Heinrich Wölfflin
Die klassische Kunst
Heinrich Wölfflin

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Zweiter Teil

I. Die neue Gesinnung

Benozzo Gozzoli hat im Camposanto von Pisa unter anderen alttestamentlichen Geschichten auch die »Schande Noahs« zu erzählen gehabt. Es ist eine rechte Quattrocento-Erzählung geworden, breit und ausführlich, wo man das Behagen des Erzählers merkt, uns die Entstehung des Rausches bei dem Patriarchen mit aller Umständlichkeit darzulegen. Weit ausholend fängt er an: Es war ein schöner Herbstnachmittag und der Grosspapa nahm zwei Enkelkinder und ging mit ihnen die Weinlese zu besehen. Und wir werden zu den Knechten und Mägden geführt, die die Trauben lesen, in Körbe füllen und in der Bütte zerstampfen. Es ist überall lebendig von munterm Getier, an dem Wässerchen sitzen die Vögel und dem einen Kleinen macht ein Hündchen zu schaffen. Der Grosspapa steht da und geniesst die heitere Stunde. Indessen ist der neue Wein gepresst und wird dem Padrone zum Probieren gereicht. Die eigene Frau bringt den Becher und sie hängen alle an seinen Lippen, während er das Getränk prüfend auf der Zunge behält. Das Urteil war günstig, denn nun verschwindet der Erzvater in einer hinteren Laube, wohin man ihm ein grosses Fass mit vino nuovo gestellt hat, und dann geschieht das Unglück: sinnlos betrunken liegt der alte Mann vor der Thüre seines schönen buntgemalten Hauses und hat sich unanständig entblösst. In profundem Staunen besehen sich die Kinder die seltsame Wandlung, während die Frau zunächst dafür sorgt, dass die Mägde von der Stelle kommen. Die verdecken sich mit den Händen das Gesicht, aber ungern, und eine sucht durch die gespreizten Finger doch wenigstens noch ein Stück des Schauspiels zu erwischen.

Eine solche Erzählung kommt nach 1500 nicht mehr vor. Knapp und ohne Nebendinge wird die Szene in wenigen Figuren entwickelt. Man giebt keine Schilderungen, sondern den dramatischen Kern der Geschichte. Man duldet nicht das genremässige Ausspinnen, die Sache wird ernst genommen. Man will den Beschauer nicht amüsieren, sondern 194 ergreifen. Die Affekte werden zur Hauptsache und vor dem Interesse am Menschen verschwindet der ganze übrige Inhalt der Welt.

In einer Galerie, wo die Cinquecentisten beisammenhängen, ist der erste Eindruck für den Beschauer bedingt durch die Einseitigkeit im Stofflichen: es sind nichts als menschliche Körper, die die Kunst bildet, grosse Körper, das ganze Bild füllend, und überall ist mit strengem Sinn das Nebensächliche ausgeschieden. Was für das Tafelbild gilt, gilt erst recht von der Wandmalerei. Es ist ein anderes Geschlecht von Menschen, das vor uns auftritt, und die Kunst geht auf Wirkungen aus, die mit der beschaulichen Freude an der Mannigfaltigkeit der Dinge sich nicht mehr vertragen.


1.

Das Cinquecento setzt ein mit einer ganz neuen Vorstellung von menschlicher Grösse und Würde. Alle Bewegung wird mächtiger, die Empfindung hat einen tieferen, leidenschaftlicheren Atemzug. Man beobachtet eine allgemeine Steigerung der menschlichen Natur. Es bildet sich ein Gefühl aus für das Bedeutende, für das Feierliche und Grossartige, dem gegenüber das Quattrocento in seiner Gebärde ängstlich und befangen erscheinen musste. Und so wird denn aller Ausdruck umgesetzt in eine neue Sprache. Die kurzen hellen Töne werden tief und rauschend und die Welt vernimmt wieder einmal das prachtvolle Rollen eines hochpathetischen Stiles.

Verrocchio. Taufe Christi

Wenn Christus getauft wird – sagen wir: bei Verrocchio – so geschieht es mit einer dringlichen Hast, mit einer ängstlichen Biederkeit, die sehr ehrlich empfunden sein mochte, die aber dem neuen Geschlecht 195 als gemein vorkam. Man vergleiche mit dem Taufbild Verrocchios die Gruppe des A. Sansovino am Baptisterium. Er hat etwas ganz Neues daraus gemacht. Der Täufer tritt nicht erst hinzu, er steht da, ganz ruhig. Die Brust ist uns zugewendet, nicht dem Täufling. Nur der energisch seitwärts gedrehte Kopf geht mit der Richtung des Armes, der weitausgestreckt die Schale über den Scheitel Christi hält. Kein besorgtes Nachgehen und Sich-Vorbeugen; lässig zurückhaltend wird die Handlung vorgenommen, eine symbolische Handlung, deren Wert nicht in der peinlich exakten Ausführung besteht. Der Johannes des Verrocchio folgt mit dem Auge dem Wasser: bei Sansovino ruht sein Blick auf dem Antlitz Christi.Die Schale bei Sansovino wird fast flach gehalten. Früher gab man mit archaischer Deutlichkeit die umgestürzte Schale und noch Giov. Bellini lässt den Inhalt bis auf den letzten Rest abtropfen (Bild in Vicenza, aus dem Jahr 1500).

A. Sansovino. Taufe Christi

Von Fra Bartolommeo findet sich unter den Handzeichnungen der Uffizien ein ganz übereinstimmender Entwurf zu einer Taufe im Sinne des Cinquecento.

Und gleicherweise ist nun auch der Täufling umgebildet, er soll ein Herrscher sein, nicht ein armer Schullehrer. Unfest steht er bei Verrocchio im Bach und das Wasser umspült seine mageren Beine. Die spätere Zeit lässt so wie so das Stehen im Wasser beiseite, indem sie nicht die Klarheit der Figurenerscheinung dem Gemein-Wirklichen opfern mag, das Stehen selbst aber wird frei und vornehm. Bei Sansovino ist es die schwungvolle Pose mit dem seitwärts abgesetzten Spielbein. Statt der eckigen zerhackten Bewegung entsteht eine schöne durchgehende Linie. Die Schultern sind zurückgenommen und nur der Kopf ist um ein weniges gesenkt. Die Arme liegen gekreuzt vor der Brust, die natürliche Steigerung des herkömmlichen Motivs der betend aneinandergelegten Hände.An der Erzgruppe Verrocchios von Orsanmichele, Christus und Thomas, wäre eine ähnliche Kritik zu üben. Christus, der eigenhändig die Wunde blosslegt und selbst mit dem Blick die Operation begleitet, ist im Motiv zu niedrig gegriffen. So würde kein Späterer das Thema behandelt haben.

196 Das ist die grosse Gebärde des 16. Jahrhunderts. Bei Lionardo ist sie schon da, still und fein, wie es seine Art war. Fra Bartolommeo lebt von dem neuen Pathos und spricht hinreissend, wie mit der Gewalt des Sturmwindes. Das Beten der mater misericordiae und das Segnen seines Auferstandenen sind Erfindungen von der grössten Art: wie dort das Gebet in der ganzen Gestalt aufflammt und wie hier Christus segnet, voll Nachdruck und Würde, dagegen muss alles frühere wie Kinderspiel erscheinen. Michelangelo ist von Hause aus kein Pathetiker, er hält keine langen Reden, man hört das Pathos nur rauschen wie eine mächtige unterirdische Quelle, aber an Wucht der Gebärde vergleicht sich ihm keiner. Der Verweis auf die Figur des Schöpfers an der sixtinischen Decke mag genügen. Raffael hat in seinen männlichen römischen Jahren sich ganz mit dem neuen Geist erfüllt. Was für eine grosse Empfindung lebt in dem Teppichentwurf zur Krönung der Maria, was für ein Schwung in der Gebärde des Gebens und Empfangens! Es gehört eine starke Persönlichkeit dazu, um diese mächtigen Ausdrucksmotive in der Gewalt zu behalten. Wie sie gelegentlich mit dem Künstler durchgehen, zeigt in lehrreicher Weise die Komposition der sogenannten fünf Heiligen in Parma (Stich von Marc Anton, B. 113), ein Werk aus Raffaels Schule, dessen himmlische Figuren man zusammenhalten möge mit der noch ganz scheuen Christusgruppe auf der »Disputa« des jugendlichen Meisters.

