Heinrich Wölfflin
Die klassische Kunst
Heinrich Wölfflin

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Erster Teil

I. Vorgeschichte

Am Anfang der italienischen Malerei steht Giotto. Er ist es, der der Kunst die Zunge gelöst hat. Was er malte, spricht, und seine Erzählungen werden zum Erlebnis. Im weiten Umfange menschlicher Empfindung hat er sich ergangen, biblische Geschichten erzählt er und Legenden der Heiligen, und überall ist es lebendiges, überzeugendes Geschehen. Das Ereignis ist in seinem Kern erfasst und die Szene wird uns vorgeführt mit dem ganzen Eindruck auf die Umgebung, so wie sie sich zugetragen haben musste. Giotto übernimmt die gemütvolle Art, die heiligen Geschichten auszudeuten und mit intimen Einzelzügen auszustatten, wie man es damals von den Predigern und Dichtern aus der Richtung des heiligen Franz zu hören bekam; allein nicht in dem poetischen Erfinden, sondern in dem malerischen Darstellen liegt das Wesentliche seiner Leistung, in dem Sichtbarmachen von Dingen, die bis dahin in Bildern niemand hatte geben können. Er hatte das Auge für das Sprechende in der Erscheinung und die Malerei hat vielleicht nie ihre Ausdrucksgrenze auf einen Anlauf weiter hinausgeschoben als damals. Man darf sich Giotto nicht vorstellen nach Art eines christlichen Romantikers, als ob er die Herzensergiessungen eines Franziskaner Klosterbruders in der Tasche getragen hätte und seine Kunst erblüht wäre unter dem blossen Anhauch jener grossen Liebe, mit der der Heilige von Assisi den Himmel auf die Erde zog und die Welt zum Himmel machte. Er war kein Schwärmer, sondern ein Mann der Wirklichkeit; kein Lyriker, sondern ein Beobachter; ein Künstler, der sich nie zu hinreissendem Ausdruck erhitzt, der aber immer ausdrucksvoll und klar spricht.

An Innigkeit der Empfindung und an leidenschaftlicher Kraft wird er von andern übertroffen. Giovanni Pisano, der Bildhauer, giebt in seinem sprödern Material mehr Seele als Giotto, der Maler. Die Geschichte der Verkündigung lässt sich im Geiste des Jahrhunderts überhaupt nicht zarter geben, als wie sie Giovanni auf dem Relief der Pistojeser Kanzel erzählt hat, und in seinen leidenschaftlichen Szenen spürt man etwas von dem heissen Atem Dantes. Allein gerade das war 8 sein Verderben. Er überstürzt sich im Ausdruck. Das Körperliche wird von dem Empfindungsausdruck förmlich aufgezehrt und die Kunst musste verwildern.

Giotto ist ruhiger, kühler, gleichmässiger. Unendlich populär, weil jeder ihn verstehen konnte. Das Volkstümlich-Derbe liegt ihm näher als das Feine. Immer ernst und auf das Bedeutsame bedacht, sucht er seine Wirkung in der Klarheit, nicht in der schönen Linie. Es ist sehr auffallend, von den melodiösen Linienführungen der Gewänder, von dem rhythmisch-schwungvollen Gehen und Sich-Tragen, was damals Stil war, hat er fast keine Spur. Neben Giovanni Pisano ist er schwer und neben Andrea Pisano, dem Meister der Erzthür am Baptisterium von Florenz, ist er einfach hässlich. Wenn Andrea bei der Heimsuchung die zwei Frauen sich umarmen lässt und noch eine begleitende Dienerin dazu stellt, so ist das wie ein Gesang, Giotto mit seinem Lineament ist sehr hart, aber – ausserordentlich ausdrucksvoll. Die Linie seiner Elisabeth (Padua, Arena), die sich beugt und dabei der Maria ins Auge sieht, vergisst man nicht; bei Andrea Pisano bleibt nur die Erinnerung an ein schönes Wogen und Zusammenklingen von Kurven.

Der Höhepunkt von Giottos Kunst liegt in den Malereien von S. Croce. In der Klärung der Erscheinung ist er hier weit über seine früheren Arbeiten hinausgekommen und in der Komposition geht er auf Wirkungen aus, die ihn – der Intention nach – mit Meistern des 16. Jahrhunderts in eine Linie bringen. Seine unmittelbaren Nachfolger haben ihn hier nicht mehr verstanden. Vereinfachung und Konzentration wird wieder preisgegeben, man will vor allem reich und vielfältig sein, die Bilder sollen mehr Tiefe haben und werden dabei wirr und unsicher in der Erscheinung. Da kommt mit dem Beginn des 15. Jahrhunderts ein neuer Maler, der mit gewaltigem Ruck die Dinge einrenkt und die sichtbare Welt bildlich festlegt: Masaccio.

Man sollte in Florenz nicht versäumen, unmittelbar hintereinander Giotto und Masaccio zu sehen, um des Unterschieds in aller Schärfe bewusst zu werden. Der Abstand ist ungeheuer.

