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Marcel Proust

Im Bereich des französischen Lebens gebührt dem Literarischen ein Raum, der für deutsche Vorstellungen und Verhältnisse ungewöhnlich bedeutsam und groß ist. Es gibt in Frankreich eine beträchtliche Anzahl von Analphabeten. Vielleicht ist dies gerade der Grund, warum dort das Lesen und Schreiben noch eine unvergeßliche Frische, ja Unerhörtheit besitzt, die, über alle unmittelbare Nutzanwendung hinaus, nach dem Unbedingten von Kunst und Spiel strebt. Es gibt kaum einen namhaften französischen Politiker, der nicht eine ansehnliche literarische Leistung aufweisen könnte, und gar die Meinung, daß ernsthafte Geistigkeit und literarischer Anspruch einander als Feinde ausschließen müßten, würde dem Franzosen, dem das Literarische als die Methode geistiger Äußerung gilt, geradezu unbegreiflich erscheinen. Die Ebenen der französischen Literatur sind ebenso zahlreich wie die des sozialen Lebens. Und nicht abseits, sondern darüber thront die Hohe Literatur, bestehend aus einem Parnaß von Dichtern, den eine öffentliche Meinung nicht immer einstimmig, sondern oft unter heftigstem Meinungsstreite nach der Gewichtigkeit der Stimmen ernennt. Er ist mit dem Parnaß der Académie nicht durchaus identisch. Weder Verlaine, noch Mallarmé, noch Proust zählten zu den erlauchten Fünfhundert, obwohl sie nach dem ungeschriebenen Gesetz der berufenen Urteiler noch zu Lebzeiten in die Hohe Literatur eingegangen sind.

Proust, obwohl er ihr heute auf die rühmlichste Weise angehört, fiel die Aufnahme einst nicht leicht. Als er, dreiundvierzigjährig, den ersten Band des Werkes herausgab, das schließlich sein Lebenswerk wurde, war seine menschliche wie schriftstellerische Erscheinung für die Zeitgenossen bereits bestimmt. Man kannte von ihm einen Band, »Les Plaisirs et les Jours«, der in lyrischer Prosa verhauchende Stimmungen und Figuren zeichnete, ferner einige Übersetzungen Ruskins sowie Berichte über exklusive Geselligkeiten, die er im »Figaro« schrieb: er galt als ein Snob, als einer der mondänen Schriftsteller von der Art seines Freundes Montesquiou, die man trotz gewisser literarischer Qualitäten nicht sehr wichtig nahm. Auch Prousts 1914 erschienener Roman »Du Côté de chez Swann« hat dieses Vorurteil nicht widerlegt. Wenn bei dem Prozeß der Vergegenständlichung des Subjekts, der sich bei Proust vollzieht, noch ein Rest an subjektiver Befangenheit übrigbleibt, so ist sie ganz offenbar die eines Snobs – eines Menschen, dem vor der Blendkraft fremden Scheines die angestammte Natur von minderem Range zu sein scheint, eines Menschen also, der das, was er ist, durch den Schein eines anderen Seins zu ersetzen trachtet, und der, indem er damit den Fehler begeht, zwei wesensfremde Kategorien einander gleichzusetzen, notwendigerweise in eine Verbogenheit, wenn nicht Verlogenheit seiner Natur gerät. Jedesmal wenn Proust in dem dreizehnbändigen Werk »A la Recherche du Temps perdu« zufällig aufhört, Künstler zu sein – es sind nur wenige, gleichsam unkontrollierte Momente, da das unverarbeitete Ich plötzlich bekennermäßig erscheint –, verrät sich, daß den gespenstischen, aufgeblasenen Figuren aus einer Vogelscheuchenwelt nicht minder eine heimliche, seltsame Neigung gilt. An solchen Punkten droht Prousts gigantisches Werk zusammenzustürzen. Denn plötzlich nimmt der Leser Partei gegen den Autor. Mit Interesse hat er die unaufhörlichen Seiten über die Eitelkeiten des Aristokraten Charlus gelesen, – in allen Einzelheiten die wichtigen Posen der Herzogin von Guermantes verfolgt. Sollte dies alles nun doch nur der Wunschtraum eines Plebejers sein? Solange das Gestaltete Selbstzweck bleibt, kann, wie sich zeigt, aus einem an sich belanglosen Stoff ein überaus kostbares Gebilde entstehen. Ein Leser, der nur gewohnt ist, sich am Stofflichen aufzuhalten, wird die Proustschen Geschichten, falls er kein Snob ist, ohnehin langweilig finden. Er schließt sich automatisch aus der Gemeinde der Proust-Leser aus. Sobald indessen der vorgetragene Stoff nun anfängt, im wertenden Sinne etwas zu meinen, droht auch die eigentliche Leserschaft alsbald untreu zu werden.