Zu diesem Überschwang des Pathos haben wir in Sannazaro's berühmter Dichtung der Geburt Christi (de partu virginis) die litterarische Parallele.Das Werk erschien 1526. Der Autor soll 20 Jahre daran gefeilt haben. Der Dichter hat sich angelegen sein lassen, den schlichten Ton der biblischen Erzählung möglichst zu meiden und die Geschichte mit allem Pomp und Pathos auszustatten, den er überhaupt aufzubringen vermochte. Maria ist von vornherein die Göttin, die Königin. Das demütige »fiat mihi secundum verbum tuum« wird umschrieben mit einer langen hochtrabenden Rede, die der biblischen Situation in keiner Weise entspricht; sie blickt zum Himmel empor

oculos ad sidera tollens
adnuit et tales emisit pectore voces:
Jam jam vince fides, vince obsequiosa voluntas:
en adsum: accipio venerans tua jussa tuumque
dulce sacrum pater omnipotens etc.

Glanz erfüllt das Gemach: sie empfängt. Es donnert bei heiterem Himmel

ut omnes audirent late populi, quos maximus ambit
Oceanus Thetysque et raucisona Amphitrite.
197

 

2.

Neben dem Verlangen nach der grossen, ausladenden Form findet man eine Tendenz, den Ausdruck des Affektes zu dämpfen, die vielleicht in noch höherem Masse als bezeichnend für die Physiognomie des Jahrhunderts empfunden wird. Es ist diese Zurückhaltung gemeint, wo man von der »klassischen Ruhe« der Figuren spricht. Die Beispiele liegen nahe. In einem Augenblick der höchsten Erregung, da wo Maria ihren Sohn tot vor sich hat, schreit sie nicht auf, sie weint nicht einmal: ruhig und thränenlos, von keinem Schmerz verzerrt, breitet sie die Arme aus und blickt nach oben. So hat sie Raffael gezeichnet (Stich des Marc Anton). Bei Fra Bartolommeo drückt sie dem Toten, bei dem auch jeder Zug des Leidens ausgelöscht ist, einen Kuss auf die Stirn, ohne Heftigkeit und ohne Jammern, und so hat schon Michelangelo, noch grösser und noch gehaltener als die andern, bei der Pietà seines ersten römischen Aufenthaltes die Situation gegeben.

Pietà. Stich des Marc AntonDer Felsen mit den Bäumen ist einem Stich des Lucas van Leyden entnommen.

Wenn bei der »Heimsuchung« Maria und Elisabeth mit gesegnetem Leib sich umarmen, so ist es die Begegnung von zwei tragischen Königinnen, eine langsame, feierliche, schweigende Begrüssung (Sebastiano del Piombo, Louvre), nicht mehr das muntere eilige Zusammenlaufen, wo eine freundliche junge Frau mit anmutigem Neigen der alten Base zuspricht, sie solle doch nicht soviel Umstände machen.

Sebastiano del Piombo. Heimsuchung

Und in der Verkündigungsszene ist Maria nicht mehr das Mädchen, das in fröhlichem Schrecken den unerwarteten Besuch ansieht, wie wir es bei Filippo, bei Baldovinetti oder Lorenzo di Credi finden, es ist auch nicht die demütige Jungfrau mit den gesenkten Augen einer Konfirmandin, 198 sondern vollkommen gefasst, in fürstlicher Haltung, empfängt sie den Engel, nicht anders als eine vornehme Dame, die gewohnt ist, sich nicht überraschen zu lassen.Schon Lionardo tadelt einen zeitgenössischen Maler, wo die Maria bei der Botschaft in solche Bewegung gerate, als ob sie sich zum Fenster hinausstürzen wolle. Albertinelli und Andrea del Sarto möchten dann den Ton des Cinquecento zuerst rein getroffen haben. Eine Antezipation dieser Erscheinung ist Piero dei Franceschis Verkündigung in Arezzo. Die grossartigste Darstellung aber hat der Gegenstand in dem Bilde Marcello Venustis gefunden (Lateran), eine Conception, die den Geist Michelangelos verrät. Wiederholungen des Bildes in S. Caterina ai Funari in Rom und sonst. Zeichnung in den Uffizien (Berenson, 1644: I see no reason why it should not be given to Venusti).

Selbst der Affekt mütterlicher Liebe und Zärtlichkeit wird gedämpft, Raffaels Madonnen der römischen Periode sehen ganz anders aus als seine ersten. Es wäre nicht mehr passend für die vornehm gewordene Maria, das Kind so an die Wange zu drücken, wie die Madonna aus dem Hause Tempi (München) es thut. Man nimmt Abstand voneinander. Auch auf der Madonna della Sedia ist es die stolze Mutter, nicht die liebende, die die Welt ringsum vergisst, und wenn auf der Madonna Franz I. das Kind der Mutter zueilt, so beachte man, wie wenig diese ihm entgegenkommt.

 

3.

Italien hat im 16. Jahrhundert die Begriffe des Vornehmen festgestellt, die dem Abendland bis heute geblieben sind. Eine ganze Menge von Gebärden und Bewegungen schwindet aus den Bildern, weil sie als zu ordinär empfunden werden. Man bekommt deutlich das Gefühl, in eine andere Klasse der Gesellschaft überzutreten: aus einer bürgerlichen wird eine aristokratische Kunst. Was sich in den höheren Kreisen der Gesellschaft an unterscheidenden Merkmalen des Benehmens und Empfindens ausgebildet hat, wird übernommen und der ganze christliche Himmel, Heilige und Helden müssen ins Vornehme umstilisiert werden. Damals entstand der Riss zwischen dem Volkstümlichen und dem Edeln. Wenn auf Ghirlandajos Abendmahl von 1480 Petrus mit dem Daumen auf Christus zurückweist, so ist das eine Gebärde des Volkes, die die hohe Kunst alsbald nicht mehr als zulässig anerkannte. Lionardo ist schon gewählt, und doch giebt auch er einem reinen cinquecentistischen Geschmack hie und da noch Anstoss. Ich rechne dahin etwa die Gebärde des Apostels auf dem Abendmahl (rechts), der die eine Hand offen hingelegt hat und mit dem flachen Rücken der andern hineinschlägt, eine auch heute noch gebräuchliche und verständliche Ausdrucksbewegung, die aber der hohe Stil mit andern fallen liess. Es würde sehr weit führen, 199 diesen Prozess der »Reinigung« auch nur einigermassen vollständig darzustellen. Ein paar Beispiele mögen für viele sprechen.

Wenn beim Gastmahl des Herodes das Haupt des Johannes an den Tisch gebracht wird, so sieht man bei Ghirlandajo den Fürsten den Kopf auf die Seite legen und die Hände zusammendrücken; man hört ihn lamentieren. Dem späteren Geschlecht kam das wenig fürstlich vor, Andrea del Sarto giebt den lässig abwehrenden, vorgestreckten Arm, das schweigende Zurückweisen.

Wenn die Salome tanzt, so springt sie bei Filippo oder Ghirlandajo mit der ungestümen Heftigkeit eines Schulmädchens im Zimmer herum, die Vornehmheit des 16. Jahrhunderts verlangt die gemessene Haltung, eine Fürstentochter darf nur langsam im Tanz sich bewegen und so hat sie Andrea gemalt.

Es bilden sich allgemeine Anschauungen aus über das vornehme Sitzen und Gehen. Zacharias, der Vater des Johannes, war ein einfacher Mann, aber dass er das Bein übers Knie legt, wenn er den Namen des Neugeborenen schreibt, wie man es bei Ghirlandajo sieht, passt nicht mehr für den Helden einer Cinquecentogeschichte.

Der wahrhaft Vornehme ist lässig in seiner Haltung und Bewegung, er wirft sich nicht in Positur, er steift nicht den Rücken, um sich zu präsentieren; er lässt sich scheinbar gehen, denn er ist immer präsentabel. Die Helden, die Castagno gemalt hat, sind in der Mehrzahl gemeine Renommisten, so stellt sich kein edler Mann hin. Auch der Typus des Colleoni in Venedig muss vom 16. Jahrhundert so empfunden worden sein, als der Protz. Und wie die Frauen in Ghirlandajos Wochenstuben bolzengerade zum Besuch aufmarschieren, hat wohl später einen bürgerlichen Beigeschmack bekommen, die edle Frau soll etwas Lässiges haben im Gang, etwas Gelöstes.