Vasari hat über Masaccio ein Wort, das trivial klingt: Er habe erkannt, sagt er, dass die Malerei nichts anderes sei als die Nachahmung der Dinge, wie sie sind.Vasari, le vite (ed. Milanesi) II. 288. Man kann fragen, warum das nicht ebensogut von Giotto hätte gesagt werden können? Es liegt wohl ein tieferer Sinn in dem Satz. Was uns jetzt so natürlich scheint, dass die Malerei den Eindruck der Wirklichkeit wiedergeben solle, war es nicht immer. Es gab eine Zeit, wo man diese Forderung gar nicht 9 kannte, deswegen nicht, weil es von vornherein unmöglich schien, auf der Fläche die räumliche Wirklichkeit allseitig zu reproduzieren. Das ganze Mittelalter hat so gedacht und sich mit einer Darstellung begnügt, die nur Anweisungen auf die Dinge und ihr Verhältnis im Raum enthielt, aber durchaus nicht mit der Natur sich vergleichen wollte. Es ist falsch, zu glauben, ein mittelalterliches Bild sei jemals mit unseren Begriffen von illusionärer Wirkung angesehen worden. Gewiss war es einer der grössten Fortschritte der Menschheit, als man anfing, diese Beschränkung als ein Vorurteil zu empfinden, und an die Möglichkeit glaubte, trotz ganz verschiedener Mittel in der Wirkung doch etwas zu erreichen, was dem Eindruck der Natur gleichkäme. Einer allein kann solche Umbildungen nicht vollziehen, auch eine Generation nicht. Giotto hat manches gethan, Masaccio aber hat soviel dazugefügt, dass man wohl sagen kann, er zuerst sei durchgebrochen zu der »Nachahmung der Dinge, wie sie sind.«

Er überrascht uns zunächst mit der vollkommenen Bewältigung des Raumproblems. Zum erstenmal ist das Bild eine Bühne, die unter Festhaltung eines einheitlichen Augenpunktes konstruiert ist, ein Raum, in dem Menschen, Bäume, Häuser ihren bestimmten, geometrisch nachrechenbaren Platz haben. Bei Giotto klebt noch alles zusammen, er lässt Kopf über Kopf erscheinen, ohne sich genügende Rechenschaft zu geben, wie die Körper Platz fänden, und die Architektur des Hintergrundes ist ebenfalls nur angeschoben als eine unsicher schwankende Coulisse, die im Grössenverhältnis gar keinen realen Bezug zu den Menschen hat. Masaccio giebt nicht nur mögliche, bewohnbare Häuser, die Räumlichkeit der Bilder ist klar bis in die letzten Landschaftslinien. Er nimmt den Augenpunkt in der Höhe der Köpfe, die Figuren auf der ebenen Bühne haben also alle gleiche Scheitelhöhe; mit welcher Festigkeit wirkt nun so eine Reihe von drei Profilköpfen hintereinander, die etwa durch einen vierten Facekopf abgeschlossen wird! Schritt für Schritt werden wir in die Tiefe des Raumes hineingezogen, alles schichtet sich klar hintereinander und will man die neue Kunst in ganzer Glorie schauen, so gehe man nach S. M. Novella und sehe das Fresko der Dreifaltigkeit, wo mit Hilfe der Architektur und unter Ausnutzung der Überschneidungen vier Zonen nach der Tiefe mit stärkster Raumwirkung entwickelt sind. Giotto erscheint daneben völlig flach. Seine Fresken in S. Croce wirken wie ein Teppich, die gleichmässig blaue Farbe des Himmels bindet an sich schon die verschiedenen Bilder übereinander zu einer flächenartigen Wirkung zusammen. Es scheint, dass die Idee ganz fern lag, einen Ausschnitt der Wirklichkeit festzuhalten: die abgegrenzte Fläche ist möglichst gleichmässig bis oben hin ausgefüllt, 10 als ob sie nur ornamental zu verzieren sei.Es ist ein Fortschritt, den die Kunstanschauung in den letzten Jahren gemacht hat, dass der dekorative Flächenstil des Giotto als etwas Prinzipielles erkannt worden ist, doch muss man vor der Einseitigkeit warnen, darin nun die künstlerische Hauptsache sehen zu wollen. Ringsherum laufen Bänder mit mosaizierten Mustern, und wenn nun eben diese Muster sich auch im Bild wiederholen, so wird die Phantasie zu gar keiner Unterscheidung zwischen Einrahmung und Eingerahmtem veranlasst und der Eindruck der flächenhaften Wanddekoration muss notwendig sich aufdrängen. Masaccio rahmt unmittelbar mit (gemalten) Pilastern ein und sucht die Illusion zu erwecken, dass das Bild hinter diesen sich noch fortsetze.