Das Stoffliche der von Proust geschilderten Welt an sich könnte wohl niemand reizen, es sei denn einige Snobs. Nirgends ein Durchblick in dieser Welt, der ins Kosmische ginge. Da ist kaum eine Figur, die der Leser ins Herz schließen möchte. Albertine? Es geht ihm mit ihr wie dem Helden. Man liebt sie, während sie abwesend ist. Sie tritt nicht mit nackten Sohlen die Erde. Wenn sie am Strand von Balbec im Kranz der Freundinnen badet, ist die Landschaft nur eine andere Folie, gelegt um ein überaus künstliches Mädchengeschöpf. Die Posamenten der Natur verleihen ihr für die Saison eine natürliche Note. Es herrscht da eine Art, sich des Landschaftlichen zu bedienen, wie sie grundsätzlich dem Naturgefühl des Dix-huitième nicht unähnlich war. Das Schäferliche ist nur um hundert Jahre verkleidet. Chateaubriand und Lamartine sind nicht ohne Einfluß geblieben. Wenn das Rokoko die Natur noch in den Salon einführte, so haben die Romantiker ihre Seelenkammer ins Freie verlegt. Auch das Sportliche tritt nun hervor. Am besten wirkt Albertine als ein Bild. In diesem Zustand erweckt sie auch ein eigentliches Begehren, ruft sie die Sehnsucht wach, die von allem Bildhaften ausgeht. Doch sobald die Bewegung des wirklichen Lebens sie befällt, sobald sie in einer Begegnung im Menschlichen anfängt zu leben, geht ihr Zauber dahin. Es ist typisch, daß nicht einmal in der unmittelbarsten Begegnung, in der zwischen Mann und Weib, die Erscheinung ihrer Person vom Fluß eines überwältigenden Lebens durchflutet wird, sondern siehe: sich auflöst in eine Reihe bezaubernder, aber feststehender Bilder, die, eins nach dem andern, rasch aufeinander folgen, während Abgründe von Enttäuschung dazwischen sich auftun – sich auftun, bis endlich ein letztes Bild Albertinens feststeht: Albertine schläft – eine hinreißende Frau – und dabei empfindet man Angst, sie möchte erwachen.

