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Der späte Hölderlin

Von Hölderlins Rückkehr aus Frankreich wissen wir wenig. Die Entscheidung über die vier Jahrzehnte seines späteren Wahnsinns geschah in einem Abschnitt seines Lebens, in dessen Dunkelheit nur das Licht einiger spärlicher Tatsachen dringt. Vier Monate hatte er in Bordeaux als Hauslehrer und Prediger im Haus eines deutschen Kaufmanns verbracht. Am 10. Mai 1802 verließ er die Stadt. Man hat nicht erfahren, aus welchen Gründen er sich zu dieser plötzlichen Abreise entschloß; in seinen Briefen aus dieser Zeit stehen nur Worte des Wohlbefindens. Unter dem panischen Mittag eines südlichen Sommers wanderte er zu Fuß in die Heimat zurück. In einem Brief, den er nach seiner Rückkehr aus Nürtingen schrieb, erwähnt er einen Besuch in Paris. Anders als auf der Hinreise nach Bordeaux, die ihn von Straßburg nach Lyon und von dort durch die Auvergne in den Südwesten Frankreichs geführt hatte, muß er sich nunmehr nordwärts gewandt haben, nach dem Poitou und der Touraine; er stieß auf die Spuren der tierischen Kämpfe, welche die Truppen der Französischen Revolution in der Vendée der aufständischen Bevölkerung geliefert hatten. Mit Sensen und Dreschflegeln waren die Bauern vorgerückt, um die fromme, ihnen seit alters vertraute, von den Vätern überlieferte und von Gott beglaubigte Ordnung ihrer Wirklichkeit gegen den gewalttätigen Traum eines hybrischen Geistes, gegen das unhimmlische, unirdische Dreigestirn einer illusorischen Freiheit, einer tödlichen Gleichheit und einer Brüderlichkeit im Gemeinen zu verteidigen. Hölderlin sah die »traurige, einsame Erde«, und erschüttert im Grund seines Wesens, in der Seele verstört, langte er im Spätsommer 1802 bei seinen Verwandten an.

Noch kam ein letzter Aufschwung der formenden Kraft. Gedichte wie »Der Rhein«, »Germanien« und »Patmos« entstanden. Erst in neuerer Zeit nahm die Kritik, die ein halbes Jahrhundert lang nach Hölderlins Tod das gültige Werk des Dichters mit den Langzeilen enden ließ, auch diese freien Rhythmen unter die für sie ausdeutbaren Gebilde auf. Indessen, schon »Patmos« umfängt eine Fülle geistigen Rohstoffs, dessen sich eine Deutung nicht ohne weiteres bemächtigen kann. Nur schritt- und streckenweise, inselhaft kann das durchdachte System einer mythischen Weltordnung an dem Gedicht noch aufgezeigt werden, während dazwischen sich Untergründe einer neuen und unbewältigten Ordnungsanschauung auftun. Der Zwiespalt zwischen der von Hölderlin in ihrer Sinnlichkeit sehnsüchtig näher begehrten griechischen Götterwelt und der erlösenden, Tragik überwindenden Welt des Christentums, aus deren Sicherung der mit dem Pietismus des 18. Jahrhunderts genährte Zögling des rationalistisch gerichteten Tübinger Stiftes sich nur schwerlich und eigentlich nie ganz begeben konnte (sowohl der schulmäßig gelehrte Rationalismus wie der in den Familien Württembergs besonders dringlich geartete pietistische Zeitgeist – ersterer als Tiefdruck, letzterer als Hochdruck ein und desselben geistigen Klimas, sind bestimmend für Hölderlins Christentum): – jener Gegensatz von antikischem Bildgott und der Entbildlichung der Gottesvorstellung, wie sie der Protestantismus vorgenommen hatte, und die, fortgesetzt über die Unausdenkbarkeit des göttlichen Wesens überhaupt, schließlich in einer Wesenlosigkeit Gottes enden mußte, – dieser Gegensatz wird in den letzten Hymnen des Dichters mit übermüdeter Seele und unfest gewordenem Geist nochmals zu überwinden gesucht. Es ist dies ein Wille, der, wenn auch ins Dichterische wirkend, von diesem gleichwohl nicht ausgegangen ist. Dichtung ist die Gestalt, mittels derer das Problem eines Einzelnen, das wohl das Problem von Vielen war und noch ist, von Hölderlin ausgesagt wird. Das Problem als ein Inhalt ist zeitlich erklärbar, und die Betrachtung und Beurteilung seiner besonderen Lage im geistigen Raum kann sich ruhig unabhängig von seiner dichterischen Erscheinung vollziehen. Die Übereinkunft von Antike und Christentum, die hier im einzelnen nochmals versucht wird, ist, ebenso wie ihr Entgegengesetztsein und ihre Trennung, eine Frage so alt wie das christliche Denken selbst. Eine traditionslos übernommene, eine nochmals höchst eigens wiederentdeckte Antike und ein gleichermaßen durch Intellekt und Gefühl verflüchtigtes Christentum begegneten sich in Hölderlin mit einer Schärfe und ursprünglichen Unversöhnlichkeit, wie sie das durch die Assimilationsprozesse der mittelalterlichen Scholastik hindurchgegangene katholische Denken niemals erlebte. Die Verschwisterung kam wohl zustande. Christus wurde ein Bruder des Herakles, der ja, der Sage nach, gleich dem Sohn der Maria, von göttlicher Übernatur empfangen, Erlöser der Sterblichen aus irdischer Drangsal und Not, unterging als ein Mensch durch menschliche Schuld, um als Gottmensch in die Gesellschaft der Götter aufgenommen zu werden. Und indem sich der deutende Geist der Analogie der Äußerlichkeiten bemächtigte, wurde Dionysos, der Stifter des Weinbergs, als Vorfahr Christi genannt.

Ihrem Umfang und Wirkungsbereich nach ist die Bedeutung der Figuren nicht festgelegt; sie verengt, erweitert und ändert sich von Gebrauch zu Gebrauch. Bald ist Christus der Erbe des untergegangenen Götterhimmels, der in lichtloser Zeit die Herrschaft der Hehren verwaltet, während ihre sichtbaren Herrschaftszeichen in der Gleichnishaftigkeit der Symbole bewahrt werden. Bald wieder zeigt sich der Gottessohn als der große Erfüller; als Durchdringer und Überwinder der Erscheinungen durch den Geist, – als letzte Metamorphose der göttlichen Kräfte, durch welche die Vielfalt ihrer auf griechische Art Person gewordenen Ausdrucksweisen ihre schließliche Eingestalt findet. Aber auch bei Hölderlins höchstem Anruf wird Christus nur als ein Inerscheinungtreten des Göttlichen angesehen – nie als Gott selbst. Der scheinbare Gegensatz, der zwischen der Transzendenz seiner Herkunft und Rückkehr und seiner leibhaftigen Menschwerdung besteht und in dem die christliche Lehre das große den Menschen widerfahrene Wunder und Heil begreift, erfährt bei Hölderlin seine Deutung und Aufhebung in einem Mythos als einem geringeren und begreiflicheren Geheimnis. Das Unfaßbare entzieht sich zwar immer noch der Vernunft; das Glaubensgeheimnis aber entschleiert sich in der Anschaulichkeit des Bildes.

