkameraden aus der fröhlichen Zeit, da sie vom Hause fortgelaufen war, um sich den Straßenkindern zuzugesellen. Sie waren beide auch mit dabei gewesen, an dem denkwürdigen Tage, da Luciens Schiffchen ganz von selbst über das Wasser gefahren war, und sie waren mit dabei gewesen, wenn die Kinder von hüben und drüben über die Gartenmauer kletterten, um im geheimen miteinander zusammenzukommen. Jetzt war Lucien ein hübscher, kräftiger Junge von dreiundzwanzig Jahren, während sie selbst zwanzig zählte. Er verfertigte allerdings keine Schiffchen mehr, die von selbst übers Wasser liefen, aber er war unter Lucas' Leitung ein sehr tüchtiger, erfindungsreicher Mechaniker geworden, der sich mit dem Montieren von Maschinen beschäftigte und von dem erwartet wurde, daß er der Crêcherie dereinst noch sehr wertvolle Dienste leisten werde. Er war durchaus kein feiner Herr geworden, sondern setzte im Gegenteil eine Art Stolz darein, ein einfacher Arbeiter zu bleiben wie sein Vater, den er verehrte. Die Leidenschaft, die Louise für ihn gefaßt hatte, wurzelte zum Teil sicherlich auch in ihrer ungestümen Auflehnung gegen die Denkart ihrer Klasse, in ihrem tiefinnerlichen Trieb, den Anschauungen ihrer Umgebung entgegenzuhandeln. Jedenfalls wurde die Kinderfreundschaft, die sie mit Lucien verband, bei ihr bald zur leidenschaftlichen Liebe, und die Hindernisse, die dieser Liebe entgegengestellt wurden, verstärkten nur ihre Leidenschaft. Lucien selbst, durch die Zuneigung des hübschen, lebhaften, frohsinnigen Mädchens beglückt, liebte sie bald mit gleicher Innigkeit. Aber er war der Überlegenere von beiden, er wollte niemandem wehe tun, und obendrein konnte er sich trüber Zweifel nicht erwehren, ob sie nicht viel zu fein, viel zu reich für ihn sei.

Ein halbes Jahr dauerte der Kampf der Liebenden um ihr Glück. Bei den Eltern Luciens erregte der Gedanke an eine solche Heirat, die sie für ein Glück hätten halten sollen, nur tiefstes Mißtrauen. Besonders Bonnaire in seiner festen Klugheit hätte es lieber gesehen, daß sein Sohn die Tochter eines Kameraden heirate. Die Zeiten waren fortgeschritten, und es war keine Ehre mehr, an der Hand einer Tochter der sterbenden Bürgerklasse um eine Stufe aufzusteigen. Bald war die Zeit da, da es vielmehr im Interesse der Bürgerklasse liegen mußte, durch Vermischung mit dem Volke ihr Blut zu verbessern und ihm neue Gesundheit und Kraft zuzuführen. Im Hause Bonnaires entstand Streit aus diesem Anlasse, denn seine Frau hätte wohl ihre Einwilligung gegeben, aber unter der Bedingung, daß sie selbst eine Dame werden und Schmuck und schöne Kleider tragen könne. Die große Veränderung, die rings um sie vorgegangen war, hatte ihre Lust zu glänzen und zu herrschen nicht im geringsten vermindert. Sie hatte ihren boshaften, zänkischen Charakter beibehalten, trotz der gesicherten, behaglichen Verhältnisse, in denen sie jetzt lebten, und sie warf ihrem Mann vor, daß er es nicht verstanden habe, sich ein Vermögen zu machen, wie zum Beispiel Herr Mazelle, der ein Schlaukopf gewesen war und jetzt seit langem nicht mehr zu arbeiten brauchte. Sie hätte gern Hüte getragen, wäre gern als Rentnerin, die gar nichts mehr zu tun hatte, auf der Promenade stolziert. Als daher Lucien erklärte, daß er, falls Louise Mazelle seine Frau würde, nicht einen Heller von ihrem Gelde annehmen wollte, da geriet sie ganz außer sich und wurde die heftigste Gegnerin einer Heirat, die ihr keinen Vorteil mehr versprach. Wozu dieses magere, unhübsche, halbverrückte Ding heiraten, wenn nicht um ihres Geldes willen? Das wäre die Krone aller der unsinnigen Dinge, die sie betäubt rings um sich geschehen sah und von denen sie seit langem nichts mehr verstehen konnte.

Eines Abends gab es eine besonders heftige Auseinandersetzung zwischen ihr, Bonnaire und Lucien in Gegenwart des nun mehr als siebzigjährigen alten Ragu, der noch immer lebte. Sie hatten das Abendessen beendet und saßen in dem kleinen, hellen, sauberen Eßzimmer, dessen Fenster auf den grünen Garten ging. Auch Blumen standen auf dem Tische, von dem eben die reichliche Mahlzeit abgetragen worden war. Der alte Ragu, dem nun Tabak nach Herzenslust zu Gebote stand, hatte seine Pfeife angezündet, und die Tischgenossen waren beim Nachtisch, als Frau Bonnaire wieder giftig wurde, bloß um des Vergnügens willen sich zu erbosen, wie dies ihre Natur geblieben.

»Du bleibst also dabei«, sagte sie zu Lucien, »du willst sie heiraten, das feine Fräulein? Heute habe ich dich wieder beim Hause der Boisgelins mit ihr gesehen. Wenn du uns ein wenig liebtest, würdest du endlich den Verkehr mit ihr aufgeben, da du weißt, daß dein Vater und ich gegen diese Heirat sind.«

Lucien vermied es sonst als guter Sohn, zu widersprechen, was übrigens nutzlos war, wie er wußte. Er wandte sich jedoch jetzt an Bonnaire.

»Ich denke aber, der Vater willigt ein«, sagte er.

Die Mutter traf das wie ein Peitschenschlag, und sie fuhr auf ihren Mann los.

»Wie, du willigst auf einmal ein, ohne mir auch nur etwas zu sagen? Noch keine vierzehn Tage sind es her, da sagtest du mir, daß eine solche Heirat dir nicht ratsam schiene und daß du um das Glück unseres Kindes bange wärst, wenn er diese Dummheit beginge! Du drehst dich also wie eine Windfahne?«

»Ich hätte es allerdings lieber gesehen, wenn der Junge eine andere Wahl getroffen hätte«, erwiderte Bonnaire gelassen. »Aber er ist nun bald vierundzwanzig Jahre alt, und ich will ihm in einer Herzenssache nicht meinen Willen aufzwingen. Er weiß, wie ich denke, und wird tun, was er für gut findet.«

»Nun, du bist ja sehr leicht herumzukriegen!« rief sie heftig. »Du magst dich noch so sehr für einen freien Menschen halten, schließlich tust du doch immer das, was andere wollen. Seit zwanzig Jahren, die du hier bei Herrn Lucas arbeitest, wiederholst du ohne Unterlaß, daß du nicht mit seinen Ideen einverstanden bist, daß es notwendig wäre, sich vor allen Dingen der Arbeitsmittel zu bemächtigen, ohne das Geld der Bürger anzunehmen. Trotzdem aber unterwirfst du dich ganz ruhig seinen Weisungen, und vielleicht bist du heute schon so weit, zu finden, daß das, was ihr beide zusammen gemacht habt, sehr gut ist!«

Mit diesem Ton wollte sie ihn in seinem Stolz, in seinen Überzeugungen treffen, denn sie kannte seine empfindliche Stelle. Oft schon war es ihr gelungen, ihn fast zur Verzweiflung zu bringen, indem sie versuchte, ihn in Widerspruch mit sich selbst zu setzen. Heute jedoch zuckte er bloß die Achseln.

»Gewiß, was wir beide zusammen gemacht haben, ist sehr gut. Ich könnte es vielleicht noch bedauern, daß er nicht meinen Ideen gefolgt ist. Du aber hast gewiß am wenigsten Grund, dich über den jetzigen Zustand zu beklagen, denn wir wissen nicht mehr, was Elend heißt, wir leben angenehm, keiner der Rentner, die dein Ideal sind, führt ein so glückliches Dasein.«

Sie wurde nur noch wütender.

»Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir diesen jetzigen Zustand erklären würdest, denn wie du weißt, habe ich mir nie einen Reim darauf machen können. Wenn du dich glücklich fühlst, umso besser, ich fühle mich nicht glücklich. Glücklich sein heißt, so viel Geld haben, daß man sich zur Ruhe setzen kann und gar nichts mehr zu tun braucht. Mit allen euren Geschichten hier, eurer Gewinnteilung, euren Geschäften, in denen man billig einkauft, euren Kassen und Gutscheinen werde ich niemals hunderttausend Frank in der Tasche haben, die ich nach meinem Gefallen ausgeben kann, um mir das zu kaufen, was mir gefällt! Ich bin unglücklich, sehr unglücklich!«

Sie übertrieb, um ihm unangenehm zu sein, aber so viel war doch wahr, daß sie sich in der Crêcherie nicht eingelebt hatte, daß die Gemeinschaft, die sich hier anbahnte, alle die tief in ihr wurzelnden Instinkte eines koketten und verschwenderischen Weibes verletzte. Sie war eine fleißige und reinlichkeitsliebende Hausfrau, aber zänkisch und unverträglich, starrköpfig und beschränkt, wenn es ihr nicht gefiel, zu verstehen, und sie machte ihr Haus nach wie vor zur Hölle, trotz der Behaglichkeit, in der sie und ihre Angehörigen nun hätten leben können.

Bonnaire ließ sich hinreißen, ihr zuzurufen: »Du bist verrückt, nur du selbst machst dich und uns unglücklich!«

Darauf brach sie in Schluchzen aus, und Lucien, dem solche Streitigkeiten zwischen seinen Eltern stets höchst peinlich waren, umarmte sie zärtlich und versicherte ihr, daß er sie liebe und achte. Aber noch gab sie nicht nach und rief ihrem Manne zu:

»Frag doch einmal den Vater, was er von eurer wundervollen Fabrik auf Aktien hält, von der Gerechtigkeit und dem Glück, die der Welt ein neues Gesicht geben sollen! Er ist ein alter Arbeiter, da wirst du wohl nicht behaupten können, daß es Weibergeschwätz ist, was er sagt, und er ist siebzig Jahre alt und muß wohl die Welt kennen.«

Sie wandte sich an den Alten, der mit einfältiger Behaglichkeit an seiner Pfeife zog.