Der Subjektivismus erhält bei Proust eine seltsame Wendung. Das künstlerische Bewußtsein verselbständigt sich, trennt sich ab vom Bereich des persönlichen Ich und übernimmt von einer anderen, un- oder überpersönlichen Stelle aus die alleinige Verantwortung vor dem Leser. Man darf vor Prousts Romanwerk nur eine Frage erheben: ist Proust ein Künstler – ist er es nicht? Vor dem Absolutismus seines Dichtertums tritt alle internpersönliche Unzulänglichkeit, die seinem Glauben oder Nichtglauben, seinen Meinungen und Ansichten nachzuweisen wäre, ebenso wie die Fragwürdigkeit des Romanstoffes als Stoffes an sich überwunden zurück. Man darf den Proust, der von 1871 bis 1922 sein Dasein verbrachte, der diese oder jene bedenklichen wie lächerlichen Vorlieben hatte, nicht gleichsetzen mit dem Proust, der schreibt. Vielmehr wird jenes zeitliche, so und so geartete Ich zum ausgesprochenen Stoff, an dem die zweite Person Prousts: das emanzipierte künstlerische Ich, Darstellung und Gestaltung übt. Der Held von Prousts Romanwerk trägt denselben Namen wie der Verfasser. Er wird eingeführt als der Erzähler. Sein Bewußtsein jedoch deckt sich nicht mit der Imagination des Dichters: dies erzählende Ich entspricht wie jede der anderen Romanfiguren einer Vorstellung Prousts. Könnte der Snobismus dieses weichen, sentimentalischen Marcel, der seine Erlebnisse und Erfahrungen aus der großen Welt erzählt, moralisch oder weltanschaulich irgendwie zur Rechenschaft gezogen werden? Marcel ist mehr Gestalt als der Adolphe Benjamin Constants oder Goethes Werther, durch die, nach der Absicht ihrer Schöpfer, immerhin eine Tendenz verfolgt werden sollte. Prousts Marcel ist ein reines Geschöpf; soweit es überhaupt in menschlichem Vermögen steht, jeder Bewertung von Seiten des Schöpfers entzogen. Wie auch das Urteil des moralisierenden Lesers ausfallen mag: er wendet es an auf ein Ich, das eine Romanfigur ist, vollendet in sich gestaltet und überdies vom Ich des Dichters schon zeitlich getrennt. Ihr Schicksal nimmt schließlich zu einem Zeitpunkt ein Ende, nach welchem Proust zu schreiben beginnt. Ein Mindestverhältnis von Vergangenheit liegt immer dazwischen.

Dieses romanhafte Ich, eher kenntlich an den Empfindungen, die es hatte, als an den Erlebnissen, welche die Empfindungen erregten, ist die Hauptgestalt eines dreizehn Bände umfassenden Werkes. Technisch ist dies ein ungewöhnlich fruchtbarer Einfall: der Dichter gibt einen Helden vor, der sich erinnert. Schon darin erscheint ein bisher unbekanntes Phänomen. Denn die Vorgabe des Sicherinnerns stellt hier nicht mehr nur einen Rahmen dar, in den eine im übrigen illusionistisch geschürzte Erzählung nun eingespannt wird, sondern das Erzählte verläuft als eine beständig gewußte Projektion eines sich erinnernden Helden, dessen Gestalt wiederum von der Vorstellung Prousts projiziert wird. Dies ergibt für den zeitlichen Ablauf des Erzählten eine ungeahnte Möglichkeit dichterischer Freiheit. Die Schilderung eines Diners kann sich ruhig auf 150 Seiten verbreiten: trotzdem umspannt der Roman einen Zeitraum von mehr als siebzig Jahren. Er beginnt mit der Kindheit. Doch wird eine lange Geschichte noch nachgeholt. Dann erzählt der Held seine Jugendjahre, die Liebesgeschichte des reifen Mannes. Eine Unzahl Personen erscheint. Ist dies nun einfach ein Memoirenwerk, in dem ein Gedächtnis berichtet, was es behielt? Erinnerung und Empfindung sind hier einander seltsam verhaftet. Die Erinnerung, die, ihrer Eigentümlichkeit nach, ihren Gegenstand eher in Gestalt eines Bildes bewahrt, als daß sie, der Wirklichkeit entsprechend, den Ablauf eines Geschehens bewegt wiederholte, fasziniert den Geist in einem Maße, daß er das starre Bild, das sie gibt, erfindend wieder belebt. Dieser Vorgang vermag sich auch auf einer anderen Erlebnis-Ebene, die nicht ausschließlich psychisch ist, zu entwickeln. Man weiß, daß Julien Green, erregt durch den Anblick eines Kohlenlagers, die berühmte Fluchtszene im »Léviathan« erfand. Ein Bild, eine Sicht, sei es in der Erinnerung, sei es in der Wirklichkeit, erregt den Geist zum Erfinden. In dieser Hinsicht erst gewinnt die vergangene Wirklichkeit bei Proust ihre dichterische Bedeutung. Die meisten seiner Figuren haben nachgewiesenermaßen verschiedene Modelle. Und umgekehrt wieder wird ein eindeutiges Vorbild, z. B. die Mutter, durch die Imagination auf eine überwirkliche Mehr- und Vieldeutigkeit gebracht. Das zärtliche Wesen der Madame Proust gewinnt durch den allegorisierenden Charakter des erinnernden Sichvorstellens eine andere, schon den äußeren Umständen nach ins Schönere, das ihr entspricht, verlagerte, eben – eine dichterische, im Sinne des Märchenhaften und Erfinderischen gemeinte Erscheinung. Man könnte sagen, das Wirkliche werde verklärt, wäre damit die Bedeutung des Idealisierens ein für allemal ausgeschlossen. Denn idealisierend ist die Sehweise Prousts keineswegs. Auch das Märchen hat, wenn es sein muß, die gleiche trostlose Trübe wie die Wirklichkeit. Damit ist nicht gesagt, daß nicht gleichwohl ein Glanz, den das geistige Herkommen mitgibt, auch an einer zuweilen grausamen Darstellung haftet; der Dichter »reinigt noch den Ruin«.