Jedoch: indem bei Hölderlin die adventistische Vorhut der antiken Gottesvorstellung mit der persönlichen Gefühlsrückkehr eines lutherischen Christen zusammentrifft, entsteht noch nicht die große Synthese. Die beiden Gelände der Vorstellung sind voneinander entscheidend getrennt. Was hier entsteht, ist nur eine Brücke, die den Erbauer und alle, die sie benutzen, zwischen diesseits und jenseits gefangenhält. Wer auf ihr steht, befindet sich außerhalb des wirklichen Raumes. Ihr Wohnraum ist nötigend, winzig, unbebaubar und ausgesetzt. Zugang besitzt sie sowohl von der einen wie von der anderen Seite. Der Heide, der sie betritt, versteht nun den Glauben; freilich nicht ganz, er sieht nur das Glaubensland vor sich. Und der auf ihr sich befindende Christ kann wohl die Antike erblicken, doch kann er sie niemals erreichen und in ihr sein. Die Gedanken, denen die Bewohner sich ausschließlich zu überlassen pflegen, ziehen einen Durchgangsverkehr von Schatten und einzelnen Werten an. Ein und derselbe Gott, von solchen Gedanken beschworen, passiert die Brücke in zahllos getönten, äußerst genau beschauten Verkleidungen; doch läßt er sich nicht auf ihr nieder und gibt sein Wesen nicht kund. Werte von diesseits und jenseits werden im Handelsverkehr getauscht. Und da diese Brückenbewohner sich als ehrliche Leute erweisen, klebt an ihren Fingern kein Händlergewinn. Sie bleiben arm und entblößt, dem Unsicheren ausgesetzt. Sie haben nur ihre Brücke, – dieses Bauwerk aus den herrlichen Bögen der Gesänge. Kann man auf ihnen leben? auf ihnen, von ihnen? Manche verstehen ihre Not mit Würde und Anstand zu tragen, manche sind blind und kennen sie nicht. Der erste, der diesen Wohnort mit Namen Hölderlin hinter sich ließ, war Hölderlin selbst.

*

Verhältnismäßig spät erst taucht der eigene, soeben im Groben skizzierte wichtigste Inhalt und damit die eigene Sagweise auf. Sechsundzwanzigjährig verharrte Hölderlin noch in einer leblosen, luftleeren Welt synthetischer Ideale, aus der ihn erst Diotima herausgeleitet hat, um ihn vor Wirkliches hinzustellen. Mancher ist Dichter, weil er das Leben nicht kennt. Gleichsam notgedrungenermaßen nimmt er die Typik einer Erscheinung an, da ihm die Ursprünglichkeit des Individuums fehlt. Das Diotima-Erlebnis wäre fähig gewesen, einen Dichter von dieser Art aufzuzehren, um aus der zurückbleibenden Asche erst die eigentliche Person erstehen zu lassen. Für Hölderlin aber begann nun sein Schicksal. Diotima erschuf den Menschen in ihm, der den Dichter von bisher nicht aufhob, sondern erst zu einem gültigen Wesen machte. Seiner idealistischen Anlage nach wurde Hölderlins dichterisches Ich durch dieses Erlebnis nicht umgeformt. Ja, es blieb innerhalb von Hölderlins dreigeteilter Natur, die aus dem eingeborenen Dichter als einer unbewußten Potenz, dem willentlichen oder bewußten Dichter und einem erfahrenden und erlebenden Menschen bestand, auch nach dem Diotima-Erlebnis noch vorherrschend. (An dem wechselnden Verhältnis, das diese drei Komponenten seines Wesens zueinander einnahmen, kann Hölderlins Schicksal geradezu abgelesen werden.) Aber nunmehr war ein Wirklichkeiten erlebendes Ich erweckt, und über die Eindrücke, die es hatte, wurde das dichterische Ich unterrichtet. Indem die Anschauungen vom Fluß des Erlebens gespeist wurden, gewannen sie erst Bedeutung und Wirksamkeit. Der früheren Inzucht der Ideen wurde das Blut der Erfahrung zugeführt.

Freilich bildeten Hölderlins Vorstellungen nach wie vor eine feste und in sich geschlossene Welt, die die bessere war und auf die der nun draußen erlebte Alltag und Markt bezogen wurde. Wenn auch das Griechenlandbild sich nicht mehr als vage Fabelwelt zeigte, in der sich der Jüngling, wie einst in den Reimstrophen, in abseitigem Träumen erging, so wurde nun doch die neue, hölderlinisch konkret gewordene, von der Wirklichkeit scharf sich abhebende Anschauung als Maß der Wirklichkeit auferlegt. Das Griechenlandbild der Oden ist nicht eine Illusion. Ohne die Neckar- und Mainlandschaft, ohne den nunmehr unmittelbar erlebten Felssturz Heidelbergs hätte es nicht seine wirklichkeitsträchtigen Züge gewonnen. Das bläßliche Ideal wird durch die Wirklichkeit ernährt und gekräftigt; eine deutsche, nie und nirgends gewesene griechische Landschaft lebt damit auf. Dichtung entstand allemal. Aber was hier einer gewissen Abtrünnigkeit zufolge angesichts des zu Erlebenden und zu Bestehenden als eine reine und immer reinere Geistgestalt: als Dichterlandschaft sich rechtlich und unbeschadet ergab, das mußte, auf das Leben angewandt, auf seine Ermöglichung und Verwirklichung hin, notwendigerweise mißglücken.