»Nicht wahr, Vater, sie sind dumm mit allen ihren neuen Erfindungen, um die Herren abzuschaffen, und sie werden nur selber den Schaden davon haben!«

Der Alte sah sie eine Weile verwirrt an, ehe er erwiderte:

»Freilich, freilich! Ja, ja, die Ragus und die Qurignons, das waren einmal Kameraden. Herr Michel war um fünf Jahre älter als ich. Unter seinem Vater, Herrn Jerôme, bin ich in das Werk gekommen. Aber vor diesen beiden war Herr Blaise, mit dem mein Vater Jean Ragu und mein Großvater Pierre Ragu zusammen gearbeitet haben. Pierre Ragu und Blaise Qurignon, das waren Kameraden gewesen, zwei Schmiede, die am selben Amboß arbeiteten. Und jetzt sind die Qurignons große Herren und vielfache Millionäre, und die Ragus sind arme Teufel geblieben. Ja, ja, es bleibt immer dieselbe Geschichte, es geht nun einmal nicht anders in der Welt, und so muß es wohl so gut sein.«

Er faselte manchmal ein wenig, er war schwachsinnig geworden, ein altes, lahmes Lasttier, das vom Tode vergessen worden war. Oft erinnerte er sich am nächsten Tage nicht mehr, was sich gestern ereignet hatte.

»Aber gerade seit einiger Zeit geht vieles ganz anders, Vater Ragu«, sagte Bonnaire. »Herr Jerôme, von dem Sie sprechen, ist tot, und er hat alles zurückgegeben, was ihm von seinem Vermögen geblieben war.« »Wie, zurückgegeben?«

»Er hat den Kameraden den Reichtum zurückgegeben, den er ihrer Arbeit, ihren langjährigen Leiden verdankte. Erinnern Sie sich nur, es ist schon eine Weile her.«

Der Alte suchte in seinem dämmernden Gedächtnis.

»Ja, ja, ich erinnere mich an diese sonderbare Geschichte. Nun, wenn er alles zurückgegeben hat, so war er ein dummer Kerl!«

Er sagte das mit voller Geringschätzung, denn der höchste Traum des alten Ragu war stets nur gewesen, einmal sehr reich sein zu können wie die Qurignons, um dann als vornehmer Herr das Leben in vollkommenem Nichtstun und unaufhörlicher Unterhaltung zu genießen. Bei diesem Ideal war er stehengeblieben, gleich der ganzen Generation niedergedrückter, ausgebeuteter Sklaven, die sich stumpf in ihr Schicksal fügten und nur den einen Wunsch hatten, selber einer der Ausbeuter sein zu können.

Frau Bonnaire lachte höhnisch auf.

»Siehst du, der Vater ist nicht so dumm wie ihr, er geht nicht aus, um Hammel mit fünf Beinen zu finden. Geld bleibt Geld, und wenn man Geld hat, so ist man der Herr, basta!«

Bonnaire zuckte die breiten Achseln, während Lucien schweigend durchs Fenster auf die blühenden Rosenstöcke des Gartens blickte. Wozu mit ihr streiten? Sie verkörperte die starrsinnige Vergangenheit, und sie würde im Paradies, im erreichten Zustande brüderlichen Glücks sterben, indem sie es beharrlich leugnete, indem sie sich nach der Zeit der Armseligkeit und des Elends zurücksehnte, wo sie mit schwerer Mühe zehn Heller zusammenbrachte, um sich dafür ein Band zu kaufen.

Eben trat Babette Bourron ein. Sie, die immer Heitere, lebte im Gegenteil in fortwährendem Entzücken über ihre neue Lage. Mit Hilfe ihres fröhlichen Optimismus hatte sie ihren Mann, den einfältigen Bourron, davor bewahrt, in den Abgrund zu stürzen, in dem Ragu sein Ende gefunden hatte. Stets hatte sie hoffnungsvoll in die Zukunft geblickt, fest überzeugt, daß noch alles gut gehen werde, und hatte oft Geschichten von wunderbaren Glücksfällen erfunden, um sich und ihre Familie über das fehlende Brot zu trösten. Und war nun, wie sie heiter sagte, in dieser Crêcherie, wo die Arbeit reinlich, angenehm und geehrt war, wo man alle die Freuden genoß, die einmal nur den Herren erreichbar waren, war hier nicht ihr Paradies verwirklicht ? Ihr rundes, noch immer frisches Puppengesicht strahlte jetzt vor Freude, daß sie einen Mann hatte, der sich nicht mehr betrank, und zwei schöne, gesunde Kinder, die sie bald würde verheiraten können, in einem Hause, das ihr gehörte, und das schön und behaglich eingerichtet war wie das Haus eines Reichen.

»Na, es ist also endlich wahr geworden?« rief sie sogleich. »Lucien bekommt seine Louise Mazelle, das kleine, hübsche Fräulein, das sich unser nicht schämt?«

»Wer sagt das?« fragte Frau Bonnaire scharf.

»Frau Lucas, Josine hat's mir gesagt, als ich sie heute traf.«

Frau Bonnaire wurde bleich vor unterdrückter Wut. Ihr nicht zu besänftigender Grimm gegen die Crêcherie war nicht zum wenigsten auf ihren Haß gegen Josine zurückzuführen. Sie konnte »diesem Frauenzimmer« ihre Vereinigung mit Lucas nicht verzeihen, konnte es nicht ertragen, sie so hoch erhoben als Frau des allgeliebten Helden, als Mutter schöner Kinder zu sehen. Wenn sie bedachte, daß sie sich der Zeit erinnerte, da diese Bettlerin von ihrem Bruder hinausgeworfen worden war und nicht wußte, womit sie ihren Hunger stillen sollte! Sie meinte zu ersticken, wenn sie sie auf der Straße sah, mit einem Hute wie eine Dame. Dieses Glück, das einer anderen zuteil geworden, das konnte sie nicht verwinden.

»Anstatt sich um anderer Leute Heiraten zu kümmern«, sagte sie brutal, »täte diese Josine besser, über ihre eigene nachzudenken, die vom Dompfaff eingesegnet worden ist. Im übrigen ärgert ihr mich alle miteinander, laßt mich in Ruh!«

Sie verließ das Zimmer, indem sie die Tür hinter sich zuschlug, und ließ die anderen in verlegenem Schweigen zurück. Babette fand zuerst ihr Lachen wieder. Sie war an die Art ihrer Freundin gewöhnt, die sie mit ihrer heiteren Nachsicht für eine brave Frau erklärte, trotz ihrer scharfen Zunge. Luciens Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, denn es war sein Lebensglück, über das hier mit viel heftigen und bösen Worten verhandelt wurde. Doch sein Vater drückte ihm freundschaftlich die Hand, wie um ihm zu versprechen, daß er schon dafür sorgen werde, daß alles gut ginge. Er selbst, der wackere Bonnaire, war tief betrübt, da er sehen mußte, daß das Glück, selbst wenn mehr Gerechtigkeit und Friede errungen worden, von häuslichen Streitigkeiten verkümmert wurde. Genügte also ein einziger böswilliger, zänkischer Mensch, um die Früchte der Brüderlichkeit zu verbittern? Und nur der alte Ragu, der, mit der Pfeife im Munde, halb eingeschlafen war, bewahrte seine stumpfsinnige Zufriedenheit.

Wenn jedoch Lucien an der schließlichen Einwilligung seiner Eltern nicht zweifeln konnte, so traf Louise bei ihren Eltern auf viel stärkeren und zäheren Widerstand. Da Vater und Mutter Mazelle ihre Tochter abgöttisch liebten, so fanden sie gerade in dieser abgöttischen Liebe einen triftigen Grund, um ihrem Herzenswunsche nicht zu willfahren. Sie traten ihr nicht etwa mit heftigen Worten entgegen, sondern mit gutmütiger Beharrlichkeit, einer Art bleierner Unbeweglichkeit, die ihre Laune allmählich einschläfern würde. Mochte Louise auch noch so ungestüm durch die Zimmer flattern, fieberhaft ihr Klavier bearbeiten, frische Blumen zum Fenster hinauswerfen und noch hundert andere Zeichen leidenschaftlicher Erregung geben – ihre Eltern lächelten ihr liebevoll zu, taten, als merkten sie nichts, und überhäuften sie mit Süßigkeiten und Geschenken. Sie aber wurde dadurch, daß man ihr alle möglichen schönen Dinge aufdrängte und gerade nur das eine verweigerte, nach dem sie leidenschaftlich verlangte, so gereizt und empört, daß sie krank zu werden drohte. Sie legte sich auch wirklich zu Bett, drehte sich gegen die Wand und gab keine Antwort, wenn man zu ihr sprach. Doktor Novarre, den die ängstlichen Eltern herbeiriefen, erklärte, daß solche Krankheiten nicht in sein Fach fielen. Es gäbe nur ein Mittel für liebekranke Mädchen, und das sei, ihnen den Gegenstand ihrer Liebe zu gewähren. Als nun die guten Mazelles sahen, daß die Sache ernst wurde, gerieten sie in Bestürzung und verbrachten eine schlaflose Nacht im ehelichen Schlafzimmer, um miteinander zu beraten, ob sie nachgeben sollten. Die Angelegenheit erschien ihnen jedoch so schwerwiegend, daß sie es nicht wagten, auf Grund ihrer eigenen Einsicht eine Entscheidung zu treffen. Sie beschlossen daher, ihre Freunde zu versammeln und ihnen den Fall vorzulegen. War es nicht eine Fahnenflucht, wenn sie ihre Tochter einem Arbeiter gaben, in einer Zeit, da ganz Beauclair sich in heftiger Gärung befand? Mußte eine solche Heirat nicht entscheidende Bedeutung erlangen, nicht als Zeichen der vollständigen Abdankung des Bürgertums, des Handels und der Rente erscheinen? Und natürlicherweise wendeten sie sich an die Autoritäten, an die Spitzen der besitzenden und herrschenden Klasse um Rat. Eines Nachmittags luden sie also den Unterpräfekten Châtelard, den Bürgermeister Gourier, den Präsidenten Gaume und den Abbé Marie zu einer Tasse Tee in ihren schönen blühenden Garten, in dem sie so viele Tage in behaglichem Nichtstun verbracht hatten.

