Heinrich Wölfflin
Die klassische Kunst
Heinrich Wölfflin

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Einleitung

Das Wort »klassisch« hat für uns etwas Erkältendes. Man fühlt sich von der lebendigen bunten Welt hinweggehoben in luftleere Räume, wo nur Schemen wohnen, nicht Menschen mit rotem, warmem Blut. »Klassische Kunst« scheint das Ewig-Tote zu sein, das Ewig-Alte; die Frucht der Akademien; ein Erzeugnis der Lehre und nicht des Lebens. Und wir haben so unendlichen Durst nach dem Lebendigen, nach dem Wirklichen, dem Fassbaren. Was der moderne Mensch überall sucht, ist die Kunst, die viel Erdgeruch hat. Nicht das Cinquecento, das Quattrocento ist der Liebling unserer Generation: der entschlossene Sinn für das Wirkliche, die Naivetät des Auges und der Empfindung. Einige Altertümlichkeiten des Ausdrucks werden mit in den Kauf genommen: man will so gerne bewundern und lächeln zugleich.

Mit unversieglichem Behagen ergeht sich der Reisende in Florenz in den Bildern der alten Meister, die treuherzig und schlicht erzählen, dass wir uns mitten hinein versetzt fühlen in die guten Stuben der Florentiner, wo der Kindbetterin Besuche gemacht werden, in die Gassen und Plätze der damaligen Stadt, wo die Leute herumstehen und wo der eine oder der andere dann aus dem Bild heraus uns ansieht mit einer wahrhaft verblüffenden Selbstverständlichkeit.

Jedermann kennt Ghirlandajos Malereien in der Kirche S. Maria Novella. Wie lustig sind da die Marien- und Johannesgeschichten gegeben, bürgerlich und doch nicht kleinbürgerlich, das Leben in festlichem Glanze gesehen, mit gesunder Freude am Vielen und Bunten, an kostbaren Kleidern, an Schmuck und Geräte und reichem Bauwerk. Giebt es etwas Reizvolleres als Filippinos Bild in der Badia, wo die Madonna dem heiligen Bernhard erscheint und die feine schmale Hand ihm ins Buch legt? Und was für ein Duft von Natur in den köstlichen Mädchenengeln, die Maria begleiten und die scheu und doch neugierig, mit nur mechanisch zum Beten gefügten Händen, hinter ihrem Rock sich vordrängen und den sonderbaren fremden Mann bestaunen. Und vor dem Zauber Botticellis – muss da nicht auch Raffael weichen, 2 und wer den sinnlich-wehmütigen Blick seiner Augen einmal empfunden, kann der eine Madonna della Sedia noch interessant finden?

Frührenaissance das heisst uns feingliedrige, mädchenhafte Figuren mit bunten Gewändern, blühende Wiesen, wehende Schleier, luftige Hallen mit weit gespannten Bogen auf schlanken Säulen. Frührenaissance heisst alle Mannigfaltigkeit des frisch Gewachsenen, was Art und Kraft hat. Schlichte Natur und doch ein wenig Märchenpracht dabei.

Misstrauisch und ungern tritt man aus dieser munteren, bunten Welt hinüber in die hohen stillen Hallen der klassischen Kunst. Was sind das für Menschen? Ihre Gebärde berührt uns plötzlich fremd. Wir vermissen das Herzliche, das Naiv-Unbewusste. Da ist keiner, der uns vertraulich ansieht wie ein alter Bekannter. Da giebt es keine wohnlichen Gemächer mehr mit lustig zerstreutem Hausrat, nur farblose Wände und grosse schwere Architektur.

In der Tat steht der moderne nordische Mensch Kunstwerken wie der Schule von Athen oder ähnlichen Darstellungen so völlig unvorbereitet gegenüber, dass die Verlegenheit natürlich ist. Man kann es nicht verübeln, wenn jemand im Stillen fragt, warum Raffael nicht lieber einen römischen Blumenmarkt gemalt habe oder die muntere Szene, wie die Bauern auf Piazza Montanara sich rasieren lassen am Sonntag Morgen. Aufgaben sind hier gelöst worden, die mit der modernen Kunstliebhaberei in gar keinem Zusammenhang stehen, und mit unserem archaistischen Geschmack sind wir von vornherein nur wenig befähigt, diese Kunstwerke der Form zu würdigen. Wir freuen uns an der primitiven Simplizität. Wir geniessen den harten, kindlich-ungefügen Satzbau, den zerhackten, kurzatmigen Stil, während die kunstvoll gebaute, volltönende Periode ungeschätzt und unverstanden bleibt.

Aber auch da, wo die Voraussetzungen näher liegen, wo das Cinquecento die alten einfachen Themata des christlichen Stoffkreises behandelt, ist die Zurückhaltung des Publikums begreiflich. Es fühlt sich unsicher und weiss nicht, ob es die Gebärde und Gesinnung der klassischen Kunst als echt nehmen darf. Man hat so viel falsche Klassik zu schlucken bekommen, dass der Magen nach dem Herbern verlangt, wenn es nur rein ist. Man hat den Glauben an die grosse Gebärde verloren. Man ist schwach geworden und misstrauisch und hört überall nur das Theatralische heraus und die leere Deklamation.

Und vollends ist das unbefangene Zutrauen erschüttert worden durch die immer wiederholten Einflüsterungen, das sei gar keine originale Kunst; sie sei abgeleitet von der Antike; die Marmorwelt des längst versunkenen Altertums habe die kalte Geisterhand ertötend über das blühende Leben der Renaissance gelegt.