200 Verlangt man nach den italienischen Worten für diese neuen Begriffe, so findet man sie in dem »Cortigiano« des Grafen Castiglione, dem Büchlein vom vollkommenen Kavalier (1516). Es giebt die Anschauungen des Hofes von Urbino, und Urbino war damals der Ort, wo alles zusammenkam, was in Italien auf Rang und Bildung Anspruch machen konnte, die anerkannte Schule der feinen Sitte. Der Ausdruck für die vornehme, elegante Nonchalance ist la sprezzata desinvoltura. An der Herzogin, die den Hof dominierte, wird die unauffällige Vornehmheit gerühmt: die modestia und grandezza in ihren Reden und Gebärden machen sie fürstlich. Man erfährt dann weiter vieles über das, was sich mit der Würde eines Edelmanns vertrage oder nicht vertrage.Es ist z. B. dem Edelmann rühmlicher, ein mittelmässiger als ein guter Schachspieler zu sein, weil man sonst meinen könnte, er habe auf das schwierige Spiel sehr viel Studium verwendet.
    Die moderne falsche Demut kommt hier wohl auch zum ersten Mal zum Ausdruck: Wenn man sich rühmen wolle, so solle man das nur so nebenbei thun, als ob man unwillkürlich darauf gekommen sei, von seinen Verdiensten zu sprechen.
Ein gehaltener Ernst wird immer wieder als sein eigentliches Wesen in den Vordergrund geschoben. Quella gravità riposata, die den Spanier auszeichne. Es wird gesagt – und offenbar war das etwas Neues –, dass es für den vornehmen Mann unschicklich sei, schnelle Tänze mitzumachen (non entri in quella prestezza de' piedi e duplicati ribattimenti) und ebenso lautet die Vorschrift für die Damen, sie sollten alle heftigen Bewegungen vermeiden (non vorrei vederle usar movimenti troppo gagliardi e sforzati). Alles soll haben la molle delicatura.

Die Diskussion über das Schickliche und Unschickliche erstreckt sich natürlich auch auf die Rede und wenn Castiglione noch eine grosse Freiheit gewährt, so findet man in dem populäreren Anstandsbuch des della Casa (il Galateo) später schon einen strengeren Hofmeister. Auch die alten Dichter werden hergenommen und der Kritiker des 16. Jahrhunderts wundert sich, dass man selbst aus dem Munde von Dantes Beatrice Worte zu hören bekomme, die in die Tavernen gehören.

Man dringt überall auf Haltung und Würde im 16. Jahrhundert und man ist dabei ernst geworden. Das Quattrocento muss der neuen Generation wie ein mutwilliges, oberflächliches Kind vorgekommen sein. Dass z. B. an einem Grabmal zwei lachende Buben mit den Wappenschildern sich breit machen durften, wie bei Desiderios Marsuppinigrab in S. Croce, ist jetzt eine unverständliche Naivität. Es müssten an diesem Ort doch trauernde Putten sein oder besser schmerzlichbewegte 201 grosse Figuren (Tugenden), denn Kinder können wohl nicht recht ernst sein.Die trauernden Putten kommen schon im 15. Jahrhundert in Rom vor, wo man immer feierlicher war als in Florenz. Das 17. Jahrhundert findet später wieder die Unbefangenheit, muntere Kinder – allerdings nur ganz junge – an Grabmälern vorzubringen.

 

4.

Man will nur das Bedeutende gelten lassen. In den Historien der Quattrocentisten giebt es eine Menge Züge genrehafter, idyllischer Art, die mit dem eigentlichen Thema wenig zu thun haben, die aber in ihrer Anspruchslosigkeit das Entzücken der modernen Beschauer bilden. Es ist schon oben bei Gelegenheit von Gozzolis Noahgeschichten davon die Rede gewesen. Es kam den Leuten gar nicht darauf an, einen geschlossenen Eindruck zu erzielen, sie wollten durch die Fülle der Einfälle das Publikum ergötzen. Wo auf Signorellis Wandbild in Orvieto die Seligen ihre himmlischen Kronen erhalten, da machen in den Lüften die Engel Musik; einer aber ist unter ihnen, der sein Instrument erst stimmen muss und der nun in dem hochfeierlichen Moment ganz ruhig diesem Geschäft sich hingiebt, und zwar an sichtbarster Stelle. Er hätte das doch früher besorgen sollen.Auch im Gnadenbild erscheint der stimmende Engel ganz isoliert zu Füssen des Thrones (Signorelli, Carpaccio) und man fragt sich immer wieder, was das für eine Gesinnung gewesen sein muss, die so viel Harmlosigkeit im Andachtsbilde vertrug.

In der sixtinischen Kapelle hat Botticelli den Auszug der Juden aus Ägypten gemalt. Der Auszug eines Volkes, was für eine heroische Szene! Was ist aber das Hauptmotiv? Eine Frau mit zwei kleinen Knaben: der Jüngste soll sich vom älteren Bruder führen lassen, aber er will nicht und hängt sich weinerlich an den Arm der Mutter und wird darob zurechtgewiesen. Das ist allerliebst, und doch – wer von den Neuern hätte den Mut, dies Motiv eines sonntäglichen Familienspazierganges gerade in solchem Zusammenhang vorzubringen?

In der gleichen Kapelle durfte Cosimo Rosselli das Abendmahl darstellen. Er bringt im Vordergrunde seines Bildes ein Stilleben mit grossem blankem Metallgeschirr, daneben lässt er einen Hund mit einer Katze sich herumbalgen und weiterhin findet man noch ein Hündchen, das »das Männchen« macht – die Stimmung des heiligen Bildes ist natürlich vollkommen verdorben, aber kein Mensch nahm Anstoss und der Maler malte in der Hauskapelle des Herrn der Christenheit.

Es hat einzelne Künstler gegeben, wie den grossen Donatello, die für die einheitliche Fassung eines historischen Moments Gefühl hatten. Seine historischen Bilder sind weitaus die besten Erzählungen des 202 15. Jahrhunderts. Für die anderen war es ausserordentlich schwierig, sich zusammenzunehmen, auf das bloss Unterhaltende zu verzichten und mit der Darstellung des Geschehnisses Ernst zu machen. Lionardo mahnt, eine gemalte Geschichte müsse auf den Beschauer den gleichen Gemütseindruck machen, als ob er selbst bei dem Fall beteiligt wäre.Buch von der Malerei (ed. Ludwig): No. 188 (246). Was will das aber heissen, so lange man auf den Bildern selbst eine ganze Menge von Menschen duldet, die gleichgültig dabeistehen oder teilnahmlos umblicken. Bei Giotto war jeder Anwesende in eigentümlicher Weise thätig oder leidend an der Handlung beteiligt, mit dem Quattrocento aber stellt sich sofort jener stumme Chorus von Leuten ein, die darum geduldet werden, weil das Interesse für die Darstellung der blossen Existenz und des charakteristischen Daseins stärker geworden ist als das Interesse an der Aktion und der Wechselbeziehung. Oft sind es die Besteller und ihre Sippe, die auf der Bühne mitfigurieren wollten, oft bloss städtische Berühmtheiten, die man auf diese Weise ehrte, ohne ihnen den Zwang einer bestimmten Rolle im Bilde zuzumuten. L. B. Alberti geniert sich nicht, in seinem Traktat von der Malerei ausdrücklich um diese Ehre für seine Person nachzusuchen.Kleinere Schriften (ed. Janitschek) S. 162 (163).

