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Oberst Lawrence

Als Thomas Edward Lawrence, ein unbekannter, in Kairo stationierter englischer Nachrichtenoffizier, im Mai 1917 die Führung des arabischen Aufstandes übernahm, begann er ein Unternehmen, das im Herbst 1918 mit der Eroberung von Damaskus endete und den Dreißigjährigen auf den Gipfel des Ruhmes hob.

In der Tragödie des Weltkrieges, die sich an entscheidender Stelle unter dem Verhängnis der Trägheit des menschlichen Geistes vollzog, war dieser Feldzug des englischen Leutnants eine der wenigen großen und bewunderungswürdigen Szenen, dank der Geschlossenheit, mit der ihr Schöpfer sie aufgebaut hat, und dank der Krönung durch den glücklichen Ausgang vielleicht die großartigste – eine Leistung, die sich von Grund auf als derart vollkommen erweist, daß ihr jene allgemeinere und uneingeschränktere Bewunderung gezollt werden muß, wie sie im Verlauf der Geschichte nur wenige kriegerische Unternehmungen sich verdient haben, und die mehr dem in der Sache wirkenden Geist gilt als dem Umfang der Sache selbst. Da Lawrence seinen Feldzug in einer meisterhaften Beschreibung dem Gedächtnis der Nachwelt überliefert hat, stellt man ihn heute vergleichshalber bereits neben Caesar und Xenophon, und wenn einem sonst dieses auf jedem Gebiet unangenehm üblich gewordene Messen eines Zeitgenossen an unbezweifelten Größen der Vergangenheit als läppische Übertreibung erscheint, so muß diesmal auch ein besonnenes Abwägen der Werte Lawrence die Vergleichswürdigkeit zugestehen. Ja, man darf sich fragen bei der Schwierigkeit der militärischen Aufgabe und der Originalität der strategischen Idee, ob der kleine englische Leutnant nicht unvergleichbar wird dank seiner Größe.

Lawrence entdeckte ein neues strategisches Prinzip, das in der heutigen Kriegswissenschaft fundamentale Bedeutung gewinnt; dabei war er auf diesem Gebiet Dilettant. Er hatte zwar in seinen Oxforder Studienjahren die berühmtesten Feldzüge und Schlachten der Weltgeschichte »durchgespielt« und kannte die wichtigsten Theoretiker. Im besonderen aber interessierten ihn Theorie und Philosophie der Kriegführung nur »nach der metaphysischen Seite hin«; und dies ganze Gebiet war nur ein schmaler Ausschnitt aus dem Kreis seiner Studieninteressen gewesen.

Als Lawrence seinen Feldzug begann, war er ein junger Mensch, der im Kriegswesen kaum so viel praktische Erfahrung besaß wie ein ausgebildeter Rekrut. Eine seltsam abseitige und scheinbar undisziplinierte Jugend lag hinter ihm. Früh schon hatte er sich dem Einfluß seiner mit sich selbst beschäftigten Eltern entzogen. Sein Vater lebte, wie es häufig vor dem Krieg in England der Fall war, als ein unabhängiger Gentleman seinen sportlichen Neigungen, dies bei dürftigen Vermögensverhältnissen; die Mutter, strenge Puritanerin, still, klug, resignierend, geht auf in der einzigen Pflicht, in der sie zugleich ihren Stolz sieht: sie bemüht sich, die materiellen Verhältnisse der Familie in Ordnung zu halten.

Eminent begabt, doch ohne sich um einen geregelten Studiengang zu kümmern, studiert der junge Lawrence in Oxford mit Hilfe eines Stipendiums. Sein Fach war Geschichte; er begnügte sich aber damit, Quellen und prägnante Essays zu lesen, verliert sich in zahlreiche spezielle Wissensgebiete, beschäftigt sich mit Minnesang, Waffenkunde, Archäologie, mittelalterlicher und orientalischer, und bearbeitet schließlich ein Thema aus der Kriegsbaukunst der Kreuzzüge. Um das Material zu sammeln, streift er monatelang durch Syrien, allein, als Fußwanderer; Verächter der europäischen Vorurteile im allgemeinen und der englischen ganz im besonderen, lebt er mit den untersten sozialen Schichten des Landes.

