Heinrich Wölfflin
Die klassische Kunst
Heinrich Wölfflin

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IV. Raffael

1483–1520

Raffael ist in Umbrien aufgewachsen. In der Schule Peruginos hatte er sich vor anderen ausgezeichnet und war auf die gefühlvolle Weise des Meisters so vollkommen eingegangen, dass nach Vasaris Urteil Bilder von Lehrer und Schüler nicht zu unterscheiden seien. Vielleicht hat überhaupt nie mehr ein genialer Schüler so ganz mit der Art des Lehrers sich erfüllt wie Raffael. Der Engel, den Lionardo auf Verrocchios Taufbild malte, fällt sofort als etwas Eigenes auf, Michelangelos Knabenarbeiten vergleichen sich mit gar nichts anderem, Raffael dagegen ist in seinen Anfängen von Perugino nicht abzulösen. Nun kommt er nach Florenz. Es war der Moment, als Michelangelo die grossen Thaten seiner Jugend schon alle vollbracht, den David hingestellt hatte und an den badenden Soldaten arbeitete, während Lionardo indessen seinen Schlachtkarton entwarf und in der Mona Lisa das nie geschehene Wunder wirklich machte, er bereits auf der Höhe des Lebens und im Besitze eines ganzen glänzenden Ruhmes, jener der designierte Mann der Zukunft, am Eingange der Mannesjahre. Raffael war kaum über die zwanzig hinaus. Was für ein Schicksal durfte er neben diesen Grossen für sich erwarten?

Perugino war am Arno ein geschätzter Maler; man konnte dem Jüngling sagen, er werde mit seiner Weise immer ein Publikum finden; man durfte ihn ermuntern, er könne ein zweiter, vielleicht ein besserer Perugino werden: nach einer höheren Selbständigkeit sahen seine Bilder nicht aus.

Ohne eine Spur von dem florentinischen Wirklichkeitssinn, einseitig in der Empfindung, befangen in der Manier der schönen Linie trat er jedenfalls mit der geringsten Aussicht in den Wettbewerb der grossen Meister ein. Aber er brachte ein Talent mit, das ihm eigentümlich war: das Talent, aufzunehmen, die innere Wandlungsfähigkeit. Er legte eine erste grosse Probe davon ab, indem er den umbrischen Schulbesitz beiseite legte und sich ganz den florentinischen Aufgaben hingab. Das 75 zu thun, wären schon nur wenige imstande gewesen, überblickt man aber das ganze kurze Leben Raffaels, so wird man sagen müssen, dass überhaupt kein einziger sonst eine ähnliche Entwicklung in einer so kleinen Zeitspanne durchgemacht hat. Der umbrische Schwärmer wird zum Maler der grossen dramatischen Szenen; der Jüngling, der mit der Erde nur scheue Fühlung zu nehmen wagte, wird ein Menschenmaler, der die Erscheinung mit kräftigen Händen anfasst; der zeichnende Stil Peruginos wandelt sich in einen malerischen und der einseitige Geschmack an der stillen Schönheit weicht dem Bedürfnis nach starken Massenbewegungen. Das ist der römische, männliche Meister.

Raffael hat nicht die feinen Nerven, das Delikate Lionardos, noch weniger die Gewalt Michelangelos; man möchte sagen, er habe ein Mittelmass, das Allgemeinverständliche, wenn der Begriff nicht als Geringschätzung missdeutet werden könnte. Jene glückliche, mittlere Stimmung ist gerade für uns etwas so seltenes, dass es heutzutage den meisten viel leichter sein wird, zu Michelangelo einen Zugang zu finden, als zu der offenen, heiteren, freundlichen Persönlichkeit Raffaels. Was aber denen, die mit ihm lebten, sich vor allem eingeprägt hat, die hinreissende Liebenswürdigkeit seines Wesens, strahlt auch heute noch überzeugend aus seinen Werken zurück.

Perugino. Madonna mit Sebastian und Johannes d. T. 1493

Es kann, wie gesagt, von Raffaels Kunst nicht gesprochen werden, ohne dass zuvor von Perugino die Rede gewesen sei. Perugino zu loben, galt einmal als das unfehlbare Rezept, wenn man in den Ruf eines Kunstkenners kommen wollte,Goldsmith, Vicar of Wakefield. heutzutage möchte es eher angezeigt sein, das Gegenteil zu empfehlen. Man weiss, dass er seine gefühlvollen Köpfe handwerklich wiederholt hat, und weicht ihnen aus, wenn man sie nur von weitem sieht. Aber wenn von seinen Köpfen auch nur ein einziger echt empfunden wäre, müsste es die Menschen immer wieder zwingen, nachzufragen, wer der Mann gewesen sei, der dem Quattrocento diesen merkwürdig vertieften, seelenvollen Blick abgewonnen hat. Giovanni Santi wusste, warum er in seiner Reimchronik Perugino und Lionardo zusammenstellte: par d'etade e par d'amori. Perugino besitzt daneben eine Cantilene der Linie, die er niemandem abgelernt hat. Er ist nicht nur viel einfacher als die Florentiner, er hat eine Empfindung für das Beruhigte, Stillfliessende, die gerade zu dem beweglichen Wesen der Toskaner und dem zierlichen Gekräusel des spätquattrocentistischen Stils sich auffallend in Gegensatz stellt. Man muss zwei Bilder zusammenhalten, wie Filippinos Erscheinung der Madonna vor dem heiligen Bernhard in der Florentiner Badia und die 76 gleiche Darstellung Peruginos in der Münchener Pinakothek. Dort alles zappelig in der Linie und ein wirres Durcheinander der vielen Sachen im Bild, hier die vollkommene Ruhe, lauter stille Linien, eine edle Architektur mit weitem Ausblick in die Ferne, eine schön verklingende Berglinie am Horizont, der Himmel ganz rein, ein allerfüllendes Schweigen, dass man glaubt, man würde es lispeln hören, wenn der Abendhauch an dem schlanken Bäumchen die Blätter bewegte. Perugino hat Gefühl für die Stimmung der Landschaft und für die Stimmung der Architektur. Er baut seine einfachen, räumigen Hallen nicht als beliebige Verzierung der Bilder, wie etwa Ghirlandajo, sondern als wirkungsvolle Resonanz. Keiner vor ihm hat Figurales und Architektonisches so zusammenempfunden (vgl. die Abbildung der Madonna von 1493 aus den Uffizien). Er ist Tektoniker von Hause aus. Wo er mehrere Figuren zusammen zu behandeln hat, da baut er eine Gruppe nach einem geometrischen Schema. Seine Komposition der Pietà von 1495 (Pitti) würde zwar von Lionardo als leer und matt kritisiert worden sein, allein in Florenz bedeutete sie damals doch etwas Einzigartiges. Mit seinem Prinzip der Vereinfachung und Gesetzlichkeit ist Perugino ein wichtiges Element am Vorabend der klassischen Kunst und man begreift, wie sehr durch ihn der Weg für Raffael abgekürzt worden ist.


1. Das Sposalizio und die Grablegung

Das Sposalizio (Mailand, Brera) trägt das Datum 1504. Es ist das Werk des einundzwanzigjährigen Künstlers. Der Schüler Peruginos zeigt hier, was er bei dem Meister gelernt und wir können Eigenes und Übernommenes um so besser unterscheiden, als Perugino denselben 77 Gegenstand behandelt hat (Bild in Caën). Die Komposition ist fast gleich, nur hat Raffael die zwei Seiten umgestellt, die Männer rechts, die Weiber links genommen. Sonst scheinen die Abweichungen unbedeutend. Und dennoch trennt die zwei Bilder der ganze Unterschied zwischen einem Maler, der mit der Schablone arbeitet und einem feinfühligen, überlegenen Schüler, der, noch gebunden im Stil, die überkommenen Motive doch bis in jede Partikel mit einem neuen Leben zu erfüllen sucht.

Raffael. Sposalizio

Es ist notwendig, zunächst das Motiv sich zu vergegenwärtigen. Die Zeremonie der Vermählung vollzieht sich hier etwas anders als wir es gewöhnt sind. Es werden nicht zwei Ringe ausgetauscht, sondern nur der Bräutigam reicht der Braut einen Ring, in den sie den Finger hineinsteckt. Der Priester leitet die Operation, indem er die beiden am Handgelenk gefasst hält. Was das Thema für den Maler schwierig macht, ist das Minutiöse des Vorganges. Man muss denn auch ganz genau hinsehen, wenn man auf Peruginos Bild erkennen will, worum es sich eigentlich handelt. Hier setzt Raffaels selbständige Arbeit ein. 78 Er schiebt Maria und Joseph weiter auseinander, er differenziert ihre Stellungen, Joseph hat seinen Zug gemacht, der Ring ist bis in die Bildmitte gebracht, an Maria ist es nun, vorzugehen und die Aufmerksamkeit sammelt sich auf die Bewegung ihres rechten Armes. Dieser ist der eigentliche Knotenpunkt in der Aktion und man begreift nun, warum Raffael die Umstellung der Gruppen vorgenommen hat: er musste das wichtige Glied vorne haben und unverdeckt zeigen können. Nicht genug: die Bewegungsrichtung wird nun aufgenommen vom Priester, der ihre Hand führt und nicht als steife Mittellinie dasteht – wie bei Perugino – sondern mit seiner ganzen Person die Aktion begleitet. Durch die Bewegung seines Oberkörpers wird das »Hinüber« auf alle Ferne deutlich gemacht. Das ist der geborene Maler, der den Geschichten ihre bildmässige Erscheinung abzugewinnen weiss. Die Stehmotive bei Maria und bei Joseph sind Allgemeingut der Schule, aber Raffael sucht doch überall innerhalb des Typischen persönlich zu unterscheiden. Und wie fein ist das Fassen der beiden Hände bei dem Priester differenziert.

Die Begleitfiguren sind so umgeordnet, dass sie nicht zerstreuend, sondern konzentrierend wirken. Fast kühn ist die Durchbrechung der Symmetrie mit dem Stabbrecher in der rechten Ecke, den Perugino als Figur auch hat, aber mehr rückwärts unterbringt.

Das allerliebste Tempelchen im Hintergrund ist weit hinaufgeschoben, so hoch, dass es mit den Figuren in keinen Linienkonflikt kommen soll. Hier spricht wieder Peruginos reinlicher Stil. Er hat das auch auf dem grossen Fresko der Schlüsselverleihung in Rom so gehalten. Figürliches und Architektonisches treten auseinander wie Wasser und Öl. Die Menschen sollen auf der ebenmässigen Folie eines Fliesenbodens in reiner Silhuette sich abzeichnen.

Wie anders lautet die Geschichte der Vermählung Mariä, wenn ein Florentiner sie erzählt. Da geht es laut her, man will bunte modische Kleider sehen, das Publikum steht und gafft und statt der weichmütig resignierten Freier findet man eine Bande fester Kerle, die mit Fäusten auf den Bräutigam einhauen. Wahrhaftig, es scheint eine tüchtige Keilerei loszugehen, und man wundert sich, dass Joseph stille hält. Was soll das? Das Motiv kommt schon im 14. Jahrhundert vorVgl. Taddeo Gaddi (S. Croce). Dazu Ghirlandajo (S. M. Novella) und Franciabigio (S. Annunziata). und erklärt sich juristisch: die Schläge sollen das Eheversprechen eindrücklich machen. Vielleicht erinnert sich jemand dabei an die gleiche Szene in Immermanns Oberhof, wo das Motiv aber schon rationalistisch dahin umgedeutet ist, dass der künftige Eheherr wissen solle, wie Schläge thun.

79 In dieses Florenz kommt Raffael, um eine zweite Schule durchzumachen. Man erkennt ihn kaum mehr, wenn er nach drei bis vier Jahren die Grablegung der Galerie Borghese bringt. Er hat alles aufgegeben, was er besass, die sanfte Linie, die klare Anordnung, die milde Empfindsamkeit; Florenz hat ihn ganz aufgewühlt: die Probleme des Nackten und der Bewegung stehen im Vordergrund. Lebendiges Geschehen, mechanische Kraftleistungen, starke Kontraste möchte er geben. Der Eindruck Michelangelos und Lionardos arbeitet in ihm. Wie ärmlich musste er sich vorkommen mit seiner umbrischen Weise gegenüber solchen Leistungen.

Raffael. Grablegung Christi

Das Bild der Grablegung ist eine Bestellung aus Perugia gewesen. Sicher aber lautete der Auftrag nicht auf diese Szene, sondern auf eine Beweinung Christi, so wie sie Perugino gemalt hat Man kennt sein Bild im Palazzo Pitti.Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass die jugendliche Randfigur rechts mit dem »Aless. Braccesi« der Uffizien, den man früher dem Lorenzo di Credi zuschrieb, bis auf die einzelne Linie übereinstimmt. Er vermeidet das Bewegte und giebt nur das klagende Herumstehen um den Toten, eine Sammlung von Wehmutsgesichtern und schönlinigen Posen. Raffael hat in der That zuerst an eine blosse Beweinung gedacht. Es existieren Zeichnungen der Art. Dann erst bricht er durch zu der Darstellung des Tragens. Er malt zwei Männer, die die Last dem Grabhügel zuschleppen. Er unterscheidet sie im Alter und Charakter und kompliziert das Motiv noch dadurch, dass einer rückwärts geht und ein paar Stufen mit den Fersen hinauftasten muss.

Perugino. Beweinung Christi

Dilettanten begreifen nur zögernd den Wert derartig rein körperlicher Motive, sie hätten gern möglichst viel seelischen Ausdruck. Allein jedermann wird doch zugeben, dass es unter allen Umständen von Vorteil sein musste, Kontraste in das Bild zu bringen, dass die Ruhe neben der Bewegung stärker wirkt und die Teilnahme der Angehörigen ergreifender neben der Teilnahmlosigkeit derer, die nur an ihre mechanische Arbeit zu denken haben. Während Perugino mit der ganz gleichmässigen Stimmung der Köpfe den Beschauer stumpf macht, möchte Raffael durch starke Kontraste die Wirkung zur höchsten Intensität steigern.

Die Hauptschönheit des Bildes ist der Körper Christi mit der emporgedrückten Schulter und dem zurückfallenden Haupte. Es ist das gleiche Motiv wie bei Michelangelos Pietà. Die Kenntnis des Körpers ist noch eine oberflächliche, wie auch die Köpfe der individuellen Kraft entbehren. Die Gelenke wirken matt. Von den Trägern steht der jugendliche nicht fest auf den Beinen und die Unklarheit der rechten Hand ist peinlich. Beim Älteren stört, dass er die gleiche Kopfrichtung hat wie 80 Christus; in den vorbereitenden Zeichnungen war das vermieden. Dann verwirrt sich das Bild überhaupt. Das schrille Durcheinander der Beine ist immer gerügt worden, weiter aber: was will der zweite Alte, Nicodemus? Auch hier scheint eine ursprünglich klare Intention sich verdunkelt zu haben: er sah auf die zueilende Magdalena herunter; jetzt blickt er unverständlich in die Luft und vermehrt mit der völligen Unklarheit seiner übrigen Bewegung das Unbehagen, das an dem Bouquet der vier Köpfe da oben so wie so haftet. Das schöne Motiv, wie Magdalena dem Zuge folgend die Hand des Herrn aufnimmt, möchte auf ein antikes Vorbild zurückgehen.Relief im Capitolinischen Museum (Hector?) Righetti, Campidoglio tom. I. tav. 171. Schon von H. Grimm an dieser Stelle angezogen. Unerklärt bleibt die Aktion ihres rechten Armes. Die Gruppe der ohnmächtigen Mutter geht als Motiv wieder über alles peruginische hinaus. Die knieende Figur vorn wird mit Recht auf die Anregung von Michelangelos Madonna in der heiligen Familie zurückgeführt. Merkwürdig, was für harte Überschneidungen bei den Armen wir von dem sonst so feinfühligen Raffael uns gefallen lassen müssen! Die Gruppe als Ganzes sitzt unglücklich verdrückt im Bild. Es war sehr viel richtiger gedacht, was Raffael ursprünglich vorhatte, die Frauen in den Bewegungszug der Hauptgruppe aufzunehmen, sie in einem kleinen Abstand folgen zu lassen. Jetzt fällt das Bild auseinander. Und noch etwas muss gesagt werden, das quadratische Format des Gemäldes ist an sich der Wirkung hinderlich. Um den Eindruck eines Zuges zu geben, muss die Bildfläche im ganzen schon eine bestimmte Richtung haben. Wie viel verdankt Tizians Grablegung den blossen Proportionen der Bildtafel!

Was nun in der Grablegung einer zweiten Hand, die die Vollendung besorgte, zugeschrieben werden muss, ist strittig. Sicher ist es 81 eine Aufgabe gewesen, für die Raffael einstweilen noch keine reine Lösung geben konnte. Er hat mit bewunderungswürdiger Fähigkeit, umzulernen, die florentinischen Probleme aufgegriffen, über der Arbeit aber momentan sich selbst verloren.


2. Die florentinischen Madonnen

Reiner als in der Grablegung stimmen Absicht und Mittel in den Madonnenbildern zusammen. Als Madonnenmaler ist Raffael populär geworden und es mag überhaupt überflüssig erscheinen, mit den groben Werkzeugen einer formalen Analyse dem Zauber dieser Bilder beikommen zu wollen. Durch eine Fülle von Nachbildungen, wie sie keinem anderen Künstler der Welt zu teil geworden, sind sie uns von Jugend an vertraut und was sie an Zügen mütterlicher Innigkeit und kindlicher Anmut oder an feierlicher Würde und seltsam übernatürlichem Wesen enthalten, spricht so stark zu uns, dass wir hier nicht nach weiteren 82 künstlerischen Absichten fragen. Und doch könnte schon ein Blick auf die Zeichnungen Raffaels lehren, dass das Problem für den Künstler nicht da lag, wo es das Publikum sucht, dass nicht der einzelne hübsche Kopf, diese oder jene kindliche Wendung die Arbeit ausmachte, sondern dass es auf die Schiebung der Gruppe im ganzen abgesehen war, auf das Zusammenstimmen der Richtungen verschieden bewegter Glieder und Körper. Es soll niemandem verwehrt sein, sich Raffael von der Gemütsseite her zu nähern, allein ein wesentlicher Teil der künstlerischen Absicht entdeckt sich erst dem Beschauer, der über das gemütvolle Nachempfinden hinaus in eine formale Betrachtung einzutreten vermag.