Eine Erscheinung der Kindheit, vielleicht in Wirklichkeit nur ein Erinnerungsbild, wir wissen es nicht, wird zur Keimzelle einer Gestalt und einer langen Geschichte: Swann. Prousts Metapher mit den japanischen Spielzeugblumen, die, als unscheinbare, kleine Papierklümpchen ins Wasser geworfen, sich dort zu herrlichen Gebilden entfalten, ist nachgerade berühmt. Sie ist das genaue Bild für den dichterischen Prozeß, der sich bei Proust ereignet: in das flüssige Element der Imagination fällt das Klümpchen einer Erinnerung und wird unter ihrer angreifenden Wirkung zu einer ungeahnten Entwicklung gebracht. Im Titel »Dichtung und Wahrheit« liegt dieser Vorgang angedeutet beschlossen. Doch was noch bei Goethe ein verbindliches Nachgeben ist, gewinnt hier die Ausschließlichkeit eines dichterischen Prinzips. Die »Wahrheit«, sie wäre bei Proust wohl kaum des Aufhebens wert gewesen; seine menschliche Natur war nicht sehr komplex, seinem außerkünstlerischen Schicksal fehlt das Interessante, wie es bei Eckermann definiert ist, ganz und gar. Die »Dichtung« aber ist alles, und der Stoff, das Erlebte, die »Wahrheit« bleibt dahinter so wenig bestimmend, daß man es ausdenken darf: was hätte Proust aus den Lebenserinnerungen Casanovas gemacht oder aus denen des Herzogs von Saint-Simon? Mit beiden Werken hat die »Recherche du Temps perdu« eine ferne Verwandtschaft; das Erotische und das Aristokratische sind Nenner, auf die man sie bringen könnte. Im Grunde freilich ist diese durch Ähnlichkeiten hervorgerufene Frage verfehlt. Proust war niemals imstande, memoirenweise zu leben. Er ist Künstler, ein Wesen des höchsten Bewußtseins, ein Mensch der reinen Vorstellungskraft – und als solcher das Gegenteil zu einem Instinktwesen wie Casanova, der, als sein Bewußtsein einsetzt, bezeichnenderweise die Herrschaft über sein Leben verliert, und der nun freilich nicht Künstler genug ist, in der grämlichen Einsamkeit von Dux das Erlebte in Transparente des Geistes zu bilden. Und von Saint-Simon wieder ist Proust, der Sohn des Professors, durch die notwendige Verschiedenheit der Lebenshaltung getrennt. Der Grandseigneur war bei aller Absonderlichkeit noch unentrinnbar in die Welt seines Standes einbezogen, während Proust bereits der Ortlose ist, der Künstler, der nirgendwohin gehört, dem alles aber zum Anlaß wird.