»Wir werden tun, was die Herren uns raten«, sagte Mazelle. »Sie verstehen mehr als wir, und niemand kann uns etwas vorwerfen, wenn wir ihrem Rate folgen. Ich für meinen Teil weiß vor lauter Nachdenken über diese schreckliche Sache schon nicht mehr, wo mir der Kopf steht.«

»Ich auch nicht«, klagte Frau Mazelle. »Das ist kein Leben, wenn man immer überlegen soll. Ich fühle, daß meine Krankheit sich dadurch sehr verschlimmert.«

Der Teetisch wurde an einem schönen, sonnigen Nachmittag in einer schattigen Laube gedeckt. Der Unterpräfekt Châtelard und der Bürgermeister Gourier erschienen als erste. Sie waren unzertrennlich geblieben, ja ein noch engeres Band schien sie zu vereinigen, seitdem sie Frau Gourier, die schöne Léonore, verloren hatten. Fünf Jahre hindurch hatten sie sie gepflegt, als sie durch eine Lähmung der Beine an ihren Sessel gefesselt war, hatten sie mit zärtlicher Sorgfalt umgeben, und der gute Freund war bei ihr geblieben, wenn der Gatte fortging, hatte sie unterhalten und ihr vorgelesen. Nie hatte ein Verhältnis in friedlicherer Weise bis zum Tode gedauert. Und in den Armen Châtelards war Léonore eines Abends plötzlich gestorben, als er ihr eine Tasse Lindenblütentee reichte, während Gourier gerade ausgegangen war, um eine Zigarre zu rauchen. Als er dann heimkehrte, hatten beide miteinander geweint. Nun verließen sie einander fast gar nicht mehr, die Verwaltung der Stadt ließ ihnen reichliche Muße, denn nach langen und eingehenden Beratungen hatte der Präfekt den Bürgermeister bewogen, seinem Beispiel zu folgen, die Augen zuzudrücken, die Dinge ihren Gang gehen zu lassen und sich nicht unnötigerweise das Leben zu verbittern. Trotzdem wurde es Gourier, der manchmal starke Anwandlungen von Angst hatte, in denen er schwarz sah, nicht leicht, dieser liebenswürdigen Philosophie nachzuleben. Er hatte sich mit seinem Sohn Achille versöhnt, den Blauchen in ihrem so tapfer eroberten und verteidigten Liebesheim mit einem reizenden Töchterchen, Léonie, beschenkt hatte, in deren Gesichtchen die herrlichen, himmelblauen, unergründlich tiefen Augen ihrer Mutter strahlten. Und diese Enkelin, die nun bald zwanzig Jahre alt war, hatte den Großvater bezaubert. Er hatte sich daher entschlossen, dem in freier Ehe lebenden Paare, dem Sohne, der sich einst gegen ihn aufgelehnt hatte, und der Tochter des Arbeiters, die er noch jetzt manchmal eine Wilde nannte, sein Haus zu öffnen. Es war zwar hart für einen Bürgermeister, sagte er, für den vollziehenden Beamten der rechtmäßigen Ehe, ein so aufrührerisches Paar, das sich in einer warmen Sommernacht ohne Zeugen vermählt hatte, bei sich aufzunehmen. Aber die Zeiten waren so seltsam, es gingen, so merkwürdige Dinge vor, daß eine entzückende kleine Enkelin, mochte sie auch der unbußfertigen freien Liebe entsprungen sein, ein sehr annehmbares Geschenk war. Châtelard hatte in seiner leichten, heiteren Weise die Versöhnung herbeigeführt, und Gourier fühlte sich, seitdem sein Sohn ihm Léonie zum erstenmal gebracht hatte, immer stärker in den Bannkreis der Crêcherie gezogen. Diese blieb jedoch für ihn immer noch eine Quelle der Katastrophen, obgleich er sich genötigt gesehen hatte, seine Schuhfabrik in eine Aktiengesellschaft zu verwandeln und alle Interessenten der Bekleidungsindustrie ihr anzuschließen. Der Präsident Gaume und der Abbé Marle ließen auf sich warten, und Mazelle konnte sich nicht enthalten, dem Unterpräfekten und dem Bürgermeister sofort seinen Fall vorzutragen. Sollten er und seine Frau der unvernünftigen Laune Louisens nachgeben?

»Sie begreifen, Herr Unterpräfekt«, sagte Mazelle mit wichtiger und bekümmerter Miene, »abgesehen von dem persönlichen Schmerz, den uns eine solche Heirat bereiten würde, handelt es sich auch noch um den beklagenswerten Eindruck in der Öffentlichkeit, um die Verantwortung gegenüber den hervorragenden Persönlichkeiten unserer Klasse, die wir auf uns lasten fühlen... Wir gleiten einem Abgrunde zu!«

Die kleine Gesellschaft saß im kühlen Schatten der Laube, die vom Duft der Rosen durchzogen war, an einem mit buntem Linnen gedeckten Tische, auf dem allerlei appetitliche Kuchen standen. Châtelard, noch immer ein eleganter Mann von schöner Haltung, trotz seines Alters, lächelte in seiner diskret ironischen Weise.

»Wir sind bereits im Abgrund, mein verehrter Herr Mazelle. Sie täten sehr unrecht, sich nur den geringsten Zwang aufzuerlegen um des Staates, um der Stadt oder auch selbst nur um der guten Gesellschaft willen. Denn alle diese Dinge, sehen Sie, bestehen nur mehr dem Anschein nach. Allerdings bin ich noch immer Unterpräfekt, und mein Freund Courier ist noch immer Bürgermeister. Aber da hinter uns kein wirklicher, festgefügter Staat mehr steht, sind wir nur noch Schatten. Ebenso verhält es sich mit den Mächtigen und Reichen, deren Macht und Reichtum jeden Tag mehr von der neuen Organisation der Arbeit zernagt werden. Geben Sie sich doch keine Mühe, sie zu verteidigen, da sie selber, vom Schwindel erfaßt, zu Förderern der Revolution werden. In Gottes Namen, widerstehen Sie nicht länger, ergeben Sie sich!«

Er liebte es, in dieser Weise zu scherzen und damit die letzten Altbürger von Beauclair zu erschrecken. Er bediente sich dieser liebenswürdig-humoristischen Form, um die Wahrheit zu sagen, um seiner Überzeugung Ausdruck zu geben, daß die alte Welt im Begriffe war, auseinanderzufallen, und daß eine neue Welt aus ihren Trümmern emporwuchs. In Paris vollzogen sich schwerwiegende Ereignisse, Stein um Stein des morschen Gebäudes bröckelte ab, und dieses wurde allmählich durch einen Bau ersetzt, an dem die Linien des künftigen Reiches der Gerechtigkeit und des Friedens bereits deutlich erkennbar waren. Alles dies bewies ihm, wie richtig sein Verhalten von jeher gewesen war. Er war glücklich, daß es ihm gelungen war, in diesem Provinzwinkel in Vergessenheit zu geraten, indem er so wenig wie möglich regierte, und er war nun überzeugt, daß er hier eines natürlichen Todes sterben werde, zugleich mit der Staatsform, die er nun schon seit vielen Jahren mit dem Lächeln des Philosophen und Weltmannes zu Grabe geleitete.

Mazelles waren erbleicht. Während die Frau regungslos in ihrem Sessel lehnte, die Augen auf die Kuchen des Teetisches geheftet, rief der Mann ängstlich:

»Wirklich, glauben Sie, daß wir so schwer bedroht sind? Ich weiß wohl, daß man davon spricht, die Renten zu beschneiden!«

»Die Renten«, erwiderte Châtelard gelassen, »werden abgeschafft werden, ehe zwanzig Jahre um sind, oder man wird wenigstens etwas durchführen, um die Rentner allmählich aus ihrem Besitz zu verdrängen. Die betreffenden Pläne werden gegenwärtig studiert.«

Frau Mazelle stieß einen Seufzer aus, als wollte sie den Geist aufgeben.

»Ach, ich hoffe, daß wir vorher sterben werden, um diese Schändlichkeiten nicht mit erleben zu müssen. Nur unser armes Kind wird darunter leiden. Das ist ein Grund mehr, um sie zu zwingen, eine gute Heirat zu machen.«

Châtelard entgegnete unbarmherzig:

»Es gibt aber keine guten Heiraten mehr, da das Erbrecht aufgehoben wird. Das ist so ziemlich beschlossene Sache. Fortan wird jedes junge Paar gezwungen sein, sich selbst sein Glück zu schaffen. Ob also Ihre Louise den Sohn eines reichen Bürgers oder den eines Arbeiters heiratet, so wird sie ihren Hausstand mit demselben Grundkapital beginnen: der Liebe, wenn sie und ihr Mann das Glück haben, einander zu lieben, und der Arbeit, wenn sie klug genug sind, sich nicht der Trägheit hinzugeben.« Es folgte ein langes Schweigen, und man hörte das Flattern eines Vogels in den Rosenbüschen.

»Ist das also Ihr Rat, Herr Unterpräfekt ?« fragte endlich Mazelle niedergeschmettert. »Sie empfehlen uns, diesen Lucien Bonnaire zu unserem Schwiegersohn zu machen?«

»Du lieber Gott, ja, warum nicht? Die Erde wird sich deswegen ruhig weiterdrehen, glauben Sie mir. Und da die beiden jungen Leute sich sehr gern haben, so werden Sie sich wenigstens des schönen Bewußtseins erfreuen, zwei Menschen glücklich gemacht zu haben.«

Gourier hatte noch nichts gesagt. Es war ihm ziemlich peinlich, daß er in einer solchen Sache um Rat gefragt wurde, er, den sein Sohn verlassen hatte, um mit Blauchen, der Tochter der Berge, zu leben, die er nun in seinem ehrenfesten Hause empfing. Und er verriet sein Unbehagen mit den Worten:

»Ach ja, das beste bleibt noch, sie zu verheiraten. Wenn die Eltern sie nicht verheiraten, gehen sie durch und verheiraten sich selbst. Mein Gott, was sind das für Zeiten!«

Er hob die Arme zum Himmel empor, und es bedurfte des ganzen Einflusses Châtelards, daß er nicht in Trübsinn verfiel. Infolge seiner Gelüste von einst, seiner Leidenschaft für die kleinen Arbeiterinnen, war er nun im Alter ein wenig schwachsinnig geworden, was sich unter anderem in großer Schlafsucht äußerte. Er schlief überall ein, bei Tische, mitten im Gespräch, selbst auf der Straße, während eines Spazierganges. Er schloß in dem resignierten Tone eines besiegten Tyrannen:

»Was wollen Sie? Nach uns die Sintflut, wie viele sagen. Wir sind abgetan.«

In diesem Augenblick traf, sehr verspätet, der Präsident Gaume ein. Seine Beine waren geschwollen, und er ging mühsam mit Hilfe eines Stockes. Er war nahezu siebzig Jahre alt und erwartete seine Pensionierung, von immer stärkerem verborgenen Abscheu erfüllt gegen die menschliche Gerechtigkeit, in deren Namen er so viele Jahre hindurch geurteilt hatte. In seinem Hause hatte sich das Drama von Liebe und Verrat unaufhaltsam, unbarmherzig weiterentwickelt. Nachdem seine Frau sich vor seinen Augen getötet hatte, indem sie ihre Schuld bekannte, hatte seine Tochter das Unheil vollendet, indem sie ihren Mann durch einen Geliebten hatte töten lassen, um dann mit diesem zu entfliehen. Die lüsterne und kokette Tochter betrog den Gatten, wie ihre Mutter den ihrigen betrogen hatte, und verwickelte ihn schließlich in einen Zweikampf, der nicht viel besser war als ein Mord. Durch einen anonymen Brief benachrichtigt, hatte der Hauptmann seine Frau in flagranti ertappt, in den Armen eines großen, kräftigen Menschen, der ihm ein Messer zuwarf, damit sie ihren Handel auf der Stelle austrügen. Wie einige wissen wollten, hatte sich der Hauptmann nicht einmal verteidigt, sondern sich einfach töten lassen, voll Entsetzen dieser neuen Welt entfliehend, die ihm nur Schande und Bitterkeit brachte. Schon seit längerer Zeit war er gesenkten Kopfes umhergegangen, niedergedrückt von dem Untergang aller Dinge, die ihm teuer waren. Er diskutierte nicht mehr, er kämpfte nicht mehr, er sah untätig dem Siege der Arbeit und des Friedens zu, da er offenbar erkannt hatte, daß die Rolle des Säbels ausgespielt war. Und vielleicht hatte er noch zuletzt seinen ganzen Mut zusammengerafft, um sich von dem Messer durchbohren zu lassen, dessen Heft seine angebetete, verabscheuungswürdige Frau hielt. So war denn auch dieser entsetzliche Sturm über den Präsidenten Gaume hingegangen. Seine Tochter war auf der Flucht und wurde von der Polizei verfolgt, sein Schwiegersohn war in einer Blutlache gefunden worden und wurde mit durchbohrtem Herzen in die Erde gesenkt. Er war allein zurückgeblieben mit seinem sechzehn Jahre alten Enkel André, der einzigen Hinterlassenschaft seiner unseligen Tochter, einem zarten, liebevollen Knaben, an welchem das schwergeprüfte Herz des Großvaters mit ängstlicher Liebe hing. Es war nun genug, das rächende Geschick, das irgendein altes, unbekanntes Verbrechen sühnte, hatte nun endlich seine Wut erschöpft. Und er fragte sich, welcher segensreichen Kraft, welcher Zukunft wahrer Gerechtigkeit und treuer Liebe er diesen Jüngling zuführen sollte, damit sein Geschlecht, geläutert und endlich glücklich geworden, in ihm neu erblühe.

Als nun der Hausherr auch ihm die Frage vorlegte, ob er seine Tochter mit Lucien Bonnaire verheiraten solle, rief Gaume sogleich:

»Geben Sie sie ihm, geben Sie sie ihm, wenn die beiden jungen Leute einander so lieben, daß weder der Widerstand der Familien noch alle sonstigen Hindernisse sie bewegen können, voneinander zu lassen. Nur die Liebe entscheidet über das Glück.«

Gleich darauf schien es ihn aber zu reuen, daß er mit diesem Ausruf einen Blick in seine Seele hatte tun lassen, denn er verbarg nach wie vor seine wahren Gefühle hinter einer starren Außenseite, hinter einem strengen und kalten Antlitz. Er fuhr fort:

»Erwarten Sie den Abbé Marle nicht länger. Ich bin ihm eben begegnet, und er bat mich, Ihnen seine Entschuldigung zu überbringen. Er ist zu Frau Jollivet, einer Tante meines Schwiegersohns, berufen worden, um ihr die Letzte Ölung zu reichen, da sie im Sterben liegt. Der arme Abbé hatte Tränen in den Augen, er verliert da eines seiner letzten Beichtkinder.«

»Oh, die Pfaffen sollen nur alle verschwinden!« rief Gourier, der ein unversöhnlicher Feind der Geistlichen geblieben war. »Das ist noch das einzige Gute an der Sache. Die Republik würde noch uns gehören, wenn sie sie nicht hätten an sich reißen wollen. Dadurch haben sie das Volk dazu getrieben, alles zu zerstören und selbst die Herrschaft in die Hand zu nehmen.«

»Armer Abbé Marle!« sagte Châtelard mitleidig. »Es greift einem ans Herz, wenn man ihn in seiner leeren Kirche sieht. Es ist sehr löblich von Ihnen, Frau Mazelle, daß Sie ihm nach wie vor Wachskerzen für die Heilige Jungfrau senden.«

Wieder trat ein Schweigen ein, der Schatten des unglücklichen Priesters zog durch die sonnige, rosendurchduftete Luft. Er hatte mit Léonore sein geliebtestes und treuestes Pfarrkind verloren. Allerdings war ihm Frau Mazelle geblieben, aber sie war keine wirklich Gläubige, sie betrachtete die Religion bloß als eine Zierde, als ein unentbehrliches Beiwerk vollwichtigen Bürgertums. Und der Abbé wußte, welchem Schicksal er entgegenging. Er sah voraus, daß man ihn eines Tages tot an seinem Altar finden werde, unter den Trümmern der Kirchenwölbung begraben, die schon sehr schadhaft war und die er aus Mangel an Geld nicht reparieren lassen konnte. Weder im Rathaus noch auf der Unterpräfektur verfügte man über Mittel zu diesem Zwecke. Er hatte sich an die Gläubigen gewendet und hatte mit großer Mühe einen lächerlich unbedeutenden Betrag zusammengebracht. Nun erwartete er den Zusammenbruch, fuhr fort, den Gottesdienst zu versehen, scheinbar ohne Bewußtsein der Gefahr, die über seinem Kopfe schwebte. Seine Kirche leerte sich, sein Gott schien langsam zu sterben, und er wollte mit ihm sterben, wenn das alte Gotteshaus eines Tages auseinanderbarst und das große Christusbild an der Wand ihn mit seiner Wucht erdrückte. So würde er dann mit ihm in dasselbe Grab sinken, in die Erde, wohin alles zurückkehrt.

Frau Mazelle war übrigens durch ihren eigenen Kummer viel zu sehr in Anspruch genommen, um sich in diesem Augenblick mit dem traurigen Schicksal des Abbé Marle zu befassen. Wenn diese Sache nicht bald ein Ende nahm, so fürchtete sie, ernstlich krank zu werden. Ihre Gäste waren nun vollzählig, und sie hatte ihren Sessel verlassen, um den Tee einzugießen, der in den durchsichtigen Porzellantassen dampfte, während ein Sonnenstrahl die kleinen Kuchen vergoldete, die appetitlich und in reicher Zahl den Glasteller füllten. Sie schüttelte den Kopf, mit einem schmerzlichen Ausdruck auf ihrem vollen, friedlichen Gesicht.

»Was Sie auch sagen mögen, verehrte Freunde, diese Heirat scheint mir eine wahre Katastrophe, und ich kann mich nicht dazu entschließen.«

»Wir werden noch warten«, sagte Mazelle. »Wir werden Louisens Geduld erschöpfen.«

Aber die guten Leute verstummten erschrocken, als sie plötzlich Louise selbst am Laubeneingang zwischen den sonnenbeschienenen Rosen stehen sahen. Sie hatten geglaubt, sie sei in ihrem Zimmer, an der geheimnisvollen Krankheit leidend, die nach dem Ausspruch des Doktors Novarre bloß der geliebte Mann heilen konnte. Sie mochte wohl ahnen, daß hier über ihr Schicksal entschieden wurde, hatte rasch ihre schönen schwarzen Haare aufgesteckt, war in einen weißen Schlafrock mit kleinen roten Blumen geschlüpft und herabgeeilt. Nun stand sie da, tief atmend vor leidenschaftlicher Erregung, reizend anzusehen mit ihrem feinen Gesichtchen, mit den etwas schiefgestellten schwarzen Augen, deren munteres Blitzen selbst der Kummer nicht ganz hatte überschatten können.

»Was sagt ihr da? Glaubt ihr denn, daß es sich bei mir bloß um eine Kinderlaune handelt? Ich habe euch erklärt, daß ich Lucien zum Mann haben will, und Lucien wird mein Mann werden.«

Mazelle, durch diese Überrumpelung fast besiegt, wehrte sich trotzdem noch.

»Aber, unglückseliges Kind, bedenke doch. Unser Vermögen, das du einmal erben solltest, ist bereits vermindert, und du wirst vielleicht eines Tages ohne Geld dastehen!«

»Sei doch nur vernünftig«, fügte Frau Mazelle in dringendem Tone hinzu. »Mit unserem Gelde, wenn es auch vermindert ist, kannst du noch immer einen sehr wohlhabenden Mann bekommen.«

Da brach Louise heftig und zugleich in fröhlichem Übermut los.

»Ich mache mir nicht so viel aus eurem Geld! Ihr könnt es behalten, euer Geld! Wenn ihr es mir mitgäbet, euer Geld, so würde Lucien mich nicht nehmen! Warum denn Geld? Wozu braucht man Geld? Doch nicht, um sich zu lieben und glücklich zu sein? Lucien wird verdienen, was wir brauchen, und wenn es nötig ist, werde ich auch verdienen. Das wird wundervoll sein!«

Sie rief das mit solch jugendlicher Kraft, solch zuversichtlichem Feuer hinaus, daß ihre Eltern, in dem Glauben, sie sei nahe daran, den Verstand zu verlieren, sich beeilten, ihre Zustimmung zu geben, um sie zu beruhigen. Sie waren übrigens auch nicht die Leute, um noch länger zu widerstehen, denn sie wollten vor allen Dingen wieder Ruhe und Frieden um sich haben. Der Unterpräfekt Châtelard, der Bürgermeister Gourier und der Präsident Gaume waren, ihren Tee schlürfend, mit einigermaßen verlegenem Lächeln dieser Szene gefolgt, denn sie fühlten, daß die freie Liebe dieses ungestümen Kindes sie alle wegblies wie Strohhalme. Man mußte wohl zulassen, was man nicht verhindern konnte.

Und Châtelard sprach in seiner liebenswürdigen, kaum merklich ironischen Weise das Schlußwort.

»Unser Freund Gourier hat recht. Wir sind abgetan, denn unsere Kinder regieren nun die Welt.«

Die Hochzeit Lucien Bonnaires mit Louise Mazelle fand einen Monat später statt. Um sich ein Vergnügen zu machen, wußte Châtelard seinen Freund Gourier zu bereden, daß er am Hochzeitsabend einen Ball im Rathause gab, angeblich seinen Freunden, dem Ehepaar Mazelle, zu Ehren. In Wirklichkeit fand es Châtelard sehr lustig, die Bürgerschaft Beauclairs auf dieser Hochzeit tanzen zu lassen, die gleichsam das Symbol der Herrschaftsübernahme durch das Volk war. Die Festgäste sollten auf den Ruinen der gestürzten Autorität tanzen, in diesem Rathause, das allmählich zum wirklichen Gemeindehause wurde, da die Rolle des Bürgermeisters bereits nur noch darin bestand, das verbindende Glied zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen zu bilden. Der Saal war prächtig geschmückt, es gab Gesang und Tanz wie bei der Hochzeit Nanets und Nises. Und auch hier erhoben sich laute, freudige Zurufe, als das junge Paar erschien, Lucien breitschultrig und kräftig, mit allen Kameraden von der Crêcherie, Louise, zierlich und lebhaft, geleitet von der guten Gesellschaft Beauclairs, deren Anwesenheit die Mazelles, als eine Art letzten Widerspruchs, durchaus gewünscht hatten. Aber es geschah, daß die gute Gesellschaft in dem Strom des Volkes unterging, von der allgemeinen Freude mitgerissen und verschlungen wurde, so daß aus diesem Abend viele neue Ehen zwischen jungen Männern und Mädchen der beiden Klassen entstanden. Wieder triumphierte die Liebe, die allmächtige Liebe, die ewige Bewegkraft des lebenden Weltalls, die es seiner glücklichen Bestimmung zuträgt.