Giotto hat nur einen ganz schwachen Körperschatten angegeben und den Schlagschatten meist ganz ignoriert. Nicht dass er ihn nicht gesehen hätte, aber es schien ihm überflüssig, darauf einzugehen. Er empfand ihn als eine störende Zufälligkeit im Bild, die die Sache nicht verdeutliche. Bei Masaccio werden Licht und Schatten zu Momenten von primärer Wichtigkeit. Ihm kam es darauf an, das »Sein« zu geben, die Körperlichkeit in der ganzen Kraft der Naturwirkung. Nicht sein eigentümliches Körper- und Massengefühl ist hier das Entscheidende, nicht die Gewalt seiner Schultern oder das Gedrungene seiner Menschenhaufen: wie er einen blossen Kopf behandelt mit ein paar wuchtigen Markierungen der Form, so giebt er schon einen völlig neuen Eindruck. Das Volumen spricht hier mit unerhörter Kraft. Und so bei aller anderen Gestalt. Es ist nur konsequent, dass auch die lichte Farbe der älteren Bilder mit ihrer schattenhaften Erscheinung durch ein »körperhafteres« Kolorit ersetzt wird.

Die ganze Bilderscheinung ist gefestigt und hier hat dann auch die Beobachtung ihren Platz, die Vasari gemacht hat, dass bei Masaccio die Menschen zum erstenmal fest auf den Füssen stünden.

Dazu kommt noch etwas anderes, das geschärfte Gefühl für das Persönliche, das Individuell-Besondere. Auch Giotto differenziert seine Figuren, allein es sind nur allgemeine Unterscheidungen, bei Masaccio stehen wir ganz klar bezeichneten individuellen Charakteren gegenüber. Man spricht von dem neuen Zeitalter als dem Jahrhundert des »Realismus«. Das Wort ist freilich durch so viele Hände schon gegangen, dass es keinen reinen Sinn mehr hat. Es klebt ihm etwas Proletariermässiges an, ein Schein von verbitterter Opposition, wo die brutale Hässlichkeit sich aufzwängen will und ihr Recht fordert, weil sie eben auch da ist in der Welt. Der quattrocentistische Realismus aber ist seinem Wesen nach freudig. Es ist die gesteigerte Wertschätzung, die die neuen 11 Elemente bringt. Und nun geht das Interesse nicht nur auf den Charakterkopf, sondern es wird auch die ganze Fülle individueller Haltung und Bewegung heraufgehoben in das Reich des Darstellungswürdigen, man geht ein auf den Willen und die Launen jedes besonderen Stoffes und freut sich an der eigensinnigen Linie. Die alten Schönheitsformeln schienen der Natur Gewalt anzuthun, die geschwungene Haltung, das reiche Undulieren der Draperie werden als blosse schöne Phrasen empfunden, deren man müde geworden ist. Ein mächtiges Wirklichkeitsbedürfnis will sich befriedigen, und wenn irgend etwas den reinen Glauben an den Wert der neu erfassten Sichtbarkeit beweist, so ist es der Umstand, dass selbst die Himmlischen erst glaubhaft erscheinen im irdischen Gewand, mit individuellen Zügen und ohne eine Spur von Idealität in der Präsentation.

Es ist nicht ein Maler, sondern ein Bildhauer, in dem zunächst der neue Geist am allseitigsten sich offenbaren sollte. Massaccio ist ganz jung gestorben, und hat sich also nur kurz aussprechen können, Donatello aber lagert sich breit über die ganze erste Hälfte des 15. Jahrhunderts, seine Arbeiten bilden lange Reihen und er ist wohl überhaupt die bedeutendste Persönlichkeit des Quattrocento. Er nimmt die besonderen Aufgaben der Zeit mit einer Energie auf, dass ihm keiner gleichkommt, und geht doch niemals unter in der Einseitigkeit eines zügellosen Realismus. Er ist ein Menschenbildner, der der charakteristischen Form nachdrängt bis in alle Tiefen der Hässlichkeit und der dann wieder ganz rein und ruhig das Bild einer stillen grossen zauberischen Schönheit wiederspiegelt. Es giebt Gestalten von ihm, in denen er den Inhalt einer absonderlichen Individualität bis auf den Bodensatz ausschöpft, und daneben entstehen Figuren wie der bronzene David, wo das Schönheitsgefühl der hohen Renaissance schon vollkommen klar anklingt. Bei alledem ist er ein Erzähler von unübertrefflicher Lebendigkeit und Kraft im dramatischen Effekt. Eine Tafel wie das Salomerelief in Siena darf füglich als die beste Erzählung des Jahrhunderts bezeichnet werden. Später nimmt er in den Antoniuswundern zu Padua geradezu Probleme cinquecentistischer Art auf, indem er affektvoll erregte Massen ins Bild einführt, die neben den ruhigen Assistenzreihen zeitgenössischer Bilder einen wahrhaft denkwürdigen Anachronismus vorstellen.

Das Gegenstück zu Donatello in der zweiten Hälfte des Quattrocento ist Verrocchio (1435–1488, ihm nicht vergleichbar an persönlicher Grösse, aber der klare Repräsentant der neuen Ideale einer neuen Generation.