Durchgeht man den Freskencyklus an den Wänden der sixtinischen Kapelle, so ist man immer wieder betroffen von der Gleichgültigkeit des Malers dem Stoff gegenüber; wie wenig es ihm darauf ankommt, die eigentlichen Träger der Geschichte herauszuarbeiten; wie mehr oder weniger überall unter der Konkurrenz verschiedener Interessen das Wesentliche dem Unwesentlichen zu erliegen droht. Hat man je erlebt, dass ein Verkündiger des Gesetzes wie Moses ein so zerstreutes Auditorium vorgefunden habe wie auf dem Bilde Signorellis? Dem Beschauer ist es fast unmöglich, in die Situation hineinzukommen. Man meint, Botticelli wenigstens wäre wohl der Mann, beim Aufruhr der Rotte Korah eine leidenschaftliche Erregung, die sich ganzen Massen mitgeteilt hat, vorzuführen. Allein wie bald erstickt auch bei ihm die aufflackernde Bewegung in den Reihen einer starren Assistenz!

Es muss ein bedeutender Eindruck gewesen sein, als zum ersten Mal neben diesen Historien des Quattrocento die Raffaelschen Teppiche mit den Apostelgeschichten erschienen, Bilder, wo mit der Sache völlig Ernst gemacht ist, wo die Bühne gereinigt ist von allem müssigen Volk und wo denn auch jene Energie der dramatischen Belebung sich eingestellt hat, die den Beschauer unmittelbar ergreift. Wenn Paulus in Athen predigt, so sind es nicht nur Statisten mit Charakterköpfen, die herumstehen, sondern in den Mienen jedes einzelnen ist es geschrieben, wie ihn das Wort ergreift und wie weit er der Rede folgen kann, und wenn etwas Seltsames geschieht, wie der plötzliche Tod des Ananias, so fahren alle, die es sehen, mit der sprechendsten Gebärde des Staunens oder Entsetzens zurück, während das ganze Volk der Ägypter im Roten Meer versinken konnte, ohne dass der quattrocentistische Maler von den Juden auch nur einen sich darüber hätte aufregen lassen.

Es war dem 16. Jahrhundert vorbehalten, die Welt der Affekte, der grossen menschlichen Gemütsbewegungen nicht zu entdecken, aber doch künstlerisch auszubeuten. Das starke Interesse an dem psychischen Geschehen bildet ein Hauptmerkmal seiner Kunst. Die Versuchung Christi wäre durchaus ein Thema im Geiste der neuen Zeit gewesen: Botticelli wusste nichts damit zu machen, er hat sein Bild mit der Schilderung einer blossen Zeremonie gefüllt; umgekehrt, wo den Cinquecentisten Vorwürfe ohne dramatischen Inhalt gegeben werden, versehen sie sich oft, indem sie den Affekt und die grosse Bewegung dahin bringen, wo sie nicht hingehören, z. B. in die idyllischen Szenen der Geburt Christi.

Mit dem 16. Jahrhundert hört das behagliche Schildern auf. Die Freude, in der Breite der Welt und in der Fülle der Dinge sich zu ergehen, erlischt.

Was weiss ein Quattrocentist alles vorzubringen, wenn er die Anbetung der Hirten zu malen hat! Es giebt von Ghirlandajo eine Tafel der Art in der Akademie von Florenz. Wie umständlich sind die Tiere behandelt, Ochs und Esel und Schaf und Distelfink; dann die Blumen, das Gestein, die fröhliche Landschaft. Dazu werden wir genau bekannt gemacht mit dem Gepäck der Familie, ein abgeschabter Sattel liegt da und ein Weinfässchen daneben und für den archäologischen Geschmack giebt der Maler noch ein paar Zierstücke extra: einen Sarkophag, ein paar antike Pfeiler und hinten einen Triumphbogen, funkelnagelneu, mit goldener Inschrift auf blauem Fries.

Diese Unterhaltungen eines schaulustigen Publikums sind dem grossen Stil völlig fremd. Es ist später davon zu reden, wie das Auge überhaupt das Reizvolle anderswo sucht, an dieser Stelle soll nur gesagt sein, dass im Historienbilde das Interesse durchaus auf das eigentliche Geschehen sich konzentriert und dass die Absicht, mit der bedeutenden affektvollen Bewegung die Hauptwirkung zu gewinnen, die blosse Augenvergnügung mit dem bunten Vielerlei ausschliesst. Das bedeutet zugleich, dass die breit auseinandergelegten Marienleben und dergleichen Stoffe eine starke Reduktion erleben müssen. 204

 

5.

Man kann auch vom Porträt sagen, dass es im 16. Jahrhundert etwas Dramatisches bekomme. Seit Donatello ist zwar hie und da der Versuch gemacht worden, über die blosse Beschreibung des ruhenden Modells hinauszukommen, allein das sind die Ausnahmen und die Regel ist, dass der Mensch festgehalten wird, so wie er eben dem Maler sitzt. Köpfe des Quattrocento sind in ihrer Schlichtheit unschätzbar, sie wollen gar nicht etwas Besonderes vorstellen, aber sie haben neben den klassischen Porträtwerken etwas Gleichgültiges. Das Cinquecento verlangt den bestimmten Ausdruck; man weiss sofort, was die Person denkt oder sagen will; es ist nicht genug, zu zeigen, wie die bleibenden festen Formen eines Gesichtes gewesen sind, es soll ein Moment des frei bewegten Lebens dargestellt werden.

Dabei sucht man nun überall dem Modell die bedeutendste Seite abzugewinnen, man denkt höher von der Würde des Menschen und wir empfangen den Eindruck, es sei ein Geschlecht mit grösserer Empfindung und von mächtigerer Art gewesen, das diesseits der Schwelle des 16. Jahrhunderts steht. Lomazzo hat in seinem Traktat dem Maler als Regel vorgeschrieben, dass er, das Unvollkommene beseitigend, die grossen würdevollen Züge im Porträt herausarbeite und steigere, eine späte theoretische Formulierung dessen, was die Klassiker von sich aus gethan hatten (al pittore conviene che sempre accresca nelle faccie grandezza e maestà, coprendo il difetto del naturale, come si vede che hanno fatto gl'antichi pittori).Er beruft sich u. a. auf Tizian, der bei Ariost la facundia e 1'ornamento und bei Bembo la maestà e l' accuratezza habe erscheinen lassen. Lomazzo, trattato della pittura. Ausg. von 1585. Pag. 433. Wie nahe die Gefahr lag, bei solcher Tendenz die individuelle Stimmung zu verletzen und die Persönlichkeit in ein ihr fremdes Ausdrucksschema hineinzudrängen, ist offenbar. Allein es sind erst die Epigonen, die dieser Gefahr erlegen sind.

Es mag mit der erhöhten Auffassung des Menschen im allgemeinen zusammenhängen, dass die Zahl der Porträtbestellungen jetzt kleiner ist als früher. Man durfte den Künstlern offenbar nicht mit jeder beliebigen Physiognomie kommen. Bei Michelangelo heisst es dann gar, er habe es für eine Entwürdigung der Kunst angesehen, etwas Irdisches in seiner individuellen Beschränkung nachzubilden, wenn es nicht von der höchsten Schönheit gewesen sei.

 

6.

Es ist nicht anders möglich gewesen, als dass dieser Geist gesteigerter Würde auch für die Auffassung und Darstellung der 205 himmlischen Personen bestimmend wurde. Das religiöse Gefühl mochte sich in diesem oder jenem Sinne aussprechen: die gesellschaftliche Erhöhung der heiligen Figuren war eine Konsequenz, die sich aus ganz andern Prämissen notwendig ergeben musste. Es ist schon darauf hingewiesen worden, wie die Jungfrau in der Verkündigung vornehm und zurückhaltend dargestellt wird. Aus dem scheuen Mädchen ist eine Fürstin geworden und die Madonna mit dem Bambino, die im 15. Jahrhundert eine gute bürgerliche Frau aus der und der Gasse sein konnte, wird vornehm, feierlich und unnahbar.

Sie lacht den Beschauer nicht mehr an mit munteren Augen, es ist auch nicht mehr die Maria, die befangen und demütig das Auge gesenkt hält, die junge Mutter, die mit ihrem Blick auf dem Kinde ruht: gross und sicher schaut sie nun den Betenden an, eine Königin, die gewohnt ist, Knieende vor sich zu sehen. Der Charakter kann wechseln, bald ist es mehr eine weltliche Vornehmheit, wie bei Andrea del Sarto, oder mehr eine heroische Weltentrücktheit, wie bei Michelangelo, aber die Umwandlung des Typus ist überall zu beobachten.