Zwar kam es zwischen Diotima und Susette Gontard zu keinem offenen Bruch: Ideal und Wirklichkeit schlössen hier einander so wenig aus wie das Bild des Parnassos die durchwanderte Schwäbische Alb. Die Kluft aber ist erwiesen. Jene Frau, die nach Hölderlins Weggang wie nur eine Liebende harrend am Fenster stand, bangend, ob der Geliebte, durch heimliche, eilends geschriebene Nachricht bestellt, für eine flüchtige Zeit zu Zeichen und Anblick auf der Straße erscheinen konnte, erlangt in der Dichtung als Bild Diotimas ein Großsein, das uns von jener anderen Größe, wie sie uns glücklich genug ein Bündel Briefe bewahrt hat, nichts überliefert. Die Diotima, die im »Hyperion« und in den Gedichten erscheint, ja selbst die Diotima in den von Hölderlin an Susette Gontard gerichteten Briefen ist mehr ein Seelenzeugnis des Dichters als eine durch die Anschauung des Liebenden entdeckte, irdisch und wahrnehmbar gemachte Idee. Der Unterschied liegt auf der Hand. Wenn die Idee das höchste Ergebnis einer mit angestrengtem Eros betrachteten sinnlichen Wirklichkeit ist, so erweist sich das Ideal als ein vorgefaßtes Bild, das hier, von Hölderlin an die Wirklichkeit angelegt: an dies vollendete Frauengeschöpf, mit diesem ausnahmsweise zu einer glücklichen Übereinstimmung kam. Die Geliebte in ihrem sehr besonderen Wesen ermöglichte dem Dichter die sichtliche Anwesenheit des Ideals. Dies ist die spezifisch romantische Haltung, die, ungleich der griechischen Findung, die den Dingen eingeborene und nur aus ihnen abzulösende, durch unaufhörliche Bemühung an ihrer Erscheinung einzusehende Idee als eingeboren in die Seele des Individuums verlegt. Von der Wirklichkeit wird gleichsam verlangt, zu sein, wie sie der Einzelne denkt. Die für alle verbindliche Gleichheit des Wirklichkeitsbildes ergibt sich nun nicht als eine sachliche Einsicht in objektive Gegebenheiten, sondern entsteht, soweit sie bei den Meinungsverschiedenheiten der Einzelnen überhaupt noch entstehen kann, als Übereinkunft und gegenseitige Zustimmung einer Schule oder Gesellschaft subjektiv empfindender Ichs. Das Ideal mit dem Anspruch, den die Idee hat, wirklich zu sein, ist für den Menschen, der sich ihm anvertraut, eine gefährliche Sicherheit. Im selben Maße, wie es unbedingt wird, wachsen die Möglichkeiten einer Enttäuschung. Zuweilen, wie bei Diotima, vermochten sich Ideal und Wirklichkeit zu versöhnen. Von Dauer aber konnte der Einklang nicht sein. Die Achtlosigkeit, mit der die in sich versperrten Philosophen des Idealismus ihr Leben verbrachten, rein um die Möglichkeit ihres Gedankens besorgt, die Unbekümmertheit, mit der sie der Wirklichkeit eine ihr fremde Ordnung auferlegten, war dem Dichter, den diese, ihre tatsächliche Ordnung enthüllend, in ständigen Begegnungen anging, versagt. Jede Berührung mit ihr trieb das Bewußtsein in eine immer herbere Enttäuschung, aus ihr in einen immer ferneren Heilsbereich und zu immer mühsameren Deutungsversuchen. Die Wirklichkeit folgte Hölderlin auf dem Fuße, verlangte gewaltsam, angenommen zu werden, brach in seine von Mal zu Mal höher gesteckte hymnische Welt von allen Seiten her ungestalt ein, um ungestalt in ihr liegen zu bleiben. Nur die Vorstellung eines in seiner Gleichmütigkeit dem Menschen grausam erscheinenden Weltenlenkers vermochte noch schließlich zwischen den auseinanderstrebenden Elementen eine locker geknüpfte Beziehung zu schaffen. Das Meiste, das Hölderlin anruft, bleibt nun Geheimnis, in pythischen Sprüchen beredet, beschlossen in einem dunklen, heroischen Schicksalsglauben, durch den die hölderlinische Zartheit, wie sich an Hand des Briefwerks beobachten läßt, sich allmählich mit einer tragischen Männlichkeit wappnet, und der sich vor dem Ansturm des Draußen verteidigte bis zum Zusammenbruch.

Patmos ist die letzte Hymne, deren Inhalte Hölderlin noch, mühsam genug, in einen idealischen Zusammenhang brachte. Die erschaute, durch nichts mehr nun abwendbare Realität wird als ein Sichverbergen des idealischen Gottes, als eine undurchsichtige, formlose Nachtwelt zwischen zwei Tagen des Göttlichen angesprochen. Wenn diese äußerste Deutungsmöglichkeit, dank der die beiden Gegensätze Wirklichkeit und Ideal sich noch aufeinander beziehen ließen, in »Brot und Wein« zu einer noch ziemlich greifbaren Durchführung kam, so stehen in »Patmos« die fragwürdigen Tatsachen, ohne sich gegenseitig zu kennen, gleichsam blindlings nebeneinander Jede fast ist einer Frage trächtig. Fragen stoßen zusammen, und selbst aus der schließlich gegebenen Erklärung fragt es sich weiter und weiter. Noch in »Brot und Wein« ist die Götternacht als ein Schicksal des Menschen erklärt:

– – – Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter,
Aber über dem Haupt droben in anderer Welt.
Endlos wirken sie da und scheinens wenig zu achten,
Ob wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns.
Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen,
Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.

Doch in den späteren Hymnen fließt in die Nennung der Gottheit Furcht, Ergebung und Anklage: dieser Gott ist weniger liebend, als daß er geliebt wird. Un- und Fernmenschliches wird ihm nachgesagt:

Doch furchtbar ist, wie da und dort
Unendlich hinzerstreut das Lebende Gott.

So heißt es in »Patmos« und weiter, indem nun das früher verallgemeinerte Schicksal persönlich empfunden wird (bedeutsam hierzu ist auch die Überschrift, die sich unter des Dichters Entwürfen befindet, und derzufolge eine Hymne über Kleist, als einem Schicksalsverwandten, geplant war):

Doch unverständig ist
Das Wünschen vor dem Schiksaal.
Die Blindesten aber
Sind Göttersöhne. Denn es kennet der Mensch
Sein Haus, und dem Thier ward, wo
Es bauen solle, doch jenen ist
Der Fehl, daß sie nicht wissen, wohin,
In die unerfahrene Seele gegeben.

(»Der Rhein«)

Diesem sich ausschließlich im Geistigen vollziehenden Vorgang verglichen, ist die Krankheit, die Hölderlin bei seiner Rückkehr aus Frankreich befiel, von durchaus untergeordneter Wirkung. Sie allein vermöchte die Lähmung seiner Gestalterkraft nicht zu erklären. Der von Hölderlin in seltsamer Bedeutung umschriebene Sonnenstich (»... und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, daß mich Apollo geschlagen«), von dem der Brief an Böhlendorf 1802 Erwähnung tut, traf einen bereits ermatteten Geist. Zwei Jahre lang hielt sich der Dichter noch aufrecht. Von Erschöpfung und Krankheit vorübergehend erholt, dichtete er seine letzten und größesten Hymnen und übersetzte Pindar und Sophokles. Noch stand ihm ein dem Griechischen kongeniales, weder vor ihm noch nach ihm erreichtes Deutsch zur Verfügung. Wenn auch die Krankheit als medizinischer Befund sich von Hölderlins Leben nicht abziehen läßt, so wäre doch angebracht, das Verhältnis von Ursache und Wirkung in jener Ungeklärtheit zu lassen, wie sie nach der Meinung einsichtiger Ärzte dem tieferen Wesen des Krankseins nicht widerspricht. Zumindest wird die Vermutung, daß Hölderlins physische Natur einem Unheil des Bewußtseins erlag, durch nichts entkräftet. Es gilt vor allem, dem Dichter und seinem fragmentarischen Werk, unabhängig von dessen äußerer Vollendung, als der Erscheinung eines in seiner Ohnmacht noch adeligen Geistes den schuldigen Ernst und die Ehrfurcht zu sichern.

*

In einer Bruchstück gebliebenen Hymne an die Madonna hat Hölderlin um die Gesang zerstörende Schwermut geklagt. Die Schwermut ist die dem Geiste tödlichste Macht. Sie kommt über den im Glauben Gelähmten, den der Hoffnung entblößten. Nicht durch das Rätsel des Daseins, sofern es nicht deutbar ist, wird sie erweckt. Das Geheimnisvolle macht unruhig, rastlos und sehnsüchtig. Ein Unglück erregt im Gläubigen wie im Ungläubigen einen genau lokalisierbaren Schmerz. Der Schwermütige aber und sein Leiden stehen außerhalb eines als Macht und Wille empfundenen Schicksals. Er lebt in einem Reich zwischen Nichtsein und Sein, in einem Schattenbereich, zu wenig für ihn, um noch in ungebrochenem Sein zu verweilen, aber wirklich genug, um das Dasein als eine nun nicht mehr hinweisliche, sondern in Sublimatzustand übergegangene Last zu empfinden. Schwermütig im äußersten Sinn ist der griechische Orkus. Noch sind die Schatten, die ihn bewohnen, der menschlichen Fähigkeiten teilhaftig. Ihre Übung aber kommt nicht mehr zum Ende der Handlung. Die Schatten fühlen noch, daß sie Schmerzen empfinden; sie freuen sich nicht, aber sie wissen, daß sie sich freuen können. Die Schwermut trennt sie vom Anteil der Zeit und der Gegenwart; Tantalus dürstet, ohne sein Durstgefühl jemals zu stillen und ohne dem Durst allmählich erliegen zu können.