Man spürt seit der Mitte des Jahrhunderts ein wachsendes Verlangen nach dem Feinen, Zartgliederigen, Eleganten. Die Körper 12 verlieren das Derbe, sie sind von schlankerer Art, dünn in den Gelenken. Der grosse einfache Strich löst sich auf in eine kleinere, zierlichere Bewegung. Man gewinnt Freude an der präzisen Modellierung. Die feinsten Hebungen und Senkungen werden nachempfunden. Man sucht das Bewegte, die Spannung statt des Ruhigen und Geschlossenen, die Finger spreizen sich mit einer bewussten Eleganz, es giebt viel Drehung und Neigung der Köpfe, viel Lächeln und gefühlvolles Aufwärtsblicken. Ein preziöses Wesen greift Platz, neben dem die natürliche Empfindung sich nicht immer hat halten können.

Donatello. David

Der Gegensatz drückt sich schon deutlich aus, wenn man den Bronze-David Verrocchios mit der gleichen Figur Donatellos zusammenhält. Aus dem derben Jungen ist ein feingliederiger Knabe geworden, noch ganz mager, dass viele Formen sichtbar seien, mit spitzem Ellenbogen, der recht absichtlich bei dem eingestemmten Arm in die Hauptsilhuette aufgenommen ist.Die Abbildung giebt leider nicht ganz die reine Frontansicht. Vgl. Zeitschrift für bildende Kunst 1894 und 1895: »Wie man Skulpturen aufnehmen soll« (Wölfflin). In den Gliedern ist überall Spannung, das abgestreckte Bein, das durchgedrückte Knie, der gestraffte Arm mit dem Schwert – – wie sehr kontrastiert das mit dem ruhigen Zug in Donatellos Figur. Das ganze Motiv ist auf einen Bewegungseindruck hin erfunden. Und Bewegung verlangt man nun auch vom Ausdruck des Kopfes, es gleitet ein Lächeln über die Züge des jugendlichen Siegers. Der aufs Zierliche gerichtete Geschmack befriedigt sich in den Detailformen der Rüstung, die delikat die feinen Linien des Körpers begleitet und unterbricht, und betrachtet man die Durchbildung im Nackten, so erscheint der summarisch vorgehende Donatello beinahe leer gegenüber dem Formenreichtum Verrocchios.

Verrocchio. David

Dasselbe Schauspiel bietet eine Vergleichung der zwei Reiterfiguren, des Gattamelata in Padua und des Colleoni in Venedig. Verrocchio 13 zieht alle Schrauben an: im Sitzen des Reiters und in der Bewegung des Pferdes. Sein Colleoni reitet mit ganz gesteiften Beinen und das Pferd drängt in einer Weise vorwärts, dass man den Eindruck des Ziehens bekommt. Wie der Kommandostab gefasst ist, wie der Kopf abgedreht ist, liegt in der gleichen Geschmacksrichtung. Donatello erscheint daneben unendlich einfach und anspruchslos. Und wieder giebt er seine grossen Flächen ungebrochen und kahl, wo Verrocchio abteilt und ins Minutiöse detailliert. Das Pferdegeschirr soll die Flächen verkleinern. An sich ist das Rüstzeug ebenso wie die Behandlung der Mähne ein sehr lehrreiches Stück spätquattrocentistischer Dekorationskunst. In der Durcharbeitung der Muskelteile aber ist der Künstler soweit gegangen, dass bald darauf das Urteil entstand, Verrocchio habe ein Pferd gemacht, dem die Haut abgezogen sei.Pomponius Gauricus, de sculptura (ed. Brockhaus) p. 220. Die Gefahr, ins Kleinliche sich zu verlieren, lag offenbar nahe.

Verrocchio hat seinen Hauptruhm als Arbeiter in Bronze. Es wurden damals die eigentlichen Vorzüge des Materials entwickelt, wo man darauf ausging, die Masse aufzulösen, die Figur auseinanderzuziehen und fein zu silhuettieren. Auch nach der malerischen Seite besass das Erz Schönheiten, die man erkannte und ausbeutete. Der wuchernde Faltenreichtum eines Gewandes wie bei der Thomasgruppe an Orsanmichele rechnet neben dem Linieneindruck auch schon auf die Wirkung blitzender Glanzlichter, dunkler Schatten und flimmernder Reflexe.

Antonio Rossellino. Madonnenrelief

Die Marmorarbeiter fanden bei dem neuen Geschmack erst recht ihre Rechnung. Das Auge war für die ganz leisen Nuancierungen empfindlich geworden. Man behandelte den Stein mit einer unerhörten Delikatesse. Desiderio meisselt seine köstlichen Fruchtkränze und stellt in den Büsten junger Florentinerinnen das lachende Leben vor uns hin. Antonio Rossellino und der etwas breitere Benedetto da Majano wetteifern im Reichtum des Ausdrucks mit der Malerei. Das weiche Fleisch der Kinder weiss jetzt der Meissel zu geben, so gut wie die feinen Schleierchen des Kopfschmuckes. Und sieht man genauer zu, so 14 hat gewiss irgendwo der Luftzug das Ende eines Tuches aufgehoben, dass ein lustiges Faltengekräusel entsteht. Mit architektonischen und landschaftlichen Perspektiven wird der Reliefgrund weit hinein vertieft, ja man kann sagen, dass es bei aller Flächenbehandlung auf den Eindruck eines lebendigen Zitterns und Flirrens abgesehen ist.

