Heinrich Wölfflin
Die klassische Kunst
Heinrich Wölfflin

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II. Lionardo

1452–1519

Unter allen Künstlern der Renaissance ist Lionardo derjenige gewesen, der am meisten Freude an der Welt gehabt hat. Alle Erscheinungen fesseln ihn. Das körperliche Leben und die menschlichen Affekte. Die Formen der Pflanzen und Tiere und der Anblick des krystallhellen Bächleins mit den Kieseln am Grunde. Die Einseitigkeit der blossen Figurenmaler ist ihm etwas Unbegreifliches. »Siehst du nicht, wie viel verschiedenerlei Getier es giebt, und so Bäume, Kräuter, Blumen, welche Mannigfaltigkeit gebirgiger und ebener Gegenden, Quellen, Flüsse, Städte, wie verschiedene Trachten, Schmuck und Künste?«Lionardo, das Buch von der Malerei (ed. Ludwig): italienisch-deutsche Ausgabe No. 73, deutsche Ausgabe No. 80.

Er ist der geborene vornehme Maler, sensibel für das Delikate. Er hat Gefühl für feine Hände, für den Reiz durchsichtiger Gewebe, für zarte Haut. Er liebte im besonderen das schöne weiche, wellige Haar. Auf Verrocchios Taufbild hat er ein paar Grasbüschel gemalt, man sieht sofort, dass er sie gemacht hat: Keiner besitzt ein gleiches Gefühl für die natürliche Zierlichkeit der Gewächse.

Das Starke und das Weiche ist ihm gleichmässig vertraut. Wenn er eine Schlacht malt, so überbietet er alle im Ausdruck der entfesselten Leidenschaft und ungeheurer Bewegung und daneben weiss er die zartesten Empfindungen zu beschleichen und den eben verschwebenden Ausdruck festzuhalten. In einzelne Charakterköpfe scheint er sich verbissen zu haben mit dem Ungestüm eines geschworenen Wirklichkeitsmalers, und dann plötzlich wirft er das wieder ganz weg und überlässt sich den Visionen idealer Bildungen von einer fast überirdischen Schönheit und träumt jenes leise, süsse Lächeln, das wie der Wiederschein eines innern Glanzes aussieht.

Er empfindet den malerischen Reiz der Oberfläche der Dinge und denkt dabei als Physiker und Anatom. Eigenschaften, die sich auszuschliessen scheinen, sind bei ihm vereinigt: das unermüdliche Beobachten und Sammeln des Forschers und die subtilste künstlerische 24 Empfindsamkeit. Er begnügt sich nie, den Dingen nach ihrer äusseren Erscheinung als Maler gerecht zu werden: mit dem gleichen leidenschaftlichen Interesse wirft er sich auf die Ergründung des inneren Baues und der Lebensbedingungen aller Wesen. Er ist der erste Künstler, der systematisch die Proportionen des menschlichen und tierischen Körpers untersucht und von den mechanischen Verhältnissen beim Gehen, Heben, Steigen, Tragen sich Rechenschaft gegeben hat, und er ist derselbe, der zugleich die umfassendsten physiognomischen Beobachtungen angestellt und über den Ausdruck der Gemütsbewegungen zusammenhängend nachgedacht hat

Der Maler ist für ihn das klare Weltauge, das alle sichtbaren Dinge beherrscht. Auf einmal erschliesst sich die Welt in ihrer ganzen Fülle und Unerschöpflichkeit und Lionardo scheint sich mit allem Lebendigen durch eine grosse Liebe verbunden gefühlt zu haben. Einen bezeichnenden Zug der Art teilt Vasari mit, dass man ihn gelegentlich auf dem Markt Vögel habe kaufen sehen, um sie der Freiheit zurückzugeben. Die Thatsache scheint den Florentinern Eindruck gemacht zu haben.

In einer so universellen Kunst giebt es keine oberen und unteren Probleme, die letzten Feinheiten der Lichtführung sind nicht interessanter als die elementarste Aufgabe, das Dreidimensionale überhaupt auf der Fläche körperlich erscheinen zu lassen, und der Künstler, der das menschliche Antlitz zu einem Spiegel der Seele gemacht hat, wie kein anderer, kann wieder sagen: »die Rundung ist die Hauptsache und die Seele in der Malerei.«

Lionardo hatte so viel neue Sensationen von den Dingen, dass er nach neuen technischen Ausdrucksmitteln suchen musste. Er wurde ein Experimentierer, der sich kaum je genug thun konnte. Die Mona Lisa soll er als unvollendet aus der Hand gegeben haben. Sie ist technisch ein Geheimnis. Wo aber die Arbeit ganz durchsichtig ist, wie in den einfachen Silberstiftzeichnungen, da wirkt er nicht weniger überraschend. Man kann sagen, er sei der erste, der die Linie gefühlvoll behandelte. Wie er den Strich an- und abschwellen lässt, im Kontur, das findet sich bei keinem sonst. Die Modellierung bewerkstelligt er mit lauter gleichlaufenden geraden Strichen; es ist, als ob er die Flächen nur zu streicheln brauchte, um die Rundung der Form herauszubringen. Nie ist mit einfacheren Mitteln Grösseres erreicht worden und der Parallelismus der Linien, wie ihn ja auch der ältere italienische Kupferstich hat, giebt den Blättern eine unschätzbare Geschlossenheit der Wirkung.Buch von der Malerei 51 (70): dass die Lichter und Schatten ineinander übergehen sollen »wie ein Rauch« (übrigens ein alter Ausdruck). Ebenda der Hinweis: die Linien zu beobachten, »wo sie breit und wo sie fein sind.«

In der Art des Lionardo. Mädchen mit Kranz im Haar. Silberstiftzeichnung (Uffizien)
Die Linien der Augenbrauen und der Lidfalten sind von späterer roher Hand eingetragen. Ebenso die Vertikallagen auf der Stirne und die sonstigen groben Striche

Ausgeführte Werke haben wir nur wenige von Lionardo. Er war 26 unermüdlich in der Beobachtung und unersättlich im Lernen, er stellt sich immer neue Aufgaben, allein es scheint, als habe er sie nur für sich lösen wollen. Das Abschliessen und Fertig-Hinstellen war nicht seine Sache und bei den ungeheuren Ansprüchen, die er machte, mag ihm überhaupt jeder Abschluss nur als ein provisorischer vorgekommen sein.