Was den Proustschen Geschichten zu einem Memoirenwerk grundlegend fehlt, ist eben das Interessante, durch das der Autor einstmals beteiligt war und das den Leser nun nachträglich noch beteiligt. Doch was sie anderseits über ein solches unendlich erhebt, ist das Dichterische, das sie als Auftrieb durchdringt. Es läßt von keinem Gegenstand ab. Nichts kann zu gering dafür sein. Es geht hier der Kunst um die gutgemalte Rübe, die besser und wertvoller ist als eine mangelhafte Madonna. Und das Malerwort gilt sehr genau: auch Proust berücksichtigt nicht jenen ethischen Wert, der vielleicht von der künstlerisch schlechten Madonna nichtsdestoweniger ausgehen kann und dessen Annahme eine derartige Gegenüberstellung sogleich verunmöglichen würde. Der Held wird zum Objekt des Dichtens. Wofern er nur ein Mensch ist, genügt er dem Dichter zur Darstellung. Swann ist eine Erscheinung, die weder sehr unangenehm noch sonderlich einnehmend wirkt. Seine spezifisch jüdische Sehnsucht, sich mit Leuten von blauestem Blut zu befreunden, dünkt einen ziemlich läppisch. (Doch wird der Zug nun nicht, wie es naheliegt, karikiert.) Im großen ganzen wird Herr Swann, obwohl ihm das sicher gar nicht sehr angenehm wäre, von einem empfindsamen Leser leichthin bemitleidet werden. Sein Schicksal ist traurig, ohne eigentlich zu rühren. Es gibt kaum eine Art des Erzählens, die so wenig unmittelbar rührte wie die von Proust. Die Verwendung von massiver Stofflichkeit, die zu rühren vermöchte, ist nahezu unterblieben; ihrer Ausbeutung gar wird völlig entsagt. Balzac hätte aus Swann eine Goriot-Wirkung herausgeholt: primitive Psychologie bei melodramatisch geschilderten Situationen. Proust aber läßt die Swannschen Tragödien im Hintergrund spielen. Swann ehelicht eine Frau, nachdem er sie nicht mehr liebt, und dies, obwohl sie ihn gesellschaftlich unmöglich macht. Das geschieht, während dem Leser anderes vorgeführt wird. Und nach einer lange ersehnten Rückkehr in die mondäne Welt, die so grotesk verläuft, daß nur noch Ironie zu helfen vermag, stirbt Swann, – der Leser aber, der ein Menschenalter hindurch sein Leben verfolgt hat, wohnt seinem Ende nicht bei.

Zwei Proustsche Eigentümlichkeiten sind damit angerührt. Nicht als ob Proust nicht zu rühren vermöchte! Was seine Sätze durchwirkt, diese Ungetüme der Syntax, ist ein ausgesprochenes, endlos verzweigtes, aufs äußerste differenziertes Sentiment. Die Sätze: das heißt die Sprache, die Reflexion: das Gebrochenwerden des Stoffes im Geist, der ihn in Strahlen zerlegt, unendlich vielfältiger als das Prisma das Licht. Das Sentiment hegt nicht in der Wahl des Motivs, sondern erfolgt aus seiner Behandlung. Ein jedes Motiv ist fähig zu rühren. Der Geist braucht nur dem Eindruck einer Erscheinung bis in die äußerste Möglichkeit nachzugehen. Dann erregen auch die Kirchtürme von Martinville die Seele bis zur Ekstase.

Die zweite Eigentümlichkeit hängt mit diesem Verfahren zusammen. Prousts Psychologie zerlegt den Menschen am liebsten in Gestalt eines statischen Bildes. Um bei Swann, der Einfachheit halber, zu bleiben: Proust analysiert nicht den Ablauf seiner Entwicklung, sondern zeigt, zerlegt und durchleuchtet seinen Seelenzustand in mehreren Stadien seines Lebens. Wer ist Swann? So oft er im Vordergrund der Erzählung erscheint, gibt Proust von seiner Verfassung eine Analyse, deren Tatbestand von einer früher oder später gemachten oft grundlegend abweicht. (Proust glaubt nicht an eine Beständigkeit der individuellen Anlage; das Ich unterliegt für ihn unaufhörlichen Metamorphosen. Swann ist immerhin noch eine verhältnismäßig folgerichtige Natur; andere Gestalten verändern sich oft bis zum Gegensätzlichen.) Was nun der Leser in einem solchen Fall an Unterschieden bemerkt, ist die Folge einer hintergründig vor sich gegangenen Entwicklung. Die Theorie eines von Bergson beeinflußten Dynamismus wird auf sozusagen statische Weise exemplifiziert. Das Gedankliche freilich ist bei Proust von nachgeordneter Bedeutung. Der Dichter überwiegt bei weitem den Denker. Wichtig in erster Linie ist diese analysierende Kraft hinsichtlich ihres Ertrages an Dichtung. Da sie eine Lust um der Lust willen ist, wirkt in ihr die reine Liebe des Spiels. Spielen aber kann jemand, der dieser göttlichen Kunst noch teilhaftig ist, mit jeglichem Material. Charlus, Saint-Loup, Verdurin, Guermantes sind mißliche Vertreter des Menschengeschlechts. Doch in der Art, wie Proust sie erstehen läßt, wie er sie zeigt und zeichnet, wirkt auf einzigartige Weise jenes dichterische Spezifikum, das in der Vorstellung eine Erscheinung beschwört, um vieles leibhaftiger, als sie es je in der Wirklichkeit sein kann.