3 Und doch ist die klassische Kunst nichts als die natürliche Fortsetzung des Quattrocento und eine vollkommen freie Äusserung des italienischen Volkes. Sie ist nicht entstanden in Nachahmung eines fremden Vorbildes – der Antike –, sie ist kein Produkt der Schule, sondern erwachsen auf offenem Felde, in der Stunde des kräftigsten Wuchses.

Für unser Bewusstsein ist dieses Verhältnis nur verdunkelt worden, weil man – und darin möchte der eigentliche Grund der Vorurteile gegen den italienischen Klassizismus liegen – ein durch und durch national Bedingtes als ein Allgemeines genommen hat und Gestaltungen, die nur auf einem bestimmten Boden und unter einem bestimmten Himmel Leben und Sinn haben, unter ganz anderen Verhältnissen wiederholen wollte. Die Kunst der Hochrenaissance in Italien bleibt eine italienische Kunst und die »ideale« Steigerung der Wirklichkeit, die hier vor sich gegangen ist, ist doch nur die Steigerung der italienischen Wirklichkeit gewesen.


Schon Vasari hat so eingeteilt, dass mit dem 16. Jahrhundert ein neuer Abschnitt beginnt, jene Epoche, der gegenüber das Frühere nur als Vorstufe und Vorbereitung erscheinen soll. Er fängt den dritten Teil seiner Künstlergeschichte an mit Lionardo. Lionardos Abendmahl entstand im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts, es ist das erste grosse Werk der neuen Kunst. Gleichzeitig setzt Michelangelo ein, der fast um 25 Jahre jünger, schon mit seinen Erstlingsarbeiten ganz neue Dinge sagt. Zeitgenosse von ihm ist Fra Bartolommeo. Wieder in einem Abstand von fast zehn Jahren folgt Raffael und mit ihm geht Andrea del Sarto nah zusammen. Es ist in rundem Ausdruck das Viertel-Jahrhundert von 1500–1525, das für den klassischen Stil innerhalb der florentinisch-römischen Kunst in Betracht kommt.

Es ist nicht leicht, von dieser Epoche eine Gesamtanschauung zu gewinnen. So bekannt uns von Jugend auf die Hauptstücke aus Kupferstichen und Reproduktionen aller Art sein mögen, es bildet sich nur langsam eine zusammenhängende und lebendige Vorstellung von der Welt, die diese Früchte getragen. Mit dem Quattrocento ist es anders. Das 15. Jahrhundert steht uns in Florenz noch immer leibhaftig vor Augen. Zwar ist vieles verschleppt, vieles von seinem natürlichen Ort in die Museumsgefängnisse abgeführt worden, aber immerhin, es giebt noch genug Räume, wo man die Luft jener Zeit zu atmen glaubt. Das Cinquecento ist fragmentarischer erhalten und überhaupt nur unvollständig zum Ausdruck gekommen. Man hat in Florenz das Gefühl, dass dem 4 breiten Unterbau des Quattrocento die Krönung fehle. Man sieht nicht recht die Endigung der Entwicklung. Ich will nicht reden von dem frühen Export der Tafelbilder ins Ausland, so dass von Lionardo z. B. fast gar nichts mehr in Italien ist, aber von Anfang an verzetteln sich die Kräfte. Lionardos Abendmahl, das notwendig nach Florenz gehörte, befindet sich in Mailand. Michelangelo ist halb zum Römer geworden und Raffael ganz. Von den römischen Aufgaben aber ist die sixtinische Decke eine Absurdität, eine Qual für den Künstler und für den Beschauer, und Raffael hat seine Bilder im Vatikan teilweise an Wände malen müssen, wo man sie nie ordentlich sehen kann. Dann: wie viel ist überhaupt zustande gekommen? wie viel aus der kurzen Periode der Höhe nicht bloss Projekt geblieben oder einem frühen Untergang anheimgefallen? Lionardos Abendmahl selbst ist nur ein Trümmerwerk. Sein grosses Schlachtbild, das für Florenz bestimmt war, ist nie vollendet worden und selbst im Karton verloren gegangen. Das gleiche Schicksal teilen Michelangelos »badende Soldaten«. Das Juliusgrab ist unausgeführt geblieben bis auf ein paar einzelne Figuren, und die Lorenzofassade, die ein Spiegel der toskanischen Architektur und Plastik hätte werden sollen, ebenfalls. Die Mediceerkapelle kann nur als halber Ersatz gelten, da sie schon an der Grenze des Barock steht. Die klassische Kunst hat kein Monument grossen Stils zurückgelassen, wo Architektur und Bildnerei in reinem Ausdruck zusammengegriffen hätten; und die Hauptaufgabe der Baukunst, auf die sich alle Kräfte sammelten, der römische St. Peter, hat schliesslich doch kein Denkmal des Zeitalters der Hochrenaissance werden dürfen.

So könnte man die klassische Kunst mit der Ruine eines nie ganz vollendeten Baues vergleichen, dessen ursprüngliche Form aus weithin zerstreuten Bruchstücken und unvollkommenen Überlieferungen ergänzt werden muss und die Behauptung hat vielleicht nicht Unrecht, dass von der ganzen italienischen Kunstgeschichte keine Epoche weniger bekannt sei als das goldene Zeitalter. 5

 


 


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