Ähnlich muß Hölderlin sich verhalten haben, als er die Nachricht vom Tod Diotimas empfing. Das Ereignis ward nur noch gleichnishaft wirksam. Damit der Schwermütige das Leiden in seiner peinlichsten Schärfe überhaupt auf die Dauer erträgt, kommt ihm ein seltsamer Gleichmut zu Hilfe. Der Schwermütige leidet, wo ein anderer schmerzlos ist, aber er hält und dauert aus, wo dieser alsbald zerbrechen müßte. Wir haben kein Zeugnis davon, wie der Tod der Geliebten auf Hölderlin wirkte. Doch daß er schwieg, scheint zu zeigen, wie unaufhaltsam und rasch der konkrete Schmerz in den abstrakten der Schwermut übergeführt wurde. Ein paar Formeln bilden die schwächliche Krücke, an der das schwermutgelähmte Ich sich noch fortschleppt. In den immer geschraubter und immer umständlicher werdenden Ausdrücken der Demut und der Ergebenheit, die Hölderlins spätere Briefe an Verwandte und Freunde, an die Mutter vor allem, erfüllen, macht sich die Zunahme dieser Schwäche deutlich bemerkbar. Die Starrheit der Sprache hilft dem zerlösten Gefühl zuweilen noch auf. Jedesmal erweist sich der Vorgang um einiges schwieriger. Hölderlin fühlt, daß er fühlt; es ist nicht Gefühllosigkeit, die ihn beim Tode der Großmutter in einem kondolierenden Schreiben jene brüchigen Worte aussprechen läßt: »Verkennen Sie mich nicht, wenn ich über den Verlust unserer nun seligen Großmutter mehr die notwendige Fassung, als das Leiden ausdrücke, das die Liebe in unseren Herzen fühlt.« Das Gefühl, obwohl in Hölderlins zartem Geist noch anwesend, vermag in der Tat sich nicht mehr als Äußerung darzustellen, – nicht mehr spontan, direkt und an den Anlaß gebunden. In den monotonen, völlig des Eigenlebens entblößten Floskeln, aus denen sich die Briefe der Spätzeit zusammensetzen, sucht und findet es seine äußerste, nur mehr gespensterhafte Erscheinung.

Die Schwermut vermag weder Wasser zu schöpfen, noch Trauben zu greifen. Und tantalusgleich vermag sie auch nicht zu verenden. Die letzten hymnischen Bruchstücke Hölderlins sind ein vergebliches Greifen der Schwermut nach dem Besitz des Gedichts. Die Notwendigkeit ihres fragmentarischen Charakters ist fast unabweisbar. Noch steht der Gegenstand des Gefühls dem Sänger deutlich vor Augen. Ausdrückbar aber ist er nicht mehr. Die Formel, die oft die noch übrigbleibende Spanne zwischen der längsten, äußersten Reichweite seines geistigen Griffes und dem trotz allem noch nicht erreichten Gegenstand überbrückt, – jenes stereotype, in den Hymnen und Bruchstücken auftauchende »Vieles wäre zu sagen davon«, ist häufiger zu ergänzen, als es Hölderlin in Wirklichkeit tat. Die Mittel des Dichters stehen ihm nach wie vor zur Verfügung: die Sprache, die Schau, die Ergriffenheit. Der Inhalt aber, der die Form des Gedichtes bestimmen sollte: seinen Anfang, Aufstieg und Ende, die Umrisse und Grenzen des Ausgesagten, die Ordnung und Bezogenheit seiner einzelnen Teile, – der Inhalt, der, aus Hölderlins Welt geboren, aus seinem Bewußtsein durchaus nicht gelöscht, sondern immer noch wahrhaft geglaubt ist, wird nun gegen Hölderlins Willen, der unter dieser Ohnmacht bis zur Verzweiflung litt, von seiner Schwermut bündig verweigert. An der Sprache selbst, in deren Welt die Verhaltungsweisen des Geistes ihre sichtliche Auswirkung finden, läßt sich der Vorgang am besten verfolgen. Die Syntax verliert ihre Gesetzhaftigkeit. Der logische Bau des Satzes zerfällt. Er spricht keinen Inhalt mehr aus, sondern sucht nun, indem er vergeblich sich müht, mit seinen Gliedern gleich ausgestreckten Armen einen Inhalt zu greifen. Die letzten Entwürfe sind typisch dafür. »Wenn nämlich der Rebe Saft«, hebt einer von ihnen an und ruht, das Ziel des Sagenwollens, die Absicht vergessend, bei einem Bilde sich aus: Die Traube! Sie »wächset unter dem kühlen / Gewölbe der Blätter, / Den Männern eine Stärke, / Wohl aber duftend den Jungfraun, / Und Bienen«. Und der Ausdruckswille sucht fortzufahren, abermals mit einem Wenn beginnend, bei neuen Bildern verweilend, um schließlich bei der Folgerung, die nun zu ziehen wäre, beim Eigentlichen, das gesagt werden sollte, ermattet zurückzusinken. Die Rede bricht ab; in einem vereinzelten Bild, das völlig im Leeren hängt: »... die Eiche rauschet ...«, verlallt sie.

Der Untergang des erfahrenden Menschen, der der Schwermut erlag und mit dem auch der Untergang des aus seiner hymnischen Welt gewaltsam vertriebenen, willentlichen und seiner selbst bewußten Dichters zusammenhing, hat aber nicht vermocht, das eingeborene Dichtertum in Hölderlin ganz zu zerstören. Es dichtete weiter in ihm als ein Es. Eine Weile noch wirkte in dem personlos gewordenen Geist die selbsttätige Kraft seines Daimons; freilich nur in Willkür sich äußernd, Bilder und Worte ergreifend, ohne des Menschengesetzes, ohne der Form noch zu achten. Der Wille des Dichters verfügte nicht mehr über die Kraft, einem hier offensichtlich neu aufkommenden Inhalt zur Geburt der Vollendung zu helfen.

*

In Hölderlin erlebte das Lyrische eine selten pure Erscheinung – wohl die am reinsten ausgebildete, die je im Bereich der deutschen Sprache erschien. Hölderlin war sich dieser Sondernatur bewußt. Im Verlauf des Homburger Aufenthaltes, als ihm die glückliche Zeit einer stillen Innen- und Außenbeschau, die Tage eines uneingeschränkten dichterischen Sichselbergehörens gewährt wurden, zog er, im Januar 1799, in einem an die Mutter gerichteten Zwiegespräch mit sich selbst den entscheidenden Trennungsstrich zwischen Dichtung und Philosophie. Er habe den Namen eines leeren Poeten bisher gefürchtet und habe sich, um diesem Odium zu entgehen, mit Philosophie befaßt, aber nur Unfrieden und Mißmut dabei erlebt. Der Dichter emanzipierte sich jetzt, er fand, daß die Philosophie ihn von der ihm »eigentümlichen« Neigung entfernte.