Raffael. Madonna della Granduca

Es empfiehlt sich, die Bilder mit gleichem Thema zu Entwicklungsreihen zusammenzustellen. Ob die Madonna ein Buch hält oder einen Apfel, ob sie im Freien sitzt oder nicht, ist dabei gleichgültig. Nicht diese stofflichen Merkmale, sondern die formalen müssen den Einteilungsgrund abgeben: ob die Madonna in Halbfigur genommen ist oder in ganzer Figur, ob sie mit einem oder mit zwei Kindern zusammengruppiert ist, ob weitere Erwachsene dazutreten, das sind die künstlerisch wichtigen Fragen. Beginnen wir mit dem einfachsten Falle, der Madonna in Halbfigur, und lassen wir die Granduca (Pitti) vorangehen. Ganz schlicht in der Vertikallinie der stehenden Hauptfigur und in dem noch etwas befangen sitzenden Kinde lebt sie wesentlich von der ausserordentlichen Wirkung der einen Neigung im Kopf. Das Oval dieses Kopfes könnte noch so vollkommen sein und der Ausdruck wunderbar empfunden, die Wirkung wäre nicht zu erreichen ohne dies ganz einfache Richtungssystem, wo die Schräglinie des geneigten, aber in voller Face gesehenen Kopfes die einzige Abweichung bedeutet. Es weht noch peruginische Luft aus dem stillen Bilde. In Florenz verlangte man anderes, mehr Freiheit, mehr Bewegung. Das rechtwinkelig gebrochene Sitzen des Kindes hört schon auf in der Madonna Tempi in München, dann wird es überhaupt ersetzt durch ein halbes Liegen, der Knabe dreht sich und wirft sich ungebärdig herum (Madonna Orléans, Madonna 83 Bridgewater) und die Mutter steht nicht mehr, sondern sitzt, und indem sie sich vorbeugt und wieder seitlich wendet, wird das Bild auf einmal reich an Richtungsachsen. Von der Granduca und Tempi geht die Entwicklung in ganz regelmässigem Lauf bis zur Sedia (Pitti), wo nun noch der kleine Johannes dazutritt und so ein Höchstes an plastischem Reichtum gewonnen wird, tief und vielgliedrig, und um so wirksamer als die Gruppe fest zusammengeballt und einem eng umschliessenden Rahmen eingefügt ist.

Raffael. Madonna della Sedia

Und ganz analog die Entwicklung bei einem zweiten Thema, der Madonna in ganzer Figur mit Jesus und Johannes. Zaghaft baut Raffael zuerst die saubere feinlinige Pyramide der Madonna del Cardellino (Uffizien), wo die Kinder gleichmässig zu Seiten der sitzenden Maria stehen. Es ist eine Komposition nach dem Schema des gleichseitigen Dreieckes. Mit einem in Florenz unbekannten Zartgefühl sind die Linien geführt und die Massen auf der Goldwage gegeneinander abgewogen. Warum fällt der Mantel Mariä an der Schulter herunter? Es soll das Ausspringen der Silhuette beim Buche vorbereitet werden, so dass die Linie in gleichmässigem Rhythmus herunterzugleiten scheint. Nach und nach entsteht dann das Bedürfnis nach mehr Bewegung. Die Kinder werden stärker differenziert: Johannes muss niederknien (belle jardinière des Louvre) oder es werden beide Kinder auf eine Seite genommen (Madonna im Grünen in Wien). Gleichzeitig kommt die Madonna tiefer zu sitzen, damit die Gruppe mehr zusammengeschlossen werden kann und die Richtungskontraste lebhafter gegeneinander wirken, und so entsteht schliesslich ein Bild von dem wunderbar konzentrierten Reichtum der Madonna aus dem Hause Alba (Petersburg), das gleich der Sedia den römischen Meisterjahren angehört.Die Madonna mit dem Diadem (Louvre), die eine merkwürdige Popularität geniesst (Stich von F. Weber), zeigt, wie wenig von dieser Kunst auf die nächste Umgebung Raffaels überging. Das grobe Motiv der Madonna, die Plumpheit des Sitzens und der Handbewegung lassen nicht an eine Originalkomposition denken (Nach Dollmayr von Q. F. Penni). Ein Nachklang von Lionardos Madonna mit der heiligen Anna (im Louvre) wird nicht zu verkennen sein.

Raffael. Madonna del Cardellino

Ein noch reicheres Thema enthalten die heiligen Familien in der Art der Münchener Madonna aus dem Hause Canigiani, wo Maria und Joseph und die Mutter des Johannes um die zwei Kinder sich vereinigen, d. h. eine Gruppe von fünf Figuren geformt werden muss. Die anfängliche Lösung lautet auch hier auf die reinlich gebaute Pyramide mit den zwei knieenden Frauen, die die Kinder zwischen sich halten, als Basis und dem stehenden Joseph als Spitze. Die Madonna Canigiani ist ein Kunstwerk der Formfügung, wie es schon über das Vermögen eines Perugino hinausgeht: umbrisch durchsichtig und klar und doch gesättigt mit dem Bewegungsreichtum der Florentiner. Die römische Geschmacksentwicklung drängt dann weiter aufs Massige und auf die starken Kontraste. Das lehrreiche Gegenbeispiel aus der spätern römischen Periode wäre zu suchen in der Madonna del divin amore (Neapel), die, in der Ausführung nicht original, über die neuen Intentionen doch vollkommene Rechenschaft giebt.Dollmayr (Jahrbuch der Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses 1895) giebt das Bild nach Ausführung und Entwurf dem Q. F. Penni (Fattore). Wie das alte gleichseitige Dreieck ungleichseitig wird, wie die alte steile Gruppe sich senkt und das ehemals leichte Gebilde massig und schwer wird, das sind die typischen Veränderungen. Die zwei Frauen sitzen jetzt nebeneinander auf einer Seite und zur Ausgleichung erscheint Joseph auf der andern, eine isolierte Figur, tief in den Raum zurückgeschoben.

Raffael. Madonna aus dem Hause Alba

85 In der vielfigurigen Madonna Franz I. (Louvre) ist der Gruppenbau dann völlig negiert und statt dessen haben wir das malerische Massenknäuelbild, das sich aller Vergleichung mit den älteren Kompositionen entzieht.Dollmayr (Jahrbuch der Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses 1895) leugnet wenigstens für die Gruppe der Maria nicht die raffaelsche Herkunft. In die Ausführung würden sich Penni und Giulio Romano geteilt haben.

Über die thronende Madonna endlich, im Kreise von Heiligen, hat der florentinische Raffael in dem gross angelegten Bilde der Madonna del baldacchino seine Ansicht ausgesprochen. Peruginische Einfachheit mischt sich hier mit Motiven aus dem Kreise jener machtvollen Persönlichkeit, der Raffael in Florenz am nächsten trat, des Fra Bartolommeo. Die Schlichtheit des Thrones ist ganz in der Art des Perugino, die Prachtfigur des Petrus andererseits, mit dem geschlossenen Umriss, wäre ohne Fra Bartolommeo nicht denkbar. Eine vollkommene Abrechnung aber hätte neben diesen zwei Potenzen auch noch zu berücksichtigen, was erst beträchtlich später, in Rom, zu dem Bilde hinzugekommen ist, die Engel oben und wohl die ganze Hintergrundsarchitektur und jedenfalls auch die Erhöhung der Tafel nach oben um ein beträchtliches Stück.Von einer besonders schwachen Hand scheint der heilige Augustin hinzugefügt. Dagegen gehören die Engelknaben sicher zum alten Bestand des Bildes (entgegen anderweitigen Behauptungen, z. B. im Cicerone). Der römische Geschmack verlangte mehr Raum. Hätte er frei schalten können, so würde er auch die Paare der Heiligen zu engeren Gruppen zusammengeschlossen haben, er würde die Madonna weiter heruntergezogen und der Versammlung einen massigern Aspekt gegeben haben. Man kann sich an Ort und Stelle, im Palazzo Pitti nämlich, aufs beste klarmachen, wie der Geschmack zehn Jahre später entschieden hätte: man braucht nur Fra Bartolommeos Auferstandenen mit den vier Evangelisten damit zu vergleichen. Das Bild ist einfacher und doch reicher, differenzierter und doch einheitlicher. Bei dem Vergleiche wird man auch inne werden, dass der reifere Raffael die zwei nackten Engelknaben, die vor dem Throne stehen, so reizvoll sie erfunden sind, in diesem 86 Zusammenhang doch nicht mehr gebracht hätte: es sind schon genug Vertikalen im Bild, man braucht hier Kontrastlinien und darum sitzen die Knaben bei Bartolommeo.


3. Die Camera della Segnatura

Es war ein Glück für Raffael, dass ihm in Rom zunächst keine Aufgaben dramatischer Art gestellt wurden. Er sollte stille Versammlungen ideal gestimmter Menschen malen, Bilder ruhigen Zusammenseins, wo alles darauf ankam, erfinderisch in einfachen Bewegungen und feinfühlig in der Zusammenordnung zu sein. Das war gerade sein Talent. Jene Empfindung für harmonische Linienführung und Massenabwägung, die er in den Madonnenkompositionen ausgebildet hatte, durfte er nun im grossen bewähren. In der Disputa und der Schule von Athen entwickelte er jetzt seine Kunst der Raumfüllung und Gruppenverbindung, die dann die Basis der späteren dramatischen Bilder abgiebt.

Das moderne Publikum hat Mühe, diesem künstlerischen Inhalt der Bilder gerecht zu werden. Es sucht den Wert der Darstellungen anderswo, in dem Ausdruck der Köpfe, in der gedankenhaften Beziehung zwischen den einzelnen Figuren. Es will vor allem wissen, was die Figuren bedeuten und ist beunruhigt, so lange es sie nicht mit Namen benennen kann. Dankbar horcht der Reisende den Belehrungen des Führers, der genau zu sagen weiss, wie jede Person heisst, und ist überzeugt, nach solcher Aufklärung das Bild besser zu verstehen. Für die meisten ist die Sache damit überhaupt erledigt, einige Gewissenhafte aber suchen sich nun in den Ausdruck der Köpfe »hineinzuleben« und saugen sich an den Gesichtern fest. Wenige kommen dazu, neben den Gesichtern die Bewegung der Körper im ganzen aufzufassen, für die Motive des schönen Lehnens, Stehens oder Sitzens sich empfänglich zu machen und nur ganz wenige ahnen, dass der eigentliche Wert dieser Bilder gar nicht im einzelnen, sondern in der Zusammenfügung, in der rhythmischen Belebung des Raumes zu suchen ist. Es sind dekorative Arbeiten grössten Stils, dekorativ in einem Sinne genommen, der freilich nicht geläufig ist; ich meine Gemälde, wo der Hauptaccent nicht auf dem einzelnen Kopf, nicht auf dem psychologischen Zusammenhang liegt, sondern in der Disposition der Figuren innerhalb der Fläche und in dem Verhältnis ihres räumlichen Nebeneinander.Schon Böcklin hat das Wort. Man liest in den Tagebuchaufzeichnungen Rudolf Schicks (Berlin 1900), dass bei seinem zweiten römischen Aufenthalt die Stanzen (es ist im besonderen von Heliodor die Rede) von grosser Wirkung auf ihn waren. »Es schien ihm klar, dass es das Gross-Dekorative in den Bildern ist, was selbst auf den rohesten und ungebildetsten Menschen Eindruck macht und das suchte er auch in seinen nachherigen Bildern mehr anzustreben« (S. 171). Raffael besass ein 87 Gefühl für das, was dem menschlichen Auge angenehm ist, wie keiner vor ihm.

Historisches Wissen ist zum Verständnis nicht erforderlich.Vgl. den befreienden Aufsatz von Wickhoff (Jahrbuch der preussischen Kunstsammlungen, 1903). Es sind allgemein bekannte Vorstellungen, um die es sich handelt, und man hat sehr mit Unrecht den Ausdruck tiefsinniger philosophisch-geschichtlicher Beziehungen in der Schule von Athen oder ein Resumé der Kirchengeschichte in der Disputa finden wollen. Wo Raffael bestimmt verstanden zu werden wünscht, hat er durch Beischrift dafür gesorgt. Es sind nicht viele Fälle, selbst bei Hauptfiguren, bei Trägern der Komposition, bleiben wir ohne Aufklärung. Die Zeitgenossen des Künstlers haben sie nicht verlangt. Das körperlich-geistige Bewegungsmotiv schien alles, der Name gleichgültig. Man fragte nicht, was die Figuren bedeuten, sondern hielt sich an das, was sie sind.

Um diesen Standpunkt zu teilen, braucht es eine Art von Augensinnlichkeit, die heutzutage selten sein mag, und dem Germanen ist es überhaupt schwer, den Wert ganz nachzuempfinden, den der Romane dem leiblichen Sichhaben und -tragen beimisst. Man darf daher nicht allzu rasch ungeduldig werden, wenn der nordische Reisende an diesem Orte, wo er die Darstellung der höchsten geistigen Potenzen erwartet, eine Enttäuschung erst überwinden muss. Rembrandt würde die Philosophie freilich anders gemalt haben.

Wer den guten Willen hat, den Bildern näher zu kommen, wird kein anderes Mittel finden als Figur um Figur zu analysieren und auswendig zu lernen und dann auf die Verbindungen zu achten, wie ein Glied das andere voraussetzt und bedingt. Das ist der Rat, den schon der Cicerone giebt. Ich weiss nicht, ob ihn viele befolgt haben. Man darf die Zeit nicht sparen. Es braucht viel Übung, um nur einmal festen Boden zu gewinnen. Unser Sehen ist so oberflächlich geworden durch die Masse der illustrierenden Tagesmalerei, wo es nur auf einen ungefähren Gesamteindruck ankommt, dass wir solchen alten Bildern gegenüber wieder mit dem Buchstabieren anfangen müssen.

 
Die Disputa

Um einen Altar mit der Monstranz sitzen die vier Kirchenlehrer, auf die die Feststellung des Dogmas zurückgeht: Hieronymus, Gregorius, Ambrosius und Augustin. Rings herum Gläubige; würdevolle 88 Gottesgelehrte, beschaulich ruhig dastehend; feurige Jünglinge, in Andacht und Anbetung sich zudrängend; da wird gelesen, dort wird gewiesen; es sind namenlose Typen und berühmte Figuren nebeneinander gestellt in dieser Versammlung. Ein Ehrenplatz ist vorbehalten für den Papst Sixtus IV., den Onkel des regierenden Papstes.

Raffael, Disputa
Teilstück mit Gregor und Hieronymus

Das ist die irdische Szene. Darüber aber thronen die Personen der Dreieinigkeit und mit ihnen, in flachem Bogen entwickelt, ein Kranz von Heiligen. Ganz oben, gleichlaufend, schwebende Engel. Christus, der sitzend seine Wundmale weist, dominiert das Ganze. Marie und Johannes begleiten ihn. Über ihm der segnende Gottvater, unter ihm die Taube. Ihr Kopf ist die genaue Mitte der Höhenachse des Bildes.

Raffael, Disputa
Teilstück mit Ambrosius und Augustin

Disputa del santissimo sacramento nennt Vasari das Bild und der Name ist ihm bis heute geblieben; er passt aber nicht. Es wird nicht disputiert in diesem Kreise, kaum gesprochen. Das Allergewisseste sollte dargestellt sein, die sichere Gegenwart des höchsten Geheimnisses der Kirche, bekräftigt durch die Erscheinung der Himmlischen selbst.

Man versuche sich klar zu machen, wie die Aufgabe im Sinne der älteren Schule gelöst worden wäre. Verlangt war im Grunde nichts anderes als was den Inhalt so vieler Altarbildcr ausmacht: eine Anzahl frommer Männer in ruhiger Coexistenz und darüber die Himmlischen, still, wie der Mond über dem Walde steht. Raffael sah von Anfang an ein, dass hier mit blossen Steh- oder Sitzmotiven nicht auszukommen war. Die ruhige Gemeinsamkeit musste ersetzt werden durch eine Versammlung mit Bewegung, mit lebhafterer Bethätigung. Er differenziert zunächst die vier Figuren der Hauptgruppe (die Kirchenlehrer) nach den Momenten des Lesens, des Meditierens, des visionären Aufblickens und des Diktierens. Er erfindet die schöne Gruppe der zudrängenden Jünglinge und bekommt so einen Gegensatz zu der ruhigen Präsentation von stehenden Kirchenmännern. Der Affekt erscheint gedämpfter noch einmal in der pathetischen Rückfigur vorn an den Altarstufen. Als Kontrast dazu auf der anderen Seite der Papst Sixtus, ruhig und sicher mit hochgehobenem Haupte vorwärts blickend, der Kirchenfürst. Hinter ihm ein rein profanes Motiv: ein junger Bursche, der sich über die Brüstung lehnt und dem ein Mann den Papst zeigt,Wie schon mehrfach beobachtet wurde, stammt der weisende Mann aus Lionardos Anbetung der Könige, wo er an der gleichen Stelle vorkommt. und gegenüber in der anderen Ecke des Bildes das Umgekehrte, ein Jüngling, der einen Alten weist. Der Alte steht über ein Buch gebeugt an einer Balustrade, andere sehen mit hinein, er scheint zu erklären, der Jüngling aber ladet ihn ein, nach dem Altar in der Mitte zu gehen, wohin alles drängt. Man kann sagen, Raffael habe hier die eigensinnige Meinung, den Sektierer, malen 89 wollen,Vgl. die ähnliche Gruppe in dem Bilde Filippinos »Der Triumph des Thomas« (Rom, S. M. sopra Minerva). auf eine bestimmte Person war es aber gewiss nicht abgesehen und das Motiv an sich hat kaum in dem vorgeschriebenen Programm Raffaels gestanden. Er sollte die Kirchenlehrer bringen, den Papst Sixtus und dann noch die eine oder die andere Persönlichkeit, für die man sich gerade interessierte: Raffael hat das gethan, im übrigen behielt er seine vollkommene Freiheit und konnte in namenlosen Figuren die Motive entwickeln, die er brauchte. Und damit treffen wir auf den Nerv der Sache: die Bedeutung des Bildes besteht nicht in seinen Einzelheiten, sondern in der Gesamtfügung und man wird ihm erst dann gerecht werden, wenn man erkennt, wie alles Einzelne im Dienst der Gesamtwirkung steht und im Hinblick auf das Ganze erfunden ist.

Es soll sich doch niemand darüber täuschen lassen, dass das Psychologische hier nicht das Interessanteste ist. Ein Ghirlandajo wäre überzeugender gewesen in den Köpfen und Botticelli ergreifender im Ausdruck des religiösen Gefühles. Es ist keine Figur da, die sich mit dem Augustin in Ognissanti (Florenz) messen könnte. Die Leistung Raffaels liegt auf einer anderen Seite: ein Bild von diesen Dimensionen, mit so viel Tiefe, reich in den Bewegungsmotiven, ganz klar entwickelt und rhythmisch gegliedert, das war etwas ohnegleichen.

Die erste Kompositionsfrage bezog sich auf die Kirchenlehrer. Sie waren die Hauptgruppe und mussten als solche zur Geltung gebracht werden. Sollten sie gross sein, so durften sie nicht weit auf der Bühne zurückgeschoben werden, das Bild entwickelte sich dann aber als ein blosser Streifen; um ihm Tiefe zu geben, wagte Raffael nach anfänglichem Schwanken die Zurückschiebung der Kirchenväter und baute ihnen einen Stufenuntersatz. Damit kam die Komposition in die glücklichste Bahn. Das Stufenmotiv erwies sich als ausserordentlich fruchtbar, alle Figuren reichen sich gewissermassen die Hände und führen auf die Mitte zu. Ein Übriges geschah noch durch Zufügung der lebhaft gestikulierenden Männer jenseits des Altars, die nur dazu da sind, den hinten sitzenden Hieronymus und Ambrosius für das Auge herauszuholen. Sie sind erst ein Gedanke der letzten Stunde gewesen.