Luca della Robbia
Leuchtertragender Engel

Die typischen alten Aufgaben der Plastik werden wo immer möglich ins Bewegte umstilisiert. Der knieende Leuchterengel, wie ihn Luca della Robbia schlicht und schön gebildet hat, genügt nicht mehr: auch er wird zu eilendem Heranstürmen aufgerufen und so entsteht eine Figur wie Benedettos kandelabertragender Engel in Siena. Mit lächelndem Gesicht und munterer Wendung des Kopfes macht das Kammerkätzchen seinen eiligen Knix, indes der vielfältelige Rock flatternd um die feinen Knöchel schlägt. Die höhere Steigerung solcher Lauffiguren sind dann die fliegenden Engel, die mit gewaltigem Linienaufruhr in den dünnen Gewändern die Luft zu durchschneiden scheinen, indem sie, reliefmässig gearbeitet und einer Wand angeheftet, den Eindruck von freien Figuren uns vortäuschen. (Antonio Rossellino, Grabmal des Kardinals von Portugal in San Miniato.)

Benedetto da Majano
Leuchtertragender Engel

Ganz parallel mit dieser Bildhauergruppe des feinen Stils gehen die Maler in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Für den Geist des Zeitalters sind sie natürlich noch weit aufschlussreicher. Sie sind es, 15 die unsere Vorstellung von dem quattrocentistischen Florenz bedingen und wenn man von Frührenaissance spricht, denkt man schlechterdings zunächst an Botticelli und Filippino und an die festlichen Bilder Ghirlandajos.

Die unmittelbare Nachfolge des Masaccio ist bezeichnet durch Fra Filippo Lippi, der sich an den Fresken der Brancacci-Kapelle gebildet und um die Mitte des Jahrhunderts in den Chormalereien des Doms von Prato ein sehr respektables Werk geliefert hat. Es fehlt ihm nicht an Grösse, und als »Maler« im besonderen Sinne steht er ganz eigenartig da. Seine Tafelbilder behandeln Dinge wie das dämmerige Waldinnere, die erst mit Correggio wiederkommen, und in seinen Fresken ist er an koloristischem Reiz den Florentinern des ganzen Jahrhunderts überlegen. Ja, wer die Apsis des Domes von Spoleto gesehen hat, wo er in der Krönung der Maria im Himmel ein grosses, farbiges Wunderspiel geben wollte, wird gestehen, dass etwas gleiches überhaupt nicht wieder vorkommt. Bei alledem sind seine Bilder schlecht gebaut, sie leiden an einer Raumenge und Raumunklarheit und wieder an einer Verzettelung, dass man beklagen muss, wie wenig er die Errungenschaften Masaccios zu benutzen im stande war: es galt für die kommende Generation noch vieles ins Reine zu bringen. Und sie hat das gethan. Tritt man nach einem Besuch in Prato bei Ghirlandajo ein und besieht sich die Fresken von S. M. Novella in Florenz, so ist man erstaunt, wie klar und ruhig er 16 wirkt, wie der Raum von selbst sich erklärt und in wie sicherer Erscheinung, durchsichtig und fassbar, das Ganze sich darstellt. Und ähnliche Vorzüge machen sich bei solchem Vergleich auch bei einem Filippino oder Botticelli geltend, die ein viel unruhigeres Blut in den Adern haben als Ghirlandajo.

Botticelli. Die tanzenden Grazien

Botticelli (1446 – 1510) ist ein Schüler der Fra Filippo gewesen, doch merkt man das nur in den allerersten Arbeiten. Es waren zwei ganz verschiedene Temperamente: der Frate mit seinem breiten Lachen und dem gleichmässig gutmütigen Behagen an den Dingen der Welt und Botticelli drängend, heiss, innerlich immer erregt, ein Künstler, dem die malerische Oberfläche wenig sagt, der in heftigen Linien sich ausspricht und der seinen Köpfen jederzeit eine Fülle von Charakter und Ausdruck giebt. Man kennt seine Madonna mit dem schmalen Gesicht, der Mund ist stumm, die Augen schwer und trübe; das ist ein ganz anderer Blick als das vergnügte Zwinkern Filippos. Seine Heiligen sind nicht gesunde Leute, denen es gut geht, er giebt bei Hieronymus das innerlich verzehrende Feuer und ist ergreifend in dem Ausdruck von Schwärmerei und Askese bei dem jugendlichen Johannes. Es ist ihm Ernst bei den heiligen Geschichten und der Ernst steigert sich mit dem Alter, wo er allen Reiz der äusseren Erscheinung preisgiebt. Seine Schönheit hat etwas Abgehärmtes und auch wenn er lächelt, erscheint es nur wie ein flüchtiges Aufleuchten. Wie wenig Freudigkeit ist in dem Tanz der Grazien auf dem Frühlingsbild, und was für Körper sind das! Die herbe Magerkeit des unentwickelten Alters ist zum Ideal des Zeitalters geworden, in der Bewegung sucht man das Gespannte und Eckige, nicht die gesättigte Kurve, und in aller Form das Feine und Spitze, nicht das Völlige und Runde. Man ist zierlich in der Darstellung der Gräser und Blümchen am Boden, in dünnen Geweben und künstlichem Schmuck und geht hier bis ins Phantastische. Indessen ist das beschauliche Verweilen beim Einzelnen durchaus nicht Botticellis Art. Auch im Nackten verleidet ihm das emsige Detaillieren bald und er sucht eine vereinfachte Darstellung mit grösserem Linienzug zu gewinnen. Dass er ein eminenter Zeichner war, anerkennt sogar noch Vasari, trotz michelangelesker Erziehung. Seine Linie ist immer anregend und temperamentvoll. Sie hat etwas Hastiges. In der Darstellung der eiligen Bewegung ist er unvergleichlich wirksam. Es gelingt ihm sogar Fluss in grosse Massen zu bringen und wo er dann das Bild einheitlich um eine Mitte ordnet, entsteht etwas Spezifisch-Neues von grosser Folgewichtigkeit. In diesem Sinne sind seine Kompositionen zur Anbetung der Könige anzuführen.