Und auch das Christuskind ist nicht mehr das spielende muntere Bübchen, das etwa in einem Granatapfel grübelt und der Mutter auch ein Kernchen anbietet (Filippo Lippi), es ist auch nicht mehr der lachende Schelm, der mit dem Händchen segnet, ohne dass man's ernst nehmen kann, – wenn er lächelt, wie in der Madonna delle Arpie, so ist es ein Lächeln gegen den Beschauer, ein nicht ganz angenehmes Kokettieren, das Sarto verantworten mag, gewöhnlich ist er ernst, sehr ernst. Raffaels römische Bilder bezeugen das. Michelangelo aber ist der erste, der das Kind so gebildet hat, ohne ihm unkindliche Bewegungen (wie das Segnen eine ist) aufzudrängen. Er giebt den Knaben in freier Natürlichkeit, aber ob er wache oder schlafe, es ist ein Kind ohne Fröhlichkeit.Dass das Christuskind der unkindlichen Funktion des Segnens enthoben wird, hat auch in der deutschen Kunst der Hochblüte seine Analogien. Die Gebärde des Knaben auf Holbeins Darmstädter Madonna, der das linke Ärmchen ausstreckt, ist kein Segnen mehr.

Unter den Quattrocentisten hat Botticelli deutlich in diesem Sinne präludiert; er wird mit dem Alter immer ernster und ist darin ein energischer Protest gegen die lächelnde Oberflächlichkeit eines Ghirlandajo. Aber mit den Typen des neuen Jahrhunderts kann man ihn doch nicht zusammenstellen: seine Madonna kann wohl ernst aussehen, aber es ist ein niedergedrücktes trauriges Wesen, ohne Grösse, und sein Kind ist noch nicht das herrschaftliche Kind.

206 Täusche ich mich oder gehört nicht auch das Seltenwerden der säugenden Madonna in diesen Zusammenhang? Es lässt sich denken, dass die Szene der mütterlichen Ernährung dem Cinquecento der Hoheit zu entbehren schien. Wenn Bugiardini die Madonna del Latte noch giebt, so weist die Maria mit der Hand auf die Brust, als wolle sie dem Beschauer sagen: Dies ist die Brust, die den Herrn genährt hat (Bild in den Uffizien).

In dem Bilde der Verlobung des Christuskindes mit der hl. Catharina (Galerie Bologna) nimmt derselbe Künstler diesen Vorgang nicht als eine für das Kind unverständliche Zeremonie, vielmehr ist der kleine Knabe der Situation schon vollkommen gewachsen und giebt der Demütig-Empfangenden mit erhobenem Finger noch gute Lehren.

Mit der inneren Wandlung hat sich auch ein Wechsel in der äusseren Erscheinung vollzogen. An den Thron, wo die Maria sass, hatte man früher alle Schätze der Welt zusammengetragen und die liebe Frau mit aller Zier von feinen Geweben und kostbarem Schmuck bedacht. Da breiteten sich die feingemusterten bunten Teppiche des Orients, da glänzten Marmorschranken vor dem blauen Himmel, in zierliche Lauben war Maria gebettet, oder es rauschte ein schwerer Purpurvorhang von oben herab, goldgemustert, mit Perlen gesäumt und gefüttert mit köstlichem Hermelin. Mit dem 16. Jahrhundert verschwindet die bunte Mannigfaltigkeit auf einmal. Man sieht keine Teppiche und Blumen mehr, kein künstliches Zierwerk des Thrones und keine ergötzlichen Landschaften: die Figur dominiert und wenn die Architektur beigezogen ist, so ist es ein grosses ernstes Motiv und aus der Tracht ist aller profane Schmuck verbannt. Einfach und gross soll sich die Königin des Himmels darstellen. Ob in dieser Wandlung eine innigere Frömmigkeit sich ausspreche, frage ich nicht. Es giebt Leute, die im Gegenteil behaupten, dass das sorgliche Fernhalten des »Profanen« eine Unsicherheit der religiösen Empfindung anzeige.Über den Anteil, der dem Eindruck Savonarolas bei diesen Vorgängen zuzuweisen ist, mögen sich andere aussprechen. Die Gefahr liegt nahe, zu viel von dieser einen Persönlichkeit abhängig zu machen. Es handelt sich hier um ein allgemeines und nicht einmal ausschliesslich religiöses Phänomen.

Die analoge Typenerhöhung vollzieht sich im Kreise der Heiligen. Es ist nicht mehr erlaubt, beliebige Leute von der Gasse hereinzurufen, um neben dem Thron der Madonna Platz zu nehmen. Einen alten Kracher, mit der Brille auf der Nase und etwas unsauber in seinem Habitus, nahm das 15. Jahrhundert von Piero di Cosimo noch gern als heiligen Antonius an. Andere Künstler haben auch höher gegriffen, das 16. Jahrhundert aber verlangt unbedingt die bedeutende Erscheinung. Es 207 braucht kein Idealtypus zu sein, aber der Maler soll auswählen unter seinen Modellen. Um von Raffael zu schweigen, der unvergleichliche Charaktere hingestellt hat, wird man selbst bei dem oberflächlich gewordenen Andrea del Sarto nie das Niedrige und Philisterhafte treffen. Bartolommeo aber macht mit Einsatz aller Kräfte den immer erneuten Versuch, seinen heiligen Männern den Ausdruck des Gewaltigen zu erringen.

Es wäre nun noch ein weiteres zu sagen über den Verkehr der Personen, die zum engeren Haushalt gehören, mit der Maria und ihrem Kinde, wie z. B. der alte Spielgeselle Johannes ehrfurchtsvoll wird und anbetend niederkniet, indessen möge hier nur noch eine Andeutung über die Engel des neuen Jahrhunderts angereiht werden.

Das Cinquecento übernahm von seinem Vorgänger die Engel in der doppelten Gestalt des Engelkindes und des halbwüchsigen Engelmädchens. Von der letzteren Gattung erinnert sich jedermann gleich bei Botticelli und Filippino, die reizendsten Exemplare gesehen zu haben. Man beschäftigte sie im Bild als Kerzenhalterinnen, wie in Botticellis Berliner Tondo, wo die eine mit naiv-dummem Gesicht nach der flackernden Flamme emporsieht, oder sie dürfen als Blumenmädchen und Sängerinnen in der Nähe des Bambino weilen, wie in dem köstlich empfundenen Frühbild Filippinos in der Galerie Corsini, das hier in Abbildung beigegeben ist. Schüchtern, mit gesenktem Blick, bietet eines von den Mädchen dem Christusknaben einen Körbchen voll Blumen an und während dieser sich lustig auf die Seite wälzt und in die Bescheerung hineingreift, tragen ein paar andere Engel mit vielem Ernst ein Lied nach Noten vor, nur einer sieht einen Augenblick auf und es geht ein Lächeln über seine Züge. Warum ist das 16. Jahrhundert nie mehr auf solche Motive zurückgekommen? Es fehlt den neuen Engeln ein Zauber jugendlicher Befangenheit und die Naivität haben sie ganz abgestreift. Sie gehören jetzt gewissermassen mit zur Herrschaft und benehmen sich dementsprechend. Der Beschauer soll nicht mehr lächeln dürfen.