Eine entschiedene Strömung führt von links her der Mitte zu. Der weisende Jüngling, die Anbetenden und die pathetische Rückfigur geben eine Summe gleichlautender Bewegung, der das Auge gerne folgt. Raffael hat auch später immer auf diese Führung des Auges Bedacht genommen. Wenn nun hier die letzte der Zentralfiguren, der diktierende Augustin, sich umwendet, so begreift man den Zweck der Gebärde: es soll die Vermittlung mit der rechten Seite hergestellt werden, wo die Bewegung 90 zum Stillstand gebracht ist. Formale Erwägungen der Art sind völlige Neuerungen dem 15. Jahrhundert gegenüber.

Raffael hat die Kirchenväter sonst in lauter ganz einfachen Ansichten gegeben. Gesenktes Profil, erhobenes Profil bei den zwei ersten, wenig abweichend der dritte. Und auch das Sitzen so einfach wie möglich. Das ist seine Ökonomie. Die entfernten Figuren, wenn sie gross wirken sollen, vertragen keine andere Behandlung. Ein quattrocentistisches Bild, wie Filippinos Triumph des Thomas, fehlt gerade in diesem Punkt.

Je weiter nach dem Vordergrund, um so reicher werden die Bewegungen. Das Reichste geben die Beugefiguren mit ihren Nachbarn in den Ecken. Diese Eckgruppen sind ganz symmetrisch angeordnet und in gleicher Art – durch Weisende – an die inneren Figuren anschlossen.Das Motiv der Brüstung ergab sich auf der einen Seite durch die einschneidende Thür, die Raffael durch Überbauung mit einem Mäuerchen unschädlich zu machen suchte. Er wiederholt dann das Motiv als Balustrade auf der anderen Seite. Der fortgeschrittene cinquecentistische Stil kann aber solche Eingriffe im Bild nicht dulden. Im Heliodorzimmer wird darum die Grundlinie des Bildes in der Höhe des Thürsturzes genommen. Dass Tizian noch in seinem »Tempelgang der Maria« einer Thür die Beine einiger Figuren ruhig opfert, ist für Venedig sehr bezeichnend. In Rom würde man eine solche Crudität nicht hingenommen haben. Symmetrie durchwaltet das ganze Bild, ist aber im 91 einzelnen überall mehr oder weniger verdeckt. Die grösste Ausweichung findet sich in der mittleren Zone. Indessen handelt es sich auch hier nicht um starke Verschiebungen. Raffael geht noch zage vor, er will binden und beruhigen, nicht aufwühlen und auseinanderreissen. Mit einer Feinfühligkeit, die man fromm nennen möchte, sind die Linien so geführt, dass keine der anderen wehe thut und bei aller Fülle der Eindruck der Ruhe vorwaltend bleiben soll. Im gleichen Sinne sind die zwei Hälften der Versammlung jeweilen durch die (landschaftliche) Hintergrundlinie geeinigt und mit dem oberen Figurenkranz in Konsonanz gebracht.

Bei solcher Art der ruhigen Linienfügung ist aber der höhere Gesichtspunkt die Klarheit der Erscheinung, die Raffael jedem Wesen gönnt. Wo die älteren Maler zusammenpressen, Kopf hinter Kopf schieben, da nimmt der in peruginischer Einfachheit grossgezogene Meister die Figuren auseinander, so dass jede sich in völliger Anschaulichkeit entwickeln 92 kann. Auch hier sind neue Rücksichten auf das Auge massgebend. Die Behandlung von Menschenhaufen bei Botticelli oder Filippino fordert ein angespanntes Sehen aus der Nähe, wenn man in dem Gewimmel wirklich des einzelnen habhaft werden will. Die Kunst des 16. Jahrhunderts, die den Blick aufs Ganze gerichtet hält, fordert die Vereinfachung prinzipiell.

Es sind Qualitäten solcher Art, die den Wert des Bildes bestimmen, nicht die Zeichnung im einzelnen. Dass das Bild schon eine beträchtliche Summe von wesentlich neuer Bewegung enthält, wird man nicht leugnen können, indessen ist hier doch noch manches befangen und unsicher. Sixtus IV. wirkt unklar, man weiss nicht recht, ob er geht oder stille steht, und entdeckt erst allmählich, dass er ein Buch gegen das Knie stemmt. Ganz unglücklich ist der weisende Jüngling gegenüber, der auf ein (in Zeichnung erhaltenes) Motiv Lionardos zurückgeht, die sogenannte Beatrice. In den Köpfen berührt die Leerheit fast unangenehm, sobald sie nicht Porträt sind. Man darf garnicht daran denken, wie das Bild aussähe, wenn Lionardo mit seinen Menschen die Gemeinschaft der Gläubigen dargestellt hätte!

Allein, wie gesagt, die grossen Eigenschaften der Raffaelschen Disputa und die eigentlichen Bedingungen ihrer Wirkung sind die allgemeinen Momente. Die Einteilung der Wandfläche im ganzen, die Führung der unteren Figuren, der Schwung der oberen Kurve mit den Heiligen, der Gegensatz zwischen der Bewegung und dem feierlichen Thronen, die Verbindung von Reichtum und Ruhe ergeben hier ein Bild, das schon oft als vollkommenes Beispiel eines religiösen Monumentalstils gepriesen worden ist. Der besondere Charakter kommt ihm aber von der höchst reizvollen Ausgleichung zwischen der Befangenheit jugendlich zarter Empfindung und keimender Kraft.

 
Die Schule von Athen

Der Theologie gegenüber findet man die Philosophie, die weltliche Forschung. Das Bild heisst »Schule von Athen«, doch ist der Name fast so willkürlich wie der der Disputa. Wenn man wollte, könnte man eher hier von einer Disputa sprechen, denn das Zentralmotiv sind die zwei disputierenden Häupter der Philosophie, Plato und Aristoteles. Daneben die Reihen der Hörer. In der Nähe Sokrates mit seinem eigenen Kreis. Er treibt sein Fragespiel und zählt an den Fingern die Voraussetzungen ab. Im Kostüm der Bedürfnislosen liegt dann Diogenes auf der Treppe. Ein schreibender, älterer Mann, dem die Tafel mit den harmonischen Accorden vorgehalten wird, mag Pythagoras sein. Nimmt 93 man noch die Astronomen, Ptolomaeus und Zoroaster, und den Geometer Euclid, so ist das historische Material des Bildes erledigt.

Die Schwierigkeit der Komposition war hier eine gesteigerte, weil der Kreis der Himmlischen wegfiel. Raffael hatte keinen anderen Ausweg, als die Architektur zu Hilfe zu rufen: er baute ein gewaltiges Hallengebäude und legte davor vier (sehr hohe) Stufen, die das Bild nach seiner ganzen Breite durchlaufen. So gewann er eine doppelte Bühne: den Raum unterhalb der Treppe und die Plattform oben.

Im Gegensatz zur Disputa, wo alle Teile nach dem Zentrum streben, löst sich das Ganze hier auf in eine Summe einzelner Gruppen, ja einzelner Figuren: der natürliche Ausdruck der vielgliederigen, wissenschaftlichen Forschung. Ein Suchen nach bestimmten historischen Anspielungen ist hier so wenig angebracht wie dort. Einleuchtend ist der Gedanke, die physischen Wissenschaften unten zu gruppieren und den oberen Raum den spekulativen Denkern frei zu lassen, doch geht vielleicht auch diese Interpretation schon über das Ziel hinaus.

Die körperlich-geistigen Motive sind hier viel reicher als bei der Disputa. Der Stoff bedingte an sich eine grössere Mannigfaltigkeit, man merkt aber wohl, Raffael selbst war weiter gekommen und innerlich reicher geworden. Die Situationen sind schärfer charakterisiert. Die Gebärden sind sprechender. Man behält die Figuren besser im Kopf.

Es ist vor allem merkwürdig, was Raffael aus der Gruppe des Plato und Aristoteles gemacht hat. Das Thema war alt. Will man etwas vergleichen, so nehme man das Philosophenrelief des Luca della Robbia vom Florentiner Campanile: zwei Italiener fahren mit südlicher Lebhaftigkeit aufeinander los, der eine beharrt auf dem Wortlaut seines Buches, der andere macht ihm mit allen zehn Fingern klar, dass das Unsinn sei. Andere Disputationen findet man auf Donatellos Bronzethüren in S. Lorenzo. Allein alle diese Motive musste Raffael verwerfen: der Geschmack des 16. Jahrhunderts fordert die Dämpfung der Gebärde. Vornehm-ruhig stehen die Philosophenfürsten nebeneinander; der eine mit vorgestrecktem Arm die Hand flach über den Boden breitend, es ist Aristoteles, der »baumeisterliche« Mann; der andere, Plato, mit erhobenem Finger nach oben weisend. Woher Raffael die Möglichkeit gekommen ist, die Persönlichkeiten in ihrem Gegensatz so zu charakterisieren, dass sie uns als glaubhafte Bilder der zwei Philosophen erscheinen, wissen wir nicht.

Eindrucksvolle Figuren sind es weiterhin, die rechts gegen den Rand zu stehen. Der Einsame mit weissem Bart, in den Mantel gehüllt, ganz einfach in der Silhuette, eine grosse stille Erscheinung. Daneben der andere, der, auf dem Gesims sich vorlehnend, einem schreibenden 94 Knaben zusieht, der gebückt mit übergeschlagenem Bein dasitzt und ganz von vorn genommen ist. An Figuren der Art muss man sich halten, um den Fortschritt zu ermessen.

Ganz neu ist das Motiv des Liegens bei Diogenes. Es ist der Kirchenbettler, der sich's auf den Treppenstufen bequem macht.

Und nun steigert sich der Reichtum immer mehr. Die Szene der geometrischen Demonstration ist nicht nur nach der psychologischen Seite vortrefflich erfunden, wie das Begreifen in verschiedenen Stadien auseinandergelegt ist, sondern auch die Bewegungen des Kniens und Beugens in den einzelnen Durchführungen verdienen genau aufgefasst und dem Gedächtnis eingeprägt zu werden.

Raffael, Schule von Athen
Die Gruppe des Pythagoras

Noch interessanter ist die Gruppe des Pythagoras. Ein Schreibender im Profil, niedrig sitzend, den einen Fuss auf einen Schemel gestellt, und hinter ihm vordrängend, sich überbeugend andere Figuren: ein ganzer Kranz von Kurven. Dann ein zweiter Schreiber, auch sitzend, aber en face gesehen und komplizierter in der Gliederstellung, und zwischen beiden ein Stehender, der ein offenes Buch auf dem Schenkel festhält und daraus eine Stelle beizubringen scheint. Man zerbreche sich nun den Kopf nicht, was damit gemeint sein soll. Die Figur ist nicht aus dem geistigen Zusammenhang heraus entstanden, sie lebt nur von ihrem körperlichen Motiv. Der hochgesetzte Fuss, der übergreifende Arm, die Wendung des Oberkörpers und die damit kontrastierende Neigung des Kopfes geben ihr einen bedeutenden plastischen Inhalt. Und wenn es dem nordländischen Betrachter scheinen will, das reiche Motiv sei auf allzu künstliche Weise hervorgebracht, so ist vor dem voreiligen Urteil doch zu warnen. Der Italiener hat eine soviel grössere Bewegungsfähigkeit als wir, dass für ihn die Grenzen des Natürlichen ganz andere sind. Raffael betritt hier aber deutlich die Wege des Michelangelo und in der Nachfolge dieses stärkeren Willens hat er in der That zeitweise seine natürliche Empfindung verloren.Es ist übrigens gerade bei dieser Figur das Vorbild nicht bei Michelangelo, sondern bei Lionardo zu suchen: sie ist entwickelt aus dem Motiv der Leda, die vorn gegen Ende des Kapitels "Lionardo" in Abbildung mitgeteilt wurde, und nach der auch eine Nachzeichnung Raffaels erhalten ist. – Die Entlehnungen aus den Paduaner Reliefs Donatellos (vgl. Vöge, Raffael und Donatello, 1896) beziehen sich auf so untergeordnete Figuren, dass man glauben möchte, sie seien scherzweise in die Komposition aufgenommen worden. Jedenfalls darf man nicht an Entlehnungen der Armut oder der Verlegenheit denken.

Die Betrachtung darf indessen nicht stehen bleiben vor der Einzelfigur. Was Raffael da und dort an Bewegungsmotiven giebt, ist die kleinere Leistung gegenüber der Kunst, die in der Zusammenfügung der Figuren zur Gruppe liegt. Die ganze ältere Kunst hat nichts, was sich 95 mit den vielgliedrigen Systemen hier irgend vergleichen liesse. Die Gruppe der Geometer löst ein Problem, das überhaupt wenige aufgenommen haben: fünf Personen auf einen Punkt gerichtet, ganz klar entwickelt, ganz »rein« in der Linie und mit welchem Reichtum an Wendungen! Und so die gegenüberliegende, noch grösser angelegte Gruppe: wie die mannigfaltigen Bewegungen sich ergänzen, wie die vielen Figuren in einen notwendigen Zusammenhang gebracht sind, zu einem vielstimmigen Gesang sich einigen, wo alles wie selbstverständlich erscheint, ist von der höchsten Art. Wenn man das Ganze des Gefüges ansieht, so wird man dann auch verstehen, was der Jüngling zuhinterst in dieser Gesellschaft soll: man hat ein fürstliches Porträt in ihm vermutet, meinetwegen, – seine formale Funktion ist jedenfalls keine andere, als in dem Knäuel von Kurvenlinien die notwendige Vertikale darzustellen.

Wie in der Disputa, so ist auch hier der Reichtum nach vorn geschoben. Hinten auf der Plattform ein Wald von Senkrechten, vorn, wo die Figuren gross sind, die gebogenen Linien und die komplizierten Verknüpfungen.

Um die Mittelfiguren herum ist alles symmetrisch, dann lockert 96 sich die Gebundenheit und unsymmetrisch strömt auf einer Seite die obere Masse über die Treppe herunter, eine Gleichgewichtsstörung, die dann durch die Asymmetrie der Vordergrundsgruppen wieder aufgehoben wird.

Dass in der grossen Menge die weit zurückstehenden Figuren des Plato und Aristoteles noch als Hauptfiguren wirken können, ist gewiss merkwürdig, und doppelt unbegreiflich, wenn man auf den Grössenmasstab Acht hat, der nach einer idealen Rechnung nach hinten zu rapid abnimmt: Diogenes auf der Treppe hat plötzlich ganz andere Verhältnisse als die benachbarten Figuren des Vordergrundes. Das Wunder erklärt sich aus der Art, wie die Architektur benutzt ist: die disputierenden Philosophen stehen gerade im Lichten des letzten Bogens. Ohne diesen Heiligenschein, der in den konzentrischen Linien der vorderen Gewölbe mächtig nachklingt, wären die Leute verloren. Ich erinnere an die Verwendung eines ähnlichen Motivs in Lionardos Abendmahl. Man nehme das Architektonische weg und die ganze Komposition fällt zusammen.

Das Verhältnis der Figuren zum Raum ist hier aber überhaupt in einem ganz neuen Sinne empfunden. Hoch über den Häuptern der Menschen gehen die gewaltigen Wölbungen hin und der ruhige, tiefe Atem dieser Hallen teilt sich dem Beschauer mit. Aus solchem Geiste heraus war der neue Sankt Peter Bramantes konzipiert und nach der Behauptung Vasaris würde Bramante auch als Urheber der Architektur dieses Freskos zu gelten haben. –

Disputa und Schule von Athen sind vornehmlich durch Stiche in Deutschland bekannt geworden und den gewaltigen Raumeindruck der Fresken wird selbst ein oberflächlicher Stich noch immer besser geben als jede Photographie. Im vorigen Jahrhundert hat Volpato in einer Folge von sieben Blättern die Stanzen gestochen, sie sind generationenlang das Andenken gewesen, was sich der Reisende von Rom nach Hause brachte und man darf über diese Blätter auch heute noch nicht gering denken, wo Keller und Jacoby die Aufgabe mit anderen Augen und mit anderen Mitteln angegriffen haben. Jos. Keller's »Disputa«, die 1841–1856 entstand, drängt schon durch die Grösse der Platte alles Ältere zurück, und während Volpato nur die Konfiguration im ganzen wiederzugeben suchte und dabei die malerische Erscheinung willkürlich verstärkte, möchte der Deutsche wortgetreu sein und mit seinem Stift in alle Tiefen raffaelischer Charakteristik hinabdringen. Klar, fest, starkschattig, aber ohne malerisches Gefühl, stellt er seine Gestalten auf die Fläche, er will vor allem in der Form deutlich sein und kümmert sich nicht darum, die farbige Harmonie und im besonderen den lichten Ton des Fresko seinem Bilde zu erhalten. Gerade hier setzt Jacoby mit der 97 Arbeit ein. Seine »Schule von Athen« ist das Resultat zehnjähriger Arbeit (1872 – 1882). Der Laie macht sich keine Vorstellung, wie viel Überlegung es kostete, für jeden Farbenwert des Originals den entsprechenden Ton auf der Kupferplatte zu finden, das Weiche der Malerei wiederzugeben und innerhalb der hellen Freskoskala räumlich klar zu bleiben. Der Stich erschien als eine Leistung ohne gleichen. Vielleicht geht er aber mit seinen Intentionen überhaupt über die Grenzen hinaus, die den graphischen Künsten in diesem Falle gesetzt sind und es giebt noch immer Liebhaber, die bei einer so bedeutenden Verkleinerung des Originals den abgekürzten Ausdruck eines Volpato mit seinen verhältnismässig einfachen Linienmitteln begehrenswerter finden, weil es so eher möglich ist, von der Monumentalität des Eindruckes etwas zu bewahren.