Das Gedicht ist nicht allein Träger eines genau zu umreißenden Inhalts, es läßt sich nicht trennen in den Ausdruck an sich und in etwas, das ausgedrückt werden soll. Überhaupt ist es fraglich, wie weit solche Trennung im Sprachlichen geht. Fast scheint es, als ob der vollendete Gedanke von einem vollendeten Sprachleib nicht mehr zu trennen sei. Sprachlich betrachtet steht der lyrische Ausdruck zu dem prosaischen nicht im Gegensatz. Bricht man einmal mit der oberflächlichen Ansicht, die das Lyrische in der Sprache als eine schmückende und verspielte, gewundene und geschraubte Umschreibung eines einfachen Sachverhaltes betrachtet, so ergibt sich die Einsicht, daß das Lyrische dem Prosaischen gegenüber eine Steigerung ist, ein Mehr an Genauigkeit, ein Mehr in den Möglichkeiten des Ausdrucks. Könnte etwa das lyrisch Gesagte in Prosa mit eben der unmittelbaren Vollzähligkeit in Erscheinung treten? Die Prosa, üblich verstanden, erreicht ihre Vollständigkeit durch ein Summieren. Ein einziger Vers aber kann den Blick auf weiteste Landschaften öffnen. Der lyrische Ausdruck bedeutet nicht nur – er ist. Ein Etwas liegt ihm zugrunde, durch welches die Sprache über ihre Mittler- und Dienerstellung emporsteigt und für den auszudrückenden Inhalt Bedeutung und Sinn einer Vorbedingung erhält. Der Inhalt wird zum Anlaß für eine aus sich selbst – aus des Dichters Gnaden – bestehende Sprache, so sehr, daß, wie man finden wird, das mächtig werdende Wort bei den Dichtern zuweilen sich selbständig macht, in Dunkelheiten hineinstößt, in die der Verstand ihm nicht mehr zu folgen vermag.

Inhalt und Ausdruck, Gedanke und Wort sind nicht voneinander zu scheiden. Lyrik entspringt, indem sie mehr als nur eine Kunstform ist, aus einer bestimmten geistigen Haltung, die sich, wie bei Hölderlin, eine ganz bestimmte Lebensform schafft. Das ursprünglich Lyrische ist Natur, eine seinem Träger, dem Dichter, eigentümliche Geistes- und Seelenverfassung, die zwar, dem Willen unterworfen, auch willentlich angewandt werden kann, doch über eigene Kraft zur Genüge verfügt, um, wie in Hölderlins Spätzeit, über die Ohnmacht des Bewußtseins hinauszuwirken. Dem Dichter ist die Sprache als Gabe verliehen. Auch wenn er sie nicht mehr zu bändigen weiß: anzuwenden auf eine zielgebundene Absicht, bleibt sie ihm dennoch getreu, ungetrennt von seiner Natur, schaffend und schöpferisch, solange in ihm überhaupt noch ein Leben wirkt.

Hier nun nicht eine entscheidende Grenze zu setzen, sondern fortzufahren in der Betrachtung, ist um so eher erlaubt, als das Gedicht ein eigentlich unbegrenztes Gebilde ist, – ein Wesen, dessen äußerer Umfang zu seinem innerlich abgeschrittenen und immer noch abschreitbaren Bereich in einem Verhältnis eigenartiger Unverbindlichkeit, wenn nicht gar Unerheblichkeit steht. Das Gedicht ist seinem Charakter nach fragmentarisch. Es kann sich in seinen einzelnen Teilen, im einzelnen Vers von einer Vollendung erweisen, die einen Zusammenhang des Ganzen eher zerstört als fördert. Als Ausdruck einer psychischen Erregung, die weder mit dem ersten vernehmbaren Wort ihren Anfang nimmt, noch mit dem letzten ihre Beruhigung findet, in jeder Einzelheit aber vollkommen ausgesagt wird, ist das Gedicht ein selten in sich geschlossenes Werk. Ein jedes verlangt nach dem nächsten; und zugleich sind zehn Gedichte nicht mehr als eins. Was hier als eine Eigenschaft neben anderen dem Gedicht im allgemeinen nachgesagt sei, gewinnt bei Hölderlins spätesten Hymnen die Bedeutung eines herrscherlichen Prinzips. Es setzte sich gleichsam aus eigener Kraft, ohne daß es Hölderlin nutzte, an die Stelle des anderen, welches verlorenging. So ist in der noch äußerlich undurchbrochenen, »Andenken« überschriebenen Hymne das idealische Gedankengerüst nicht mehr ersichtlich. Man kann hier nur noch vermuten. Allein das Thema klingt an, das die Macht der Erinnerung anruft:

– – – Es nehmet aber und giebt
Gedächtnis die See,
Und die Lieb' auch heftet fleißige Augen.
Was bleibet aber, stiften die Dichter.

Dies der Trost, den der Schluß verheißt. Durch die vorigen Strophen geistert jedoch die schrecklichere Einsicht in die Ungeborgenheit und Hinflucht des menschlichen Daseins. Eine Weltklage wird hier angestimmt, deren Töne noch in »Patmos« unbekannt sind. Die Hoffnungslosigkeit, die bisher noch unter der äußersten Anspannung der Seele durch den Glauben an eine immer geheimnisvoller und immer stärker verrätselte Gottheit unterdrückt werden konnte, bricht nun rettungslos, hemmungslos durch. Seltsam genug, daß die Anrufung Gottes fehlt. Das Tröstliche fließt allein aus der Menschennatur: aus dem Dichter, in dem sie erhoben wird als dem Bewahrer, dem Deuter, als dem nun freilich schon machtlos und müde gewordenen, vor dem Geheimnis der furchtbaren Ordnung zurücksinkenden, es nicht mehr ergreifen könnenden, zerquälten und schwermutgelähmten, der die Vergessenheit anruft:

Es reiche aber,
Des dunklen Lichtes voll,
Mir einer den duftenden Becher,
Damit ich ruhen möge; denn süß
Wär' unter Schatten der Schlummer.

Der Dichter, der bisher des Umgangs mit Himmlischen gewohnt war, hält sich nun ganz an das Menschliche, gesellt sich unter die Einfachen, die ein schlichtes Erzählen und Hören erbaut:

– – – doch gut
Ist ein Gespräch und zu sagen
Des Herzens Meinung, zu hören viel
Von Tagen der Lieb',
Und Thaten, welche geschehen.

Genügt es nicht, die Dinge einfach beim Namen zu nennen? Außerhalb einer authentischen Offenbarung offenbart sich der Welt kein Gott. Mehr und mehr sucht Hölderlin, ahnend, daß den Erscheinungen etwas zugrunde liegt, dies ihm Verborgene, unausdeutbar und unaussprechlich Gewordene auszusagen durch die Wiedergabe eines gesichteten Bildes. Indem die Erscheinung getreulich betrachtet wird, angeschaut von der empfindlichen und zutiefst ergreifbaren Seele des Lyrikers, bis sich ihr hinterphysisches Wesen der Sprache zum Ausdruck ergibt, ist das Äußerste, das noch gesagt werden kann, erreicht.