Lionardo. Abendmahl
Nach dem Stich von Stang

1. Das Abendmahl

Neben Raffaels sixtinischer Madonna ist das Abendmahl Lionardos das populärste Bild der ganzen italienischen Kunst. Es ist so einfach und ausdrucksvoll, dass es sich jedem einprägt. Christus in der Mitte eines langen Tisches, die Jünger gleichmässig zu seinen Seiten; er hat es gesagt: einer ist unter euch, der mich verrät! und diese unerwartete Rede bringt die Versammlung in Aufruhr. Er allein bleibt still, und hält das Auge gesenkt und in dem Schweigen liegt die wiederholte Erklärung: Ja, es ist nicht anders, einer ist unter euch, der mich verraten wird. Man meint, dass die Geschichte überhaupt nie anders habe erzählt werden können und dennoch, es ist alles neu in dem Bilde Lionardos und gerade das Einfache ist erst der Gewinn der höchsten Kunst.

Wenn wir uns nach der quattrocentistischen Vorstufe umsehen, so finden wir sie gut repräsentiert in dem Abendmahle Ghirlandajos in Ognissanti, das das Datum 1480 trägt und also etwa 15 Jahre vorher gemacht wurde (s. Abbildung). Das Bild, eine der solidesten Arbeiten des Meisters, enthält die alten typischen Elemente der Komposition, das Schema, wie es Lionardo überkommen hat: der Tisch mit umgebrochenen Enden; Judas isoliert vorn sitzend: die Reihe der zwölf andern hinten, wobei Johannes zur Seite des Herrn eingeschlafen ist, die Arme auf dem Tisch. Christus hat die Rechte erhoben: er spricht. Die Ankündigung des Verrates muss aber schon geschehen sein, denn man sieht die Jünger voll Bekümmernis, einzelne beteuern ihre Unschuld und Judas wird von Petrus zur Rede gestellt.

Ghirlandajo, Abendmahl

Lionardo hat zunächst in zwei Punkten mit der Tradition gebrochen. Er nimmt den Judas aus seiner Isolierung heraus und setzt ihn in die Reihe der andern und dann emanzipiert er sich von dem Motiv, dass Johannes an seines Herrn Brust lag (schlafend, wie man ergänzte), was bei moderner Art zu sitzen immer unerträglich herauskommen musste. Er gewann so eine höhere Gleichartigkeit der Szene und die Jünger 27 konnten symmetrisch zu beiden Seiten des Herrn verteilt werden. Es ist das Bedürfnis nach einer tektonischen Disposition, dem er nachgiebt. Er geht aber gleich weiter und formiert Gruppen, je zwei Dreiergruppen rechts und links. Dadurch wird Christus zur dominierenden Mittelperson, der keine andere gleicht.

Bei Ghirlandajo ist es eine Versammlung ohne Zentrum, ein Nebeneinander von mehr oder weniger selbständigen Halbfiguren, eingespannt zwischen die zwei grossen Horizontalen des Tisches und der Rückwand, deren Gesims hart über den Köpfen hinläuft. Unglücklicherweise sitzt sogar eine Konsole des Deckengewölbes gerade in der Mitte der Wand. Was thut Ghirlandajo? Er rückt mit seinem Christus ruhig zur Seite, er empfand das nicht als eine Verlegenheit. Lionardo, dem es von erster Wichtigkeit war, die Hauptfigur herauszuheben, würde mit einer solchen Konsole nie paktiert haben. Er sucht im Gegenteil in der Gestaltung des Hintergrundes neue Hilfsmittel für seinen Zweck: es ist kein Zufall, dass Christus gerade im Lichten der rückwärtigen Thür sitzt. Dann durchbricht er den Bann der zwei Horizontalen, er behält natürlich die Tischlinie, nach oben aber sollen die Gruppensilhuetten frei sein. Ganz neue Wirkungsrechnungen treten in Kraft. Die Perspektive des Raumes, Gestalt und Dekoration der Wände werden der Figurenwirkung dienstbar gemacht. Alles ist daraufhin angelegt, die Körper plastisch und gross erscheinen zu lassen. Daher die Tiefe des Zimmers, daher die Teilung der Wand durch einzelne Teppiche. Die Überschneidungen befördern die plastische Illusion und die wiederholte Vertikale accentuiert die divergierenden Richtungen. Man wird bemerken, dass es lauter kleine Flächen und Linien sind, die den Figuren nirgends ernsthafte Konkurrenz machen, während ein Maler der ältern Generation wie Ghirlandajo mit seinen grossen Bögen im Hintergrund von vornherein einen Massstab giebt, neben dem die Figuren klein erscheinen müssen.Die Randlinien des Bildes entsprechen bei Lionardo nicht dem Durchschnitt des Zimmers, der Raum geht vielmehr hinter dem oberen Bildrand noch weiter hinauf. Diese Überschneidung ist eines von den Motiven, die es möglich machen, auf kleinem Raum grossfigurig zu komponieren, ohne eng zu wirken. Das Quattrocento pflegt bei Innenräumen mit dargestellten Seitenwänden die vollständige Decke zu geben. Vgl. Ghirlandajos Johannesgeburt oder Castagnos cenacolo.