Nach Abschluß seines Studiums findet er eine Beschäftigung bei den Ausgrabungsarbeiten einer Expedition am oberen Euphrat. In Vorderasien blieb er fast ununterbrochen bis zu Beginn des Weltkrieges, interessierte sich nicht nur für hettitische Archäologie, sondern erwarb sich auch auf weiten Ferienreisen nach lawrencescher Art eine gründliche Kenntnis von Land und Leuten und war schließlich an einer offiziösen Spionage beteiligt, die, als wissenschaftliche Expedition getarnt, eine Erkundung des Sinai-Gebietes unternahm. Bei Ausbruch des Weltkrieges ist er in London; man vermittelt ihm eine Anstellung bei der Geographischen Sektion des Großen Generalstabes. Ohne viel Umstände, eigentlich nur der Form halber, wird er zum Leutnant befördert und kommt einige Zeit später nach Kairo an das Nachrichtenbüro der ägyptischen Armee. Dort werden eben Möglichkeit und Erfolg eines arabischen Aufstandes gegen die Herrschaft der Türkei diskutiert; Lawrence, der die Araber kennt und schätzt, setzt sich begeistert dafür ein – und beginnt damit einen Kampf, den er anfänglich an drei verschiedenen Fronten zu führen hat: gegen seine eigenen Vorgesetzten, gegen Murray vor allem, den militärischen Oberbefehlshaber in Ägypten, einen eitlen Berufssoldaten, der einen Sonderfeldzug zunächst einmal als eine Schädigung seiner eigenen Stellung betrachtete; dann gegen die Araber, deren Stämme durch unentwirrbare Blutrachen untereinander verfeindet waren und die, geldgierig und wankelmütig, jederzeit von der eigenen Sache abzufallen drohten, und schließlich gegen den eigentlichen Feind, gegen die Türken.

Der arabische Aufstand war schon im Anfang steckengeblieben. Lawrence benutzte einen Urlaub, um zum erstenmal in den Hedschas zu reisen und sich über die Lage zu orientieren. In Kairo versuchte man gerade, sich seiner durch eine Versetzung zu entledigen, denn von den hohen Eigenschaften, die Lawrence auszeichneten, wurde die eine seinen Vorgesetzten dadurch beschwerlich, daß sie auf eine andere lieber verzichteten. Es konnte zwar nicht bestritten werden, daß dieser unscheinbare Nachrichtenoffizier zu allem zu gebrauchen war. Kaum ein anderer wußte über die türkische Armee so gut Bescheid, niemand kannte das Gebiet, in dem sie aufmarschierte, so genau. Er war der einzige, der schon Geländekarten nach Fliegeraufnahmen anfertigen konnte. Mit genialem Spürsinn holte er verdächtige Personen aus und erfüllte, wenn die Reihe an ihn kam, anstandslos die heikelsten Geschäfte. Allerdings konnte es dann geschehen, daß er Berichte vorlegte, die den Verantwortlichen nichts an Kritik ersparten. In Anbetracht seiner subalternen Stellung schien dieser Freimut zuweilen an Unverschämtheit zu grenzen. Unterordnung war für Lawrence eine der letzten und seinem sublimen Freiheitsbegriff entsprechend eine der feinsten Entscheidungen der Individualität, keineswegs aber Kadavergehorsam oder noch Schlimmeres: Speichelleckerei. Unterordnung unter sich selbst, das heißt unter die Objektivität eines Tuns, dem man ausschließlich, aber freiwillig obliegt, war für Lawrence das Höchste. Die Anmaßung, mit der er auftreten konnte, richtete sich nur gegen jede Beeinträchtigung oder Verletzung dessen, wofür er sich selbst fanatisch einsetzte. So ist es nur folgerichtig, und nicht etwa als ein Gegensatz erstaunlich, wenn dieser Anmaßung Lawrences eine Beschränkung persönlicher Ansprüche zur Seite stand, die oft hart an Selbstaufgabe streifte.