Erstmalig wird diese Sagweise in den Langzeilen üblich. Das Bild der Nacht, das der »Brot-und-Wein«-Elegie vorangestellt ist, enthält in sich einbeschlossen das Verhältnis des hölderlinischen Menschen zur Übernatur. Allein durch das Bild – nicht durch den Finger beweisbar, sondern nur als Spürung noch deutlich – wird das Verhältnis umschrieben. Nacht liegt über der Schöpfung, die Götter sind eingedämmert, und dennoch: ganz der Hoffnung entlegen ist diese Dunkelheit nicht. Irgendein Wirksames waltet noch seelenbewahrend in ihr. Die weiteren acht Teile der Elegie, in denen der Dichter diese Anschauung auszudeuten, der menschlichen Einsicht zu erschließen und in ihrem Zusammenhang darzulegen versucht, machen sie aber nicht klarer; sie ergeben eine mühsamste Konstruktion, die an gewissen Stellen wiederum ohne die Beweiskraft des undurchdringlichen Bildes nicht auskommt.

Dieses hölderlinsche Bild: klar, scharf, dringlich; bohrend und herzdurchtreffend, nicht einfach, nicht leicht, deutlich und doch nicht faßbar, bei allem Gestrahle dunkel; genau und doch unverständlich, schwer und schwebend zugleich, nimmt im Gedicht von Mal zu Mal einen unabhängiger werdenden Platz ein. »Dunkles Licht!« Das Widersprüchliche ist wie die Greifzange, mit der die Sprache die Anschauung packt. Obwohl zwischen den Bedeutungen der beiden Worte keine Beziehung besteht, die sinnvoll erklärt werden könnte, erscheint dazwischen ein wahres und wirklich vorhandenes Bild.

Die Beharrlichkeit und Geduld, die Treue besonders von Hölderlins Anschauungsweise kam ganz gesetzhaft ans Ziel. Das Ideal ging in Brüche, aus den Trümmern aber entstanden Ideen. Die Kraft reichte nicht mehr hin, um den Stoff an Wirklichkeit, aus dem das idealische Reich erbaut werden sollte, zu fügen. Aber indem sich der Dichter dieses Stoffes durch seine Anschauung bemächtigte, zeigte er an der sinnlichen Wirklichkeit, die er benamste, die Urbilder auf; er nennt mit seinem Wort die Erscheinung, und da seine Sprache seherisch ist, erscheint zugleich deren geistiges Bild. Von der Donau heißt es:

Man nennet aber diesen den Ister.
Schön wohnt er. Es brennet der Säulen Laub,
Und reget sich. Wild stehn
Sie aufgerichtet, untereinander; darob
Ein zweites Maas, springt vor
Von Felsen das Dach. – – –

Die Donaulandschaft bei Beuron, wo der Fluß zwischen kurzen bewaldeten Steilabhängen dahinströmt, während darüber, wie Architrav und Giebel, senkrecht die Felswände lasten, erhält hier das gültige Bild ihres Wesens. Desgleichen wird die Landschaft bei Donaueschingen beschworen. Das idealische Bauwerk des Gedichtes blieb darüber Ruine; kaum der Grundriß zeichnet sich ab. Wenn noch die Rheinhymne Bild und Erscheinung des Flusses als eine riesige Metapher zusammenhängend und deutlich auf Leben und Schicksal des Menschen bezieht, auf das (schon schwermutverdunkelte) Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf, wenn hier noch das Bild Mittel ist, um einen gedanklichen Inhalt zu leiten, so erklingt in der Donauhymne das beabsichtigte Thema des west-östlichen Geistesaustausches nur noch in abgerissenen Tönen. Die Idee, das Urbild des »Isters« wiegt über. Auch das Gemeinte, Verkündete, Lehrhafte verwickelt sich immer mehr ins undurchdringliche Bild. Im selben Gedicht erfährt man auch die Begründung: In Zeichen nämlich rede der Dichter! Der Gedanke wird gleichsam konkret. In der Erscheinung eines Flusses: in der Donau liegt, wie Hölderlin ahnt, ein Weltgedanke beschlossen, ein Hinweis aus dieser Welt hinaus:

– – – Ein Zeichen braucht es,
Nichts anderes, schlecht und recht, damit es Sonn'
Und Mond trag' im Gemüt, untrennbar,
Und fortgeh, Tag und Nacht auch, und
Die Himmlischen warm sich fühlen aneinander.

Warum und wieso? Die Einsicht vermag das Erschaute nicht mehr zueinander in Ordnung zu setzen. Gott ist da, das weiß noch die letzte, an den Freund Sinclair gerichtete Strophe der Rheinhymne, wenn auch »alles gemischt ist ordnungslos und wiederkehrt uralte Verwirrung«. Der Ister indessen schließt mit der vorbehaltsvolleren Wendung: »Was aber jener thuet, der Strom, weis niemand.«

Dies Nicht-mehr-wissen-Können zerschied die Form von Hölderlins Gedicht. Das Hymnenstück, welches beginnt »Reif sind, in Feuer getaucht«, und welches beispielhaft ist für die Verbildlichung des Gedankens, leiht dieser Erfahrung einen bei aller Dunkelheit genauesten Ausdruck. Das Wirkliche, wie es dem »Ungebundenen« scheint, hat die Unordnung als Gesetz; wohl wirkt im Grunde eine geheime, verborgene Ordnung nach, in welche »alles hineingeht, Schlangen gleich, prophetisch, träumend auf den Hügeln des Himmels ... Aber bös sind die Pfade«. Und vieles »ist zu behalten«. Hölderlin hält dieser Not, durch welche der unbekannte Gott sein Gesetz den Menschen auferlegt, bis zur Erschöpfung die »Treue«. »Was ist Gott«, fragt ein anderes Bruchstück: – »unbekannt, dennoch voll Eigenschaften ist das Angesicht des Himmels von ihm«, und weiter: »Jemehr ist eines unsichtbar, schicket es sich in Fremdes.«

Die Stimme des Künders, des Lehrers und Predigers, wodurch einst Hölderlin Sinn und Aufgabe des Dichters zu erfüllen trachtete, muß nun vor dieser Fremdheit und ihrer Schau verstummen. Allein der Gesang, der sie zum Gegenstand nimmt, findet einen noch wenigstens äußeren Abschluß: – so der »Ister« und jene »Andenken« genannte Hymne, die das Weichbild Bordeaux', die Garogne- und Dordogne-Landschaft beschwört, so das eben erwähnte Gedicht, sowie einige kleinere zusammenhängende Stücke aus den Fragmenten. Das Fremde liegt in den Dingen. Auch die Natur wird nun fremd und übt durch ihre vertraute Erscheinung hindurch auf den Dichter einen magischen Bann aus. Noch ist der Sprachgeist mächtig genug, das Erschaute mit unverminderter Stärke ins Wort zu verlegen. Sobald aber Hölderlin sucht, es unter sich in Bezug zu setzen, muß er vor der Widerspenstigkeit seines verborgenen, aber richtigeren Inhalts ermatten. Als weitzerstreute Trümmer bleiben die Anschauungen auf dem imaginären Grundriß der Hymne zurück. An sich sind sie äußerst markant profiliert. Ihre Genauigkeit ist von der Überschärfe, mit der die Seele – hierin dem Geist überlegen – die Magie eines sinnlichen Eindruckes aufzunehmen vermag:

– – – des Mittags, wenn im falben Kornfeld
Das Wachstum rauscht, an geradem Halm,
Und den Naken die Ähre seitwärts beugt
Dem Herbste gleich – – –

An der Konkretheit der Dinge erweist sich ein Sein, das glaubwürdiger ist, wenn zugleich auch unerklärlicher als jenes, über das uns die Reflexion belehrt. Hölderlin, einst der idealischste unter den Dichtern, der Geistverzückte, der Schwärmerische, wendet sich ausgesprochen dem Dinglichen zu:

Indessen laß mich wandeln
Und wilde Beeren pflücken,
Zu löschen die Liebe zu dir
An deinen Pfaden, o Erd'.