Lionardo hat, wie gesagt, nur eine einzige grosse Linie behalten, die unvermeidliche Tischlinie. Allein auch hieraus ist etwas Neues geworden. Ich meine nicht die Weglassung der umgebrochenen Ecken, wo er übrigens nicht der erste ist, das Neue ist der Mut, einer höhern Wirkung wegen das Unmögliche zu geben: der Tisch Lionardos ist viel zu klein! man zähle die Gedecke nach, die Leute könnten unmöglich 28 sitzen. Lionardo will vermeiden, dass die Jünger an der langen Tafel sich verlieren und der nun gewonnene Figureneindruck hat so viel Kraft, dass niemand das Defizit an Platz bemerkt. So erst ist es möglich geworden, die Figuren zu geschlossenen Gruppen zusammenzuschieben und in Kontakt mit der Hauptfigur zu erhalten.

Und was sind das für Gruppen! und was für Bewegungen! Wie ein Blitz hat das Wort des Herrn eingeschlagen. Ein Sturm von Empfindungen bricht ringsum los. Nicht unwürdig, aber so wie Männer, denen ihr Heiligstes genommen werden soll, gebahren sich die Apostel. Eine gewaltige Summe vollkommen neuen Ausdrucks tritt hier in die Kunst ein und wenn Lionardo mit Vorgängern sich berührt, so ist es die unerhörte Intensität des Ausdrucks, die seine Figuren doch wieder ohnegleichen erscheinen lässt. Wo solche Kräfte in Aktion treten, da ist es selbstverständlich, dass das viele unterhaltende Beiwerk der hergebrachten Kunst wegbleibt. Ghirlandajo rechnet noch auf ein Publikum, das sich beschaulich in allen Winkeln des Bildes ergehen will, dem man mit seltenen Gartengewächsen, mit Vögeln und anderm Getier aufwarten muss, er verwendet viel Sorgfalt auf das Gedeck des Tisches und zählt jedem der Tischgenossen so und so viele Kirschen zu. Lionardo beschränkt sich auf das Notwendige. Er darf erwarten, dass die dramatische Spannung seines Bildes den Beschauer nicht nach solcher Nebenunterhaltung begehren lasse. Später ist man in der Vereinfachung noch weiter gegangen.

30 Es gehört nicht hierher, die Figuren nach den Motiven durchzubeschreiben, doch muss von der Ökonomie die Rede sein, die bei der Verteilung der Rollen gewaltet hat.

Die Randfiguren sind still. Zwei Profile fassen das Ganze ein, in reiner Vertikale. Die ruhige Linie wird noch festgehalten im zweiten Glied. Dann kommt die Bewegung und schwillt nun mächtig an in den Gruppen zu Seiten des Heilands, wo sein linker Nachbar die Arme weit auseinanderschlägt »als ob er den Abgrund plötzlich vor sich offen sähe« und wo rechts, in seiner nächsten Nähe, Judas mit jäher Bewegung zurückfährt.In der Beschreibung ist der Irrtum Goethes zu korrigieren, der seitdem wiederholt worden ist, dass Petrus mit dem Messer dem Judas an die Seite gestossen habe, und dadurch seine Bewegung sich erkläre. Die grössten Kontraste sind zusammengestellt: mit Judas in der gleichen Gruppe sitzt Johannes.

Wie dann die Gruppen kontrastierend gebaut und wie sie unter sich in Beziehung gesetzt sind, wie auf der einen Seite die Verbindung vorn, auf der andern hintenherum sich vollzieht, diese Betrachtungen wird der Kunstfreund von selbst immer wieder zu machen aufgefordert, je mehr die Rechnung hinter der scheinbaren Selbstverständlichkeit sich versteckt hält. Indessen sind das Momente von sekundärer Wichtigkeit gegenüber der einen grossen Wirkung, die der Hauptfigur vorbehalten ist. In Mitten des Tumultes Christus ganz still. Die Hände lässig ausgebreitet, wie einer, der alles gesagt hat, was zu sagen ist. Er redet nicht, wie auf allen ältern Bildern, er sieht nicht einmal auf, aber das Schweigen ist beredter als das Wort. Es ist das furchtbare Schweigen, das keine Hoffnung übrig lässt.

In der Gebärde Christi und seiner Gestalt liegt etwas Ruhiges und Grosses, was wir adelig nennen, insofern adelig und edel als gleichen Sinnes empfunden werden. Bei keinem Quattrocentisten stellt sich einem das Wort ein. Es könnte scheinen, dass Lionardo in eine andere Klasse von Menschen gegriffen hätte, wenn wir eben nicht wüssten, dass er den Typus geschaffen hat. Das Beste aus seiner eigenen Natur hat er hier herausgearbeitet und allerdings wird diese Vornehmheit Gemeingut der italienischen Rasse im 16. Jahrhundert. Wie haben sich die Deutschen von Holbein an abgemüht, dem Zauber einer solchen Handbewegung beizukommen!

Indessen möge man sich immer wieder sagen, dass das, was Christus hier den älteren Darstellungen gegenüber so ganz anders erscheinen lässt, durch Gestalt und Gebärde nicht völlig sich erklärt, dass das Wesentliche vielmehr in seiner Rolle innerhalb des Gesamtbildes liegt. Die Einheit der Szene fehlt bei den Früheren: Die Jünger 31 sprechen unter sich und Christus spricht und es ist fraglich, ob man immer zwischen der Ankündigung des Verrates und der Einsetzung des Abendmahles unterschieden hat. In jedem Fall liegt es völlig ausserhalb des quattrocentistischen Gesichtskreises, das Gesprochenhaben zum Motiv der Hauptfigur zu machen. Lionardo wagt es als der erste und er gewinnt dadurch den unendlichen Vorteil, dass er nun den Grundton festhalten kann durch beliebig viele Takte hindurch. Was den Anstoss der Erregung gegeben hat, klingt immer weiter. Die Szene ist eine ganz momentane und doch bleibend und erschöpfend.