Die Ereignisse kamen Lawrence zu Hilfe. Ohne einen Auftrag zu haben, suchte er auf seiner Urlaubsreise den Mann, der stark genug war, seine Person mit dem Aufstand Arabiens zu identifizieren. Er fand ihn in Feisal, dem Sohn des Scherifs von Mekka; aus der Begegnung erwuchs eine Freundschaft. Schon waren die Türken im Begriff, von Medina südöstlich nach Mekka zu rücken; Murray sah sich in die Lage versetzt, zu tun, was ihm so unlieb war wie nur möglich: den Arabern eine englische Brigade zu Hilfe zu schicken. In dieser Stunde kam Lawrence mit einem Plan, den er selbst mehr ahnte, als daß er ihm in seinem Wesen schon deutlich gewesen wäre; doch was er davon dem Generalstab in Kairo unterbreitete, stimmte mit dessen heftigsten Wünschen so wohl überein, daß Lawrence plötzlich zu Gunst kam und sich mit einem Male als Fachmann behandelt sah.

Lawrence begriff das Problem zunächst unter negativen Gesichtspunkten. Wenigstens wußte er nach seinem Besuch bei Feisal darüber Bescheid, was der Lage der Araber unzuträglich war. Der Erfolg ihres Aufstandes gegen die türkische Fremdherrschaft wurde allein durch eine nationale Idee verbürgt, die, sobald es zu einer militärischen Intervention von seiten Englands kam, ihre Zugkraft verlieren mußte. Die Türken hätten in diesem Fall die Sache des islamitischen Glaubens gegenüber den unter sich uneinigen und gegen England mißtrauisch gesinnten Araberstämmen für sich in Anspruch genommen, und nicht zu Unrecht: man weiß, daß England keine Hilfe zu leisten gewohnt ist, ohne sich nicht zu entschädigen.

Dann entdeckte Lawrence den Hauptgrund der bisherigen Mißerfolge der Araber in der völligen Verkennung der gegebenen Tatsachen. Eine zusammengeströmte Horde von Aufrührern stand gegen die reguläre moderne türkische Kriegsmacht. Sie mußten unterliegen, wenn sie versuchten, mit ähnlichen, ihrer Eigenart nicht entsprechenden Mitteln zu kämpfen. Lawrence suchte danach, die Schwäche der Araber zu einer Stärke zu machen, und indem er es überlegte, gelang ihm noch mehr: die strategische Idee, die er fand, verkehrte die Überlegenheit der Türken in Ohnmacht.

Lawrence warf alle modernen Theorien der Kriegsführung, einschließlich der seines verehrten Clausewitz, beiseite, als er feststellen mußte, daß ihre Gedankengänge bestimmte Voraussetzungen hatten, die ihm in seiner Lage fehlten. Das Ziel dieser orthodoxen Strategie war die Entscheidungsschlacht, die das Ende des Krieges herbeiführen sollte. Doch war sie nur möglich auf Grund einer ungefähren Gleichwertigkeit der Gegner. Das würde für die Araber zur Folge gehabt haben, daß sie entweder ihre Sache aufgaben oder sich zu einer regulären Armee formierten mit einem ähnlich vollständigen und daher umständlichen mechanischen Apparat, wie ihn die Türken besaßen. Lawrence kannte die Natur des Arabers und wußte, ein solcher Versuch hätte von Anfang an scheitern müssen. Die Einzelpersönlichkeit des Arabers war ein derart ungefüger Komplex, mit einer solchen Unzahl von Schwächen und freilich ebenso vielen Vorzügen, daß es unmöglich war, sie in einer militärischen Einheit aufgehen zu lassen. Die Gegenüberstellung einer formierten Truppe von Arabern gegen eine zahlenmäßig unterlegene, aber gut disziplinierte Truppe von Türken in offener Feldschlacht hätte unweigerlich mit der Niederlage der Araber geendet. Hingegen konnten, impulsiv aus dem Augenblick und aus der gegebenen Situation heraus, einige wenige Araber eine türkische Übermacht mit Leichtigkeit überrennen. In dem Feldzug, den Lawrence unternahm, war das Individuum der oberste Wert. Der Mensch war hier nicht als Material zu betrachten wie bei einer modernen Armee, sondern konnte nur unter der größten Verantwortung der Gefahr der Vernichtung ausgesetzt werden. Als später bei der Eroberung von Wedsch zwanzig Araber fielen, bedeutete das einen schwer erkauften Erfolg. Lawrence mußte Siege erringen, ohne einen einzigen Mann zu verlieren.