Filippino Lippi. Madonna mit Kind und Engeln

In der Bewegung der Flugengel greift das Cinquecento auf das alte feierliche Schweben zurück, wie es die Gotik gekannt hatte. Dem Realismus des 15. Jahrhunderts waren die schönlinigen, langgewandeten Gestalten ohne Körperlichkeit unverständlich gewesen; es begehrte die plausiblere Bewegung und gab statt des Schwebens das Laufen oder Rennen auf einer kleinen Wolkenunterlage und so entstanden jene hurtigen Mädchenfiguren, die weder schön noch würdevoll, aber sehr überzeugend die Beine mit nackter Ferse hinten auswerfen. Versuche, das »schwimmende« Fliegen zu geben, stellen dann bald sich ebenfalls wieder ein, 208 mit heftiger Bewegung der Beine, allein erst die hohe Kunst fand denjenigen Ausdruck für die gemessene und feierliche Bewegung in der Luft, der seither üblich geworden ist.Die mittelalterlichen Flugfiguren stammen direkt aus der Antike. Indem die Renaissance das Laufschema erfand, griff sie unbewusst auf diejenige Gestaltung der Flugbewegung zurück, mit der die älteste griechische Kunst angefangen hatte und die in der Archäologie als das »Knielaufschema« bekannt ist. (Typus: die Nike aus Delos, wozu der Engel des Benedetto da Majano in der Abbildung im Kapitel »Vorgeschichte« verglichen werden kann.) Das vollkommenere, aus der Bewegung des Schwimmers gewonnene Schema ging im Altertum noch eine Weile neben dem alten her (vgl. Studniczka, die Siegesgöttin, 1898, S. 13) und auch dafür giebt es in der neueren Kunst Parallelen: Peruginos Himmelfahrt der Maria in der Akademie von Florenz zeigt beide Typen nebeneinander und während Botticelli und Filippino ihre Engel schon wagrecht in der Luft sich halten lassen, kann man gleichzeitig, bei Ghirlandajo etwa, noch immer den alten Laufengel finden. Signorelli möchte unter den Quattrocentisten derjenige sein, der dem neuen Schema die vollkommenste Form abgewonnen hat (Fresken in Orvieto); an ihn hat sich Raffael in der Disputa angelehnt. Später tritt dann die gesteigerte Bewegung und die Verkürzung dazu, das Hervorkommen aus der Tiefe und das »Kopfüber«, wofür die Beispiele bei den vier Sibyllen der Pace oder der Madonna del baldacchino nahe liegen.

Von den Kinderengeln ist als Hauptsache zu sagen, dass auch sie an der Kindlichkeit des Bambino teilnehmen dürfen. Man fordert von ihnen nichts, als dass sie Kinder seien, wobei dann freilich je nach Umständen auch der Widerschein einer allgemeinen hohen und getragenen Stimmung auf sie fallen kann. Der Putto mit seinem Täfelchen bei der Madonna di Foligno wirkt ernster, trotzdem er nicht betet, als beispielsweise die zwei kleinen nackten Bübchen auf Desiderios Sakramentstabernakel (S. Lorenzo), die in angelegentlicher Frömmigkeit dem segnenden Christus sich nahen, wo aber niemand die Szene anders als scherzhaft nehmen kann. Aus venezianischen Bildern sind die ganz jugendlichen Musikanten bekannt, die zu Füssen der Madonna die Guitarre und andere Instrumente sachlich und eifrig handhaben. Das Cinquecento hat auch dieses Spiel unpassend gefunden und die musikalische Begleitung eines heiligen Zusammenseins älteren Händen anvertraut, damit die Reinheit der Stimmung nicht beeinträchtigt werde. Das populärste Beispiel für die ganz kindlichen Putten des neuen Jahrhunderts sind die zwei Figuren auf der Schwelle der sixtinischen Madonna.

 

7.

Bei der offenkundigen Tendenz, dem Altarbilde wieder mehr Respekt zu sichern und die allzunahe Verbindung des Himmlischen und Irdischen zu lösen, kann es nicht überraschen, wenn nun das Wunderbare unmittelbar aufgenommen wird, nicht nur mit Glorien und Nimben, sondern mit 209 einer idealen Darstellung von Vorgängen, die bisher höchst real und möglichst begreiflich gegeben worden waren.Im Quattrocento gab es auch Leute mit einem felsenharten Wirklichkeitssinn wie Francesco Cossa von Ferrara, der es nicht einmal über sich brachte, dem Engel Gabriel bei der Verkündigung einen ordentlichen Heiligenschein zuzugestehen, sondern ihm ein Gestell aus Messing auf den Kopf schraubte (Bild in Dresden).

Fra Bartolommeo giebt die Erscheinung der Madonna vor dem heiligen Bernhard zuerst als ein Herabschweben. Andrea del Sarto folgte ihm nach, indem er den Verkündigungsengel auf Wolken sich nahen liess, wofür er sich auch auf trecentistische Vorbilder berufen konnte. In die Alltäglichkeit einer Wochenstube dringen die Engel auf Wolken (Mariengeburt Andreas von 1514) und während das Quattrocento seine Madonna am liebsten auf einen soliden Thronsessel vor sich hingesetzt hatte, erlebt man es seit Ausgang des 15. Jahrhunderts, dass Maria wieder in die Lüfte gehoben wird und als Madonna »in der Glorie« erscheint, ein altertümliches Schema, das in der sixtinischen Madonna eine unerwartete und einzigartige Umsetzung ins Momentane erfahren hat. 210

 

8.

Diese Erhöhung der Vorstellung nach Seite des Übernatürlichen bringt uns nun auf die allgemeinere Frage nach dem Verhältnis der neuen Kunst zur Wirklichkeit. Dem 15. Jahrhundert ging das Wirkliche über alles. Ob es schön sei oder nicht, bei der Taufe musste Christus jedenfalls mit den Füssen im Bache drin stehen. Etwa einmal hat sich zwar in Nebenschulen ein idealer Meister von dieser Forderung freigehalten und die Sohlen des Herrn auf der Wasserfläche stehen lassen, wie Piero dei Franceschi (London), den Florentinern aber hätte man nicht so kommen dürfen. Und doch, mit dem neuen Jahrhundert stellt sich diese ideale Fassung auch hier wie selbstverständlich ein. Und so geht es mit andern Dingen. Michelangelo bildet die Maria bei seiner Pietà ganz jugendlich und lässt sich durch keine Einrede beirren. Der zu kleine Abendmahltisch des Lionardo und die unmöglichen Kähne auf Raffaels Fischzug sind weitere Beispiele, wie für die neue Gesinnung das Wirkliche nicht mehr der entscheidende Gesichtspunkt ist und der künstlerischen Erscheinung zuliebe auch das Unnatürliche zugelassen wird.

Indessen, wenn von dem Idealismus des 16. Jahrhunderts die Rede ist, so denkt man an etwas anderes, an eine allgemeine Abkehr vom Lokalen, Individuellen und Zeitlich-Bestimmten und mit dem Gegensatz von Idealismus und Realismus glaubt man wohl den wesentlichsten Unterschied zwischen klassisch und quattrocentistisch bezeichnet zu haben. Die Bestimmung ist aber nicht zutreffend. Wahrscheinlich würde niemand die Begriffe damals verstanden haben und sie sind eigentlich auch erst im 17. Jahrhundert am Platze, wo die Gegensätze nebeneinander hervortreten. Beim Übergang in das Cinquecento aber handelt es sich eher um eine Steigerung als um die Verleugnung der alten Kunst.

Das 15. Jahrhundert ist mit den biblischen Historien nie in dem Sinne realistisch verfahren, dass es, wie moderne Maler tun, den Vorgang prinzipiell ins moderne Leben hätte übersetzen wollen. Die Absicht ging immer auf die reiche sinnliche Erscheinung und hierfür benutzte man die Motive der Gegenwart, unter dem Vorbehalt, darüber hinauszugehen, sobald es zweckdienlich schien.

Umgekehrt ist das 16. Jahrhundert nicht ideal in dem Sinne, dass es die Berührung mit der Wirklichkeit vermieden und den Eindruck des Monumentalen auf Kosten der bestimmten Charakterisierung erstrebt hätte. Seine Bäume wurzeln im alten Boden, sie reichen nur höher hinauf. Die Kunst ist noch immer die Verklärung des gegenwärtigen Lebens, nur glaubte sie den gesteigerten Ansprüchen an die feierliche Erscheinung nicht anders genügen zu können, als eben mit ihrer 211 Auswahl von Typen, Trachten und Architekturen, wie sie die Wirklichkeit nicht leicht zusammen bieten mochte.

Völlig irreführend aber wäre es, das Klassische mit der Imitation der Antike identifizieren zu wollen. Die Antike mag uns aus den Werken des Cinquecento vernehmlicher entgegensprechen als aus denen der älteren Generation – wir werden darüber in anderem Zusammenhang noch handeln –, der Intention nach stehen aber die Klassiker nicht wesentlich anders dem Altertum gegenüber als die Quattrocentisten.