Der einzige Raffael hat Lionardo hier verstanden. Es giebt aus seinem Kreise ein Abendmahl, das Marc Anton gestochen hat, wo Christus in einer psychologisch ähnlichen Situation genommen ist, unbeweglich vor sich hinstarrend. Mit grossgeöffneten Augen sieht er ins Leere, der einzige Facekopf im Bild, in reiner Vertikale (s. Abbildung).Die Federzeichnung der Albertina (Fischel, Raffaels Zeichnungen, 387), die man jetzt mit Recht dem Giov. F. Penni zuschreibt, darf nicht als Vorzeichnung zu diesem Stich Marc Antons genannt werden; sie ist ganz anders in der Komposition.

Das Abendmahl. Stich des Marc Anton

Wie weit bleibt schon Andrea del Sarto zurück, der in einer malerisch schönen Komposition den Moment der Kenntlichmachung des Verräters gewählt hat, mit dem Eintauchen des Bissens, und dabei Christus zu Johannes sich wenden lässt, dessen Hand er beruhigend in 32 die seine nimmt (Florenz, S. Salvi). Ein sehr hübscher Gedanke, allein mit diesem Einzelzug geht die Herrschaft der Hauptfigur und die Einheit der Stimmung verloren. Freilich mochte sich Andrea sagen, es sei unmöglich, mit Lionardo den Wettkampf aufzunehmen.

Andere haben versucht, etwas Neues zu bringen, indem sie bei der Trivialität ein Anleihen machten. Bei Baroccios grosser Einsetzung des Abendmahls (Urbino) rufen einige Jünger während der Rede des Heilands dem Wirt im Vordergrund, er solle frischen Wein bringen; als ob es gälte, anzustossen.

Endlich ist noch eine Bemerkung zu machen über das Verhältnis von Lionardos Bild zu dem Raum, in dem es gemalt wurde. Bekanntlich bildet es den Schmuck der Kopfseite eines langen schmalen Refektoriums. Der Saal hat nur von einer Seite Licht und Lionardo nahm auf dieses vorhandene Licht Bezug, indem er es als massgebend auch im Gemälde anerkannte, was kein vereinzelter Fall ist. Es kommt hoch von links, und erhellt die gegenüberliegende Wand im Bild nicht vollständig. Die Tonunterschiede zwischen Licht und Schatten sind so beträchtlich, dass Ghirlandajo daneben gleichtönig und flach erscheint. Hell hebt sich das Tischtuch heraus und die vom Licht gestreiften Köpfe gewinnen vor der dunkeln Wand eine grosse plastische Wirkung. Und noch ein Resultat ergab sich aus diesem Festhalten der gegebenen Lichtquelle. Judas, der hier von seiner frühern Abseitsstellung befreit und in die Reihe der übrigen Jünger aufgenommen wurde, ist doch isoliert: er ist der einige, der ganz gegen das Licht sitzt und dessen Gesicht daher dunkel ist. Ein einfaches und wirksames Mittel der Charakteristik, an das vielleicht der junge Rubens gedacht hat, als er sein Abendmahl malte, das jetzt in der Brera hängt.


2. Die Mona Lisa

Das Quattrocento hatte schon hie und da versucht, im Porträt über das Modellmässige hinauszukommen; man wollte mehr geben als die Summe der Einzelzüge, die die Ähnlichkeit ausmachen, mehr als die bleibenden festen Formen, in denen sich der Charakter ausprägt, es sollte von dem Geist der Stunde, von momentaner seelischer Bewegung auf dem Gesicht sich etwas spiegeln. Es giebt Mädchenbüsten des Desiderio, die durchaus so wirken. Sie lächeln und das Lächeln ist nicht ein stereotypes, sondern wirkt als Reflex des guten Augenblicks. Wer kennt sie nicht diese jungen Florentinerinnen mit dem lustigen Munde und 33 den emporgezogenen Brauen über den Augen, die selbst im Marmor zu glänzen scheinen.

Desiderio
Büste einer jungen Florentinerin

Ein Lächeln ist es denn auch, was über das Antlitz der Mona Lisa geht, aber nur ein ganz leises Lächeln; es sitzt in den Mundwinkeln und fast unmerklich bloss verschieben sich die Züge. Wie ein Windhauch, der über das Wasser streift, so geht eine Bewegung über die weichen Flächen dieses Gesichtes. Es entsteht ein Spiel von Lichtern und Schatten, ein flüsterndes Zwiegespräch, dem man nicht müde wird zu lauschen. »Sie glänzte von einem süssen Lächeln«, sagt Polizian einmal.Polizian, giostra I. 50: – lampeggiò d'un dolce e vago riso. Ich zweifle, ob Begriff und Ausdruck im eigentlichen Cinquecento noch vorkommen. Das Lächeln ist dieser Zeit nicht mehr eigen oder doch nur in der Dämpfung, wie es etwa die Dorothea des Sebastiano zeigt (vgl. Abbildung im Abschnitt Raffael, römische Porträts).