 
Der Parnass

Man darf glauben, dass Raffael froh war, bei der dritten Aufgabe, dem Bilde der Dichter, nicht noch einmal einer gleichen Wand sich gegenüber zu finden. Die schmalere Fläche hier mit dem Fenster in der Mitte brachte von selbst neue Gedanken. Raffael überbaute das Fenster mit einem Hügel, dem leibhaftigen Parnass, und bekam so unten zwei kleine Vordergrundsräume und oben ein breiteres Podium. Das ist der Ort, wo Apoll mit seinen Musen sitzt. Auch Homer darf da weilen und im Hintergrund sind weiterhin noch Dante und VirgilVirgil nicht mehr phantastisch kostümiert, mit spitzer Krone, wie noch bei Botticelli, sondern schon antik, der römische Dichter. So zuerst bei Signorelli (Orvieto). Vgl. Volkmann, iconografia Dantesca S. 72. zu erkennen. Das übrige Volk der Dichter drängt sich an den Hängen des Hügels herum, einzeln dahinwandelnd oder zusammenstehend in Gruppen, wo dann ein lässiges Gespräch geführt wird, oder wo ein lebhafter Erzähler die Aufmerksamkeit bannt. Da das Dichten keine gesellschaftliche Arbeit ist, so war es schwer, die Dichter in einem Gruppenbild psychologisch zu charakterisieren. Raffael beschränkte sich, den Ausdruck der Inspiration zweimal zu geben, bei dem geigenspielenden Gott, der entzückt aufwärts schaut, und bei Homer, der begeistert vor sich hinspricht, und ebenfalls aufwärts schaut, aber mit toten Augen. Für die anderen Gruppen verlangte die künstlerische Ökonomie die verminderte Erregung: der heilige Wahnsinn hat nur in der Nähe des Gottes seinen Platz, unten befinden wir uns unter Unseresgleichen. Zu bestimmter Namengebung werden wir auch hier nicht aufgefordert. Durch Beischrift ist Sappho kenntlich gemacht, weil sonst niemand gewusst hätte, was das für ein Frauenzimmer sei. Raffael war es offenbar darum zu thun, eine weibliche Kontrastfigur zu bekommen. Dante ist klein und fast nebensächlich bloss 98 angeschoben. Die eigentlich augenfälligen Figuren sind namenlose Typen. Zwei Porträtköpfe nur sehen uns aus dem Gewühl in die Augen: der eine, ganz am Rande rechts, ist wahrscheinlich Sannazaro; für den anderen, dem Raffael die Haltung seines Selbstporträts gegeben hat, ist eine glaubhafte Bestimmung noch nicht gefunden.

Apollo sitzt und zwei Musen, ihm zur Seite, sitzen ebenfalls; er in Face-, die Musen in Profilstellung. Das giebt zunächst ein breites Dreieck, das Zentrum der Komposition. Die übrigen Musen stehen hinten herum. Die Kette schliesst rechts mit einer majestätischen Rückfigur, und darauf antwortet, von der anderen Seite her, die Frontfigur Homers. Diese zwei Gestalten sind die Eckpfeiler der parnassischen Gesellschaft. Die gross konstruierte Gruppe klingt dann aus in dem Knaben zu Füssen Homers, der seine Worte mit dem Griffel auffängt; drüben aber nimmt die Komposition eine unerwartete Wendung, indem sie sich in die Tiefe hineinzieht: der nächste neben der weiblichen Rückfigur ist nur noch zu drei Vierteln sichtbar, er schreitet jenseits der Höhe bildeinwärts.

Diese Bewegung verstärkt sich für den Eindruck durch die Lorbeerstämmchen, die hinten hervorkommen, und geht man der Disposition der Bäume im Bilde überhaupt nach, so wird man sehen, wie sehr auf ihre Komposition gerechnet ist. Sie bringen eine Diagonalbewegung in die Komposition und lösen die Starrheit der symmetrischen Ordnung. Ohne die mittleren Stämme aber würde Apollo unter seinen Musen überhaupt versinken.

Für die Vordergrundgruppen wurde ein gegenseitiger Kontrast insofern erreicht, als die linke, mit dem Baum als Kern, ganz isoliert erscheint, während rechts der Zusammenhang mit den oberen Figuren gewahrt ist. Es ist derselbe Bewegungszug wie in der Schule von Athen.

Der Parnass besitzt eine geringere Raumschönheit als die anderen Bilder. Es geht eng und gedrängt zu auf dem Berge und unter den Figurenmotiven sind wenige, die überzeugend wirken. Allzuviele sind von einer gewissen Kleinlichkeit angekränkelt. Am allerunglücklichsten sind die Musen, leere Bildungen, die nicht interessanter werden durch einzelne »antikische« Kunststückchen. Von den sitzenden ahmt eine in der Draperie die Ariadne nach, die andere möchte in der Bewegung auf eine Figur wie die sogenannte Schutzflehende zurückzuführen sein. Die Entblössung der Schulter, ein Motiv, das sich aufdringlich wiederholt, ist ebenfalls aus der Antike zu erklären. Wenn Raffael nur lebendigere Schultern zu zeigen hätte! Trotz aller Rundlichkeit der Formen denkt man mit Sehnsucht an die eckigen Grazien Botticellis zurück. Ein 99 einziges Stück Naturanschauung fällt auf: das ist der Nacken der stehenden Rückfigur, der echte Nacken einer Römerin.

Die besten Figuren sind die ganz schlichten. Zu welch ungeheuerlichen Erfindungen aber die Sucht führt, interessant in der Bewegung zu sein, zeigt die verdrehte Sappho. Hier hat Raffael die Richtung momentan ganz verloren und sich in eine Konkurrenz mit Michelangelo eingelassen, ohne ihn eigentlich zu verstehen. Es genügt, eine der sixtinischen Sibyllen mit dieser unglücklichen Dichterin zusammenzuhalten, um des Unterschiedes gewahr zu werden.

Ein anderes Bravourstück, das wir nicht tadeln wollen, ist die starke Verkürzung des Armes bei dem vorwärtsweisenden Manne. Derartige Probleme musste damals jeder lösen. Michelangelo hat in seinem Gott Vater, der die Sonne schafft, seine Meinung hierüber gesagt.

Von einer Eigentümlichkeit in der Raumrechnung des Bildes muss noch die Rede sein. Es fällt auf, dass die Sappho und ihr Gegenüber den Rahmen des Fensters überschneiden. Das ist unangenehm, weil die Figuren so die Fläche zu verlassen scheinen und man kann sich nicht vorstellen, wie Raffael eine solche Brutalität sich zu schulden kommen liess. In der That rechnete er ganz anders: er glaubte mit dem perspektivisch gemalten Thorbogen, der das Bild umschliesst, das Fenster zurückdrängen zu können, so dass man meinen sollte, es liege schon ein Stück weit im Bilde zurück. Das ist eine falsche Rechnung gewesen und Raffael hat später nie wieder etwas derartiges versucht; neuere Kupferstecher aber haben den Fehler vervielfacht, indem sie unter Weglassung des äusseren Rahmens, der allein die Raumerklärung giebt, das Bild gestochen haben.Die Grisaillen unterhalb des Parnasses kann ich nicht für gleichzeitig mit den übrigen Malereien des Zimmers halten. Der von Wickhoff (Jahrbuch der preussischen Kunstsammlungen 1893) versuchten Erklärung gegenüber scheint mir doch die ältere Interpretation, die hier Augustus sah, wie er das Verbrennen der Aeneide hindert, und Alexander, der die Gedichte Homers in einem Schrein birgt, ihre Vorzüge immer noch zu haben, insofern die Gebärden kaum anders verstanden werden können. Es ist kein Verbrennenlassen von Büchern dargestellt, sondern die Hemmung des Aktes und nicht ein Herausgeben von Schriften aus einem Sarkophag, sondern ein Hineinlegen. Ich glaube, jeder unbefangene Betrachter wird in diesem Sinne entscheiden.

 
Die Jurisprudenz

Eine Versammlung von Juristen zu malen, ist Raffael erspart geblieben. Für die vierte Wand waren nur zwei kleinere Zeremonienbilder aus der Rechtsgeschichte zu Seiten des Fensters vorgesehen und darüber in dem Schildbogen die sitzenden Figuren der Stärke, Vorsicht und Mässigung, wie sie bei der Rechtspflege von nöten sind.

100 Diese Tugendgestalten werden als Ausdruck dessen, was sie vorstellen sollen, niemanden entzücken. Es sind gleichgültige Frauenfiguren, die zwei äusseren stark bewegt, die mittlere beruhigter. Alle sitzen tief, dem reicheren Bewegungsmotiv zuliebe. Mit schwer begreiflicher Umständlichkeit sieht man die »Mässigung« ihr Zaumzeug hoch heben. Sie schliesst sich in der Gesamtbewegung an die Sappho im Parnass an. Die Wendung des Oberkörpers, der übergreifende Arm, die Lage der Beine sind ähnlich. Allein sie ist doch besser, grösser entworfen und nicht so zerrissen. Das Wachsen des Stiles ist hier gut zu beobachten. Die »Vorsicht«, die schon durch ihre Ruhe sympathisch wirkt, besitzt eine sehr schöne Linie und zeigt in der Zeichnung gegenüber dem Parnass schon höhere Begriffe von Klarheit, man braucht nur den aufgestützten Arm mit dem gleichen Motiv bei der Muse zur Linken Apollos zu vergleichen, wo das Wesentliche der Bewegung gar nicht herauskommt.

Von hier geht dann die Entwicklung weiter zu den Sibyllen in S. M. della pace: eine ungeheuere Steigerung des Bewegungsreichtums und ein gleicher Fortschritt in der Klarmachung des Motivs. Die dritte der Sibyllen müsste hier im besonderen angezogen werden. Wie überzeugend das Struktive herausgearbeitet ist in Kopf und Hals und Ellenbogengelenk! Die Sibyllen sind vor einen dunkeln Teppichgrund gesetzt, während die Tugenden der Jurisprudenz vor hellem blauen Himmel stehen; auch das ein wesentliches Merkmal des Stilunterschieds.

Die zwei Szenen aus der Rechtsgeschichte, die Übergabe des weltlichen und geistlichen Gesetzbuches, interessieren zunächst als Formulierungen eines zeremoniösen Vorganges im Geiste des beginnenden 16. Jahrhunderts, dann aber ist gerade da, wo die Disputa anschliesst, in überraschendster Weise zu sehen, wie Raffael am Ende der Arbeiten in der Camera della Segnatura breit und ruhig zu werden anfängt und auch in der Figurengrösse ist er schon weit über den anfänglichen Massstab hinausgewachsen. –

Schade, dass der Raum nicht mehr seine alte Holzvertäfelung besitzt. Er würde jedenfalls ruhiger wirken als jetzt mit den weissen Stehfiguren (in Malerei) an der Brüstung. Es möchte an sich immer etwas Bedenkliches haben, Figuren unter Figuren zu stellen. Das Motiv wiederholt sich in den folgenden Stanzen; man verträgt es aber dort (wo es auf eine gleichzeitige Anordnung zurückgeht) viel besser, weil diese Karyatiden in ihrer plastischwirkenden Behandlung den ganz malerisch behandelten Bildern in entschiedenem Kontrast sich gegenüberstellen; man kann sagen, sie machen das Bild erst zum Bild, indem sie es in die Fläche zurückdrängen. Dieses Verhältnis existiert aber in der ersten Stanze mit ihrem noch wenig malerischen Stile nicht. 101


4. Die Camera d'Eliodoro

Nach den Repräsentationsbildern der Camera della Segnatura betreten wir im zweiten Raum den Saal der Geschichten. Mehr als das: den Saal des neuen, grossen, malerischen Stils. Die Figuren sind grösser in der Dimension und wuchtiger in der plastischen Erscheinung. Es sieht aus, als ob ein Loch in die Mauer geschlagen sei; aus tiefer dunkler Höhlung kommen die Figuren hervor und die einrahmenden Bogenleibungen sind mit plastisch-illusionären Schatten behandelt. Blickt man auf die Disputa zurück, so erscheint sie wie ein Teppich, ganz flächenmässig und licht. Die Bilder geben jetzt weniger, aber das Wenige wirkt gewaltiger. Keine künstlichen, fein gefügten Configurationen, sondern mächtige Massen, die in starken Kontrasten gegeneinander wirken. Nichts mehr von der halbwahren Zierlichkeit, keine Schaustellung posierender Philosophen und Dichter, dafür viel Leidenschaft und ausdrucksvolle Bewegung. Als Raumdekoration mag die erste Stanze höher stehen, im Heliodorzimmer aber hat Raffael die Muster monumentaler Erzählung für alle Zeiten geliefert.

 
Die Züchtigung Heliodors

Im 2. Buch der Maccabäer wird erzählt, wie der syrische Feldherr Heliodor nach Jerusalem gezogen sei, um dort, im Auftrage seines Königs, die Gelder der Witwen und Waisen aus dem Tempel zu rauben. Klagend liefen die Frauen und die Kinder, die um ihr Gut kommen sollten, in den Strassen herum. Schreckensbleich betete der Hohepriester am Altar. Durch keine Vorstellungen und Bitten war Heliodor von seinem Vorhaben abzubringen, er bricht in die Schatzkammer ein, leert die Kisten – da aber erscheint plötzlich ein himmlischer Reiter in goldener Rüstung, der den Räuber niederwirft und mit den Hufen seines Pferdes treten lässt, während zwei Jünglinge ihn mit Ruten schlagen.

Das ist der Text.

Was er an successiven Momenten enthält, hat Raffael in einem Bilde gesammelt, nicht nach Weise der alten Maler, die ruhig verschiedene Szenen neben- und übereinander stellten, sondern unter Wahrung der Einheit von Ort und Zeit. Er giebt nicht die Szene in der Schatzkammer, sondern zeigt, wie Heliodor den Tempel mit den geraubten Schätzen eben verlassen will; die Weiber und Kinder, von denen es heisst, sie seien heulend auf den Gassen herumgelaufen, bringt er an den gleichen Ort und lässt sie zu Zeugen des göttlichen Eingreifens werden, und der Hohepriester, der Gott um Hilfe anfleht, hat so auch seinen natürlichen Platz im Bilde.

102 Nun lag für das Publikum damals die grösste Überraschung in der Art, wie Raffael die Szenen disponierte. Man war an nichts anderes gewöhnt als in der Mitte des Bildes die Hauptaktion zu finden: hier stiess man auf eine grosse Leere im Zentrum und die entscheidende Szene ist ganz an den Rand geschoben. Wir können uns den Eindruck einer solchen Komposition kaum mehr in genügender Stärke vorstellen, da wir seither in ganz anderen »Formlosigkeiten« grossgezogen worden sind, die Leute damals aber mussten in der That glauben, die Geschichte mit der Plötzlichkeit des Wunders vor ihren Augen sich vollziehen zu sehen.

Dazu kommt, dass die Szene der Bestrafung ebenfalls nach neuen dramatischen Gesetzen entwickelt ist. Es lässt sich genau sagen, wie das Quattrocento den Vorgang erzählt haben würde: Heliodor läge blutend unter den Hufen des Pferdes und von beiden Seiten würden die Geisseljünglinge auf ihn einschlagen. Raffael giebt den Moment der Erwartung. Der Missethäter ist eben niedergeworfen worden, der Reiter nimmt sein Pferd herum, um ihn mit seinen Hufen zu treffen, die Jünglinge mit den Ruten aber stürmen überhaupt erst heran. So hat Giulio Romano später die schöne Steinigung des Stephanus (in Genua) komponiert: die Steine sind erhoben, aber der Heilige ist noch unverletzt.Derselbe Gedanke, wie er schon bei der Steinigung des Stephanus in den Sixtinischen Teppichen zur Ausführung gebracht worden ist. Hier hat die Bewegung der Jünglinge noch den besonderen Vorteil, dass die Wucht ihres Laufes nachträglich auch dem Pferde zu gute kommt, indem die Vorstellung auch da unwillkürlich dasselbe blitzschnelle Erscheinen ergänzt. Die Eile der Bewegung, wobei die Füsse den Boden nicht berühren, ist bewunderungswürdig gegeben. Das Pferd ist weniger gut. Raffael war kein Tiermaler.

Den gestürzten Heliodor, über den das Strafgericht hereinbricht, würde das Quattrocento als den gemeinen Bösewicht charakterisiert und nach dem Geschmack der Kinder kein gutes Haar an ihm gelassen haben. Das 16. Jahrhundert denkt anders. Raffael hat ihn nicht unedel gebildet. Seine Begleiter brüllen, er selbst behält auch in der Erniedrigung Ruhe und Würde. Der Kopf an sich ist ein Musterbeispiel cinquecentistischer Ausdrucksenergie. Das schmerzvolle Emporrichten des Kopfes, wobei in wenigen Formen das Wesentliche gegeben ist, hat vorher nicht seines gleichen, wie denn auch das Motiv des Körpers als neu und folgewichtig aufgefasst sein will.Die Herleitung aus der Antike (Motiv eines Flussgottes), wie sie von Zeit zu Zeit vorgeschlagen wird, möchte ich nicht befürworten.

Der Reitergruppe gegenüber findet man die Weiber und Kinder: zusammengepresst, stockend in der Bewegung, gebunden in der 103 Umrisslinie. Mit einfachen Mitteln ist der Eindruck der Menge gegeben. Man zähle die Figuren und man wird erstaunen, wie wenige es sind, aber alle Bewegungen, das fragende Aufsehen und das Hinweisen, das Zurückfahren und Sichbergenwollen sind in stark sprechenden Linien und höchst wirksamen Kontrasten entwickelt.

Über der Menge thront in der Sänfte, ganz ruhig, der Papst Julius II. Er blickt bildeinwärts, nach der Tiefe. Seine Begleitung, ebenfalls Porträtfiguren, nimmt gar keinen Anteil an dem, was geschieht, und wir begreifen nicht, wie Raffael die geistige Einheit des Bildes preisgeben mochte. Vermutlich handelte es sich hier um eine Konzession an den Geschmack des Papstes, der im Sinne des 15. Jahrhunderts die persönliche Assistenz wünschte. Die Kunsttraktate mochten wohl fordern, dass alle Personen im Bilde teilnehmend dargestellt seien, in Wirklichkeit ging man immer wieder davon ab. In diesem Falle zog Raffael den Vorteil aus der päpstlichen Laune, dass er zu so viel Aufregung in seiner Geschichte einen Kontrast der Ruhe bekam.

An dem Pfeiler nach der Tiefe zu sieht man zwei Knaben emporklettern. Was sollen sie? Man darf glauben, dass ein so auffallendes Motiv keine blosse Zuthat ist, die auch fehlen könnte. Sie sind in der Komposition notwendig, als Ausgleichung zu dem gefallenen Heliodor. Die Schale der Wage, auf einer Seite niedergedrückt, springt auf der andern empor. Das »Unten« wird überhaupt erst wirksam durch diesen Gegensatz.Der Hinweis auf ein ähnliches Motiv auf Donatellos Relief mit dem Wunder des Esels ist für Raffael nicht belastend. Wer wollte hier von Entlehnungen sprechen?

So wie die Kletterer behandelt sind, üben sie aber auch noch eine andere Funktion aus: sie leiten das Auge in das Bild hinein, der Mitte zu, wo wir nun schliesslich den betenden Priester finden. Er kniet am Altar und weiss nicht, dass sein Gebet schon erhört ist. Der Grundton der flehenden Hilflosigkeit wird zentral festgehalten.

 
Petri Befreiung

Wie Petrus im Kerker liegt und nachts von einem Engel aufgerufen wird; wie er, noch immer ein Träumender, mit dem Engel hinausschreitet; wie die Wachen alarmiert werden, als die Flucht bemerkt worden ist, – das hat Raffael in drei Bildern erzählt, die sich scheinbar ganz von selbst auf der knappen Fläche einer fensterdurchbrochenen Wand disponiert haben. In der Mitte der Gefängnisraum, dessen vordere Wand ganz in ein Gitter aufgelöst ist und so den Einblick frei giebt; rechts und links Treppen, die vom Vordergrund aus emporführen und 104 für den Eindruck der Tiefendistanz wichtig sind: es durfte nicht die Vorstellung entstehen, als liege der Hohlraum des Kerkers unmittelbar über dem Hohlraum der Fensternische.