Die Welt, die in den Fragmenten nun neu entdeckt wird und die, nur erst unvollständig, an Stelle der hymnischen tritt, ist eine enge und ihrer geistigen Topographie nach äußerst niedrig gelegene. Es ist die Heimat, die jedoch nicht mehr, wie einst in der »Wanderung«, als ein in das Mythische hinaufgehobenes Land erscheint, sondern sich jetzt als ein durchaus konkretes, als ein zuweilen geradezu deftiges Württemberg zeigt. Es finden sich Spuren von Stoffen, allerdings hölderlinisch verdichtet, wie sie sonst nur der gemütlichen Heimatdichtung geläufig sind.

Es liebet aber der Sämann
Zu sehen eine,
Des Tages schlafend über
Dem Strickstrumpf.

Nicht will wohllauten
Der deutsche Mund,
Aber lieblich rauschen
Am stechenden Bart
Die Küsse.

Der schwäbische Zug prägt sich um diese Zeit an Hölderlins Wesen bestimmend wie nie zuvor aus. Der hier sieht, fühlt und horcht, der hier sieht vor allem, dem Schwäbischen eigentümliche Dinge betrachtet, ist ein Schwabe, wie er fast unverkennbar nur aus der Gegend Altwürttembergs stammt. Die Sprache mit ihrer Überfülle an bodenständiger Bildung kommt noch verstärkend hinzu. Es geht hier um einfachste und besonderste Gegenstände:

Auf falbem Laube ruhet
Die Traube, des Weines Hoffnung
also ruhet auf der Wange
Der Schatten von dem goldenen
Schmuck, der hängt
Am Ohre der Jungfrau.

Die Genügsamkeit, mit der sich die Seele auf Irdisches wendet, verkehrt sich aber in Reichtum, denn hinter einer Metapher wie dieser, die in ihrer geistlichen Sinnlichkeit dem Griechischen näher verwandt ist als die frühere romantische Griechenlandsehnsucht, drängt sich ein Überfluß an geschöpflicher Freude zusammen, der aus dem Ewigen kommt und dorthin, von der Fülle dieser Erscheinung aus, wieder zurückverfolgt werden kann. Weinberg und Traube, die das Draußen ständig bestätigen, erweisen sich als höchst dauerhafte Symbole. Das Sinnbild des Lebens, das sie enthalten, ist unzerstörbar. Ein anderes Bruchstück sagt es geradewegs aus:

Wenn über den Weinberg es flammt
Und schwarz wie Kohlen
Aussiehet um die Zeit
Des Herbstes der Weinberg, wird
– – – – – – – – –
Die Röhre des Lebens üppiger atmen
In dem Nektar des Weinstocks.

Ein Mißtrauen gegen die idealische Deutung des Lebens setzt sich bei Hölderlin durch; das einfachere, ungebrochenere Dasein erfährt seine Rühmung. In den Tübinger Jahren der Spätzeit, denen als wahnsinnbewölkt die Gültigkeit abgesprochen wird, findet sich Hölderlin im Besitz eines Bewußtseins, das noch um den neuen, besonderen Zustand weiß und auf durchaus ernsthafte, wenn auch von den späteren Betrachtern nur selten ernsthaft genommene Weise gegen die frühere Wertewelt sich abzusetzen getraut. Aus der Gegenwart, aus dem Täglichen, das dem Romantiker früher nur hinsichtlich seiner idealischen Deutbarkeit galt, fließt nun eine Zufriedenheit, die im Vorhandenen einen hilfreicheren Beistand ahnt. Auch der Fels ist nun »zur Waide gut«, und das »Trockne zu Trank«. »Will einer wohnen«, heißt es, jenes kleine, noch heute erhaltene Tübinger Haus zwischen Neckarufer und Steilhang der Stadt, wo Hölderlin wohnte, umschreibend:

Will einer wohnen,
So sei es an Treppen,
Und wo ein Häuslein hinabhängt
Am Wasser, halte dich auf.
Und was du liebst, ist,
Athem zu hohlen.
– – – – – – – – – –
Denn wo die Augen zugedeckt,
Und gebunden die Füße sind,
Da wirst du es finden ...

Der Fund: die Wirklichkeiten der täglich durchgangenen Landschaft, die mit Leidenschaft betrachteten Dinge, sind gleichsam mit Händen zu greifen. Nur der Mensch, der zwischen den Grenzen irrt, ein im Hiesigen eigentlich Heimatloser, vermag sie wahrhaft beim Namen zu nennen. Dem Materialisten bleiben sie unauffällig: – ein Stoff, den er handhabt; dem Idealisten sind sie ein Hindernis, kantig und trübe. Der Demut aber des Gastes, des christlichen wie des bloßen, übergeben sich die Dinge in ihrer Ganzheit als Gastgeschenk.

*

Tübingen, wo Hölderlin die zweite, die dunklere und größere Hälfte seines Lebens verbrachte, liegt im dichtesten Württemberg. Trotz der Gemessenheit ihrer Form und der Zartheit der Linien ist die Landschaft dort seltsam nüchtern und herb. Östlich des Neckars steigt man zwei Stunden lang den bewaldeten, burgenbestandenen Steilhang des Schwäbischen Juras hinan, um dann die dürftige, kahle, sanft hinunter sich schrägende Ebene der Rauhen Alb zu überblicken; nach Westen dehnt sich ein Laubwald, der Schönbuch. Ein unsinnlicher Menschenschlag hat seit Jahrhunderten aufgehört, in die Landschaft große Bauten zu stellen. Bebenhausen, unweit der Stadt, hat eine romanische Klosterkirche, – eine letzte Erscheinung der hohen Baukunst. Schon die Stiftskirche Tübingens in ihrer biedermännischen Gotik ist nur ein zur Repräsentation mit Schmuck versehener Zweckbau: ein Betsaal und feste Burg Gottes, ähnlich der weltlichen Burg, die auf der Höhe der Bergstadt wacht, und deren Innenhof, den man durch ein modisches Renaissancetor betritt, mit dem Fachwerk der Wände den Anblick eines riesigen Weingärtnerhauses bietet. Die abstrakte Spiritualität des Calvinismus und eine prosaische Nüchternheit sind auf Sonntag und Werktag peinlich verteilt. Es ist nicht zufällig, daß es im benachbarten Strohgäu von Waldensern gegründete Dörfer mit französischen Namen gibt. Die Erde wird nur genutzt. Kaum irgendwo wird ein mühsamerer Weinbau betrieben. Der Gag, wie der Tübinger Stadtbauer heißt, ist seiner holzigen Grobheit, seiner Profitlichkeit und seiner Schläue wegen bekannt.