Lionardo
Porträt der Mona Lisa

Die braunen Augen blicken aus schmaler Lidöffnung. Es sind nicht die quattrocentistischen Augen mit herausspringendem Glanzlicht, der Blick ist verschleiert. Die Unterlider laufen fast horizontal, man wird erinnert an gotische Augenbildungen, wo durch dasselbe Motiv der Eindruck des Feuchten, Schwimmenden gegeben ist. Die ganze Partie unter den Augen spricht von grosser Sensibilität, von feinen Nerven unter der Haut.

Auffällig ist das Fehlen der Augenbrauen. Die Wölbungsflächen der Augenhöhle gehen ohne Markierung in die (überhohe) Stirn über. Ist das eine individuelle Eigentümlichkeit? Nein. Man kann aus einer Stelle des Cortigiano entnehmen, dass es bei den Frauen Mode war, sich die Brauen auszureissen.Baldassare Castiglione, il cortigiano (1516). Es heisst dort (im ersten Buch), die Männer machten es den Frauen nach mit dem Ausreissen der Haare (pelarsi le ciglia e la fronte). Und ebenso galt es für schön, eine ausgedehnte Stirnfläche zeigen zu können, weshalb auch die vorderen Haupthaare geopfert wurden. Daher die ungeheure Stirn auch bei den Mädchenbüsten des Mino und Desiderio. Die Freude an den Hebungen und Senkungen der weissen Flächen, die der Meissel im Marmor so zart wiedergab, überwog alles, man eliminierte die natürlichen Teilungen und erweiterte das Gebiet nach oben übermässig. Der Geschmack der 34 Mona Lisa ist hier also noch ganz quattrocentistisch. Unmittelbar nachher änderte sich die Mode. Die Stirn wird erniedrigt und in den kräftig begrenzenden Augenbrauen sieht man einen wesentlichen Vorzug. Die Kopie der Mona Lisa in Madrid hat aus eigenem Willen die Brauen hinzugefügt.

Das Haar, kastanienbraun wie die Augen, fällt in leichten Wellen an den Wangen herunter, zusammen mit einem lockern Schleiertuch, das über den Kopf gelegt ist.

Die Dame sitzt in einem Stuhl mit Armlehnen, und man ist erstaunt, bei so viel Weichheit der Ausführung den Kopf in starrer, senkrechter Haltung zu finden. Offenbar trägt sie sich nach modischer Art. Vornehmheit hiess Sichgeradehalten. Man sieht das an den Damen Tornabuoni in Ghirlandajos Fresken: wenn sie Besuch machen, halten sie sich bolzengrade. Später urteilte man in diesem Punkt anders und die veränderte Auffassung hat dann auch unmittelbar auf die Porträthaltung zurückgewirkt.Als die Lucrezia Tornabuoni nei Medici, die Mutter des Lorenzo magnifico, für diesen ihren Sohn eine Frau unter den römischen Adelsfamilien suchte, rügt sie in dem Brief an ihren Gatten, dass die Mädchen in Rom sich nicht so gerade hielten wie die florentinischen. (Das Schreiben mitgeteilt von Reumont, Lorenzo magnifico I. 272.)

Im übrigen ist das Bild nicht arm an Bewegung. Lionardo ist hier zum erstenmal vom Bruststück mit knappem Leibesabschnitt zur Dreiviertelfigur übergegangen. Und nun lässt er das Modell in Seitenansicht sitzen, nimmt den Oberkörper in halber Drehung und das Gesicht fast völlig en face. Dazu kommt die Bewegung der Arme. Der eine liegt auf der Stuhllehne, der andere kommt verkürzt aus der Tiefe und die zweite Hand legt sich über die erste. Es ist keine äusserliche Bereicherung des Porträts, wenn Lionardo die Hände dazunimmt. In ihrer lässig-wohligen Bewegung tragen sie ungemein viel zur Charakteristik bei. Man spürt die Feinheit des Tastgefühls in diesen wahrhaft beseelten Fingern. Verrocchio wäre vorangegangen, wenn die berühmte Büste im Bargello von ihm und nicht etwa vom jungen Lionardo selbst herrührt.

Das Kostüm ist einfach-zierlich, fast spröde. Die Linie des Brustsaumes muss einem reiferen Cinquecentisten hart vorgekommen sein. Der gefältete Rock ist grün, von dem Grün, das Luini festhält. Die Ärmel gelbbraun. Nicht mehr wie früher kurz und eng, sondern bis an die Handwurzel heranreichend und zu vielen Querfältchen sich zusammenschiebend, bilden sie eine wirksame Begleitung für die rundlichen geschlossenen Flächen der Hände. Die feingeformten Finger durch keine Ringe beschwert. Auch der Hals ohne Schmuck.

Den Hintergrund bildet eine Landschaft, wie sich das auch bei älteren Malern findet. Nicht wie sonst aber schliesst sie unmittelbar an 36 die Figur an, vielmehr ist eine Brüstungsmauer vorgebaut und der Ausblick wird eingefasst von zwei Säulen. Man muss genau zusehen, um das in seinen Konsequenzen wichtige Motiv hier wahrzunehmen, denn ausser den Postamenten kommen die Säulen nur als geringe Streifen zur Erscheinung. Der spätere Stil begnügt sich mit solch andeutender Zeichnung nie mehr.Vgl. die Raffaelsche sog. »Zeichnung zur Maddalena Doni« im Louvre.