Petrus sitzt schlafend am Boden, die Hände wie betend über den Knien zusammengelegt, den Kopf um ein weniges geneigt. Der Engel in lichter Glorie beugt sich zu ihm, rührt ihn mit einer Hand an der Schulter und weist mit der anderen hinaus. Zwei Wächter in starrer Rüstung stehen schlafbefangen an der Mauer zu beiden Seiten. Kann man die Szene einfacher geben? Und doch hat es eines Raffaels bedurft, um sie so zu sehen. Die Geschichte ist auch später nie mehr so schlicht und so eindrücklich erzählt worden.

Domenichino. Befreiung Petri

Es giebt von Domenichino ein Bild von Petri Befreiung, weltbekannt, weil es in der Kirche hängt, wo man die heiligen Ketten aufbewahrt, in S. Pietro in Vincoli (s. Abbildung). Auch da der Engel, der sich herabneigt und Petrus an der Schulter fasst, der alte Mann erwacht und fährt erschrocken zurück vor der Erscheinung. Warum hat Raffael ihn schlafend gegeben? Weil er nur so die fromme Ergebenheit des Gefangenen ausdrücken konnte, während das Erschrecken ein Affekt ist, wo die Bösen und die Guten sich nicht unterscheiden. Domenichino sucht die Verkürzung und wirkt unruhig. Raffael giebt die ganz schlichte Längsansicht und wirkt friedlich und still. Auch dort sind zwei Wächter im Kerker, der eine liegt am Boden, der andere lehnt sich an die Wand; mit ihren aufdringlichen Bewegungen und den ganz ausgeführten Köpfen nehmen sie die Aufmerksamkeit ebenso in Anspruch wie die Hauptfiguren. Wie fein hat da Raffael unterschieden! Seine Wächter gehen ganz zusammen mit der Wand, sie sind nur die lebendige Mauer und wir brauchen auch die gemeinen Gesichter nicht zu sehen, für die wir uns 105 garnicht interessieren. Dass Raffael auf eine Detailschilderung der Kerkermauern sich auch nicht eingelassen hat, ist selbstverständlich.

Beim Herausführen aus dem Gefängnis, was die ältere Kunst als den Kern der Geschichte zu geben pflegt, wird man Petrus immer redend finden: er unterhält sich mit dem Engel. Raffael dachte an die Worte der Schrift: er ging hinaus wie im Traum. Er wird vom Engel an der Hand geführt, aber er sieht den Engel nicht an, er sieht auch nicht auf den Weg: mit gross geöffneten Augen ins Leere blickend, schreitet er in der That dahin wie ein Träumender. Der Eindruck wird nun wesentlich verstärkt durch die Art, wie die Figur aus der Finsternis hervorkommt, verdeckt zum Teil durch das strahlende Licht des Engels. Hier spricht der Maler in Raffael, der schon in dem Dämmerschein des Kerkers etwas ganz Neues gegeben hatte. Und was soll man von dem Engel sagen? Er ist das unvergessbare Bild des leicht hinschreitenden, wegeöffnenden Führers.

Die Treppen hüben und drüben sind besetzt von schlafenden Soldaten. Die Alarmierung ist in der Bibel ebenfalls erwähnt. Sie soll am Morgen stattgefunden haben. Raffael behält hier die einheitliche Zeit, und um der Lichterscheinung rechts ein Gegengewicht zu geben, lässt er eine Viertelscheibe des Mondes am Himmel stehen, während es im Osten anfängt zu dämmern. Dazu dann noch ein malerisches Bravourstück: das flackernde Licht einer Fackel, das auf den Steinen und den blanken Rüstungen einen roten Widerschein giebt.

Vielleicht ist die Befreiung Petri mehr als irgend ein anderes Bild geeignet, den Zögernden der Bewunderung Raffaels zuzuführen.

 
Die Messe von Bolsena

Die «Messe von Bolsena« ist die Geschichte eines ungläubigen Priesters, dem am Altare die Hostie unter den Händen zu bluten anfängt. Man sollte denken, das gäbe ein höchst effektvolles Bild: der Priester erschrocken, auffahrend, die Zuschauer überwältigt von dem Anblick des Wunders. Die Szene ist auch von andern so gemalt worden, Raffael aber nimmt nicht diesen Weg. Der Priester, der da vor dem Altar kniet und im Profil gesehen wird, springt nicht auf, sondern regungslos hält er die rotgezeichnete Scheibe der Hostie vor sich hin. Es kämpft in ihm und das ist psychologisch tiefer als wenn er plötzlich in Verzückung käme. Durch die Regungslosigkeit der Hauptperson gewinnt nun aber Raffael ausserdem den Ausgangspunkt für eine wundervolle Steigerung, wie das Geschehene auf die gläubige Menge wirkt. Die Chorknaben, die die nächsten sind, flüstern untereinander, die Kerzen kommen in Bewegung, der vorderste neigt sich unwillkürlich in Anbetung. Auf der Treppe aber entsteht ein Drücken und Drängen, bis die Wallung 106 ihren Höhepunkt erreicht in der Frau ganz vorn, die aufgesprungen ist und mit Blick und Gebärde, ja mit der ganzen Gestalt emporverlangend als eine Verkörperung des Glaubens überhaupt gedeutet werden könnte. So wenigstens haben ältere Künstler die Fides sich vorgestellt und es giebt ein Relief des Civitale, das in dem zurückgeworfenen Kopf mit dem halbverlorenen Profil die grösste Ähnlichkeit besitzt. (Florenz, Museo Nazionale.) Den Schluss der Kette bilden hockende Frauen mit Kindern unten an der Treppenwange gelagert, die stumpfe Menge, die noch nichts von dem Vorgang ahnt.

Auch hier wollte der Papst mit Gefolge dabei sein. Raffael räumte ihm die ganze eine Hälfte des Bildes ein, er brachte ihn sogar – nach anfänglichem Zögern – auf gleiche Höhe mit der Hauptfigur, so dass die Zweie Profil gegen Profil sich gegenüberknieen, der staunende junge Priester und der alte Papst in seiner rituellen Gebetshaltung, ganz unbewegt wie das Prinzip der Kirche. Beträchtlich tiefer eine Gruppe von Kardinälen, feine Porträtköpfe, von denen aber keiner gegen den Herren aufkommt. Im Vordergrund die Schweizer mit der päpstlichen Sänfte, auch sie knieend, klar ausgesprochene Existenzen, ohne geistige Spannung. Der Reflex des Wunders ist hier nichts als ein profanes Aufhorchen bei dem einen oder anderen, was denn los sei.

Die Komposition ist also auf ein grosses Kontrastmotiv aufgebaut, wie es durch die Beschaffenheit der Wandfläche nahegelegt war. An einen kirchlichen Innenraum war nicht zu denken. Wieder sass ein Fenster in der Mauer, auf das man Bezug nehmen musste. Raffael baute eine Terrasse mit seitlich abwärts führenden Treppen und stellte den Altar so darauf, dass er in die Bildmitte kam. Er umzog die Terrasse mit einer flachrunden Brüstung und erst im Hintergrund kommt etwas von kirchlicher Architektur. Da das Fenster nicht in der Mitte der Wand sitzt, so ergab sich eine Ungleichwertigkeit der zwei Bildhälften, der dadurch abgeholfen ist, dass die linke (schmalere) Seite höher emporgeführt ist. Darin beruht die Legitimation der Männer, die hinter dem Priester über der Brüstung erscheinen und die des blossen verdeutlichenden Weisens wegen nicht nötig gewesen wären.Raffael hält an der Annahme fest, der Beschauer stehe genau in der Mittelachse dem Bild gegenüber, daher überschneidet der linke Fensterrahmen ein Stück des dargestellten Raumes.


Das letzte Bild des Saales, die Begegnung Leos I. mit Attila, ist eine Enttäuschung. Man merkt wohl, worauf es abgesehen war, dass der Papst mit seinem Gefolge in ruhiger Würde der erregten Horde 107 des Hunnenkönigs die Spitze bieten sollte, obwohl er räumlich die schwächere Partei ist, allein der Effekt kommt nicht zustande. Man kann nicht sagen, die Erscheinung der himmlischen Helfer, Petrus und Paulus, die von oben auf Attila drohend einsprechen, zerstöre die Wirkung: der Kontrast an sich ist nicht gut entwickelt. Man hat Mühe, Attila überhaupt zu finden. Nebenfiguren drängen sich irreführend vor, es giebt Dissonanzen in der Linienführung und Unklarheiten der widrigsten Art, so dass Raffaels Autorschaft bei diesem Bilde, das auch im Ton aus der Reihe der anderen herausfällt, jedenfalls nur als eine bedingte anzunehmen ist. Für unsere Fragestellungen fällt es ausser Betracht.Ich mache auf einige Unklarheiten der Zeichnung, wie sie sich mit Raffaels Meisterstil nicht vertragen, im einzelnen aufmerksam.
 
a) Attilas Pferd. Die Hinterbeine sind angegeben, aber in geradezu lächerlicher Weise zerstückelt, bis auf die Hufe.
b) Der weisende Mann zwischen dem Rappen und dem Schimmel. Sein zweites Bein ist nur in einem Rest vorhanden.
c) Von den zwei Lanzenträgern im Vordergrund ist der eine in seiner Erscheinung unleidlich geschädigt.
 
Der Boden und die Landschaft sind auch unraffaelisch. Es hat hier eine fremde Hand mitgearbeitet, talentvoll, aber noch roh. Die guten Partien liegen links.

Und ebenso können wir der Raffaelschule nicht mehr in das dritte Zimmer folgen, mit dem Borgobrand. Das Hauptbild, nach dem der Raum benannt wird, hat zwar sehr schöne Einzelmotive, aber das Gute mischt sich mit Minderwertigen und das Ganze entbehrt der Geschlossenheit einer originalen Komposition. Die wassertragende Frau, die Löschenden und die Gruppe der Fliehenden wird man gerne als Raffaelsche Erfindungen anerkennen und für die Bildung des Einzelschönen in seinen letzten Lebensjahren sind sie sehr aufschlussreich, die Linie der grossen Erzählung aber geht weiter in den Kartons zu den Teppichen der sixtinischen Kapelle.


5. Die Teppichkartons

Die sieben Kartons im Kensington-Museum, die sich allein aus einer Serie von zehn erhalten haben, sind die Parthenonskulpturen der neueren Kunst genannt worden. An Ruhm und weitgreifender Wirkung übertreffen sie jedenfalls die grossen vatikanischen Fresken. Brauchbar als Kompositionen von wenigen Figuren sind sie als Vorlagen in Holzschnitt und Stich weit herumgekommen. Sie waren die Schatzkammer, aus der man die Ausdrucksformen der menschlichen Gemütsbewegungen 108 holte und der Ruhm Raffaels als Zeichner wurzelt vornehmlich in diesen Leistungen. Das Abendland hat sich stellenweise die Gebärden des Erstaunens, Erschreckens, die Verzerrungen des Schmerzes und das Bild der Hoheit und Würde gar nicht anders vorstellen können. Es ist auffallend, wie viel Ausdrucksköpfe in diesen Kompositionen vorkommen, wie viele Figuren irgend etwas sagen müssen. Daher das Laute, Gellende, das einzelne der Bilder haben. An Wert sind sie ungleich und Raffaels Originalzeichnung giebt überhaupt kein einziges.Vgl. H. Dollmayr, Raffaels Werkstätte (Jahrbuch der kunsthistor. Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses 1895). »In der Hauptsache ist nur eine einzige Hand an den Kartons thätig gewesen, die des Penni« (S. 253). Einige aber sind von einer Vollkommenheit, dass man die unmittelbare Nähe von Raffaels Genius empfindet.

Der wunderbare Fischzug. Jesus war hinausgefahren auf den See mit Petrus und dessen Bruder; auf sein Geheiss waren die Netze noch einmal gesenkt worden, nachdem die Fischer die ganze Nacht umsonst sich gemüht hatten, und jetzt that man einen gewaltigen Fang, so gross, dass ein zweites Schiff herbeigerufen wurde, um die Beute zu heben. Da packt den Petrus die Gegenwart des offenbaren Wunders – stupefactus est, sagt die Vulgata –, er stürzt dem Herrn zu Füssen: »Herr, gehe weg von mir, ich bin ein Sünder«, worauf Christus milde den Erregten beruhigt: »Fürchte dich nicht.«

Raffael. Der wunderbare Fischzug. Nach dem Stich von N. Dorigny

Das ist die Geschichte. – Zwei Schiffe also auf offenem Wasser. Der Zug ist gethan, alles voll von den Fischen und in diesem Gedränge die Szene zwischen Petrus und Christus.

Es war eine erste grosse Schwierigkeit, bei so viel Menschen und Material den Hauptfiguren Geltung zu verschaffen, zumal Christus kaum anders als sitzend gedacht werden konnte. Raffael machte die Schiffe klein, unnatürlich klein, um den Figuren die Herrschaft zu sichern. So hatte Lionardo beim Abendmahl den Tisch behandelt. Der klassische Stil opfert das Wirkliche den Rücksichten auf das Wesentliche.

Die flachen Boote stehen nahe zusammen und werden beide fast völlig in der Längsansicht gesehen, das zweite vom ersten nur wenig überschnitten. Alle mechanische Arbeit ist diesem zweiten, zurückstehenden zugewiesen. Dort sieht man zwei junge Männer die Netze emporziehen – der Zug vollendet sich erst bei Raffael –, dort sitzt der Ruderer, der alle Mühe hat, das Fahrzeug im Gleichgewicht zu erhalten. Diese Figuren bedeuten aber nichts Selbständiges in der Komposition, sie dienen nur als Anlauf, als Vorstufe zu der Gruppe im vorderen Schiffchen, wo Petrus vor Christus hingesunken ist. Mit erstaunlicher Kunst sind die Insassen der Boote alle unter eine grosse Linie gebracht, 109 die bei dem Ruderer anhebt, über die Gebückten emporsteigt, in der Stehfigur ihren Höhepunkt findet, dann jäh abstürzt und zum Schluss in Christus sich noch einmal hebt. Auf ihn führt alles zu, er setzt der Bewegung ihr Ziel und obwohl als Masse gering und ganz an den Rand des Bildes gestellt, beherrscht er alle. So hatte man noch niemals komponiert.

Ausschlaggebend für den Eindruck im ganzen ist die Haltung der zentralen Stehfigur und merkwürdig, sie ist erst ein Gedanke des letzten Momentes gewesen. Dass an dieser Stelle im Bilde einer aufrecht stehen sollte, lag schon lange im Plan, es war aber ein Ruderer vorgesehen, der an dem Vorgang keinen näheren Anteil nimmt, wie er aber für das Schiff notwendig ist. Nun aber hatte Raffael das Bedürfnis, die geistige Strömung zu verstärken, er zieht den Mann (man wird ihn Andreas nennen müssen) in die Bewegung des Petrus mithinein und das giebt der Adoration den ungemeinen Nachdruck. Das Niederknien ist gewissermassen entwickelt in zwei Momenten, der bildende Künstler giebt mit simultanen Bildern, was er sonst nicht geben kann: die Succession. Raffael hat dieses Motiv mehrfach verwendet. Auch an den Reiter im Heliodor mit seinen Begleitern ist hier zu erinnern.

Die Gruppe ist ganz freirhythmisch entwickelt, aber so notwendig wie eine architektonische Komposition. Bis ins Einzelne herunter nimmt 110 alles Bezug unter sich. Man sehe, wie sich die Linien gegenseitig accomodieren und jeder Flächenausschnitt gerade für die Füllung da zu sein scheint, die er bekommen hat. Darum sieht das Ganze so ruhig aus.

Auch die Landschaftslinien sind in bestimmter Absicht geführt. Der Uferrand folgt genau dem aufsteigenden Gruppencontour, dann wird der Horizont frei und erst über Christus hebt sich wieder ein Hügelzug. Die Landschaft bezeichnet die wichtige Cäsur in der Komposition. Früher gab man Bäume und Hügel und Thäler, und glaubte, je mehr, desto besser jetzt übernimmt die Landschaft die gleiche Verpflichtung wie auch die Architektur, sie wird den Figuren dienstbar.

Sogar die Vögel, die sonst willkürlich in der Luft herumschiessen, nehmen sekundierend die Hauptbewegung auf: der Zug, der aus der Tiefe kommt, senkt sich gerade da, wo die Cäsur liegt, und selbst der Wind muss die Gesamtbewegung verstärken helfen.

Der hohe Horizont hat etwas Befremdendes. Offenbar wünschte Raffael, seinen Figuren in der Wasserfläche einen gleichmässigen stillen Hintergrund zu geben und er handelt dabei nicht anders, als wie er es bei Perugino schon gelernt hatte, auf dessen »Schlüsselverleihung« mit dem weit zurückgeschobenen Gebäulichkeiten eine ganz gleiche Absicht zu beobachten ist. Im Gegensatz zu dem einheitlichen Wasserspiegel ist dann der Vordergrund vielteilig und bewegt. Ein Stück Uferrand ist sichtbar, trotzdem die Szene auf dem offenen See spielen soll.Ist es Stilgefühl, dass Raffael vorn etwas Festes verlangte? Auch Botticelli (Geburt der Venus) führt das Wasser nicht bis an den Rand. Man kann die Galatea entgegenhalten, doch ist ein Wandbild nicht an gleiche Bedingungen gebunden. Ein paar Reiher stehen da, vorzügliche Tiere, zu auffallend vielleicht, wenn man das Bild nur in einer Schwarz-Weiss-Reproduktion kennt, im Teppich gehen sie in ihren braunen Tönen mit dem Wasser nah zusammen und kommen neben den leuchtenden Menschenkörpern wenig in Betracht.

Raffaels wunderbarer Fischzug gehört mit Lionardos Abendmahl zu den Darstellungen, die gar nicht mehr anders gedacht werden können. Wie tief steht schon Rubens unter Raffael! Durch das eine Motiv allein, dass Christus aufgesprungen ist, hat die Szene ihren Adel verloren.