Während an der europäischen Westfront die feindlichen Heere unter einem ungeheuren Verbrauch von lebendem und totem Material getreu dem Prinzip, eine Entscheidungsschlacht herbeiführen zu wollen, jahrelang einander gegenüberlagen, bis schließlich die stärkere Materialmasse die schwächere erdrückte, kam in der arabischen Wüste außerhalb des entscheidenden Geschehens ein Mann auf den Gedanken, daß eigentlich die Schlacht nicht unbedingt notwendig sei, um den Krieg zu gewinnen, daß sie vielmehr nur eines neben zahlreichen anderen Mitteln darstelle, von denen z. B. die allmähliche Lähmung des Gegners ein ihr mindestens ebenbürtiges sei. Er kehrte damit zu einer Anschauung zurück, die von der Entwicklung der Strategie im 19. Jahrhundert längst der Lächerlichkeit preisgegeben worden war. Lawrence erinnerte sich wieder an den Marschall von Sachsen, von dem die Äußerung stammt, daß ein tüchtiger General sein ganzes Leben lang Krieg führen könne, ohne zu einer Schlacht gezwungen zu werden. Zur Zeit der Kabinettskriege war der Soldat noch ein teurer und wertvoller Gegenstand. Als höchste Kunst des Kriegführens galt es, den Feind zu lähmen und ihn erst zu vernichten – was ja nur um den Preis eigener Verluste geschehen konnte –, wenn dies der letzte Ausweg war, um das vorgesteckte Ziel zu erreichen.

Lawrence befand sich in ähnlicher Lage. Ziel seines Feldzuges war, die Türken aus Arabien zu vertreiben. Eine Vernichtungsschlacht konnte er sich bei der Natur des Menschenschlages, mit dem er in den Krieg zog, nicht gestatten. Er mußte sein Ziel mit anderen Mitteln erreichen, und als er darüber nachdachte, fieberkrank darniederliegend, eben im Begriff, das von den Türken besetzte Medina zu erobern, entdeckt er sie plötzlich dort, wo ein anderer den Mangel seiner Truppen gesehen hätte. Die Araber waren zwar nicht imstande, ordnungsgemäß eine Schützenlinie anzugreifen; dafür aber konnten sie überall sein wie die Luft. Sie besaßen Schlagfertigkeit und bei ihrer Unabhängigkeit von Proviantzufuhr und jeglicher Organisation im Vergleich zu den Türken eine fast beliebige Reichweite. Die Einflußsphäre der türkischen Armee, die nicht daran denken konnte, den riesigen Raum des Hedschas militärisch zu besetzen, war faktisch nicht größer, als die Schußweite ihrer Gewehre reichte. Es ging darum, den mit allen modernen Mitteln ausgestatteten Koloß durch kleine, aber unaufhörliche Angriffe so lange zu behelligen, bis er allmählich lahmgelegt war. Hingegen mußte jeder Angriff von seiten der Türken ins Leere stoßen, denn die irregulären Araber boten kein Ziel: sie wichen zurück, während die Angriffsfläche der Türken so groß war wie der Apparat ihrer Armee. Zudem war hier ihre empfindlichste Stelle; zerstörtes Kriegsmaterial bedeutete für sie einen beträchtlicheren Verlust als getötete Soldaten. Die Araber wiederum verfügten dank der englischen Unterstützung stets über Material in genügender Menge.

Lawrence sah davon ab, Medina, den Endpunkt der Hedschasbahn, zu erobern. Die Türken saßen hier fest, in Verteidigungsstellung gedrängt, und die Araber hatten eher Vorteil als Nachteil dadurch. Der Besitz Medinas würde einen erheblichen Teil der arabischen Kräfte festgelegt haben, sie hätten hier den Türken eine Angriffsmöglichkeit geboten, sie hätten sich hier verteidigen müssen, während sie so unbehindert ihren Aufstand nach Norden tragen konnten und Gelegenheit hatten, auf der riesigen Angriffsfläche, die die Hedschasbahn darstellte, durch Sprengungen und Überfälle auf Eisenbahnzüge den Türken unablässigen Schaden zuzufügen.