Und die Jugend blühte allerorten, neue Ehen wurden geschlossen, Paare, die durch eine Welt voneinander getrennt zu sein schienen, machten sich Hand in Hand auf den Weg zur Stadt der Zukunft, durch die ewige Begierde miteinander vereinigt. Der alte Handel Beauclairs, der nun widerstandslos das Feld räumte, gab selbst seine Töchter und Söhne den Arbeitern der Crêcherie, den Bauern von Combettes. Niemand anders als die Laboques machten den Anfang, indem sie ihren Sohn Auguste mit Marthe Bourron und ihre Tochter Eulalie mit Arsène Lenfant verheirateten. Sie hatten, vollständig besiegt, seit vielen Jahren den Kampf aufgegeben, sie fühlten, daß der alte Handel, das überflüssige Rad, das nur Kraft und Reichtum verzehrte, rettungslos verloren war. Erst hatten sie sich darein fügen müssen, daß ihr Laden in der Rue-de-Brias zu einer einfachen Niederlage der Erzeugnisse der Crêcherie und der anderen verbündeten Fabriken verwandelt wurde. Dann hatten sie es zulassen müssen, daß dieser Laden ganz geschlossen wurde und in den großen Genossenschaftsgeschäften aufging, bei denen die Gutherzigkeit Lucas' ihnen, als eine Art Altenteil, Aufseherstellen eingeräumt hatte. Mittlerweile waren sie auch alt geworden, und sie lebten nun ganz zurückgezogen, verbittert, entsetzt über diese Welt, der ihre Gewinngier fremd geworden war, beiseite geschoben von der neuen Generation, die nach anderer Befriedigung und anderen Genüssen verlangte. So hatten denn ihre Kinder Auguste und Eulalie, der Liebe, der großen Schöpferin des Friedens und der Eintracht folgend, sich nach ihrem Gefallen verheiraten können, ohne bei ihren Eltern anderen Widerstand zu finden als die grollende Mißbilligung alter Leute, die um die Vergangenheit klagen. Die beiden Hochzeiten fanden am selben Tage in Combettes statt, das nun ein großer, blühender Ort geworden war, ein Vorort von Beauclair, mit großen, schönen Gebäuden, in denen sich der unerschöpfliche Reichtum der Erde verriet. Man feierte das Doppelfest am letzten Erntetag, als sich auf der unermeßlichen, goldgelben Ebene zahllose Garbenpyramiden erhoben, soweit das Auge reichte.

Schon vorher hatte Feuillat, der ehemalige Pächter auf der Guerdache, seinen Sohn Léon mit Eugénie, der Tochter Yvonnots, des stellvertretenden Vorstands von Combettes, verheiratet, desselben, den er seiner Zeit mit Lenfant, dem Gemeindevorstand, versöhnt hatte. Feuillat, der nun in hohem Alter stand, wurde als der Patriarch dieser ländlichen Genossenschaft verehrt, denn er hatte sie lange im geheimen geplant und erstrebt, während er noch das ausbeuterische Pachtsystem bekämpfte, und hatte prophetisch den ungeheuren Reichtum vorausgeahnt, den die Bauern aus der Erde gewinnen müßten, wenn sie sich vereinigten, um sie mit Liebe, mit Klugheit und wissenschaftlicher Methode zu bewirtschaften. Diesen einfachen Pächter, der ursprünglich nur ein harter, geiziger Bauer gewesen war wie die anderen, hatte die tiefwurzelnde Liebe zur Erde, die seine Vorfahren so grausam unterjocht hatte, zum Hellseher gemacht, der immer klarer erkannte, daß das einzige Heil darin liege, daß die Bauern Frieden untereinander schlössen, ihre Felder und ihre Arbeit vereinigten, so daß die Erde zur liebreichen Allmutter werde, die von einer einzigen Familie gepflügt, besät und abgemäht wird.

Als daher die Heirat Arsène Lenfants mit Eulalie Laboque beschlossene Sache war und der Bruder Auguste Laboque am selben Tage seine Hochzeit mit Marthe Bourron feiern wollte, machte Feuillat den von allen Seiten mit freudiger Zustimmung begrüßten Vorschlag, den Tag mit einem großen, schönen Feste zu begehen, das gleichsam das Jubelfest des friedlich vereinigten, blühenden, siegreichen Combettes sein sollte.

Die Familie Laboque brachte alle ehemaligen Kaufleute von Beauclair mit sich, während die Bourrons von den Bewohnern der Crêcherie begleitet waren. Die Lenfants waren hier zu Hause, und alle diese verschiedenen Gruppen vermischten sich, verschmolzen zu einer einzigen Familie. Allerdings blieben die Laboques ernst, ein wenig unbehaglich. Die Lenfants waren fröhlich mit den Fröhlichen, aber die heiterste und froheste von allen war Babette Bourron, deren unverwüstliche rosige Laune, deren vom ärgsten Mißgeschick nicht zu erschütternder Optimismus heute glücklich triumphierte. Sie war die verkörperte frohe Hoffnung, sie schritt glückstrahlend hinter den beiden jungen Paaren einher, deren Erscheinen laute, jubelnde Rufe erweckte, die sich über das ganze weite Feld hin fortpflanzten. Man rief ihnen liebevolle Worte zu, alle Herzen flogen ihnen entgegen, denn ihre Vereinigung bedeutete den Triumph der allmächtigen Liebe, der Liebe, die alle diese Menschen einander genähert hatte, der sie die reichen Ernten dankten, unter deren Segen sie fortan gedeihen und sich vermehren konnten als einiges, freies Volk, das keinen Haß und keinen Hunger mehr kannte.

An diesem Tage wurden viele neue Bündnisse beschlossen, wie am Hochzeitstage Lucien Bonnaires und Louise Mazelles. Frau Mitaine, die ehemalige Bäckerin, die trotz ihrer fünfundsechzig Jahre die schöne Frau Mitaine geblieben war, küßte Olympe Lenfant, die Schwester eines der Neuvermählten, und sagte ihr, daß sie glücklich sein würde, sie ihre Tochter zu nennen, da ihr Sohn Evariste ihr gestanden habe, daß er sie liebe. Vor etwa zehn Jahren hatte die schöne Bäckerin ihren Mann verloren, und ihr Laden war längst an die Genossenschaft übergegangen. Sie lebte nun im Ruhestande, zusammen mit ihrem Sohn Evariste, sehr stolz darauf, daß ihnen Lucas die Leitung der elektrischen Bäckerei anvertraut hatte, die nun schönes, lockeres, weißes Brot im Überfluß für alle lieferte. Und während Evariste der glücklich errötenden Olympe den Verlobungskuß gab, erkannte Frau Mitaine in einer kleinen, alten Frau, die an einer Garbenpyramide saß, Frau Dacheux, die Fleischerin, ihre ehemalige Nachbarin. Sie setzte sich neben sie.

»Nicht wahr?« sagte sie heiter. »Schließlich muß es mit Heiraten enden, da all dieses kleine Volk einmal miteinander gespielt hat.«

Doch Frau Dacheux blieb schweigsam und traurig. Auch sie hatte ihren Mann verloren, der sich durch ungeschickte Handhabung des Hackmessers die rechte Hand abgehauen hatte und an der Verletzung gestorben war. Wie manche Leute wissen wollten, wäre dies aber nicht Ungeschicklichkeit gewesen, sondern der Fleischer habe sich in einem Anfall schrecklicher Wut lieber die Hand abgehauen, als den Abtretungsvertrag mit der Crêcherie zu unterzeichnen. Die letzten Ereignisse, der Gedanke, daß das heilige Fleisch, das Fleisch der Reichen, jedermann zu Gebote stehen und auf den Tischen der Armen erscheinen sollte, hatte offenbar die sozialen Gefühle des tyrannischen, heftigen und reaktionären Mannes derart in Aufruhr versetzt, daß er den Verstand verlor. Er war an einer Blutvergiftung gestorben, und seine Witwe stand noch unter dem Eindruck der entsetzlichen Flüche, mit denen er sie vor seinem Tode überschüttet hatte.

»Und Ihre Julienne?« fragte Frau Mitaine wieder in ihrer liebenswürdigen Weise. »Ich bin ihr neulich begegnet, sie sieht prächtig aus!«

Die ehemalige Fleischerin mußte nun doch antworten. Sie deutete auf ein Paar in einer Quadrille.

»Da tanzt sie. Ich gebe acht auf sie.«

Julienne tanzte mit Louis Fauchard, dem Sohn des ehemaligen Ziehers, und schmiegte ihre volle, blühende Gestalt glücklich in den kräftigen Arm des hochgewachsenen, breitschultrigen Mannes mit dem gutmütigen Gesichte, der einer der besten Schmiede der Crêcherie war.

»Also noch ein künftiges Ehepaar?« fragte lachend die schöne Frau Mitaine.

Frau Dacheux fuhr erschrocken zusammen.

»Nein, nein, wie können Sie so etwas sagen! Sie kennen ja die Grundsätze meines seligen Mannes, er würde aus dem Grabe auferstehen, wenn ich seine Tochter einem Arbeiter gäbe, dem Sohne jener armseligen Natalie, die immer um ein Stückchen Fleisch auf Kredit bettelte, und die er so oft davonjagte, weil sie nicht zahlte.«

Mit leiser und zitternder Stimme erzählte sie sodann, daß ihr Mann ihr häufig in der Nacht erscheine. Selbst als Toter beugte er sie unter seine Tyrannei, zankte und schrie mit ihr in ihren Träumen und schüchterte sie durch teuflische Drohungen ein. Die arme, unbedeutende, verängstigte Frau fand nicht einmal in ihrer Witwenschaft ein wenig Frieden und Ruhe.