Raffael. »Weide meine Lämmer!« Nach dem Stich von N. Dorigny

»Weide meine Lämmer.« Raffael behandelt hier ein Thema, wie es ähnlich an dem Orte, wofür der Teppich bestimmt war, in der Sixtinischen Kapelle, schon einmal von Perugino gemalt worden war. Bei Perugino ist es die Schlüsselverleihung (Matth. 16, 19), hier sind es die Worte des Herrn: »Weide meine Lämmer! (Joh. 21, 15). Das Motiv ist im Grunde dasselbe und es ist dabei gleichgültig, ob Petrus die 111 Schlüssel schon in den Armen hält oder nicht.Das letztere ist jedenfalls die ursprüngliche Meinung Raffaels gewesen. Um den Sinn der Rede anzudeuten, musste eine wirkliche Herde ins Bild aufgenommen werden und mit energischer Doppelbewegung der Arme giebt Christus dem Befehl Ausdruck. Was bei Perugino nur gefühlvolle Pose ist, ist hier wirkliche Aktion. Mit historischem Ernst ist der Moment gefasst. Und so der kniende Petrus, dringlich in dem Emporblicken, voll momentanen Lebens. Und die übrigen? Perugino giebt eine Reihe von schönen Stehmotiven und Kopfneigungen. Wie sollte er anders? Die Jünger haben ja bei der Sache nichts zu thun; fatal, dass es so viele sind, die Szene wird ein wenig einförmig. Raffael bringt etwas Neues und Unerwartetes. In gedrängter Masse stehen sie zusammen, kaum dass Petrus sich wesentlich loslöst; aber in diesem Haufen – welch eine Fülle verschiedenartigen Ausdruckes! Die Nächsten angezogen von der Lichtgestalt Christi, mit den Augen ihn verzehrend, bereit, dem Kniefall Petri zu folgen; dann ein Stocken; ein Bedenklichwerden, ein fragendes Sichumsehen und endlich das erklärte missgünstige Zurückhalten. Das Thema in dieser Behandlung verlangte viel psychologische Ausdruckskraft und lag jedenfalls ganz ausserhalb des Kreises der älteren Generation.Man könnte auch anders interpretieren: es sei der Zweifel über die Person des Auferstandenen dargestellt, der hier den Jüngern erschienen ist, ob er's auch wirklich sei oder ob nur ein Trugbild dastehe? Die Jünger kämen bei dieser Auffassung besser weg, allein sie ist nicht die kirchliche.

112 Bei Perugino steht Christus mit Petrus in der Mitte des Bildes und die Assistierenden verteilen sich symmetrisch auf die Seiten, hier steht Christus allein allen anderen gegenüber. Er ist ihnen nicht zugekehrt, sondern wandelt an ihnen vorbei. Nur von der Seite sehen ihn die Jünger. Im nächsten Augenblick wird er nicht mehr da sein. Er ist die einzige Figur, die das Licht in breiten Flächen widerstrahlt. Die anderen haben das Licht gegen sich.

Die Heilung des Lahmen. Vor diesem Bilde ist immer die erste Frage, was die grossen gewundenen Säulen sollen? Man hat die Hallen des Quattrocento im Kopf, durchsichtige Gebilde, und man begreift nicht, wie Raffael zu den Elefantenformen kam, die sich hier breit machen. Woher er das Motiv der gewundenen Säule hat, lässt sich nachweisen; es giebt eine solche in St. Peter, die der Tradition nach vom Tempel in Jerusalem stammen sollte, und die »schöne Halle« eben dieses Tempels war der Schauplatz der Heilung des Lahmen. Allein das Auffällige ist hier viel weniger die Einzelform als die Verbindung der Menschen mit der Architektur. Raffael giebt die Säulen nicht als Coulissen oder als Hintergrund, er zeigt die Leute in der Halle drin, ein Gewühl von Menschen, und er kommt dabei mit verhältnismässig wenig Mitteln aus, weil eben die Säulen selbst füllen.

Nun ist weiter leicht zu sehen, dass die Säulen als trennende und einrahmende Motive sehr erwünscht waren; es ging nicht mehr an, das Publikum, zu Reihen geordnet, herumstehen zu lassen, wie es die Quattrocentisten thaten; sollte aber ein wirkliches Volksgedränge gegeben werden, so lag die Gefahr nahe, dass die Hauptfiguren darin verloren gingen. Das ist hier vermieden und der Beschauer merkt die Wohlthat einer solchen Disposition lange bevor er sich über die Mittel Rechenschaft giebt.

Die Heilungsszene selbst ist ein schönes Beispiel der männlich starken Art, mit der Raffael einen solchen Vorgang jetzt zu geben wusste. Der Heilende stellt sich nicht in Positur, er ist nicht der Beschwörer, der Zauberformeln spricht, sondern der tüchtige Mann, der Arzt, der ganz einfach die Hand des Krüppels aufnimmt und mit der Rechten den Segen dazu giebt. Das geschieht mit dem mindesten Aufwand von Bewegung. Er bleibt aufrecht stehen und beugt nur den mächtigen Nacken ein wenig. Ältere Künstler lassen ihn sich niederneigen zu dem Kranken, allein das Wunder des Emporrichtens erscheint so glaubhafter. Er sieht den Krüppel fest an und dieser hängt mit gierigem, erwartungsvollem Blick an seinem Auge. Profil steht gegen Profil und man spürt 113 die Spannung zwischen den zwei Figuren. Es ist eine psychische Durchleuchtung der Szene ohne gleichen.

Petrus hat eine Begleitfigur in Johannes, der mit weicher Kopfneigung und freundlich aufmunternder Gebärde dabeisteht. Der Krüppel hat seinen Kontrast in einem Kollegen, der stumpf und hämisch zusieht. Das Publikum, zweiflerisch oder neugierig-zudringlich, stellt eine Menge verschiedenartigen Ausdrucks vor, wobei auch für die neutrale Folie gesorgt ist in völlig unbeteiligten Passantenfiguren. Als einen Gegensatz anderer Art hat Raffael in dieses Gemälde von menschlichem Elend zwei nackte Kindergestalten hineingestellt, ideale Körperbildungen, die mit glänzendem Fleisch aus dem Bilde herausleuchten.

Der Tod des Ananias ist eine undankbare Bildszene, weil es unmöglich ist, sein Sterben als Folge eines übertretenen Gebotes darzustellen. Man kann das Zusammenstürzen malen, die Umstehenden werden erschrecken, aber wie soll dem Vorgang sein sittlicher Inhalt gegeben werden, wie soll gesagt werden, dass hier ein Ungerechter stirbt?

Raffael. Der Tod des Ananias. Nach dem Stiche von N. Dorigny

Raffael hat das Mögliche gethan, um diese Beziehung wenigstens äusserlich zum Ausdruck zu bringen. Es ist ein ganz streng komponiertes Bild. Auf einem Podium in der Mitte steht der gesamte Chorus der Apostel, vor dunkler Rückwand, eine geschlossene, höchst eindringliche Masse. Links bringt man die Gaben, rechts werden sie verteilt, das ist sehr einfach und anschaulich. Nun im Vordergrund der dramatische Vorfall. Ananias liegt wie in Krämpfen am Boden. Die nächsten um ihn fahren erschrocken zurück. Der Kreis dieser Vordergrundsfiguren ist so gebaut, daß der rückwärtsstürzende Ananias ein Loch in die Komposition reisst, das man schon von weitem sieht. Man versteht nun, warum alles übrige so streng geordnet ist: es geschah, um diese eine Asymmetrie mit allem Nachdruck wirksam zu machen. Wie der Blitz hat das Strafgericht in die Reihen eingeschlagen und das Opfer gefällt. Und nun ist es unmöglich, die Beziehung zu der oberen Gruppe der Apostel zu übersehen, die hier das Schicksal vertreten. Unmittelbar wird der Blick nach der Mitte geführt, wo Petrus steht und den Arm sprechend gegen den Gestürzten ausgestreckt hält. Es ist keine laute Bewegung, er donnert nicht, er will nur sagen: dich hat Gott gerichtet. Keiner unter den Aposteln ist eigentlich erschüttert von dem Geschehnis, sie bleiben alle ruhig und nur das Volk, das den Zusammenhang der Dinge nicht übersieht, fährt in heftiger Bewegung auseinander. Es sind wenige Figuren, die Raffael vorführt, aber es sind die Typen des grossen staunenden Erschreckens, wie sie die Kunst der nächsten Jahrhunderte zu ungezählten Malen wiederholt hat. Sie sind akademische Ausdrucksschemata geworden. Man hat unendlich viel Unfug getrieben durch 114 Übertragung dieser italienischen Gebärdensprache auf nordischen Boden. Auch die Italiener aber haben das Gefühl für den natürlichen Ausdruck zeitweise völlig verloren und sind ins Konstruieren verfallen. Wie weit die Bewegungen hier noch natürliche sind, wollen wir als Ausländer nicht beurteilen. Etwas nur soll gesagt werden: man kann hier ganz besonders deutlich beobachten, wie der Charakterkopf dem Ausdruckskopf gewichen ist. Das Interesse für den Ausdruck leidenschaftlicher Gemütsbewegungen an sich war so stark, dass man auf individuelle Köpfe gern verzichtete.

Die Blendung des Elymas. Der Zauberer Elymas wird mit plötzlicher Blindheit geschlagen, als er dem Apostel Paulus vor dem Prokonsul von Cypern entgegentreten will. Es ist die alte Geschichte, wie der christliche Heilige angesichts des heidnischen Herrschers den Widersacher besiegt, und das Kompositionsschema, das Raffael benutzte, ist denn auch dasselbe, das schon Giotto kannte, als er in S. Croce den heiligen Franz in der Szene vor dem Sultan mit den muhammedanischen Priestern malte. Der Prokonsul zentral und davor, rechts und links, die zwei Parteien sich gegenübergestellt, wie bei Giotto, nur sind die Momente des Bildes energischer konzentriert. Elymas ist bis gegen die Mitte vorgedrungen und fährt nun plötzlich, da es dunkel vor seinen Augen wird, mit dem Körper zurück, die Hände beide vorstreckend und den Kopf hochhaltend, das unübertreffliche Bild des Erblindeten. Paulus hat sich ganz ruhig gehalten, er steht völlig am Rande, zu drei Viertel Rückfigur. 115 Das Gesicht ist beschattet (während auf Elymas das Licht voll auffällt) und erscheint im verlorenen Profil. Er spricht mit der Gebärde, mit dem Arm, der dem Zauberer entgegengeht. Es ist auch hier keine leidenschaftliche Gebärde, aber die Einfachheit der Horizontale, die sich mit der mächtigen Vertikale der ruhig hochgerichteten Gestalt trifft, wirkt sehr bedeutend. Das ist der Fels, an dem das Böse abprallen muss. Neben diesen Protagonisten hätten die anderen Figuren kaum mehr auf Interesse zu rechnen, selbst wenn sie weniger gleichgültig ausgeführt wären. Sergius, der Prokonsul, der bei diesem Schauspiel nur Zuschauer ist, breitet die Arme zurück, die charakteristische Wendung des Cinquecento. Er mag so im originalen Entwurf konzipiert gewesen sein, die übrigen Personen aber sind mehr oder weniger überflüssige und zerstreuende Füllfiguren, die in Verbindung mit einer unsauberen Architektur und gewissen kleinlichen malerischen Effekten dem Bilde etwas Unruhiges geben. Raffaels Auge scheint nicht mehr über seiner Vollendung gewacht zu haben.

In höherem Grade noch hat man diesen Eindruck vor dem Opfer von Lystra. Das so sehr gerühmte Bild ist eine völlige Unverständlichkeit. Kein Mensch kann erraten, dass hier ein Mann geheilt wurde, dass das Volk dem Wunderthäter als einem Gott opfern will und dass dieser – der Apostel Paulus – ergrimmt darüber sich das Gewand zerreisst. Der Hauptaccent liegt auf der Vorführung einer antiken Opferszene, die einem antiken Sarkophagrelief nachgebildet ist, und dem archäologischen Interesse hat das andere weichen müssen. Die ausgiebige Benutzung des Vorbildes lässt an sich schon den Gedanken an Raffael zurücktreten, ausserdem aber ist jede Veränderung der Vorlage eine Verschlechterung geworden. Die Komposition ist unbehaglich im Raum und wirr in den Richtungen.

Das Bild der Predigt Pauli in Athen enthält dagegen eine grosse und originale Erfindung. Der Prediger mit den gleichmässig erhobenen Armen, ohne schöne Pose und ohne die Deklamationen eines bewegten Faltenwurfes, ist von grandiosem Ernst. Man sieht ihn nur von der Seite, fast mehr von hinten: er steht erhöht und predigt ins Bild hinein und dabei ist er weit vorgetreten, bis an den Rand der Stufen. Das giebt ihm etwas Dringliches bei aller Ruhe. Sein Gesicht ist beschattet. Aller Ausdruck ist konzentriert in der grossen schlichten Linie der Figur, die das Bild siegreich durchtönt. Neben diesem Redner sind alle die predigenden Heiligen des 15. Jahrhunderts dünnklingende Schellen.

Nach idealer Rechnung sind die Hörer unten viel kleiner gebildet. Der Reflex der Rede auf soviel Gesichtern, das war nun wohl eine Aufgabe im Sinne des damaligen Raffael. Einzelne Figuren sind seiner 116 würdig, bei anderen wird man sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass auch hier fremde Erfindungen sich beigemischt haben. (So vor allem in den groben Köpfen vorn.)

Die Architektur wirkt etwas aufdringlich: der Hintergrund des Paulus ist gut an seiner Stelle, den Rundtempel (des Bramante) möchte man lieber durch etwas anderes ersetzt sehen. Dem christlichen Redner entspricht in der Diagonale die Statue des Mars, ein wirksames Motiv, die Richtung zu verstärken.

Wir übergehen die Kompositionen, die nicht mehr im Karton, sondern nur in der Ausführung vorhanden sind, doch muss noch eine prinzipielle Bemerkung über das Verhältnis der Zeichnung zum gewirkten Teppich hier vorgebracht werden. Die Prozedur der Wirkerei lässt bekanntlich das Bild gegensinnig erscheinen und man erwartet, dass die Vorlagen darauf Rücksicht nehmen. Merkwürdigerweise verhalten sich die Kartons in diesem Punkte nicht gleich. Der Fischzug, die Rede an Petrus, die Heilung des Lahmen und der Tod des Ananias sind so gezeichnet, dass die richtige Erscheinung erst im Teppich herauskommen kann, während das Opfer von Lystra und die Blendung des Elymas in der Umkehrung verlieren. (Die Predigt in Athen ist indifferent.)Doch scheint auch sie die Umkehrung zu verlangen, indem erst dann die Marsfigur Schild und Speer richtig zu fassen bekommt. Es handelt sich nicht nur darum, dass die linke Hand zur rechten wird, und dass z. B. ein Segnen mit der Linken stören könnte: eine Raffaelsche Komposition dieses Stiles kann man nicht beliebig umkehren, ohne einen Teil ihrer Schönheit zu zerstören. Raffael führt das Auge von links nach rechts, nach der ihm anerzogenen Neigung. Selbst in stille gestellten Kompositionen, wie der Disputa, geht die Strömung in diesem Sinne. Im grossen Bewegungsbild aber wird man nichts anderes finden: Heliodor muss in die rechte Bildecke hinausgedrängt werden, die Bewegung erscheint so überzeugender. Und wenn Raffael in dem »wunderbaren Fischzug« uns über die Kurve der Fischer zu Christus hinführen will, so ist es ihm wieder natürlich, von links nach rechts zu gehen; wo er aber das jähe Rückwärtsstürzen des Ananias eindrücklich zu machen versucht, da lässt er ihn im Widerspruch zu dieser Richtung zusammenbrechen.

Unsere Abbildungen, die nach den Stichen des N. Dorigny hergestellt sind, geben die richtigen Ansichten, weil sich dem Stecher, der noch ohne Spiegel arbeitete, das Bild im Druck wie in der Weberei verkehrt hat. 117


6. Die römischen Porträts.

Überleitend vom Historienbilde zum Porträt kann man nichts Besseres sagen, als dass auch das Porträt nun zum Historienbild zu werden bestimmt war.

Quattrocentistische Bildnisse haben etwas Naiv-Modellmässiges. Sie geben die Person ohne einen bestimmten Ausdruck von ihr zu verlangen. Gleichgültig, mit einer fast verblüffenden Selbstverständlichkeit sehen die Leute aus dem Bilde heraus. Auf die schlagende Ähnlichkeit war es abgesehen, nicht auf eine besondere Stimmung. Ausnahmen kommen vor, im allgemeinen aber begnügte man sich, den Darzustellenden nach seinen bleibenden Formen festzunageln, und dem Eindruck der Lebendigkeit schien es auch keinen Abbruch zu thun, wenn in der Haltung konventionelle Anordnungen beibehalten wurden.

Es ist die Forderung der neuen Kunst, dass im Porträt die persönlich bezeichnende Situation zu geben sei, ein bestimmter Moment des frei bewegten Lebens. Man will sich nicht darauf verlassen, dass die Formen des Kopfes für sich sprächen, auch die Bewegung und Gebärde soll jetzt ausdrucksvoll sein. Aus dem beschreibenden Stil geht man über zum dramatischen.

Die Köpfe besitzen aber auch eine neue Energie des Ausdrucks. Man wird bald bemerken, dass diese Kunst über reichere Mittel der Charakteristik verfügt. Licht- und Schattengebung, Linienführung, Massenverteilung im Raum sind in den Dienst der Charakteristik gestellt. Von allen Seiten wird auf einen bestimmten Ausdruck hingearbeitet. Und in derselben Absicht, das persönliche Wesen ganz stark wirken zu lassen, werden gewisse Formen nun besonders herausgehoben, andere zurückgedrängt, während das Quattrocento jeden Teil ungefähr gleichwertig durchbildete.

Man darf diesen Stil noch nicht in Raffaels florentinischen Porträts suchen, erst in Rom ist er überhaupt zum Menschenmaler geworden. Der jugendliche Künstler flatterte an der Erscheinung herum wie ein Schmetterling, und es fehlt ihm noch völlig das feste Anpacken, das Pressen der Form auf ihren individuellen Gehalt. Die Maddalena Doni ist ein oberflächliches Porträt und es scheint mir unmöglich, demselben Maler das vorzügliche Frauenbildnis der Tribuna (die sog. Schwester Doni) zuzuschreiben: Raffael besass damals offenbar nicht die Organe, sich an das Sichtbare so anzusaugen.Nach den Ausführungen Davidsons (Repertorium 1900. XXIII, 211 ff.) wird man sich übrigens entschliessen müssen, den Namen Maddalena Doni fallen zu lassen, wenn man nicht auf die Autorschaft Raffaels verzichten will. Das Frauenbildnis der Tribuna halte ich für einen Perugino. Die grosse Verwandtschaft mit dem »timete Deum«-Kopf der Uffizien (Francesco dell' Opera) lässt mir diese Bestimmung als unabweislich erscheinen. Seine Entwicklung bietet das 118 merkwürdige Schauspiel, dass, je grösser der Stil wird, desto mehr auch die Kraft des Individuellen zunimmt.

Als die erste grosse That wird man immer das Bildnis Julius II. zu nennen haben (Uffizien).Das Pitti-Exemplar sicher später. Ob eigenhändig? Es verdient wohl den Namen eines Historienbildes. Wie der Papst dasitzt, mit festgeschlossenem Munde, den Kopf etwas geneigt, im Moment des Überlegens, so ist er nicht das zur Aufnahme zurechtgesetzte Modell, das ist vielmehr ein Stück Geschichte, der Papst in einer typischen Situation. Die Augen blicken den Beschauer nicht mehr an. Die Höhlen sind beschattet, dafür kommt mächtig hervor die felsenmässige Stirn und die starke Nase, Hauptträger des Ausdrucks, auf denen ein gleichmässiges hohes Licht liegt. Das sind die Accentuierungen des neuen Stils; sie würden später noch verschärft worden sein. Gerade diesen Kopf möchte man gerne von Sebastiano del Piombo behandelt sehen.