Filippino Lippi (ca. 1459–1504) wird mit Botticelli in einem 17 Atemzuge genannt. Die gleiche Atmosphäre verbindet zwei verschiedene Individualitäten zu ähnlicher Erscheinung. Als Erbteil des Vaters besitzt Filippino zunächst eine Dosis von koloristischem Talent, das Botticelli nicht hatte. Die Oberfläche, die Haut der Dinge reizt ihn. Er behandelt das Inkarnat delikater als irgend ein anderer. Er giebt dem Haar Weichheit und Glanz: was für Botticelli nur ein Linienspiel war, ihm ist es ein malerisches Problem. Er ist sehr gewählt in der Farbe, namentlich in den blauen und violetten Tönen. Seine Linie ist milder, welliger; man kann sagen, er habe in der Empfindung etwas Weibliches. Es giebt frühe Bilder Filippinos von entzückender Zartheit der Empfindung und Durchführung. Manchmal erscheint er fast zu weich. Der Johannes auf dem Bilde der Maria mit vier Heiligen von 1486 (in den Uffizien) ist nicht der herbe Wüstenprediger, sondern ein gefühlvoller Schwärmer. Der Dominikaner auf demselben Bilde fasst sein Buch nicht mehr mit geschlossener Hand, sondern balanziert es nur noch auf dem Ballen mit einem Stück Tuch dazwischen, und gleich höchst sensiblen Fühlhörnern regen sich die beweglichen feinen Finger. Die spätere Entwicklung entspricht nicht diesen Anfängen. Das innere Vibrieren wird zu einer krausen äusseren Bewegung, die Bilder werden unruhig und wirr, und 18 der Maler, der ernsthaft und gehalten die Kapelle Masaccios bei den Karmelitern zu vollenden wusste, ist in den späteren Fresken in S. M. Novella nur schwer mehr wiederzuerkennen. Er ist unendlich reich in äusserem Zierrat und was bei Botticelli nur angedeutet ist, das Phantastische und Übermässige, ist bei ihm ein stark ausgeprägter Zug. Er stürzt sich aufs Bewegte und wirkt manchmal durch die Fülle der Bewegung prachtvoll – die Himmelfahrt der Maria in S. M. sopra Minerva (in Rom) mit den bacchantisch schwärmenden Engeln ist eine rechte Jubelszene –, dann gefällt er sich wieder in der blossen Unruhe und wird sogar roh und trivial. Wenn er das Martyrium des Philippus malt, so muss es der Moment sein, wo das Kreuz an Seilen emporgezogen, in der Luft herumbaumelt. Von der fratzenhaften Kostümierung auf dem Bilde nicht zu sprechen. Man hat den Eindruck, es sei ein sehr grosses Talent aus Mangel an innerer Disziplin hier verlottert und es ist verständlich, dass Leute von viel gröberer Organisation wie Ghirlandajo, ihm den Rang abgelaufen haben. In S. M. Novella, wo beide Wand an Wand zusammenstehen, hat man die zappeligen Geschichten Filippinos bald satt, während Ghirlandajo, gediegen und bieder, sein Publikum mit einem wahren dauerhaften Behagen erfüllt.

An übermässiger Empfindsamkeit hat Ghirlandajo (1449–1494) nie gelitten, er hat ein massives Gemüt, aber sein offener munterer Sinn, seine Freude am Festlich-Lebendigen gewinnt ihm gleich die Sympathie. Er ist sehr unterhaltend und man erfährt bei ihm weitaus am meisten vom Leben in Florenz. Das Inhaltliche der Geschichten nimmt er leicht. Im Chor von S. M. Novella hätte er das Leben der Maria und des Täufers zu erzählen gehabt, er hat es auch erzählt, aber wer die Geschichte nicht kennt, wird sie bei ihm kaum begreifen. Was hat Giotto gemacht aus dem Tempelgang der Maria! Wie eindringlich führt er uns die Szene vor: Die kleine Maria, die aus eigenem Willen die Treppen des Tempels hinaufschreitet, der Priester, der sich ihr entgegenbeugt, die Eltern, die mit Blick und Händen das Kind begleiten. Bei Ghirlandajo ein geputztes Schulmädchen, kokett seitwärts blickend trotz der Eile des Laufes; der Priester kaum sichtbar, weil er von einem Pfeiler überschnitten wird und die Eltern in gleichgültiger Pose das Schauspiel hinnehmend. Bei der Vermählung kommt Maria in unwürdiger Hast zum Ringwechsel und die Heimsuchung ist nichts anderes als eine hübsche, aber ganz profane Begrüssung von zwei Damen auf der Promenade. Dass im Bilde der Verkündigung des Engels an Zacharias der eigentliche Vorgang völlig überwuchert ist von den vielen Porträtfiguren im Vordergrund, die teilnahmlos assistieren, ist für Ghirlandajo nicht anstössig.