»Wenn ich Julienne gegen seinen Willen verheiratete«, sagte sie klagend, »würde er mir sicher jede Nacht erscheinen, mich beschimpfen und mich schlagen.«

Sie brach in Tränen aus, und Frau Mitaine tröstete sie, indem sie ihr versicherte, daß im Gegenteil ihre bösen Träume aufhören würden, wenn sie soviel Glück wie möglich um sich verbreitete. Eben kam zögernden Schrittes Natalie, die betrübte Frau Fauchard heran, die einst in unaufhörlicher Sorge gewesen war, wo sie die täglichen vier Liter Wein für ihren Mann hernehmen sollte. Sie litt gegenwärtig nicht mehr unter dem Elend der Armut, sie bewohnte eines der hellen Häuschen der Crêcherie mit ihrem Mann, der, gebrechlich und stumpfsinnig geworden, nicht mehr arbeitete. Sie hatte auch ihren Bruder Fortuné bei sich, der kaum fünfundvierzig Jahre alt war, und aus dem die mechanische, stets gleichbleibende Tretmühlenarbeit, die er seit seinem fünfzehnten Jahre in der Hölle hatte verrichten müssen, einen tauben und halbblinden Greis gemacht hatte. Trotz des Wohlstandes, den Natalie dem neuen Pensions- und gegenseitigen Unterstützungssystem verdankte, war sie nach wie vor eine unglückliche Frau, ein bedauernswerter Überrest der Vergangenheit, samt den beiden Männern, ihren Kindern, wie sie sagte, für die sie sorgen mußte. Sie bildeten ein Beispiel der Schmach und der Leiden des Lohnsklaventums, das der jungen Generation als schreckliche Lehre vor Augen stand.

»Haben Sie meine Männer nicht gesehen?« fragte sie Frau Mitaine. »Ich habe sie verloren. Ah, da sind siel«

Und man sah Arm in Arm wankenden Schrittes die beiden Schwager vorbeigehen, Fauchard, eine menschliche Ruine, wie ein Gespenst der qualvollen, entwürdigten Arbeit, und der jüngere Fortuné, ebenso gebrochen und stumpfsinnig wie der andere. Durch die fröhliche, kraftvolle Menge, die erfüllt war von Lebenslust und Zukunftshoffnung, schlichen sie langsam und mühselig dahin, ohne zu verstehen, was um sie vorging, ohne die Grüße zu erwidern.

»Lassen Sie sie in der Sonne«, sagte Frau Mitaine. »Das tut ihnen wohl. – Ihr Sohn ist gesund und guter Dinge?«

»O ja, Louis befindet sich sehr wohl«, erwiderte Frau Fauchard. »In den heutigen Zeiten gleichen die Söhne den Vätern sehr wenig. Sehen Sie nur, wie er tanzt. Der wird nie wissen, wie Hunger und Kälte tut.«

Da unternahm die gutherzige Frau Mitaine den Versuch, das Paar glücklich zu machen, das da vor ihr tanzte und sich zärtlich anlächelte. Sie setzte die beiden Mütter nebeneinander und redete so lange liebevoll auf Frau Dacheux ein, bis es ihr gelang, sie zu erschüttern und schließlich zu überzeugen. Sie litt bloß unter ihrer Einsamkeit, sie brauchte fröhliche Enkelkinder, die auf ihre Knie klettern und die Gespenster in die Flucht schlagen würden.

»Ach ja, in Gottes Namen«, rief die arme kleine Alte endlich, »ich will gern Ja sagen, unter der Bedingung, daß ich nicht allein bleibe. Ich habe niemals jemand etwas verweigern können, nur Er wollte nicht. Aber wenn ihr mir alle zuredet und wenn ihr mir versprecht, mich zu beschützen, tut, was ihr wollt!«

Als Louis und Julienne erfuhren, daß ihre Mütter ihrer Vereinigung zustimmten, liefen sie herbei und warfen sich ihnen unter Lachen und Tränen um den Hals. Inmitten der allgemeinen Freude war eine neue Freude entstanden.

»Wie sollte man diese jungen Leute trennen wollen«, sagte Frau Mitaine wieder, »die alle mit- und füreinander aufgewachsen sind? Ich habe kürzlich meinen Evariste mit Olympe Lenfant verheiratet, und ich erinnere mich noch, wie diese als ganz kleines Kind in meinen Laden kam und mein Junge sie mit Kuchen beschenkte. Und wie oft habe ich Louis Fauchard in Ihren Laden kommen sehen, Frau Dacheux, um mit Ihrer Julienne zu spielen! Und die Laboques, die Bourrons, die Lenfants, die Yvonnots, die nun alle untereinander heiraten, die sind alle miteinander groß geworden und waren gute Freunde, während ihre Eltern einander grimmig haßten. Sehen Sie, aus diesen Kinderfreundschaften ist jetzt die schöne und gute Ernte der Liebe aufgegangen.«

Sie lachte fröhlich in der Freude ihres guten Herzens. Sie hatte noch immer den Duft leckeren, frischgebackenen Brotes an sich, in dem sie so lange Jahre gelebt hatte als schöne blonde Bäckerin. Und rings um sie stieg die allgemeine Lustbarkeit, man erzählte sich, daß noch andere Paare sich verlobt hatten: Sébastien Bourron mit Agathe Fauchard, Nicolas Yvonnot mit Zoë Bonnaire. Die Liebe, die göttliche Liebe wirkte rastlos weiter an der Versöhnung und verschmolz die Klassen immer mehr miteinander. Sie hatte diese Ebene befruchtet, hatte die Bäume so mit Früchten beladen, daß die Zweige brachen, hatte die Ackerfurchen mit so dichten Halmen bedeckt, daß die Garbenreihen von einem Ende des Horizonts bis zum anderen wie die Säulen eines Friedenstempels standen. Sie schwebte in dem kräftigen Geruch dieser Fruchtbarkeit, sie führte den Reigen bei all diesen Hochzeitsfesten, aus denen zahllose freiere und glücklichere Generationen entspringen sollten. Und bis in die Nacht, bis der Himmel sich mit funkelnden Sternen bedeckte, dauerte das Fest, eine Siegesfeier der Liebe, die die Herzen einander zuführte, sie miteinander verschmolz, unter Gesang und Tanz des fröhlichen Volkes, das einer Zukunft der Eintracht und des Friedens entgegenging.

Aber inmitten dieser immer mehr anschwellenden Brüderlichkeit gab es einen Mann der alten Zeit, den Gußmeister Morfain, der stumm und finster abseits stand und die neue Welt nicht begreifen konnte und wollte. Er lebte nach wie vor gleich einem Zyklopen in seiner Felsenhöhle dicht bei dem Hochofen, den er zu überwachen hatte; und er lebte dort jetzt allein, als Einsiedler, der nichts mit den heutigen Menschen zu tun haben wollte. Schon als seine Tochter Blauchen ihn verlassen hatte, um Achille Gourier, ihrem Märchenprinzen, zu folgen, an dessen Arm sie unter dem Sternenhimmel durch das Felsgelände gestreift war, schon damals hatte er gefühlt, daß die neue Zeit ihm sein Bestes wegnahm. Dann hatte ein anderer Liebeshandel ihm Dada entfremdet, den gutmütigen jungen Riesen, der an Honorine, die Tochter des Weinhändlers Caffiaux, sein Herz verlor. Der alte Morfain hatte sich heftig dieser Heirat widersetzt, voll Verachtung gegen die Familie des jungen Mädchens, die er als Vergifter und Leute von zweifelhafter Ehrlichkeit bezeichnete. Nicht minder geringschätzig sprach sich übrigens das Ehepaar Caffiaux aus, deren Bürgerstolz sich dagegen sträubte, ihre Tochter als Frau eines einfachen Arbeiters zu sehen. Trotzdem hatte Caffiaux, der Kluge und Geschmeidige, zuerst nachgegeben. Er hatte nun, nach Schließung seiner Schenke, eine hübsche Stellung als Oberaufseher in den Genossenschaftslagern inne. Die alten Geschichten waren vergessen, und er trug eine viel zu große Anhänglichkeit für die Ideen der Gemeinschaft zur Schau, als daß er sich hätte durch hartnäckige Weigerung schaden wollen. In Dada war die Leidenschaft endlich so stark geworden, daß er sich gegen den Willen des Vaters auflehnte. Es gab eine schreckliche Szene zwischen Vater und Sohn, die den vollständigen Bruch zwischen ihnen herbeiführte. Seit der Zeit hauste der Gußmeister von aller Welt abgeschlossen in seiner Felsenhöhle und lebte nur noch, öffnete nur noch den Mund, um seinen Hochofen zu leiten, ein finsteres, scheues Gespenst vergangener Zeiten.

Jahre um Jahre vergingen, ohne daß der alte Morfain zu altern schien. Er war noch immer der Bezwinger des Feuers, der Riese mit dem gewaltigen Kopf, dem glutverbrannten Gesicht, der Adlernase, den tiefglühenden Augen, den wie von Lavaströmen gefurchten Wangen, den geschweiften, blutigroten Lippen, die sich nicht mehr öffneten. Nichts Menschliches schien ihn mehr erreichen zu können in der unzugänglichen Einsamkeit, in die er sich verschlossen hatte, seitdem er hatte sehen müssen, daß sein Sohn und seine Tochter zu den anderen, den Neuen übergingen. Blauchen hatte mit Achille ein reizendes Mädchen, Léonie, die hold und lieblich erblühte. Dada wurde von seiner Frau mit einem hübschen, kräftigen Jungen, Raymond, beschenkt, der inzwischen groß und klug geworden war und bald selbst heiratsfähig werden würde. Aber der Großvater ließ sich nicht erweichen, er stieß die Kinder von sich, er wollte sie nicht einmal sehen. Alles dies waren ihm Dinge, die sich in einer anderen Welt ereigneten und die ihn nicht berührten. Aber während seine menschlichen Gefühle ertötet waren, schien die gleichsam väterliche Zärtlichkeit, die er stets für seinen Hochofen gefühlt hatte, noch gewachsen. Er sah in ihm sein Riesenkind, das von ewigem Feuer durchglühte Ungeheuer, dessen flammende Verdauung er Tag und Nacht, Stunde für Stunde überwachte. Die geringste Störung, die geringste Verminderung des leuchtenden Glanzes der Abstiche verursachte ihm zärtliche Angst. Er verbrachte die Nächte schlaflos, überzeugte sich immer wieder, ob das Gebläse gut funktioniere, umgab das Ungetüm mit der beflissenen Aufmerksamkeit eines Verliebten, ließ sich von der furchtbaren Hitze seiner Glutergüsse achtlos die Haut verbrennen. Lucas hatte in Anbetracht seines hohen Alters davon gesprochen, ihn in den Ruhestand zu versetzen, aber er hatte nicht den Mut gehabt, diese Absicht auszuführen, angesichts der bebenden Auflehnung, des trostlosen Kummers dieses Helden der peinvollen Arbeit, dessen Stolz es war, seine Muskelkraft in dem ruhmlosen Kampfe mit dem Feuer zu verbrauchen. Die Ruhe konnte ihm nur durch den unaufhaltsamen Fortschritt der Zeit aufgezwungen werden, und Lucas beschloß in seiner Herzensgüte, diesen Augenblick abzuwarten.