Bei Leo X. (Pitti) lag das Problem anders. Der Papst hatte ein dickes, fettüberwuchertes Gesicht. Man musste mit dem Reiz der Lichtbewegung versuchen, über die wüsten gelblichen Flächen hinwegzukommen und das Geistige in dem Kopfe aufleuchten zu lassen, die Feinheit in den Nasenflügeln und den Witz in dem sinnlichen, beredten Munde. Es ist merkwürdig, wie das blöde kurzsichtige Auge Kraft bekommen hat, ohne seine Natur zu verändern. Der Papst ist dargestellt, wie er einen Codex mit Miniaturen ansieht und nun plötzlich aufblickt. Es liegt in der Art des Blickens etwas, was den Herrscher charakterisiert, besser als wenn er sich thronend mit der Tiara hätte abbilden lassen. Die Art, wie die Hände gegeben sind, möchte noch individueller sein als bei Julius. Die Begleitfiguren, an sich sehr bedeutend behandelt, dienen hier doch nur zur Folie und sind in jeder Beziehung der Hauptwirkung unterthan.Ist es künstlerische Licenz, dass sie so tief stehen, oder hat man anzunehmen, der Papst sitze auf einem Podium? Bei keinem der drei Köpfe hat Raffael eine Neigung haben wollen und man wird zugestehen, dass diese dreimal wiederholte Vertikale eine Art von feierlicher Stille im Bilde verbreitet. Während das Juliusbild einen gleichfarbigen (grünen) Hintergrund hat, ist hier eine verkürzt gesehene Wand mit Pfeilern gegeben, die den doppelten Vorzug besitzt, die plastische Illusion zu verstärken und den Haupttönen abwechselnd hellere und dunklere Folien zu bieten. In der Farbe aber hat eine wichtige Abtönung ins Neutrale stattgefunden: der alte bunte 120 Grund wird verlassen und man sucht nur den Vordergrundsfarben Kraft zu geben, wie denn hier der päpstliche Purpur auf der grünlichgrauen Hinterfläche so prachtvoll wie möglich zur Erscheinung kommt.

Eine andere Art von momentaner Belebung hat Raffael einem schielenden Gelehrten, dem Inghirami, zu teil werden lassen. (Original ursprünglich in Volterra, jetzt in Boston; alte Kopie in der Gallerie Pitti.) Ohne den Naturfehler zu unterdrücken oder zu verheimlichen, wusste er das Unangenehme ausser Wirkung zu setzen, indem er es durch den Ernst des geistigen Ausdrucks überbot. Ein gleichgültiges Blicken wäre hier unerträglich, vor dem Bilde geistiger Spannung in diesem aufwärts gerichteten Gelehrtenkopf kommt der Beschauer bald auf andere Gedanken.

Raffael
Graf Castiglione

Das Bild gehört zu den frühesten römischen Porträts. Irre ich mich nicht, so würde Raffael späterhin doch diese starke Betonung einer momentanen Tätigkeit vermieden haben und dem Porträt, das auf lange und wiederholte Besichtigung berechnet ist, ein ruhigeres Motiv untergelegt haben. Die vollendete Kunst weiss auch im Beharren den Zauber des Momentanen zu geben. So ist der Castiglione (Louvre, s. Abb.) in der Bewegung sehr einfach, aber die kleine Neigung des Kopfes und das Ineinanderlegen der Hände sprechen unendlich momentan und persönlich an. Der Mann sieht aus dem Bilde heraus mit ruhigem, seelenvollem Blick, aber ohne aufdringliches Sentimento. Es ist der vornehm geborene Hofmann, den Raffael hier zu malen hatte, die Verkörperung des vollkommenen Kavaliers, wie ihn Castiglione selbst in seinem Büchlein vom »Cortigiano« gefordert hat. Die modestia ist der Grundzug seines Charakters. Ohne vornehme Pose kennzeichnet sich der Adelige durch das anspruchslose, zurückhaltende, stille Wesen. Was das Bild reich macht, ist die Drehung der Figur – nach dem Schema der Mona Lisa – und das in prächtig grossen Motiven disponierte Kostüm. Und wie grandios die Silhuette sich entwickelt! Nimmt man dann etwa ein älteres Bild, wie das männliche Porträt Peruginos (Uffizien, s. Abb.) zur Vergleichung heran, so wird man auch entdecken, dass die Figur ein ganz neues Verhältnis zum Raum bekommen hat und wird die Wirkung der räumlichen Weite, der grossen stillen Hintergrundsflächen im Sinne der mächtigen Erscheinung empfinden lernen. Die Hände beginnen hier schon zu verschwinden. Es scheint, dass man beim Brustbild die Konkurrenz dieser Teile für den Kopf fürchtete; wo sie eine bedeutendere Rolle spielen sollen, geht man zum Format des Kniestücks über. Der Grund ist hier ein neutrales Grau mit Schatten. Auch die Kleidung ist grau (und schwarz), so dass die Karnation der einzige warme Ton bleibt. Das Weiss (des Hemdes) haben auch Koloristen wie Andrea del Sarto oder Tizian gern in diesen Zusammenhang aufgenommen.

Perugino. Francesco dell' Opera

121 Ihren höchsten Grad hat die Abklärung der Zeichnung vielleicht erreicht in dem Kardinalsporträt von Madrid (s. die folgende Abb.). In was für einfachen Linien das Ganze sich hier darstellt, gross und still wie eine Architektur! Es ist der Typus des vornehmen italienischen Prälaten und man stellt sich diese Gestalt gern aufgerichtet vor, lautlos hinschreitend durch hohe gewölbte Gänge.Der Abbildung zu Liebe sei hier noch das ausführliche Urteil eines modernen Malers hergesetzt. Israels (Spanien, Berlin 1900) sagt von diesem »modernen Meisterwerk«: »Keine Farbenschönheit, keine Kunstfertigkeit, nur der Gedanke, die Seele, der Charakter des Mannes trifft, fesselt und verführt uns. Eine seltene Sparsamkeit mit Licht und Farben, es ist der Triumph des Formenadels. Es ist eine hohe Gestalt; das Gesicht spricht von Enthaltung und Frieden. Die Augen sind tief und durchdringend, und die fahle Blässe der magern Wange kennzeichnet den Mann des Klosters und der Kirche. Die fein gebogene Nase verrät die adelige italienische Abstammung und die leicht aufeinander gepressten Lippen den Mann der Überlegung und Sanftmut. Dieses eine Porträt enthält mehr Poesie als manches dort (im Prado) hängende Gemälde von Heiligen und Engeln.« Die Benennung ist noch immer fraglich. Auch der Vorschlag von Müntz (archivio storico dell'arte 1890) leuchtet mir nicht ein. Entschieden unrichtig ist, was der Cicerone (wohl im Vertrauen auf Passavants Urteil) sagt, dass der Kardinal Bibbiena im Pal. Pitti eine »schadhafte Kopie« nach dem Madrider Kardinalporträt sei. Die zwei Bilder stehen ausser aller Beziehung zu einander.

Raffael
Ein Kardinal

122 Die zwei venezianischen Litteraten Navagero und Beazzano (in der Galerie Doria) sind als Originale Raffaels nicht ganz gesichert, doch sind es immerhin Prachtexemplare des neuen Stiles und ganz gesättigt mit charakteristischem Leben. Bei Navagero die energische Vertikale, der Kopf mit jäher Drehung über die Schulter blickend, auf dem Stiernacken ein breites Licht und im übrigen überall die Kraft des knochigen Gefüges betont, alles hinarbeitend auf den Eindruck des Aktiven, und im Gegensatz dazu Beazzano, die weibliche geniessende Natur mit weicher Kopfneigung und milder Lichtführung.

Sebastiano del Piombo. Der Violinspieler

Man hat früher auch den Violinspieler (ehemals Sciarra, Rom; jetzt Alphons Rothschild, Paris) dem Raffael gegeben, während er jetzt wohl allgemein als Sebastiano gilt. Der höchst anziehende Kopf mit dem fragenden Blick und dem entschlossenen Munde, der von einem Lebensschicksal redet, ist als cinquecentistisches Künstlerporträt schon im Vergleich mit Raffaels jugendlichem Selbstbildnis merkwürdig. Es handelt sich hier nicht nur um Unterschiede des Modells, sondern um Unterschiede der Auffassung, um die neue Zurückhaltung im Ausdruck und die unglaubliche Kraft und Sicherheit der Wirkung. Den Kopf im Bilde seitlich zu schieben, hat schon Raffael versucht, Sebastiano geht darin noch weiter. Auch bei ihm ist eine leise Neigung angegeben, aber fast unmerklich. Dazu die einfache Lichtdisposition, die eine Seite ganz dunkel; die Formen sehr energisch accentuiert. Und dann der grosse Kontrast in der Wendung: das Blicken über die Schulter. Der vordere Arm ist dabei soweit aufgenommen, dass auch die Steillinie des Kopfes eine entschiedene Gegenrichtung findet.

Sebastiano del Piombo.
Weibliches Bildnis (Dorothea)

Weibliche Bildnisse hat Raffael wenig gemalt und vor allem hat er die Neugier der Nachwelt unbefriedigt gelassen, wie seine Fornarina ausgesehen habe. Früher hat man auch hier bei Sebastiano Anleihen gemacht und beliebige schöne Frauen auf Raffael getauft und als seine Geliebte in Anspruch genommen, wie es der jungen Venezianerin in der Tribuna und der sog. Dorothea aus Blenheim (Berlin) gegangen ist: neuerdings sucht man sich wenigstens insofern schadlos zu halten, dass man die Donna Velata (Pitti), die als gesicherter Raffael gilt, nicht nur für das Modell zur Sixtinischen Madonna, sondern auch für das 124 idealisierte Porträt eben der gesuchten Fornarina erklärt. Die erstere Beziehung ist offenbar, die zweite hat wenigstens eine alte Tradition für sich.

Raffael. Donna Velata

Die »Fornarina« der Tribuna von 1512 ist eine etwas gleichgültige venezianische Schönheit und wird jedenfalls weit übertroffen von der Berliner Dorothea, die später entstanden, schon ganz die vornehm gelassene Art, den grossen Rhythmus und die geräumige Bewegung der Hochrenaissance besitzt. Man denkt unwillkürlich an die schöne Frau Andrea del Sartos in der Mariengeburt von 1514. Im Gegensatz zu diesen höchst genussfähigen Wesen Sebastianos giebt Raffael in seiner Donna Velata die hehre Weiblichkeit. Die Haltung majestätisch aufrecht; das Kostüm reich, aber beruhigt durch das feierlich zusammenfassende, einfache Kopftuch; der Blick nicht suchend, sondern fest und 126 klar. Auf dem neutralen Grunde gewinnt das Fleisch eine grosse Wärme und leuchtet selbst siegreich über den weissen Atlas. Vergleicht man damit ein früheres Frauenbild wie die Maddalena Doni, so wird die grosse Formauffassung dieses Stils, die Sicherheit im Zusammenschliessen der Wirkungen ohne weiteres klar werden. Es liegt hier aber überhaupt eine Vorstellung von menschlicher Würde zu Grunde, die der junge Raffael noch nicht kannte.

Die Donna Velata hat mit der Dorothea eine auffallende Ähnlichkeit in der Anordnung, so dass man immer wieder auf den Gedanken kommt, es möchten die beiden Bilder in einer Art von Konkurrenz entstanden sein. Als drittes Stück möchte man dann gerne noch die Bella aus der ehemaligen Sammlung Sciarra (jetzt bei A. Rothschild, Paris) heranrufen, die sicher ein junger Tizian istSie gilt jetzt allgemein als Palma, aber die Übereinstimmung mit der sog. Maîtresse de Titien im Salon Carré des Louvre ist evident, so dass es angezeigt wäre, den alten Namen wieder aufzunehmen. und ebenfalls in dieser Zeit entstanden sein muss. Es wäre ein merkwürdiges Schauspiel, die neugeborene Schönheit des Cinquecento in drei so ganz verschiedenen Entfaltungen nebeneinander zu sehen.

Indessen eilen wir, von diesem Vorbild der Sixtinischen Madonna zum Bilde selbst zu kommen. Der Weg führt über einige Vorstufen und unter den römischen Altarbildern hat die heilige Cäcilia das Recht, zuerst genannt zu werden.


7. Römische Altarbilder.

Die Cäcilie (Bologna, Pinakothek). Die Heilige ist mit vier anderen zusammengeordnet, mit Paulus und Magdalena, einem Bischof (Augustin) und dem Evangelisten Johannes, nicht als eine bevorzugte, sondern wie eine Schwester. Es stehen alle. Sie hat ihre Orgel fallen lassen und lauscht dem Engelgesang, der über ihren Häupten hörbar wird. 127 Unverkennbar tönen in dieser gefühlvollen Figur umbrische Weisen fort. Und doch, wenn man Perugino vergleicht, so erstaunt man über Raffaels Zurückhaltung. Das Absetzen des Spielfusses und das Zurücklehnen des Kopfes, es ist anders, einfacher als Perugino es gegeben hätte. Es ist nicht mehr der Sehnsuchtskopf mit geöffneten Lippen, jenes Sentimento, in dem Raffael selbst noch in der Catharina von London geschwelgt hatte: Der männliche Künstler giebt weniger, aber er macht das Wenige intensiver wirksam durch Kontraste. Er berechnet Bildwirkungen, die Dauer haben. Die ausladende Schwärmerei eines Einzelkopfs verleidet. Was dem Bild Frische giebt, ist der zurückgehaltene Ausdruck, der immer noch eine Steigerung offen lässt, und der Kontrast von anders gestimmten Figuren. In diesem Sinne sind Paulus und Magdalena zu fassen, Paulus männlich, gesammelt, vor sich hinblickend, Magdalena ganz gleichgültig im Ausdruck, die neutrale Folie. Die zwei übrigen sind ausser Spiel gesetzt, sie flüstern unter sich.

Man thut dem Künstler keinen Dienst, wenn man die Hauptfigur allein herausnimmt, wie das von modernen Kupferstechern geschehen ist. Der Gefühlston verlangt eine Ergänzung, so gut wie die Linie der Kopfhaltung nach einem Widerpart ruft. Zu dem Aufwärts der Cäcilie gehört das Abwärts des Paulus und die unbeteiligte Magdalena giebt dazu die reine Vertikale, an der die Abweichungen vom Lot gemessen werden können.

Die weitere Durchführung der Kontrastkomposition in Stellung und Ansicht der Figuren soll hier nicht weiter verfolgt werden. Raffael ist noch bescheiden, ein Späterer würde überhaupt nicht mehr fünf Stehfiguren ohne einen stärkeren Bewegungsgegensatz zusammengestellt haben.

Der zugehörige Stich des Marc Anton (B. 116) ist kompositionell eine interessante Variante. Will man Raffael als Autor annehmen – und man darf wohl nicht anders –, so muss es ein früherer Entwurf sein, denn die Ökonomie ist noch mangelhaft. Gerade das, was das Gemälde interessant macht, fehlt. Auch Magdalena blickt hier gefühlvoll aufwärts und macht so der Hauptfigur Konkurrenz, und die zwei zurückstehenden Heiligen drängen sich lauter vor. In der Bildredaktion hat sich erst vollzogen, was überall das Merkmal des Fortschrittes ist: Subordination statt Coordination, Auswahl der Motive, dass jedes nur einmal vorkommt, dann aber an seiner Stelle einen integrierenden Bestandteil der Komposition ausmacht.

Ghirlandajo. Madonna in der Glorie

Die Madonna von Foligno (Rom, Vatikan) muss in der Entstehungszeit der Cäcilie nahe stehen, sie wird um 1512 gemalt sein. Es ist das Thema der Madonna in der Glorie, ein altes Motiv, allein gewissermassen doch neu, da das Quattrocento sich nur selten darauf 128 eingelassen hat. Das kirchlich unbefangene Jahrhundert hat die Madonna lieber auf einen festen Thronstuhl gesetzt als in die Luft gehoben, während eine veränderte Gesinnung, die die nahe Berührung des Irdischen und Himmlischen vermeiden will, im 16. und 17. Jahrhundert dieses ideale Schema des Altarbildes bevorzugt. Zur Vergleichung bietet sich indessen gerade noch aus dem Ausgang des Quattrocento ein Bild an: Ghirlandajos Madonna in der Glorie in München, das einstige Hochaltarbild von S. M. Novella. Auch da sind es vier Männer, die unten auf der Erde stehen, und schon Ghirlandajo hatte das Bedürfnis, die Bewegung zu differenzieren: zwei davon knien wie bei Raffael auch. Der überbietet nun freilich den Vorgänger sofort durch die Vielseitigkeit und Tiefe der leiblich-geistigen Kontraste in einer Weise, die die Vergleichbarkeit aufhebt, und zugleich giebt er das andere dazu: die Bindung der Kontraste. Die Figuren sollen auch geistig zu einer einheitlichen Handlung zusammengreifen, während das ältere Altarbild an dem beziehungslosen Herumstehen der Heiligen nie Anstoss genommen hatte. Der eine der Knieenden ist der Stifter, ein ungewöhnlich hässlicher Kopf, aber die Hässlichkeit ist überwunden durch den grandiosen Ernst der Behandlung. Er betet. Sein Patron, der heilige Hieronymus, legt ihm die Hand an das Haupt und empfiehlt ihn. Das rituelle Beten erhält den schönsten Gegensatz in der glühend emporblickenden Figur eines Franziskus gegenüber, der, mit einer hinausdeutenden Handbewegung die ganze gläubige Gemeinde in seine Fürbitte einschliessend, zeigen soll, wie Heilige beten. Und sein Aufwärts wird dann aufgenommen und kräftig weitergeführt von dem emporweisenden Johannes hinter ihm.

Raffael. Madonna von Foligno

Die Glorie der Madonna ist malerisch aufgelöst, noch nicht vollkommen, die alte starre Scheibe besteht wenigstens noch teilweise als 129 Hintergrund, aber ringsherum quellen schon Wolken und die Putten der Begleitung, denen das Quattrocento höchstens ein kleines Wolkenfetzchen oder Wolkenbänkchen für einen Fuss zugestehen wollte, können sich jetzt tummeln in ihrem Elemente wie der Fisch im Wasser.

In dem Sitzen der Madonna trägt Raffael ein besonders schönes und reiches Motiv vor. Es ist schon früher gesagt worden, dass er hier nicht Erfinder ist: Wie die Füsse differenziert sind, der Oberkörper sich dreht und der Kopf sich neigt, geht zurück auf die Madonna Lionardos in der Anbetung der Könige. Der Christusknabe ist sehr preziös in der Wendung, aber es ist allerliebst gedacht, dass er nicht auf den betenden Stifter heruntersieht wie die Mutter, sondern auf das Bübchen, das zwischen den Männern unten in der Mitte steht und seinerseits ebenfalls hinaufblickt.

Was soll dieser nackte Knabe da mit seinem Täfelchen? Man wird sagen, dass es in jedem Falle erwünscht sei, unter all den schweren ernsten Männertypen einige kindliche Harmlosigkeit zu finden. Der Knabe ist aber auch ausserdem unentbehrlich als formales Bindeglied. Das Bild hat hier ein Loch. Ghirlandajo machte sich nichts daraus. Der cinquecentistische Stil verlangt aber Fühlung der Massen untereinander und es gehört hier im besonderen etwas Horizontales hinein. Raffael darf der Forderung begegnen mit einem Knabenengel, der ein (unbeschriebenes) Täfelchen hält. Das ist der Idealismus der grossen Kunst.