Die Landschaft selbst, die weit hinauf, bis über die Augenhöhe des Modells reicht, ist von merkwürdiger Art: phantastisch-zackige Berglabyrinthe, dazwischen Seen und Ströme. Was aber das sonderbarste ist: sie wirkt in ihrer unbestimmten Ausführung wie ein Traum. Sie hat einen andern Grad von Realität als die Figur und das ist keine Laune, sondern ein Mittel, den Eindruck des Körperhaften zu gewinnen. Lionardo verwertet hier theoretische Einsichten über die Erscheinung ferner Gegenstände, worüber er sich auch im Traktat ausgelassen hat.Buch von der Malerei, No. 128 (201). Der Erfolg ist der, dass im Salon carré des Louvre, wo die Mona Lisa hängt, alles andere neben ihr flach erscheint, selbst Bilder des 17. Jahrhunderts. Die Farbenstufen der Landschaft sind: braun, grünblau und blaugrün, worauf sich der blaue Himmel anschliesst. Genau dieselbe Folge, wie sie Perugino hat in dem ebenfalls dem Louvre gehörenden Bildchen mit Apollo und Marsyas.

Lionardo nannte die Modellierung die Seele der Malerei. Wenn irgendwo, so kann man vor der Mona Lisa die Bedeutung des Wortes ahnen lernen. Die delikaten Hebungen und Senkungen der Oberfläche werden zum Erlebnis, als ob man selbst mit Geisterhand darüber hinglitte. Die Absicht geht noch nicht auf das Einfache, sondern auf das Viele. Wer länger mit dem Bilde verkehrt hat, wird die Erfahrung bestätigen, dass es die nahe Betrachtung verlangt. Auf die Ferne verliert es bald seine eigentliche Wirkung. (Das gilt noch mehr von Photographieen, die sich darum nicht zum Wandschmuck eignen.) Es unterscheidet sich darin prinzipiell von den spätern Bildnissen des Cinquecento und in gewissem Sinne haben wir hier in der That den Abschluss einer Richtung, die ihre Wurzeln im 15. Jahrhundert hat, die Vollendung des »feinen« Stils, dem die Plastiker vor allem ihre Bemühungen widmeten. Die jung-florentinische Schule ist nicht darauf eingegangen, einzig in der Lombardei wurden die zarten Fäden weitergesponnen.Dass die »belle ferronnière« (Louvre) nicht in das Werk Lionardos hineinpasst, ist schon mehrfach empfunden worden. Das schöne Bild ist neuerdings versuchsweise dem Boltraffio zugeschrieben worden, was allerdings wenig Überzeugendes hat. 37


3. Die Anna selbdritt

Neben der Mona Lisa geniesst das andere Bild Lionardos im Louvre, die hl. Anna selbdritt, die Sympathieen des Publikums in geringerem Maasse. Das Bild, das wohl nicht ganz eigenhändig ausgeführt wurde, ist in der Farbe entstellt, und was den Wert der Zeichnung ausmacht, wird von modernen Augen wenig geschätzt, kaum wahrgenommen. Und doch erregte der blosse Karton seiner Zeit (1501) in Florenz ein gewaltiges Staunen, so dass es ein allgemeines Wallfahrten nach dem Kloster der Annunziata gab, wo man das neue Wunderwerk Lionardos sehen konnte.Der Karton existiert nicht mehr. Die Bildausführung dürfte beträchtlich später fallen. Vgl. Gazette des beauxarts 1897 (Cook). Das Thema mochte immer im Geruch der Sterilität gestanden haben. Man erinnert sich an die spröden Zusammenstellungen der drei Figuren bei älteren Meistern, eine auf dem Schoss der andern und alle nach vorn gerichtet. Aus dieser trockenen Ineinanderfügung war hier eine Gruppe von höchstem Reichtum geworden und das leblose Gestell war aufgelöst in lauter Bewegung.

Lionardo. Die Anna selbdritt

Maria sitzt quer auf dem Schoss ihrer Mutter; lächelnd beugt sie sich und fasst mit beiden Händen den Knaben, der vor ihren Füssen sich rittlings auf ein Schäfchen setzen möchte. Der Kleine sieht sich fragend um, indessen er das arme zusammengeknickte Tier fest am Kopf gepackt und schon ein Bein über den Rücken gebracht hat. Lächelnd schaut auch die (jugendliche) Grossmutter dem muntern Spiele zu.

Die Gruppenprobleme des Abendmahls sind hier weitergeführt. Die Komposition ist unendlich anregend; auf knappem Raum ist viel gesagt: alle Figuren sind kontrastierend bewegt und die widerstreitenden Richtungen zur geschlossenen Form zusammengeballt. Man wird bemerken, dass sich das Ganze einem gleichschenkligen Dreieck einschreiben lässt. Das ist die Frucht von Bemühungen, die man schon in der Madonna in der Felsgrotte wahrnimmt, die Komposition nach einfachen geometrischen Formen zu ordnen. Aber wie zerstreut wirkt das ältere Werk neben dem gedrängten Reichtum des Annabildes. Es sind keine Künsteleien, wenn Lionardo auf immer kleinerem Raum immer mehr Bewegungsinhalt unterzubringen versucht: die Stärke des Eindruckes nimmt in gleichem Masse zu. Die Schwierigkeit war nur die, dass die Klarheit und Ruhe der Erscheinung keinen Schaden nahm. Das ist der Stein, an dem die schwächern Nachahmer strauchelten. Lionardo ist zu einer vollkommenen Abklärung gekommen und das Hauptmotiv, die Neigung der Maria, ist von einer hinreissenden Schönheit und Wärme. All die gleichgültige Zierlichkeit, in der das Quattrocento so leicht 38 stecken blieb, ist hier weggeschmolzen vor einer unerhörten Ausdruckskraft. Man vergegenwärtige sich ja im einzelnen die Umstände, unter denen sich hier – hell vor dunkel – die Linien der Schulter und des Kopfes mit ihrem wunderbaren Schmelz herausentwickeln. Wie ruhig und wie drängend! In der zurückhaltenden Anna ist ein vorteilhafter Kontrast gegeben und von unten her schliesst der umblickende Knabe mit seinem Schäfchen die Gruppe aufs glücklichste.