Schon fühlte sich Morfain bedroht. Er hatte von den Forschungen gehört, denen sich Jordan mit voller Hingabe widmete, um den plumpen, langsam arbeitenden, barbarischen Hochofen mit seinem schwer lenkbaren ewigen Feuer durch die leichten und willigen Batterien elektrischer Öfen zu ersetzen. Der Gedanke, daß man den Koloß, der sieben bis acht Jahre ununterbrochen fortbrannte, verlöschen lassen und niederreißen könnte, war ihm unfaßbar, rührte ihn in tiefster Seele auf. Er zog zuweilen Erkundigungen ein und wurde von Unruhe erfaßt, als er von dem ersten Erfolge Jordans hörte, den dieser erzielt hatte, indem er die Kohlen gleich am Grubenschacht zum Antrieb von Maschinen verwendete und die so gewonnene Elektrizität ohne Stromverlust in die Crêcherie leitete. Aber da der Preis der Elektrizität noch immer zu hoch blieb, als daß sie hätte können zur Eisengewinnung verwendet werden, konnte Morfain sich über die Nutzlosigkeit dieses Erfolges freuen. Noch zehn Jahre hindurch hatte er über jeden neuen Mißerfolg Jordans mit stillem Spotte frohlockt, fest überzeugt, daß das Feuer sein Reich verteidigen und sich niemals von dieser geheimnisvollen Kraft, dem unsichtbaren, geräuschlosen Blitz unterjochen lassen werde. Er wünschte aus ganzer Seele das Fehlschlagen aller Versuche seines Herrn, die Vernichtung der immer wieder neu konstruierten, von Tag zu Tag verbesserten Apparate. Doch eines Tages war die drohende Gefahr dicht herangerückt, das Gerücht verbreitete sich, daß es Jordan endlich gelungen sei, sein großes Werk zu krönen: er hatte das Mittel gefunden, um die in den Kohlen gebundene Wärmeenergie direkt in elektrische Energie zu verwandeln, ohne den Umweg über die mechanische Energie – das heißt, er hatte dadurch die Dampfmaschine, das kostspielige und umfangreiche Zwischenglied, entbehrlich gemacht. Das Problem war somit gelöst, der Kostenpreis der Elektrizität war auf die Hälfte vermindert, und sie konnte fortan mit Vorteil zum Schmelzen des Eisenerzes verwendet werden. Die Apparate zur Erzeugung der Elektrizität arbeiteten schon, eine erste Batterie elektrischer Öfen war im Entstehen, und Morfain umkreiste finster und starrsinnig seinen Hochofen, als wollte er ihn gegen alle feindlichen Mächte verteidigen.

Lucas gab jedoch nicht sogleich Befehl, den Hochofen auszublasen, da er zuerst entscheidende Versuche mit den Batterien der elektrischen Öfen machen wollte. Ein halbes Jahr lang waren beide Schmelzmethoden nebeneinander in Tätigkeit, und es waren qualvolle Tage für den alten Gußmeister, denn er fühlte nun, daß dem geliebten Ungetüm, das seiner Obhut anvertraut war, unabwendbar die letzte Stunde nahte. Er sah es bereits von allen verlassen, kein Besucher kam mehr herauf, alle Neugierde umdrängte die elektrischen Öfen unten, die so wenig Platz einnahmen und die, wie es hieß, so rasche und schöne Arbeit lieferten. Von heftigem Groll erfüllt, hatte er sie nicht einmal ansehen wollen, diese neuen Erfindungen, die er geringschätzig als Kinderspielzeuge bezeichnete. Konnte die uralte Methode, das freie, helle Feuer, das den Menschen zum Herrn der Welt gemacht hatte, entthront werden? Man kehrte sicher dereinst zu ihnen zurück, zu den gewaltigen Hochöfen, deren Flammen jahrhundertelang gebrannt hatten, ohne je zu erlöschen. Und in seiner Einsamkeit, nur von den wenigen Arbeitern des Hochofens umgeben, die schweigsam waren gleich ihm, blickte er von seiner Höhe auf den Schuppen hinab, der die elektrischen Öfen enthielt, glücklich noch in der Nacht, wenn er mit der Glutausstrahlung seiner Abstiche den Horizont zum Flammen brachte.

Aber der Tag kam, da Lucas den Hochofen zum Tode verurteilte, nachdem es nun zweifellos feststand, daß er im Vergleich zu der neuen Methode viel zu schwerfällig und kostspielig war. Er sollte ausgeblasen und dann abgetragen werden, nachdem er seinen letzten Abstich hergegeben hatte. Als man Morfain dies ankündigte, sagte er kein Wort, und sein ehernes Gesicht verriet nichts von dem, was in ihm vorgehen mochte. Diese Ruhe flößte allen, die ihn kannten, Besorgnis ein. Blauchen stieg, begleitet von ihrer großen Tochter Léonie, zu ihrem Vater hinauf, und gleichzeitig hatte Dada denselben liebevollen Gedanken und kam mit seinem großen Sohn Raymond. Für eine kurze Weile war denn die Familie wieder in der Felsenhöhle vereinigt wie einst, der hünenhafte Vater zwischen der blauäugigen Tochter und dem gewaltigen Sohn, der vom Hauch der Zukunft berührt und in seinem Wesen gemildert war. Und außerdem waren nun da die liebliche Enkelin, der kluge Enkel, in denen sich die neue Generation, die tätige Förderin des menschlichen Glücks, verkörperte. Der Großvater ließ sich umarmen und küssen, ohne die Kinder zurückzustoßen, wie er sonst getan hatte. Obgleich er geschworen hatte, daß er sie nie mehr sehen wolle, ließ er sich diesmal überrumpeln. Aber er erwiderte ihre Zärtlichkeiten nicht. Er schien bereits außerhalb der Zeit zu stehen, ein einsam ragender Zeuge einer vergangenen Welt, in dem alle menschliche Regung erstorben war. Dies geschah an einem kalten, düsteren Herbsttage, und die frühe Dämmerung fiel wie ein grauer Schleier vom Himmel und hüllte die dunkle Erde ein. Morfain erhob sich und brach sein undurchdringliches Schweigen, um zu sagen:

»Ich muß jetzt gehen, wir haben noch einen Abstich.« Es war der letzte. Alle folgten ihm zum Hochofen. Die Arbeiter warteten schon, in der Dunkelheit kaum erkennbar, und dann folgte der altgewohnte Vorgang: der Feuerspieß wurde in den Tonpfropfen gestoßen, die Öffnung wurde erweitert, dann schoß das geschmolzene Metall in mächtigem Strahle hervor, eilte in glühenden Bächen durch die Rinnen und erfüllte die Mulden mit brennenden Seen. Noch einmal sprühten aus diesem Feuerboden zahllose Funkengarben auf, blaue Funken von herrlicher Zartheit, goldene Raketen von wundervoller Pracht, wie leuchtende Kornblumen inmitten goldener Ähren. Eine blendende Helle bestrahlte das Gemäuer des Hochofens, die naheliegenden Bauten und Apparate, die Dächer von Beauclair unten, die Weite des Horizonts. Dann erlosch alles wieder, tiefe Nacht sank herab, und alles war zu Ende, der Hochofen hatte ausgelebt.

Morfain, der wortlos zugesehen hatte, rührte sich nicht, stand unbeweglich im Finstern wie einer der Felsen ringsum, die die Nacht wieder in ihren Schoß aufgenommen hatte.

»Vater«, sagte Blauchen sanft, »da du hier keine Arbeit mehr hast, mußt du nun zu uns kommen. Dein Zimmer erwartet dich seit langem.«

»Vater«, sagte auch Dada, »nun mußt du wirklich der Ruhe pflegen, und auch bei uns ist dein Zimmer bereit. Du wirst dich zwischen deinen beiden Kindern teilen.«

Der alte Gußmeister antwortete nicht. Ein tiefes Stöhnen entrang sich seiner Brust. Dann sagte er:

»Es ist gut, ich komme hinunter, ich werde sehen. Geht jetzt!«

Noch vierzehn Tage lang konnte man Morfain nicht bewegen, den Hochofen zu verlassen. Er verfolgte seine langsame Abkühlung wie einen Todeskampf, er betastete ihn jeden Tag, um sich zu überzeugen, daß er noch nicht ganz tot sei. Und solange er noch etwas Wärme fühlte, blieb er hartnäckig an seiner Seite, so wie er hätte bei der Leiche eines Freundes ausharren mögen, bis sie vollständig erkaltet war. Endlich kamen die Arbeiter, und eines Morgens riß er sich von seiner Felsenhöhle los, stieg zur Crêcherie hinab und begab sich mit seinen noch festen Schritten unmittelbar in den großen, hellen Schuppen, in dem die Batterie der elektrischen Öfen untergebracht war.

Hier befanden sich gerade Jordan und Lucas mit Dada, dem sie die Überwachung des Schmelzprozesses übertragen hatten, worin ihm sein Sohn Raymond, ein guter Elektromechaniker, zur Seite stand. Das Funktionieren der Öfen wurde noch von Tag zu Tag geregelt, und Jordan verließ den Schuppen fast nicht, da er noch immer bestrebt war, die Methode zu vervollkommnen, auf die er so viele Jahre des Studiums und der Versuche verwendet hatte.

Als er die hohe, ungebrochene Gestalt des Greises erblickte, rief er freudig aus:

»Ah, mein lieber alter Morfain, Sie sind also vernünftig geworden?«

Keine Linie auf dem ehernen Gesichte des alten Helden bewegte sich, als er erwiderte:

»Ja, Herr Jordan, ich wollte Ihren Apparat ansehen.«

Lucas beobachtete den Alten nicht ohne Unruhe, denn es war ihm berichtet worden, daß man gerade dazu gekommen war, wie er sich über die Gicht des noch brennenden Ofens gebeugt hatte, als wollte er sich in diesen entsetzlichen Höllenschlund hinabstürzen. Ein Arbeiter hatte ihn zurückgerissen und hatte ihn so verhindert, seinen alten Leib, alles, was noch von seinem hundert und hundertmal gerösteten Körper übrig war, dem Moloch hinzuwerfen, den er mehr als ein halbes Jahrhundert lang geliebt und bedient hatte.