 

Es ist nötig, etwas ins Einzelne zu gehen. Beginnen wir mit der Behandlung der Örtlichkeit. Man weiss, wie viel Raum Ghirlandajo in seinen Bildern den baulichen Dingen gewährt hat. Zeigt er uns Florenz? Wohl sieht man hie und da in eine Gasse der Stadt, allein in seinen Höfen und Hallen ist er Fabulist. Das sind Architekturen, wie sie nie gebaut worden sind; es kam ihm nur an auf die Pracht des Eindruckes. Und das 16. Jahrhundert behält den Standpunkt; bloss ist seine Ansicht über das, was prachtvoll sei, eine andere. Die ausführlichen Stadtprospekte und die Landschaftsveduten fallen fort, aber nicht weil man den möglichst unbestimmten Allgemeinausdruck gesucht hätte, sondern weil man sich für diese Dinge überhaupt nicht mehr interessierte. Die »ubiquité« des französischen Klassizismus ist hier noch nicht zu suchen.Bei der Madonna di Foligno hat Raffael übrigens doch geduldet, dass ein Ferrarese eine detaillierte Landschaft (man nimmt wohl fälschlich an, es sei Foligno) darauf malte. Die Madonna von Monteluce zeigt den Tempel von Tivoli. Anderer Fälle nicht zu gedenken.

Nun kommen freilich Zugeständnisse an die Idealität des Raumes vor, die uns ganz fremdartig berühren. Eine Geschichte wie die Heimsuchung, wo man den Eingang in ein Haus, die Wohnung der Elisabeth, zu sehen erwartet, wird von Pontormo so gegeben, dass die Bühne nichts enthält als eine grosse Nische und einen Stufenaufgang davor. Allein auch hier wäre zunächst daran zu erinnern, dass ja auch Ghirlandajo in seinem Louvrebild der Heimsuchung einen Thorbogen als Hintergrund genommen hat, jedenfalls nicht zur Verdeutlichung des Vorgangs, dann aber wäre im allgemeinen zu sagen, dass in diesen Fragen unser nordisches Gefühl überhaupt nicht zum Urteil zugelassen werden darf. Die Italiener haben eine Fähigkeit, den Menschen für sich allein zu nehmen und von der Umgebung als etwas Gleichgültigem abzusehen, die uns, die wir Figur und Lokal immer sachlich zusammenbeziehen, schwer verständlich ist. Eine blosse Nischenarchitektur bei der Heimsuchung benimmt dem Vorgang, selbst wenn wir die günstige formale Wirkung einsehen, sofort die überzeugende Lebendigkeit, für uns; 212 für den Italiener ist jeder Hintergrund gut, sobald nur die Figuren sprechen. Die Allgemeinheit des Raumes oder sagen wir der Mangel an Realismus kann darum von Pontormo nie so empfunden worden sein, wie wir nach unserem Eindruck es anzunehmen geneigt sind.Es fällt jedem Fremden auf, was man auf der italienischen Bühne an illusionsstörenden Momenten erträgt. In diesem Sinne ist auch hier bei Pontormo und anderswo die Gegenwart historisch unzugehöriger Personen zu beurteilen, was schon lange vor dem 16. Jahrhundert vorkommt.

Ein noch höherer Grad von Idealismus ist es, die Madonna auf ein Postament zu stellen, als ob sie eine Statue wäre. Auch das ist ein Zugeständnis des hohen Stiles an die formale Wirkung und nicht nach nordischen Begriffen von »Intimität« zu beurteilen. Der Italiener ist auch hier im stande, von dem Anstössigen abzusehen, was das Motiv, sachlich genommen, haben müsste, und er bewährt die gleiche Denkart in den Fällen, wo dem Bewegungsmotiv zuliebe einer Figur ohne weitere Erklärung ein Würfel oder etwas dergleichen unter die Füsse geschoben wird.

 

Lionardo hat gelegentlich gewarnt, sich mit modernen Kostümen einzulassen, sie seien meistens künstlerisch ungünstig, gut genug für Grabmäler;Lionardo, Buch von der Malerei. No. 541 (544). er rät zu antiker Draperie, nicht um der Darstellung einen antiken Anstrich zu geben, sondern bloss weil der Körper dabei besser zur Geltung kommt. Trotzdem durfte Andrea del Sarto später wagen, seine Geburt der Maria als ein ganz modernes Gesellschaftsbild an die Mauer zu malen (1514) und er ist dabei vielleicht einheitlicher verfahren als irgend einer seiner Vorgänger, denn auch bei Ghirlandajo mischen sich beständig antik-ideale Motive mit Zeitkostümen, wie das weiterhin Sitte bleibt. Ähnliche klassische Darstellungen aus dem modernen Leben geben die Mariengeschichten des Sodoma und Pacchia in Siena. Das eine Beispiel der Raffaelschen Fresken im Heliodorzimmer würde aber überhaupt schon zur Genüge zeigen, dass der damaligen Ästhetik noch keinerlei Bedenklichkeiten aufgestiegen waren, ob sich das Alltägliche und Gegenwärtige mit dem monumentalen Stil vertrage oder ob nicht die Geschichten in eine höhere Wirklichkeit, etwa die antike, zu transponieren seien. Diese Bedenklichkeiten kommen erst später, als die klassische Kunst schon vorüber gegangen war.

Was uns befremdet, das ist das Nackte und Halbnackte. Hier scheint einem künstlerischen Verlangen zuliebe die Wirklichkeit geopfert und eine ideale Welt geschaffen worden zu sein. Und doch ist auch in 213 diesem Falle der Nachweis nicht schwer, dass das Quattrocento schon das Nackte in das Historienbild aufgenommen und durch Alberti sogar theoretisch gefordert hat.L. B. Alberti, Drei Bücher von der Malerei (Janitschek) S. 118 (119). Einen nackten Mann, wie er auf den Kirchenstufen sitzt in Ghirlandajos »Tempelgang«, würde man auch in der damaligen Stadt Florenz, trotz freier Sitte, nicht angetroffen haben. Aber es fiel niemandem ein, im Namen des Realismus sich darüber zu beschweren. Und so wird man auch von einem Bilde wie dem Borgobrand noch nicht sagen dürfen, es habe prinzipiell mit der quattrocentistischen Tradition gebrochen. Das Cinquecento giebt nur mehr Nacktes.

Vor allem haben die allegorischen Figuren daran glauben müssen. Man nimmt ihnen ein Kleidungsstück nach dem andern und an den Prälatengräbern des A. Sansovino sieht man so eine unglückliche Fides in einem antiken Bademantel dasitzen, wobei man wirklich nicht weiss, was der entblösste Leib bedeuten soll. Diese Gleichgültigkeit gegen den Inhalt der Figur ist nicht zu entschuldigen, aber heimisch-volkstümliche Gestalten sind diese Allegorien auch früher nicht gewesen.

Wirklich unangenehm wird die Schaustellung nackter Glieder erst bei heiligen Figuren. Ich denke an die Madonna Michelangelos in dem Rundbild der Tribuna. Indessen darf das Beispiel dieser Heroine doch nicht als typisch für das Zeitalter genommen werden. Nur soviel ist richtig, dass, wenn überhaupt ein Einzelner für grosse kulturgeschichtliche Wandlungen verantwortlich gemacht werden darf, Michelangelo es gewesen ist, der den allgemein-heroischen Stil gerufen und die Entfremdung von Boden und Zeit gebracht hat. In jeder Beziehung ist sein Idealismus der gewaltigste und ausser aller Linie. Durch ihn ist die wirkliche Welt aus den Angeln gehoben worden und er hat der Renaissance den schönen Genuss an sich selbst genommen.

 

Das entscheidende Wort in der Frage von Realismus und Idealismus wird übrigens nicht von Kostüm und Lokal gesprochen werden: alles Fabulieren des 15. Jahrhunderts in Bauwerk und Kleidung ist doch nur harmloses Spiel, der durchschlagende Wirklichkeitseindruck beruht auf dem individuellen Charakter der Köpfe und Gestalten im Bilde. Ghirlandajo mag im Accessorischen uns vormachen was er will – bei einem Bilde wie dem »Zacharias im Tempel« (S. M. Nov.) wird man sagen: wo diese Leute stehen, da muss Florenz sein. Hat man diesen Eindruck noch im 16. Jahrhundert?