Es giebt ein kleines Bild Raffaels in Madrid, das den Eindruck dieser Komposition wiederspiegelt. Als junger Mensch in Florenz versucht er ein ähnliches Problem – er nimmt statt der Anna den Joseph – zu bearbeiten, aber mit nur schwachem Erfolg. Wie hölzern ist allein schon das Schäfchen! Raffael ist nie ein Tiermaler geworden, während Lionardo alles kann, was er angreift. Ein Stärkerer als Raffael aber trat damals gegen Lionardo in die Schranken: Michelangelo. Wir haben davon später zu reden.

Von den Gräsern und Blumen und kleinen Wasserspiegeln der »Madonna in der Felsgrotte« sieht man nichts mehr hier. Die Figuren sind alles. Sie sind lebensgross. Was für den Eindruck aber bedeutsamer ist als der absolute Masstab, ist ihr Verhältnis zum Raum. Sie füllen die Fläche viel mächtiger als früher, oder anders ausgedrückt: die Fläche ist hier kleiner im Verhältnis zur Füllung. Es ist die Grössenrelation, die für das Cinquecento typisch wird.Der Eindruck auf die Zeitgenossen spiegelt sich deutlich in einem Bericht des Fra Piero di Novellara an die Markgräfin von Mantua vom 3. April 1501, wo vom Karton gerade in dieser Hinsicht gesprochen wird: – e sono queste figure grandi al naturale, ma stanno in piccolo cartone, perchè tutte o sedono o stanno curve, et una sta alquanto dinanzi all' altra. (Archivio storico dell' arte I.)
    Der Londoner Karton (Royal Academy) einer Gruppe von zwei Frauen mit zwei Kindern besitzt nicht die gleiche Schönheit und möchte wohl eine etwas frühere, noch weniger flüssige Komposition sein. In der Schule (Luini, Ambrosiana) spielt sie noch einmal eine Rolle.
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4. Die Schlacht von Anghiari.

Von dem Schlachtbild, das für das Florentiner Rathaus bestimmt war, können wir nur wenig sagen, weil die Komposition nicht einmal mehr im Karton, sondern nur in einer unvollständigen Wiederholung von späterer Hand existiert. Dennoch kann es nicht übergangen werden, die Fragestellung ist zu interessant.

Lionardo hat sich viel mit Pferden abgegeben, am meisten von allen Cinquecentisten. Er kannte das Tier aus vertrautem Umgang.Vasari IV. 21. In Mailand war er jahrelang beschäftigt, ein Reiterstandbild des Herzog Francesco Sforza zu formen, eine Figur, die nie gegossen wurde, für die aber ein fertiges Modell existierte, dessen Untergang zu den grössten Verlusten der Kunst zu zählen ist. Was das Motiv betrifft, so scheint er anfänglich beabsichtigt zu haben, Verrocchios Colleoni an Bewegung noch zu überbieten: er ist bis zu dem Typus des galoppierenden Pferdes durchgedrungen, das einen gefallenen Feind zu Füssen hat, der gleiche Gedanke, auf den auch Antonio Pollaiuolo gekommen war.Vasari III. 297. Vgl. Zeichnung in München (Berenson No. 1908). Die Befürchtung, die man hie und da aussprechen hört, Lionardos Figur möchte zu malerisch geworden sein, kann sich, wenn sie überhaupt berechtigt ist, nur auf Entwürfe dieser Art beziehen; indessen darf in dem Motiv des sprengenden Pferdes überhaupt nicht das Definitivum gesehen werden; es hat sich vielmehr im Verlauf der Arbeit eine ähnliche Entwicklung zum Beruhigten und Vereinfachten abgespielt, wie man sie in den Skizzen zum Abendmahl beobachten kann, und Lionardo endigte bei dem einfach schreitenden Pferd, bei dem dann auch die anfänglich projektierten starken Richtungsdifferenzen in der Kopfwendung von Tier und Reiter ganz bedeutend gemildert worden sind. Man findet nur etwa noch den Arm mit dem Kommandostab nach rückwärts gebogen, wodurch Lionardo die Silhuette bereichern und den leeren rechten Winkel am Rücken des Reiters ausfüllen wollte.Über die Mailänder Denkmalsfrage und über ein zweites, späteres Reiterprojekt mit Grabunterbau für den General Trivulzio vgl. Müller-Walde im Jahrbuch der preussischen Kunstsammlungen, 1897 und 1899. Seitdem ist auch das grosse Buch von Müntz erschienen Lionard de Vinci (Paris 1899), das in allen sachlichen Fragen ausführliche Auskunft giebt.

40 Was nun das grosse Schlachtbild des Florentiner Rathauses anbetrifft, in dem Lionardo seine Mailänder Studien verwerten wollte, so ist eine dem Rubens zugeschriebene Zeichnung im Louvre die einzige Urkunde, die uns eine wirkliche Vorstellung vermittelt, und bekanntlich hat Edelingk ein vorzügliches Blatt darnach gestochen.Über die Rubens'sche Autorschaft der Zeichnung im Louvre wage ich nicht ein Urteil abzugeben. Rooses tritt entschieden dafür ein. Jedenfalls hat Rubens die Komposition gekannt. Seine Münchner Löwenjagd u. a. spricht deutlich genug dafür. Dass die Zeichnung alles giebt, was das Bild enthielt, ist kaum anzunehmen, im allgemeinen aber stimmt sie mit der Beschreibung bei Vasari überein.