Wohl wird bei diesem Verfahren die Dichtung in ihren erhabensten Zwecken beschränkt. Sie sei erzieherisch, sagt man. Prousts Kunst nun zeigt sich in ihrem Absolutismus unendlich weit davon entfernt, es unmittelbar und ausgesprochen zu sein. Aber rein, wie sie ist, von Absichten und Voraussetzungen in einer zumindest als Ideal angestrebten Vollendung, verschafft ihr ein solches Geläutertsein eine Möglichkeit, unerwartet neu zu wirken. Das Werten steht nämlich dem Leser anheim. Indem dies bei ihm den Anspruch auf Selbsterziehung erhebt, kann es ihn nur verpflichten und ehren. Der Dichter nimmt nichts vorweg. Er enthält sich des Urteils, sich beschränkend auf eine möglichst reine Wahrhaftigkeit und auf eine unaufhörliche Bemühung. Alles geht ein in das Vollendetseinwollen der dichterischen Erscheinung, und sie wieder ist es, von der nun alles auch ausgeht. Nicht allein das Erzieherische, sondern das Ethische überhaupt, ja das Erhobensein bis ins Fromme. Denn so erscheint das Wunder der Kunst: ist sie nur ehrlich, so hält sie alles Humane und – den göttlichen Ursprung des Menschen vorausgesetzt – auch alles Divine unverlierbar in sich beschlossen. Wir nehmen unsern Zweifel zurück: auch die Rübe, wofern sie nur ehrlich gemalt ist, ist fähig, den Geist zu Gott zu erheben. Ehrlich und nichts sonst. Darin wahrscheinlich liegt noch die einzige Möglichkeit des heutigen Menschen zur Kunst: ehrlich und nichts sonst. Schon ein Ding, das vorgibt, in franziskanischem Geiste gemalt zu sein, geschweige denn eine Madonna, erscheint uns heute verdächtig. Nach solcher Meinung aber ist die Kunst Prousts in ungewöhnlichem Maße verdachtlos. Mit Beifall hat André Gide das Inferno des Immoralismus betrachtet, das Proust in »Sodome et Gomorrhe« entwirft. Aber indem es rein, indem es tendenzlos geschildert ist und unter keiner anderen Beleuchtung steht als unter dem Licht der Tagwirklichkeit, die von ihm selbst ausgeht, zollt ihm auch Mauriac, der Romancier des Katholizismus, nicht weniger Beifall. Die Bewertung des Gestalteten vollzieht der Leser. Proust zeigt nur, was erscheint, zeigt es aber durchschaubar geworden in seiner geheimsten Inwendigkeit. Vor solcher Treue der Kunst finden sich die Gegner in Bewunderung und Verehrung zusammen. Der Immoralist wird sich freilich nicht umstimmen lassen. Doch vermöchte dies etwa eine Schilderung in Schwarz-Weiß? Wem eigentlich dient der Kontrast? Allein der Bigotte wird eine rechthaberische Befriedigung dabei finden, die ebenso billig wie unnütz ist. Der wirklich Sittliche erbaut sich an der Wahrhaftigkeit. Prousts Kunst vermag die Kraft der Katharsis.


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