Er ist ein Schilderer, kein Erzähler. Das Objekt an sich macht ihm 19 Freude. Er hat vortrefflich lebendige Köpfe, aber wenn Vasari den Ausdruck von Gemütsbewegungen bei ihm lobt, so ist das ein Urteil, das nicht zutrifft. Er ist besser im Ruhigen als im Bewegten. Szenen wie den Kindermord möchte man von Botticelli lieber sehen als von ihm. Für gewöhnlich hält er sich an die einfach ruhige Präsentation und zahlt dem Zeitgeschmack für Bewegung seinen Tribut nur etwa in einer eilenden Magd oder dgl. Figuren. Seine Beobachtung ist nirgends intim. Während damals in Florenz eine Reihe von Leuten höchst eindringlich die Probleme der Modellierung und der Anatomie, der Farbentechnik und der Luftperspektive behandelten, begnügt er sich mit den allgemeinen Errungenschaften. Er ist kein Experimentierer, kein Entdecker in malerischen Dingen, aber ein Künstler, der die Durchschnittsbildung seiner Zeit besitzt und damit auf neue monumentale Wirkungen losgeht. Er führt seine Kunst aus dem kleinen Stil heraus zu grösseren Massenwirkungen. Er ist reich und doch klar, festlich und manchmal sogar gross. Der Zug der fünf Frauen bei der Geburt Mariä hat seines gleichen nicht mehr im 15. Jahrhundert. Und was er an Kompositionsmotiven versucht, die Zentralisierung der Geschichten und die Behandlung der Eckfiguren ist von einer Art, dass die Meister des Cinquecento direkt hier anknüpfen konnten.

Man hüte sich indessen, den Wert der Leistung zu überschätzen. Ghirlandajos Malereien in S. M. Novella sind vollendet worden um 1490, in den unmittelbar folgenden Jahren entstand Lionardos Abendmahl, und würde dieses in Florenz zur Vergleichung offenstehen, so würde der »monumentale« Ghirlandajo auf einmal gar ärmlich und beschränkt aussehen. Das Abendmahl ist ein Bild, unendlich viel grossartiger in der Form, und Form und Inhalt gehen hier vollkommen ineinander auf.

Was fälschlich von Ghirlandajo behauptet wird, er fasse die Leistungen des florentinischen Quattrocento in seiner Kunst zusammen, gilt von Lionardo (geb. 1452) in höchstem Grad. Er ist fein in der Einzelbeobachtung und grossartig in der Auffassung des Ganzen; er ist ein eminenter Zeichner und ebenso grosser Maler; es giebt keinen Künstler, der nicht seine besonderen Probleme von ihm behandelt und weiter entwickelt gefunden hätte, und er übertrifft sie alle in der Tiefe und Fülle der Persönlichkeit.

Da Lionardo mit den Cinquecentisten zusammen besprochen zu werden pflegt, so vergisst man leicht, dass er nur wenig jünger als Ghirlandajo und sogar älter als Filippino gewesen ist. Er arbeitete in der Werkstätte des Verrocchio und hatte dort zu Mitschülern den Perugino und Lorenzo di Credi. Der letztere ist ein Stern, der nicht selbst leuchtet, sondern sein Licht von einer anderen Sonne erhält, seine Bilder 20 sehen aus wie fleissige Schulausführungen einer gestellten Aufgabe; Perugino dagegen brachte Eigenes und bedeutet im Zusammenhang der florentinischen Kunst sehr viel, wovon später zu reden sein wird. Die Schüler haben Verrocchios Unterricht berühmt gemacht. Es war offenbar die vielseitigste Werkstätte in Florenz. Die Verbindung von Malerei und Bildhauerei war um so förderlicher, als gerade die Bildhauer geneigt waren, der Natur methodisch zu Leibe zu gehen und die Gefahr hier ferner lag, in die Sackgasse eines willkürlich-persönlichen Stils zu geraten. Zwischen Lionardo und Verrocchio scheint aber auch eine innerliche Verwandtschaft bestanden zu haben. Wir erfahren bei Vasari, wie nahe sich die Interessen berührten und wie viele Fäden Lionardo aufnahm, die Verrocchio angesponnen hatte. Und trotzdem ist es eine Überraschung, Jugendbilder des Schülers zu sehen. Wenn schon der Engel auf Verrocchios Taufbild (Florenz, Akademie) uns berührt wie die Stimme aus einer andern Welt, wie ganz unvergleichlich erscheint ein Bild wie die Madonna in der Felsgrotte im Zusammenhang florentinisch-quattrocentistischer Madonnen!