»Das ist schön von Ihnen, mein guter Morfain, daß Sie in Ihrem Alter noch wißbegierig sind«, sagte Lucas, ohne den Blick von ihm zu wenden. »Sehen Sie sich diese Spielzeuge nur an.«

Die Batterie bestand aus zehn Öfen, jeder ein Rohziegelwürfel von zwei Meter Höhe bei einundeinhalb Meter Breite. Außerhalb sah man die mächtigen Elektroden, starke zylindrische Kohlenstäbe, die mit den Leitungsdrähten verbunden waren. Der Vorgang war sehr einfach. Eine elektrische Schraube ohne Ende, die durch Drehung eines Knopfes in Bewegung gesetzt wurde, bediente die Öfen, förderte das Erz herbei und schüttete es der Reihe nach in die zehn Öffnungen. Ein zweiter Knopf diente zum Schließen des elektrischen Stromes, zum Erzeugen des Funkenbogens, dessen ungeheure Temperatur von zweitausend Grad in fünf Minuten zweihundert Kilogramm Metall schmelzen konnte. Und wenn dann ein dritter Knopf gedreht wurde, öffneten sich die Platintüren, die die Öfen verschlossen, während zugleich eine Art Rollbahn sich in Bewegung setzte, die die Gußmulden aus feinem Sande den Öffnungen zuführte, darin jede Mulde ihre zweihundert Kilogramm geschmolzenes Metall aufnahm, um dann zur Abkühlung ins Freie hinausbefördert zu werden.

»Nun, mein guter Morfain!« rief Jordan in kindlicher Freude, »was sagen Sie dazu?«

Er erklärte ihm, daß diese Spielzeuge alle fünf Minuten zweihundert Kilo schmolzen, also bei einer Arbeitsdauer von zehn Stunden täglich zweihundertvierzig Tonnen Roheisen liefern konnten. Das war eine ganz ungeheure Leistung, wenn man bedachte, daß der alte Hochofen, der Tag und Nacht brannte, nicht den dritten Teil dieser Produktion erreichte. Die elektrischen Öfen blieben denn auch selten länger als drei oder vier Stunden in Tätigkeit, denn dank ihrer spielend leichten Handhabung konnte man sie nach Belieben entzünden und sie wieder verlöschen, sobald sie das gewünschte Quantum geliefert hatten. Und welche Bequemlichkeit, welche Reinlichkeit, welche Einfachheit! In dem großen, reinlichen, hellen Schuppen hatte die Batterie der zehn elektrischen Öfen mit ihrer kleinen Rollbahn bequem auf einer Fläche von fünfzehn Metern Länge und fünf Metern Breite Platz, und drei Kinder hätten genügt, um sie in Tätigkeit zu setzen: eines für den Knopf der endlosen Schraube, eines für den der Elektroden, eines für den der Rollbahn.

»Nun, was sagen Sie dazu, mein guter Morfain?« wiederholte Jordan freudestrahlend.

Der alte Gußmeister stand wortlos und regungslos und blickte auf die Öfen. Die Nacht brach herein, der Schuppen erfüllte sich mit Dunkelheit, und das regelmäßige, leichte Funktionieren der Batterie hatte etwas Zauberhaftes an sich. Lichtlos und kalt standen die Öfen da, wie schlafend, während die kleinen Wagen mit Erz, von der Schraube ohne Ende bewegt, ihren Inhalt in sie schütteten. Von fünf zu fünf Minuten öffneten sich dann die zehn Platintüren, zehn weißglühende Strahlen geschmolzenen Metalls erleuchteten blendend die Dunkelheit, und zehn Glutflächen, aus denen blaue Funken und goldene Raketen aufsprühten, wurden in langsamer, gleichmäßiger Bewegung von der Rollbahn entführt. Es war ein wundersames Schauspiel, diese rhythmische Aufeinanderfolge des Aufblitzens von immer zehn strahlenden Gestirnen, von denen der Schuppen in regelmäßigen Intervallen taghell erleuchtet wurde.

Dada, der bis jetzt geschwiegen hatte, deutete nun auf den vom Dache herabkommenden dicken Leitungsdraht.

»Siehst du, Vater«, sagte er, »die Elektrizität wird durch diesen Draht hereingeführt, und sie hat eine solche Kraft, daß, wenn man den Draht zerrisse, alles in Stücke ginge, wie durch einen Blitzschlag.«

Lucas, dessen Besorgnisse zerstreut waren, da er Morfain so ruhig sah, lachte.

»Sagen Sie das nicht, unsere Leute würden nur unnötig Angst bekommen. Es würde nichts in Stücke gehen, der Unvorsichtige, der den Draht anrührte, käme allein in Gefahr. Und übrigens ist der Draht fest.«

»Das allerdings!« rief Dada. »Es würde eine starke Faust dazu gehören, um ihn zu zerreißen!«

Morfain, starr und unempfindlich nach wie vor, hatte sich genähert, und er brauchte bloß die Hand zu erheben, um den Draht zu erreichen. Einige Augenblicke stand er unbeweglich mit seinem tief gefurchten Gesicht, auf dem kein Gedanke zu lesen war. Aber plötzlich flammte eine solche Glut in seinen Augen auf, daß Lucas von ahnungsvollem Schrecken durchzuckt wurde.

»Eine starke Faust, glaubst du?« sagte der Alte mit tiefer Stimme. »Das wollen wir einmal sehen, mein Sohn!«

Und ehe jemand ihn hindern konnte, erfaßte er den Draht mit seinen vom Feuer gehärteten, stählernen Zangen gleichenden Händen, drehte ihn und zerriß ihn mit übermenschlicher Kraft, wie ein zorniger Riese die Schnur eines Kinderspielzeuges zerrissen hätte. Ein starker Blitz flammte blendend auf, dem sogleich tiefe Finsternis folgte, und in dieser Finsternis hörte man den Fall eines schweren Körpers, der alte Riese war zu Boden gestürzt wie eine gefällte Eiche.

Man holte eiligst Laternen herbei. Tief erschüttert, konnten Jordan und Lucas nur den Tod des Greises feststellen, während Dada weinte und klagte. Der alte Gußmeister schien keinen Schmerz gelitten zu haben: auf dem Rücken ausgestreckt lag er da, ein in der Glut gehärteter Koloß, dem das Feuer nichts anhaben konnte. Seine Kleider brannten, und man mußte sie löschen. Er hatte das geliebte Ungeheuer nicht überleben wollen, den alten Hochofen, dessen letzter Anbeter er war. Mit ihm endigte der primitive Kampf mit den Elementen, endigte das Geschlecht der Bezwinger des Feuers und Eroberer des Metalles, das unter das Sklavenjoch der qualvollen Arbeit gebeugt gewesen war und das mit Stolz seinen Adelsbrief der uralten schweren Mühsal aufwies, unter deren Last die Menschheit einer glücklicheren Zukunft entgegenkeuchte. Er hatte sich hartnäckig der Kunde verschlossen, daß die neue Zeit erstanden war, in der jedem, dank dem Siege der gerechten Arbeit, etwas von der Ruhe, der Erquickung, dem glücklichen Lebensgenusse zuteil wurde, deren früher nur einige Bevorrechtete sich hatten erfreuen können. Er fiel als starrsinniger, weltabgewandter Held der alten, schrecklichen Fronarbeit, ein an seinen Amboß geketteter Zyklop, ein blinder Feind alles dessen, was ihn befreite, der seinen Stolz in seine Unterjochung setzte und der jede Verminderung des Leidens und der Mühsal wie eine schmähliche Entartung von sich wies. Die Kraft der jungen Zeit, der Blitz, dessen Gewalt er hatte leugnen wollen, hatte ihn vernichtet, und er schlief nun den ewigen Schlaf.

Innerhalb der nächsten Jahre wurden noch drei Ehen geschlossen, die die Klassen noch mehr vermischten, die Bande noch enger knüpften zwischen dem kleinen Volke der Brüderlichkeit und des Friedens, das sich unaufhörlich vermehrte. Der älteste Sohn Lucas' und Josinens, Hilaire, ein kräftiger junger Mann von nun schon sechsundzwanzig Jahren, heiratete Colette, eine entzückende achtzehnjährige Blondine, die Tochter Nanets und Nises. Dann heiratete eine andere Froment, Thérèse, das dritte Kind Lucas', ein großes, schönes, heiteres Mädchen von siebzehn Jahren, Raymond, den Sohn von Dada und Honorine Caffiaux, der zwei Jahre älter war als sie. Damit vermischte sich das Blut der Froment wieder mit dem der Morfain, des alten Arbeitergeschlechtes, und dem der Caffiaux, der Angehörigen des ehemaligen Handels, den die Crêcherie zugrunde gerichtet hatte. Und endlich vereinigte sich die liebenswürdige zwanzigjährige Léonie, Tochter von Blauchen und Achille Courier, mit Séverin Bonnaire, dem jüngeren Bruder Luciens, der gleichen Alters mit ihr war. Und hier verschmolz das sterbende Bürgertum mit dem Volke, mit den rauhen, in ihr Schicksal ergebenen Arbeitern der alten Zeit und den revolutionären neuen Arbeitern, die ihrer vollständigen Befreiung zustrebten.

Fröhliche Hochzeitsfeste wurden gefeiert, die glückliche Nachkommenschaft Lucas' und Josinens sollte blühen und sich vermehren, sollte die neue Stadt bevölkern helfen, die Lucas erbaut hatte, damit Josine, und das ganze Volk mit ihr, von dem ungerechten Elend errettet werde. Der mächtige Strom der Liebe, des Lebens verbreiterte sich ohne Unterlaß, verzehnfachte die Ernten, ließ immer neue Menschen entstehen, damit immer mehr Wahrheit und Gerechtigkeit auf Erden werde. Die junge, fröhliche, siegreiche Liebe führte die Paare, die Familien, die ganze Stadt der vollkommenen Eintracht, dem endgültigen Glück entgegen. Und da jede Heirat ein neues, von Grün umgebenes Häuschen dem Boden entwachsen ließ, ergoß sich die Flut der hellen weißen Häuser unablässig immer weiter, erreichte das alte Beauclair und schwemmte es weg. Seit langem war das alte, schmutzige Viertel, in dessen elenden Hütten die Arbeiter jahrhundertelang zusammengepfercht dahingelebt hatten, niedergerissen und verschwunden und hatte breiten, mit Bäumen bepflanzten und von schönen Häusern eingefaßten Straßen Platz gemacht. Auch das bürgerliche Viertel war nun schon bedroht, neue Straßenzüge waren durchgebrochen worden, die alten Gebäude der Unterpräfektur, des Gerichts, des Gefängnisses wurden, zum Teil erweitert, nun zu anderen Zwecken verwendet. Bloß die uralte Kirche stand noch, rissig und baufällig, inmitten eines kleinen, öden Platzes, auf welchem Gras und Unkraut wuchs. Überall machten die alten bürgerlichen Erbbesitze, die Zinshäuser, gesünderen Bauten Platz, die von allen Seiten frei in dem Riesengarten standen und deren jedes von reichlicher Beleuchtung erhellt und von frischem, klaren Wasser durchrieselt war. Die Zukunftsstadt war nun zur Gegenwart geworden, eine sehr große, schöne, blühende Stadt, deren sonnenhelle Straßen sich immer mehr verlängerten und sich nun schon bis an die Felder der fruchtbaren Roumagne erstreckten.


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