Es ist offenbar, die Porträtköpfe werden spärlicher. Man fühlt sich seltener mehr aufgefordert, zu fragen, wie der oder jener geheissen 214 haben möge. Das Interesse am Individuell-charakteristischen und die Fähigkeit, es darzustellen, verschwindet nicht – man denke an die Porträtgruppen der Heliodorfresken oder an Sartos Bilder in der Annunziata – aber die Zeit ist vorbei, wo man nichts Höheres kannte, als den lebendigen Porträtkopf und jeder Kopf an sich merkwürdig genug war, um seine Existenz in einem Historienbilde zu rechtfertigen. Seitdem man mit den Geschichten Ernst machte und die gleichgültigen Zuschauerreihen das Feld räumen hiess, ist die Situation von vornherein gründlich verändert. Dann aber hat der Individualismus jetzt überhaupt eine starke Konkurrenz bekommen. Die Darstellung von Affekten wird ein Problem, das stellenweise das Charakterinteresse zu ersetzen scheint. Das Bewegungsmotiv des Körpers kann so interessant sein, dass man nach dem Kopfe kaum mehr fragt. Die Figuren besitzen einen neuen Wert als Kompositionsfaktoren, so dass sie, ohne höheres Eigeninteresse, im Zusammenhang des Ganzen bedeutend werden, als blosse Markierungen von Kräften in der architektonischen Konstruktion, und diese formalen Wirkungen, die das frühere Geschlecht nicht kannte, führen von selbst zu einem nur oberflächlichen Charakterisieren. Derartige allgemeine, unter-individuelle Köpfe aber hat es auch im 15. Jahrhundert immer gegeben – bei Ghirlandajo z. B. massenhaft – und von einem prinzipiellen Gegensatz zwischen der alten und der neuen Kunst, wonach diese dem Individuellen aus dem Wege gegangen wäre, ist nichts zu erkennen. Das Bildnismässige erscheint seltener, aber dass der klassische Stil eine allgemeine Idealmenschheit gefordert hätte, das ist nicht der Fall. Selbst Michelangelo, der auch hier wieder eine besondere Stellung einnimmt, ist in den ersten Sixtinageschichten (in der Sündflut z. B.) noch voll von Wirklichkeitsköpfen. Dann sinkt bei ihm das Interesse am Individuellen, während es bei Raffael, der in der ersten Stanze selten über das Allgemeine hinausgeht, mehr und mehr zunimmt. Und doch darf man nicht glauben, die beiden hätten die Plätze getauscht: Was der reife Michelangelo giebt, ist nicht die Allgemeinheit des Unter-Individuellen, sondern die Allgemeinheit des Über-Individuellen.

Eine andere Frage ist es, ob das Individuelle in gleicher Weise aufgefasst und dargestellt wird wie früher. Jene Gier, der Natur habhaft zu werden bis zum kleinsten Fältchen, die Freude am Wirklichen um der Wirklichkeit willen, hat sich erschöpft. Das Cinquecento sucht in dem Bilde des Menschen das Grosse und Bedeutende zu geben und glaubt das zu erreichen, wenn es vereinfacht, das Unwesentliche unterdrückt. Es ist das keine Erschlaffung des Auges, wenn es über gewisse Dinge wegsieht, sondern im Gegenteil die höchste Steigerung der Auffassungskraft. Das grosse Sehen ist ein Idealisieren des Modells von 215 innen heraus und hat mit dem verschönernden Zurechtmachen, dem Idealisieren von aussen her, nichts zu thun.Bei Lomazzo, trattato (1585) pag. 433, heisst es von der Porträtweise der grossen Meister: Usavano sempre di far risplendere quello che la natura d' eccellente aveva concesso loro (nämlich den Darzustellenden).

Und nun ist wohl anzunehmen, dass in dieser Zeit der grossen Kunst auch hie und da ein Ungenügen an dem, was die Natur bot, empfunden worden sein mag. Über diese Stimmungen ist schwer zu sprechen und vollends möchte es sehr gewagt sein, mit Generalurteilen von ja und nein den Unterschied zweier Zeitalter wie Quattrocento und Cinquecento bestimmen zu wollen. Es giebt Hunderte von Stufen in der bewussten Umformung des Modells, wenn es der Künstler in die Hand nimmt. Von Raffael liegt eine Aussage vor, aus der Zeit, als er an der Galatea arbeitete: er könne mit den Modellen nichts machen, sondern verlasse sich auf die Vorstellung der Schönheit, die ihm von selber komme.Guhl, Künstlerbriefe I2, 95. Da hätte man nun den urkundlichen Beweis für den Idealismus Raffaels. Allein würde nicht Botticelli ebenso gesprochen haben und ist seine Venus auf der Muschel weniger eine Schöpfung der blossen Vorstellung?

Idealkörper und Idealköpfe hat es auch im »realistischen« Quattrocento gegeben, überall trifft man auf bloss graduelle Unterscheidungen. Doch nimmt das Ideale offenbar im 16. Jahrhundert einen weit grösseren Raum ein. Die Aspirationen dieses Zeitalters vertragen sich nicht mit der Duzbrüderschaft, die das vergangene Jahrhundert mit dem gemeinen Leben gepflegt hatte. Es ist merkwürdig, dass im selben Moment, wo die Kunst von sich aus eine erhöhte Schönheit fand, auch die Kirche für die Hauptgestalten des christlichen Glaubens eine gesteigerte Würdigkeit verlangte. Die Madonna sollte nicht eine beliebige gute Frau sein, die man von der Strasse her kennt, sondern die Spuren menschlich-bürgerlicher Herkunft abgestreift haben. Jetzt erst wieder waren aber auch die Kräfte da, das Ideale zu konzipieren. Der grösste Naturalist, Michelangelo, ist auch der grösste Idealist. Ausgestattet mit der ganzen Begabung des Florentiners für das Individuell-Charakteristische ist er zugleich derjenige, der am vollständigsten auf die äussere Welt verzichten und aus der Idee schaffen kann. Er hat seine Welt erschaffen und durch sein Beispiel ist (ohne seine Schuld) der Respekt vor der Natur bei der kommenden Generation am meisten erschüttert worden.

In diesem Zusammenhang ist endlich auch das noch zu sagen, dass im Cinquecento ein erhöhtes Bedürfnis nach der Anschauung des Schönen vorhanden ist. Dies Bedürfnis wechselt, es kann zeitweise fast 216 völlig zurücktreten vor anderen Interessen. Die vorausgehende Kunst des Quattrocento hat die Schönheit, ihre Schönheit, auch gekannt, aber sie nur selten gestalten wollen, weil ein viel stärkeres Verlangen nach dem bloss Ausdrucksvollen, dem Charakteristisch-Lebendigen drängte. Donatello ist das immer wieder anzurufende Beispiel. Derselbe Meister, der den Bronze-David im Bargello erdacht hat, ist unersättlich im Hässlichen und hat den Mut, der widerwärtigen Bildung selbst bei seinen Heiligen nicht aus dem Wege zu gehen, weil eben die überzeugende Lebendigkeit alles war und das Publikum unter diesem Eindruck nicht mehr nach schön und hässlich fragte. Die Magdalena im Baptisterium ist ein »zum länglichen Viereck abgemagertes Scheusal« (Cicerone, erste Ausgabe) und Johannes der Täufer der ausgetrocknete Asket (Marmorfigur im Bargello), der Gestalten am Campanile nicht zu gedenken. Schon gegen Ausgang des Jahrhunderts merkt man aber, dass die Schönheit hervorbrechen will und im Cinquecento tritt dann jene allgemeine Umformung der Typen ein, die nicht nur die niedrige Bildung durch eine höhere ersetzt, sondern bestimmte Gestalten überhaupt fallen lässt, weil sie nicht schön sind.

Magdalena ist die schöne Sünderin und nicht die Büsserin mit verwüstetem Leib und der Täufer bekommt die starke männliche Schönheit eines Menschen, der in Wind und Wetter aufgewachsen ist, ohne die Spuren des Mangels und der Askese. Der jugendliche Johannes aber wird als das Bild eines vollkommen schönen Knaben dargestellt und ist als solcher zu einer Lieblingsfigur des Zeitalters geworden. 217

Raffael. Der junge Johannes predigend

 


 


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