Lionardo gedachte den Florentinern einmal zu zeigen, was es heisse, Pferde zu zeichnen. Er nahm eine Reiterepisode als Hauptmotiv der Schlacht heraus: der Kampf um die Fahne. Vier Pferde und vier Reiter in leidenschaftlichster Erregung und im engsten Kontakt. Das Problem der plastisch-reichen Gruppenbildung ist hier auf eine Höhe gesteigert, wo man fast an die Grenzen der Unklarheit stösst. Der nordische Stecher hat das Bild nach der malerischen Seite so interpretiert, dass um eine zentrale Dunkelheit ein Kranz von Lichtern sich gruppiert haben würde, eine Anordnung, die man prinzipiell dem Lionardo wohl auch schon zutrauen könnte.

Das Massenknäuelbild war die eigentlich »moderne« Aufgabe damals. Man wundert sich, dem Schlachtbild nicht öfter zu begegnen. Die Raffaelschule ist die einzige, aus der ein grosses Werk der Art hervorgegangen ist und die »Constantinsschlacht« vertritt in der Vorstellung des Abendlandes wohl überhaupt das klassische Schlachtgemälde. Die Kunst ist hier von der blossen Episode zur Darstellung einer wirklichen Massenaktion vorgeschritten, allein, wenn auch das berühmte Bild dadurch sehr viel mehr giebt als Lionardo, so ist es doch andrerseits mit einer so empfindlichen Unklarheit behaftet, dass man die Verrohung des Auges und den Verfall der Kunst schon deutlich kommen sieht. Raffael hat mit dieser Komposition gewiss nichts zu thun gehabt.


Lionardo hat keine Schule in Florenz hinterlassen. Es haben alle von ihm gelernt, aber sein Eindruck wurde doch gelöscht durch den Michelangelos. Es ist nicht zu verkennen, dass Lionardo eine Entwicklung ins Grossfigurige durchgemacht hat und dass die Figur auch für ihn schliesslich alles bedeutet. Immerhin würde Florenz eine andere Physiognomie haben, wenn es lionardesker hätte sein können. Was von Lionardo in Andrea del Sarto oder in Franciabigio und Bugiardini 41 fortlebt, bedeutet im ganzen nicht viel. Eine direkte Fortsetzung seiner Kunst findet man nur in der Lombardei. Allerdings eine einseitige. Die Lombarden sind malerisch begabt, aber es fehlt ihnen durchaus der Sinn für das Architektonische. Den Bau des Abendmahles hat keiner je verstanden. Die Gruppenbildung und die Bewegungsknäuel Lionardos waren hier ebenfalls fremdartige Probleme. Die lebhafteren Temperamente werden in der Bewegung gleich wirr und wüst, die andern sind von einer ermüdenden Einförmigkeit.

Man hielt sich in der Lombardei an die weibliche Seite in Lionardos Kunst, an die passiven Affekte und an die feine, fast nur gehauchte Modellierung jugendlicher, namentlich weiblicher Körper. Lionardo war für die Schönheit des weiblichen Körpers in hohem Grade disponiert. Man könnte sagen, er zuerst habe die Weichheit der Haut empfunden. Seine florentinischen Zeitgenossen behandeln das Weiblich-Nackte auch, aber gerade dieser Reiz fehlt ihnen. Selbst bei denen, die am meisten Maler gewesen sind, wie Piero di Cosimo, heftet sich das Interesse noch viel mehr an die Form als an die Qualität der Oberfläche. Mit dem Erwachen eines feineren Tastgefühls, wie es sich in der lionardesken Modellierung bekundet, bekommt der weibliche Körper eine neue künstlerische Bedeutung und man dürfte aus den psychologischen Prämissen folgern, dass Lionardo sich mit diesem Thema abgegeben haben müsse, auch wenn wir nicht zufällig wüssten, dass solche Bilder von ihm existiert haben.

Lionardo. Leda (Copie)

Eine Leda scheint das Hauptmotiv gewesen zu sein. Wir kennen sie nur aus Nachbildungen, namentlich in der Gestalt der schönen, leisbewegten nackten Frau, die stehend und die Kniee zusammengedrückt den Schwan mehr liebkost als abwehrt. In ihren plastischen Contrasten mit der Drehung des Oberleibes, der Wendung des Kopfes, dem übergreifenden Arm und der gesenkten Schulter hat die Figur eine weithin reichende 42 Wirkung ausgeübt. (Bekanntestes Exemplar in der Galerie Borghese in Rom, einst dem Sodoma zugeschrieben, s. Abbildung).Vgl. Jahrbuch der preussischen Kunstsammlungen 1897: Müller-Walde, Beiträge zur Kenntnis des Lionardo da Vinci. Müller-Walde hat im Codex atlanticus die Figur als minutiöse Federzeichnung entdeckt. Vgl. Müntz, Lionard de Vinci (Paris 1899) 426 ff.

Gianpietrino. Abundantia

Bei den lombardischen Nachfolgern Lionardos ist dann der weibliche Akt als Thema üblich geblieben, aber da sie für die durchgehende Bewegung in einem Körper nur wenig Sinn hatten, so muss man sich nicht wundern, wenn sie auf die grossen Figuren verzichten und sich gern mit dem Schema des Halbfigurenbildes begnügen. Auch ein Stoff wie die Susanna im Bade, wo man unter allen Umständen eine plastisch-reiche Figur erwarten zu dürfen glaubt, wird in dieses öde Schema eingespannt (Bild des Luini in Mailand, Borromeo). Als Muster der Gattung sei hier die anspruchslose Halbfigur einer Abundantia des Gianpietrino mitgeteilt.Das Bild befindet sich in der Galerie Borromeo in Mailand. Es muss mit Lionardos Mona Lisa zusammengestellt werden, die schon zu seinen Lebzeiten (und vielleicht von ihm selbst) ins Nackte transponiert worden ist. Vgl. Müntz a. a. O. S. 511. 43

 


 


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