Die hervorragenden Geister, die Württemberg in das Reich der Unsterblichen entsandt hat, sind nicht, wie der landläufige schwäbische Spruch voller Selbstgefälligkeit meint, für den Volksschlag als Regel und Norm zu betrachten. (Anm.: Der Schiller und der Hegel, / der Uhland und der Hauff, / das ist bei uns die Regel, / fällt gar nicht weiter auf.) Vielmehr stellen sie Reaktionserscheinungen von einzelnen dar, die gegen einen generellen Charakter des Volkes in Aufstand begriffen sind. Die Häufigkeit dieser Fälle spricht nur in gegnerischem Sinn für das Übliche. Die großen Schwaben sind meistens außer Landes gegangen, da der Sinn für Größe im Volke wenig entwickelt ist. Ihr Auftreten wird zunächst mit Skepsis betrachtet, ein ungewohntes Maß empfindet der Schwabe unwillkürlich als lächerlich oder närrisch, und erst aus der Entfernung der Vergangenheit, wenn Ertrag und Gewinn klar auf der Hand liegen, weiß er die Größe zu schätzen. Das Verspielte und Spielerische, auch in seiner männlichsten Ernsthaftigkeit, liegt seinem wackeren, auf Nutzen bedachten Wesen fern. Unmöglich, daß ein schwäbischer Schreiner eine Laune einmal wichtiger nähme als seine Geschäftigkeit und etwa an Stelle von Bettladen und Särgen das Modell eines griechischen Tempels fertigte. Als Hölderlin den Meister Zimmer, bei dem er in Kost gegeben war, eines Tags darum bat, lehnte der Biedermann dieses Ansinnen rundweg ab und entgegnete, wie er selbst in einem Brief an Hölderlins Mutter erzählt, nicht ohne einen pharisäischen Ton in der Stimme, er müsse um Brot arbeiten und »sey nicht so glücklich so in Philosophischer Ruhe zu leben wie Er«. Hölderlin, aufs tiefste betroffen, brach in Klagen aus, und in der nämlichen Minute schrieb er mit Bleistift auf ein Brett:

Die Linien des Lebens sind verschieden,
Wie Wege sind, und wie der Berge Gränzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

Das »Atemholen« wollte ihm nicht mehr unbeschadet gelingen. Das Ich war zerspalten. Hölderlin band sich wie Masken die seltsamsten Einbildungen um. Zuweilen, wenn das unversehrte Bewußtsein wieder sich einstellte, ihm seinen Zustand erhellend, fühlte er sich von Schmerz und Überdruß über sich selbst zerrissen. Mit rührender Liebe hängt er sich an das Irdische, hängt ihm als seiner einzigen Rettung an. Um die nun schlichten Erfahrungen auszusagen: Natur und die ewige Wiederkehr der jährlichen Zeiten, gebraucht er gewöhnlich als einfachste und von außen her auferlegte Form einen jambischen, weniger oft trochäischen Vierzeiler. Doch keiner der Verse ist starr. Ein eigentümlich untergründiger, zarter und spiritueller Rhythmus durchlebt ihr festes Gefüge, umfaßt auch die hin und wieder sich einstellenden Unebenheiten des sprachlichen Ausdrucks und wirkt auf sie ein, als stelle er sie in den Dienst einer besonders gesuchten Genauigkeit.

Holde Landschaft! wo die Straße
Mittendurch sehr eben geht,
Wo der Mond aufsteigt, der blasse,
Wenn der Abendwind entsteht,
Wo die Natur sehr einfältig,
Wo die Berg' erhaben stehn,
Geh' ich heim zuletzt, haushältig,
Dort nach goldnem Wein zu sehn.

Ein Leben an sich, wie es das umfangreiche Gedicht »Die Zufriedenheit« und zahlreiche andere Spruchstrophen rühmen, ist nun die höchste Erstrebung, – Verzicht und Erfüllung zugleich. Solange er lebt, gehört der Mensch dieser Erde. Vergeblich, die Sterne ergreifen zu wollen. Jene reinliche Trennung, die der schwäbische Lebensstil zwischen den beiden Bereichen und ihren Ansprüchen macht, erscheint nun auch hier, aber abgewandelt ins Freudigere, Schönere, Größere: – musisch verklärt. Die Natur ist ein Abglanz des Himmels und gibt dem Glücklichen einen Vorgeschmack auf das nun indiskutable, als Notwendigkeit angenommene, blindlingsgeglaubte Jenseits. Hölderlins Ich flüchtet sich in eine verbindliche, vielfach gesicherte und äußerst habhafte Allgemeinheit. Zwar war der ärmliche Spaziergänger auf den mit Silberweiden bestandenen Neckarauen des Lebens, das er jetzt pries, durchaus nicht in buchstäblichem Sinne teilhaftig. Eine gelinde Sehnsucht schlägt in den Versen sich durch. Aber wenigstens stand das begehrte Leben, anders als einst die idealische Forderung, zum gegebenen Tag nicht in unvereinbarem Gegensatz. Im selben Raum lag es in menschlicher Reichweite da, es war nur ausladender, reichlicher, stärker. Während der Große der Erde dahinritt, ging der Dichter simpel zu Fuß. Er tat es willig, denn beide atmeten ein und dieselbe Luft. Die Ungleichheit der Geschicke ist nicht schmerzlich, sie fühlt sich aufgehoben in der wirtlichen Ganzheit, mit der eine in sich geschlossene Welt das Leben umfängt. Eine eigentümliche Geistlichkeit verklärt die realistischen Bilder, in denen sich die Vorstellung des späten Hölderlin ergeht. Der württembergische Obstgutbesitzer verwandelt sich in einen biblischen Herrn. Der Reichtum erhält etwas Zauberisches, er legt seine dumpfe und feindselige Stofflichkeit ab und zeigt sich in seiner irdischen gottgewollten Erscheinung als eine belebende, veredelnde und begütigende Macht. Es ist, als erzeuge er das einzig entsprechende Klima, unter dem der Mensch in seiner vollen Würde gedeiht. Schon sein bloßes Vorhandensein bedeutet dem Armen Aufrichtung, Freude und Trost. Er ist der Mäzen des stillen Gedankens, der ruhigen in der Natur geübten Beschaulichkeit, Schönheit und Sicherheit herrschen durch ihn in der Welt:

Wenn Einer ist mit Gütern reich beglüket,
Wenn Obst den Garten ihm, und Gold ausschmüket
Die Wohnung und das Haus, was mag er haben
Noch mehr in dieser Welt, sein Herz zu laben?

Alttestamentarische und antike Lebensluft kommen in diesen Versen, sich gegenseitig mildernd, zu einer vom Dichter wohl kaum noch beabsichtigten Mischung zusammen. Booz steht hier in der Hut eines Gottes, der, von menschlicherer Gesinnung als der biblische, einen Hiob nicht zugrunde richtete, und Horaz, der sein Landgut besingt, könnte der Stoa, die er braucht, um das antikische Gefühl seiner Weltverlorenheit zu beschwichtigen, ruhig entbehren. Nur ein zuäußerst genötigter Mensch konnte das Bild dieses wohnlichen, wenig gefährlichen Daseins entwerfen. Teuer genug war die Einfalt erkauft. Der Preis eines Lebens reichte kaum für sie hin. Nicht träge Genügsamkeit, sondern ein unabschätzbares Maß an Verzicht ist der Untergrund dieser Idyllik. Gedanke und Erscheinung ihrer arglosen Welt besitzen die Leuchtkraft einer Hinterglasmalerei, deren Farben ein schwarzes Papier unterlegt ist. Ein unbekannter Hölderlinmythos zeichnet sich ab. Neben dem tragisch göttlichen Jünglingsantlitz mit den ebenmäßigen Zügen taucht die Erscheinung des Greises auf, wie sie eine Bleistiftzeichnung bewahrt: vorgebückt, den Finger weisend erhoben ... Es scheint, indem das Leben in seiner Unerforschlichkeit sich ruhig des Tragischen annahm, als wäre erst hier ein Schicksal getreuer erfüllt.


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