Raffael wirkt weiter und doch massiger als Ghirlandajo. Die Madonna ist so weit heruntergenommen, dass ihr Fuss bis in die Schulterhöhe der Stehfiguren kommt. Andererseits schliessen die unteren Figuren fest an 130 den Rand an: der Blick soll nicht noch einmal hinter ihrem Rücken in die Landschaft hinausgeführt werden, wodurch eben die älteren Bilder etwas Lockeres und Dünnes bekommen haben.Die Landschaft ist schon von Crowe und Cavalcaselle als ferraresisch in der Mache erkannt worden (Dosso Dossi). Vielleicht ist auch die vielberufene Kugelerscheinung im Hintergrunde nur einer von den bekannten ferraresischen Feuerwerkswitzen, dem keine weitere Bedeutung beizulegen ist. Selbstverständlich gehören auch die ausführlich behandelten Grasbüschel im Vordergrunde dieser zweiten Hand.

Raffael. Die Madonna mit dem Fisch

Die Madonna mit dem Fisch (Madrid, Prado). In dieser Madonna del Pesce haben wir Raffaels römische Redaktion des Themas der Maria »in trono«. Verlangt war eine Maria mit zwei Begleitfiguren, dem heiligen Hieronymus und dem Erzengel Raphael. Dem letzteren pflegte als unterscheidendes Attribut der Tobiasknabe mit dem Fisch in der Hand beigegeben zu werden. Während dieser Knabe nun sonst verloren beiseite steht und nur als Störung empfunden wird, ist er hier zum Mittelpunkt einer Handlung gemacht und das alte repräsentative Gnadenbild ist ganz in eine »Geschichte« umgesetzt: der Engel bringt Tobias der Madonna. Man braucht darin keine besondere Anspielung zu suchen, es ist die Konsequenz der Raffaelschen Kunst, alles in lebendige Beziehung aufzulösen. Hieronymus kniet auf der anderen Seite des Thrones und sieht vom Lesen einen Augenblick auf und hinüber auf die Gruppe des Engels. Der Christusknabe scheint ihm vorher zugewendet gewesen zu sein, nun hat er sich den neu Ankommenden zugedreht, kindlich ihnen entgegenlangend, während die andere Hand noch im Buch des Alten liegt. Maria, sehr streng und vornehm, blickt auf Tobias herab, ohne den Kopf zu neigen. Sie giebt die reine Vertikale in der Komposition. Der zögernd sich nahende Knabe und 131 der hinreissend schöne Engel, von wahrhaft lionardeskem Schmelz, geben zusammen eine Gruppe, die einzig ist auf der Welt. Das Aufwärtsblicken des fürbittenden Empfehlens wird wesentlich verstärkt durch die in gleicher Linie laufende Diagonale des grünen Vorhangs, der, vom hellen Himmel scharf sich abhebend, den einzigen Schmuck in dieser höchst vereinfachten Komposition bildet. Der Thron ist von peruginischer Schlichtheit des Baues. Der Reichtum kommt dem Bilde einzig durch das Ineinandergreifen aller Bewegung und das nahe Beisammensein der Figuren. Wie Frizzoni neuerdings bestätigt, ist die Ausführung nicht original, indessen die vollendete Geschlossenheit der Komposition lässt keinen Zweifel zu, dass Raffael bis ans Ende dem Werke zur Seite gestanden hat.

Raffael. Die Sixtinische Madonna

Die Sixtinische Madonna (Dresden). Nicht mehr sitzend auf Wolken, wie in der Madonna di Foligno, sondern hoch aufgerichtet, über Wolken hinwandelnd, als eine Erscheinung, die nur für Augenblicke sichtbar ist, hat Raffael in dem Bilde für die Karthäuser von Piacenza die Madonna gemalt, zusammen mit Barbara und Papst Sixtus II., nach dem sie eben die Sixtinische genannt wird. Da die Vorzüge dieser Komposition schon von so vielen Seiten her erörtert worden sind, mögen hier nur einige Punkte zur Sprache gebracht werden.

Das direkte Herauskommen aus dem Bilde, das Losgehen auf den Beschauer muss immer mit einem unangenehmen Eindruck verbunden sein. Es giebt zwar moderne Gemälde, die diese brutale Wirkung suchen. Raffael hat mit allen Mitteln dahin gearbeitet, die Bewegung zu sistieren, sie in bestimmten Schranken zu halten. Es ist nicht schwer, zu erkennen, welches diese Mittel gewesen sind.

Das Bewegungsmotiv ist ein wunderbar leichtes, schwebendes Gehen. Die Analyse der besonderen Gleichgewichtsverhältnisse in diesem Körper und der Linienführung in dem weit geblähten Mantel und dem rückwärtsrauschenden Gewandende werden das Wunder immer nur zum Teil erklären, es ist von Wichtigkeit, dass die Heiligen rechts und links nicht auf den Wolken knien, sondern einsinken und dass die Füsse der Wandelnden im Dunkel bleiben, während das Licht nur das Gewoge des weissen Wolkenbodens bescheint, was den Eindruck des Getragenwerdens verstärkt.

Albertinelli. Madonna mit zwei knienden Heiligen

In allem ist es so gehalten, dass die Zentralfigur gar nichts Gleichartiges, sondern lauter günstige Kontraste findet. Sie allein steht, die anderen knien, und zwar auf tieferem Plan;Es ist dazu zu vergleichen die Anordnung Albertinellis auf seinem Bilde von 1506 im Louvre, in jeder Beziehung eine lehrreiche Parallele zur Sixtina (s. die Abbildung). sie allein erscheint in 132 voller Breitansicht, in reiner Vertikale, als ganz einfache Masse, mit vollständiger Silhuette gegen den hellen Grund, die anderen sind an die Wand gebunden, sind vielteilig im Kostüm und zerstückt als Masse und haben keinen Halt in sich selber, sondern existieren nur in Bezug auf die Gestalt der Mittelachse, der die Erscheinung der grössten Klarheit und Macht vorbehalten ist. Sie giebt die Norm, die anderen die Abweichungen, aber so, dass auch diese nach einem geheimen Gesetz geregelt erscheinen. Offenkundig ist die Ergänzung der Richtungen: dass dem Aufwärts des Papstes ein Abwärts bei der Barbara entsprechen muss, dem Auswärtsweisen dort, ein Einwärtsgreifen hier.Eine Vorstufe repräsentieren die zwei weiblichen Heiligen auf Fra Bartolommeos Gottvater-Bilde von 1509 in Lucca. Nichts ist in diesem Bilde dem Zufall überlassen. Der Papst sieht zur Madonna empor, die Barbara auf die Kinder am Rand herab und so ist auch dafür gesorgt, dass der Blick des Beschauers sofort in sichere Geleise geführt wird.

Wie merkwürdig nun bei Maria, der eine fast architektonische Kraft der Erscheinung zugeleitet ist, jene Spur von Befangenheit im Ausdruck wirkt, braucht nicht gesagt zu werden. Sie ist nur die Trägerin, der Gott ist das Kind auf ihren Armen. Es wird getragen, nicht weil es nicht gehen könnte, sondern wie ein Prinz. Sein Körper geht über menschliches Mass und die Art des Liegens hat etwas Heroisches. Der Knabe segnet nicht, aber er sieht die Leute vor ihm an mit einem überkindlichen, festen Blick. Er fixiert, was Kinder nicht thun. Die Haare sind wirr und gesträubt, wie bei einem Propheten.

Zwei Engelkinder am untern Rande geben dem Wunderbaren die Folie der gewöhnlichen Natur. Hat man bemerkt, dass der grössere nur einen Flügel hat? Raffael scheute die Überschneidung, er wollte nicht zu massig da unten schliessen. Die Licenz geht mit andern des klassischen Stiles zusammen.

133 Das Bild muss hoch hängen, die Madonna soll herabkommen. Stellt man es tief, so verliert es die beste Wirkung. Die Einrahmung, die man ihm in Dresden gegeben hat, möchte etwas zu schwer ausgefallen sein: ohne die grossen Pilaster würden die Figuren viel bedeutender aussehen.Die Sixtinische Madonna ist bekanntlich mehrfach und gut gestochen worden. Zuerst von F. Müller (1815) in einem vielbewunderten Hauptwerk aller Stecherei, dem manche noch heute unter sämtlichen Nachbildungen die Palme reichen. Der Ausdruck der Köpfe kommt dem Original sehr nahe und das Blatt besitzt einen unvergleichlich schönen, weichen Glanz. (Kopie darnach von Nordheim.) Dann hat Steinla die Aufgabe angefasst (1848). Er ist der erste, der den richtigen oberen Abschluss des Bildes giebt (die Vorhangstange). Bei einzelnen Verbesserungen im Detail hat er aber doch die Vorzüge F. Müllers nicht erreicht. Wenn sich diesem überhaupt ein Stich vergleichen lässt, so ist es der von J. Keller (1871). Höchst discret in den Mitteln gelingt es ihm, das Flimmernde der visionären Erscheinung überzeugend wiederzugeben. Spätere mochten finden, es habe die Formbestimmtheit des Originals dabei zu sehr verloren, und so machte sich Mandel ans Werk und versuchte mit gewaltiger Anstrengung die ausdrucksvolle Zeichnung Raffaels zu gewinnen. Er hat aus dem Bild eine unerwartete Fülle von Forminhalt herausgezogen, allein der Zauber des Ganzen hat darunter gelitten, und stellenweise ist er aus lauter Gewissenhaftigkeit hässlich geworden. Statt der duftigen Wolken giebt er ein verschmiertes Regengewölk. Kohlschein endlich nahm neuerdings nochmals einen anderen Ausgang: er forciert die Lichterscheinung und setzt an Stelle des Flimmernden das Flackernde, wodurch er sich von der Wirkung, die Raffael beabsichtigte, willkürlich entfernt.

Raffael. Die Transfiguration (oberer Teil)

Die Transfiguration (Vatikan). Das Bild der Transfiguration steht uns vor Augen als die Doppelszene der Verklärung oben und der Vorführung des besessenen Knaben unten. Bekanntlich ist diese Verbindung keine normale. Sie ist nur einmal von Raffael gewählt worden. Er hat damit sein letztes Wort über den grossen Stil in der erzählenden Malerei uns hinterlassen.

Giovanni Bellini. Transfiguration

Die Verklärungsszene ist immer ein heikles Thema gewesen. Drei Männer aufrecht nebeneinander, und drei andere halbliegend zu ihren Füssen. Mit allem Reiz der Farbe und des Details kann ein so ehrlich 134 gemeintes Bild wie das Bellinis in Neapel (s. Abb.) uns über die Verlegenheit nicht hinwegtäuschen, die der Künstler selber empfand, als er dem leuchtenden Verklärten mit seinen Begleitern noch die drei Menschenhäuflein der geblendeten Jünger vor die Füsse legen musste. Nun gab es aber ein älteres, ideales Schema, demgemäss Christus gar nicht auf dem Boden zu stehen brauchte, sondern in einer Glorie über die Erde erhoben dargestellt wurde. So hatte auch Perugino im Cambio zu Perugia die Szene gemalt. Offenbar war damit formal schon viel gewonnen, für Raffael aber konnte es von vornherein keine Frage sein, welchen Typus er wählen sollte: die erhöhte Empfindung verlangte nach dem Wunderbaren. Den Gestus der ausgebreiteten Arme fand er vor, aber das Schweben und den Ausdruck der Beseeligung hat er nirgends 135 hernehmen können. Angezogen von der Flugbewegung Christi folgen nun auch Moses und Elias, ihm zugekehrt und von ihm abhängig. Er ist die Quelle der Kraft und das Zentrum des Lichtes. Die anderen kommen nur an den Rand der Helle, die den Herrn umgiebt. Die Jünger unten daran schliessen den Kreis. Raffael hat sie im Massstab viel kleiner gebildet, um sie so ganz mit dem Boden zusammenbinden zu können. Es sind keine zerstreuenden, eigenherrlichen Einzelexistenzen mehr, sondern sie erscheinen als notwendig in dem Kreise, den der Verklärte um sich gebildet hat und erst durch den Gegensatz des Befangenen gewinnt die Schwebefigur den ganzen Eindruck von Freiheit und Entlassenheit. Wenn Raffael der Welt nichts anderes hinterlassen hätte als diese Gruppe, so wäre es ein vollkommenes Denkmal der Kunst, wie er sie verstand.

Wie völlig ist das Gefühl für Mass und Ökonomie schon abgestumpft bei den bolognesischen Akademikern, die die Traditionen der klassischen Zeit fortführen wollten. Christus aus den Lüften herab auf die Jünger einredend, eingeklemmt zwischen die gespreizten Sitzfiguren des Moses und Elias, und die Jünger unten in herkulischer Grösse, mit 136 gemeiner Übertreibung in Gebärde und Stellung, das ist das Bild Ludovico Carraccis in der Pinakothek von Bologna (s. die Abbildung).

L. Carracci. Transfiguration (nach Stich)

Aber nun wollte Raffael mit der Verklärungsgruppe nicht schliessen, er verlangte nach einem Kontrast, nach einem starken Widerspiel und er fand es in der Geschichte mit dem besessenen Knaben, die das Matthäusevangelium in unmittelbarem Anschluss an die Transfiguration vorbringt. Es ist die konsequente Entwicklung der Kompositionsprinzipien, die Raffael im Heliodorzimmer angewendet hatte. Oben das Stille, das Feierliche, die himmlische Beseeligung, unten das laute Gedränge, der irdische Jammer.

Dicht zusammengedrängt stehen die Apostel da; wirre Gruppen, schrille Linienbewegungen; das Hauptmotiv einer diagonalen Gasse, die durch die Menge durchgebrochen ist. Die Figuren sind hier im Massstab viel beträchtlicher als die oberen, aber es ist keine Gefahr, dass sie die Verklärungsszene erdrücken könnten: das klare geometrische Schema triumphiert über alles Lärmen der Masse.

Raffael hat das Bild unvollendet hinterlassen: vieles Einzelne ist unerträglich in der Form, und das Ganze widrig in der Farbe, aber die grosse Kontrastökonomie muss sein originaler Gedanke gewesen sein.

In Venedig war zur selben Zeit Tizians Assunta entstanden (1518). Hier ist die Rechnung anders, aber prinzipiell doch verwandt. Die Apostel unten bilden für sich eine geschlossene Mauer, wo der Einzelne nichts bedeutet, eine Art Sockelgeschoss und darüber steht Maria, in einem grossen Kreise, dessen oberer Umriss mit dem halbrundschliessenden Bildrahmen zusammenfällt. Man kann fragen, warum nicht auch Raffael den halbrunden Abschluss gewählt habe? Vielleicht fürchtete er für Christus ein allzustarkes Indiehöhegehen.

Die Schülerhände, die die Transfiguration vollendeten, haben noch an anderen Orten unter dem Namen des Meisters ihr Handwerk geübt. Erst in neuester Zeit hat man Raffael aus dieser Verbindung 137 herauszulösen versucht. Schreiend in der Farbe, unedel in der Auffassung, unwahr in der Gebärde und überall masslos gehören die Produkte der Werkstatt Raffaels – dem grösseren Teile nach – zum Unangenehmsten, was je gemalt wurde.

Man begreift den Grimm Sebastianos, dass ihm durch solche Leute in Rom der Weg versperrt sein sollte. Sebastiano ist zeitlebens ein gehässiger Nebenbuhler Raffaels gewesen, allein sein Talent gab ihm das Recht, auf die ersten Aufgaben Anspruch zu machen. Einige venezianische Befangenheiten ist er nie ganz los geworden. Mitten im monumentalen Rom hält er noch fest an dem Schema des Halbfigurenbildes und zu einer vollkommenen Herrschaft über den Körper mag er nicht gekommen sein. Es fehlt ihm auch das höhere Raumgefühl, er verwirrt sich leicht und wirkt dann eng und unklar. Allein er besitzt eine wahrhaft grosse Auffassung. Als Bildnismaler steht er in der allerersten Linie und in den historischen Bildern erreicht er hie und da einen so gewaltigen Ausdruck, dass man ihn nur mit Michelangelo vergleichen kann. Freilich weiss man nicht, wie viel er von dieser Seite empfangen hat. Seine Geisselung in S. Pietro in Montorio in Rom und die Pietà in Viterbo gehören zu den grossartigsten Schöpfungen der goldenen Zeit. Die Auferweckung des Lazarus, wo er mit Raffaels Transfiguration konkurrieren wollte, würde ich nicht ebenso hoch stellen: Sebastiano ist besser bei wenigen Figuren als bei der Darstellung der Menge und das Halbfigurenbild möchte überhaupt der Boden gewesen sein, wo er sich am sichersten gefühlt hat. In der »Heimsuchung« des Louvre kommt seine ganze vornehme Art zum AusdruckAbbildung hinten, im Abschnitt »Die neue Gesinnung«. und das Raffaelsche Schulbild der Visitation im Prado sieht trotz seiner grossen Figuren daneben gewöhnlich aus.Die sehr ärmliche Komposition kann unmöglich auf Raffaels Entwurf zurückgehen. Vgl. Dollmayr, Raffaels Werkstätte (Jahrbuch der kunsthistor. Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses 1895, S. 344: von Penni). Auch der Geist in den Köpfen ist der Art, dass die hohe Wertschätzung J. Burckhardts (Beiträge S. 110) mir unbegreiflich bleibt. Und auch die Kreuztragung Sebastianos in Madrid (Wiederholung in Dresden) möchte im Ausdruck der Hauptfigur dem leidenden Helden des Spasimo Raffaels (Prado) überlegen sein.Dieses berühmte Bild ist nicht nur in der Ausführung nicht von Raffael, sondern es muss auch die Redaktion überhaupt in fremden Händen gelegen haben. Das Hauptmotiv des über die Schulter umblickenden Christus ist ergreifend und jedenfalls echt wie die Entwicklung des Zuges im grossen, allein daneben finden sich Schwächen der Zeichnung und Gruppierung und wüste Unklarheiten, die eine persönliche Beteiligung des Meisters an der Gesamtkomposition als ausgeschlossen erscheinen lassen.

Wenn einer neben den zwei Grossen in Rom als dritter genannt werden dürfte, so ist er es. Man hat bei Sebastiano den Eindruck, dass 138 eine Persönlichkeit, die zum Höchsten bestimmt gewesen wäre, sich nicht voll ausgewirkt hat; dass er aus seinem Talent nicht das gemacht hat, was er daraus hätte machen können. Es fehlt ihm die heilige Begeisterung für die Arbeit und darin ist er der Gegensatz zu Raffael, als dessen wesentliche Eigenschaft Michelangelo gerade den Fleiss gerühmt hat. Was er damit meinte, ist offenbar jene Fähigkeit, aus jeder neuen Aufgabe neue Kraft zu gewinnen. 139

Weinlese. Stich des Marc Anton (Kopie)

 


 


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