Lionardo. Madonna in der Felsgrotte. Paris, Louvre

Maria knieend, sich vorbeugend, nicht im Profil, sondern von vorn gesehen. Sie legt die rechte Hand um den kleinen Johannes, der neben ihr mit angelegentlichem Beten gegen Christus sich vorschiebt, indessen ihre Linke flach schwebend, in eigentümlicher Verkürzung, die Bewegung begleitet. Das Christuskind, auf dem Boden sitzend, antwortet mit segnender Gebärde. Ein grosser schöner Engel hält es, auch er knieend. Es ist die einzige Figur im Bild, die auswärts blickt, gegen den Beschauer hin, und die weisende Rechte führt diese Beziehung deutlicher fort: eine reine Profilhand, einfach und klar wie ein Wegweiser. Das ganze in seltsam geheimnisvoller Felswildnis, mit vereinzelten Ausblicken ins Offene und Lichte.

21 Alles ist hier bedeutend und neu. Das Motiv an sich wie die formale Behandlung. Die Freiheit der Bewegung im einzelnen und die Gesetzlichkeit der Gruppenfügung im ganzen. Die unendlich feine Belebung der Form und die neue malerische Lichtrechnung, wo es offenbar darauf abgesehen war, den Figuren durch den dunkeln Grund eine starke plastische Wirkung zu geben und zugleich die Phantasie in ungeahnter Weise in die Tiefe zu ziehen.Das Louvrebild der Madonna in der Felsgrotte ist dem Londoner Exemplar so weit überlegen, dass es unbegreiflich erscheint, wie man an seiner Originalität hat zweifeln können. Gewiss hat der zeigende Finger des Engels für uns etwas Unangenehmes und die Weglassung der Hand im Londoner Bild ist im Sinne des späteren Schönheitsgefühls sehr begreiflich, indessen würde Lionardo, wenn er die neue Redaktion besorgt hätte, die dadurch entstehende Lücke jedenfalls zu füllen gewusst haben: jetzt ist dort trotz der vorgeschobenen Schulter des Engels ein Loch im Bild. Zeichnung und Modellierung sind cinquecentistisch verstärkt und vereinfacht worden, wobei viel Feinheit verloren gegangen ist, so seelenvoll der neue Ausdruck des Engels wirken mag. Der durchschlagende Eindruck für den Fernanblick ist die körperhafte Wirklichkeit und die klare Absicht, mit der Dreieckgruppierung gesetzmässig zu wirken. Das Bild hat einen tektonischen Rückgrat, was etwas ganz anderes bedeuten will als die blosse Symmetrie, wie sie die früheren auch haben. Hier ist mehr Freiheit und zugleich mehr Gesetzlichkeit und das Einzelne ist schon wesentlich aufgefasst in seinem Zusammenhang mit dem Ganzen. Eben das ist Cinquecento-Art. Lionardo zeigt früh die Spuren davon. Es giebt im Vatican einen knieenden Hieronymus von ihm, mit dem Löwen. Die Figur ist als Bewegungsmotiv merkwürdig und von jeher gewürdigt worden, man darf aber auch fragen, wer ausser Lionardo den Löwen in der Linie so mit dem Heiligen zusammen empfunden haben würde. Ich wüsste keinen.

Das einflussreichste unter Lionardos Frühbildern ist die Untermalung zu einer Anbetung der Könige gewesen (Uffizien). Das Werk ist um 1480 entstanden und berührt noch altertümlich durch die Vielheit der Gegenstände. Man merkt da noch den Quattrocentisten, den das Mannigfaltige ergötzt, aber eine neue Empfindung spricht doch aus der Art, wie die Hauptsache hervorgehoben ist. Auch Botticelli und Ghirlandajo haben die Anbetung der Könige so gemalt, dass Maria zentral in einem Kreise von Menschen sitzt; regelmässig aber kommt sie dabei zu kurz. Lionardo ist der erste, der das Hauptmotiv dominierend herauszuarbeiten versteht. Wie die äusseren Figuren als starke, schliessende Coulissen an den Rand gesetzt sind, ist wieder ein folgewichtiges Motiv und der Gegensatz der gedrängten Menge und der ganz frei und leicht sitzenden Madonna ist von der allerwirksamsten Art, die man nur Lionardo zutrauen kann. Hätte man aber auch nichts als die Linien der Maria allein, so müsste man 22 auf ihn als Urheber raten, so unerhört fein ist das Sitzen und die Zusammenordnung mit dem Knaben. Die andern haben die Maria breit und grätschig auf dem Thron Platz nehmen lassen, er giebt das feinere weibliche Sitzen mit zusammengeschobenen Knieen. Das haben dann später alle von ihm aufgenommen und das höchst reizvolle Motiv der Drehung der Figur mit dem seitwärts sich wendenden Knaben ist von Raffael in der Madonna di Foligno sogar wörtlich wiederholt worden. 23

Raffaels Madonna di Foligno
Nach dem Stich des Marc Anton

 


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