Durch Handstreiche bei unbedeutenden Verlusten nahm Lawrence nacheinander die kleinen Orte, die seinem Zug nach Norden Widerstand boten. Er eroberte Akaba am Ende des engen Golfes, mit dem das Rote Meer östlich von Sinai gegen Palästina hinaufstößt, und hatte damit die von Ägypten her gedeckte Basis gewonnen, von wo aus er seinen Feldzug nach Syrien ausdehnen konnte. In wenigen Wochen hatte er sich selbst in allen technischen Fertigkeiten vervollkommnet, die seine Art der Kriegsführung benötigte. Er war einer der besten Kamelreiter, ein routinierter Sprengstofftechniker; er erkannte sofort die gewaltige Bedeutung der Flugzeuge und Panzerwagen, die wegen ihres »individualistischen« Charakters bei den Massenkampfmethoden an der Westfront noch kaum zur Auswirkung kamen, und stellte sie, soweit er über sie verfügen konnte, ihre Möglichkeit voll ausnützend, in den Dienst seiner Strategie.

Als Murray abberufen wurde, trat an seine Stelle als Oberbefehlshaber der fähige Allenby, den Lawrence sofort für die Sache des arabischen Aufstandes gewann. Neben den irregulären Truppen wurde unter Feisals Befehl eine reguläre Arabische Nordarmee gebildet, die die rechte Flanke der britischen Palästinafront wurde. Lawrence erhielt nun Gelegenheit, das Prinzip seiner Strategie: Reichweite und Schlagfertigkeit, auf reguläre Operationen anzuwenden. Der Erfolg war nach wie vor groß. Langsam zermürbte er die türkische Stellung längs der Hedschasbahn im östlichen Syrien. Einmal war er sogar genötigt, bei Tafileh eine der verabscheuten »Mordschlachten« zu liefern. Sie wurde ein Glanzstück an Taktik, das durch die Ironie, mit der sich Lawrence der unleidlichen Aufgabe entledigte, noch einen besonderen Reiz erhielt. Er verliert dreißig Mann, der Feind neunhundert.

Als Allenby die türkische Front bei Jaffa durchbricht, September 1918, fällt es der Arabischen Nordarmee zu, die zurückflutenden Truppen aufzureiben. Die Gründlichkeit, mit der sie ihre Aufgabe besorgt, geht zum Teil bis zur Vernichtung ganzer Armeen. Das Ziel wird erreicht. In der Frühe des 1. Oktober 1918 rückt Lawrence an der Spitze der irregulären Araber in Damaskus ein.

*

Zu der außerordentlichen Leistung, die dieser Feldzug darstellt als die eigentliche Ursache für den Zusammenbruch der türkischen Streitmacht in Syrien, reiht Lawrence, indem er diesen Feldzug beschreibt, eine weitere, die sie vielleicht in der Zeitlosigkeit ihrer geistigen Natur an Bedeutung noch übertrifft: die Schilderung dieses Feldzuges wurde eines der wenigen genialen Werke, an denen man unser Jahrhundert später erkennen wird. Substanz, Gestalt und Gewicht sind im gleichen Übermaß groß. Es mögen darüber Urteile gefällt werden, die voneinander abweichen, die sich auch widersprechen – niemand wird daran rühren können, daß dieses Werk mit der Unabhängigkeit der echten Größe besteht. Sie einfach festzustellen ist das Einzige, was ihm völlig gerecht wird, denn jede Wertung wird von einem Gegenstand wie diesem nur auf den, der sie ausspricht, zurückfallen, ihn und nicht das Werk beschränkend; wird erklären, auf welchem Standpunkt der Wertende steht, welcher Weltanschauung er huldigt, welchen Charakter er hat, ohne dadurch das Werk in seiner jenseits von Wert und Unwert begründeten Bedeutung im geringsten verändern zu können.

Man kann vielleicht die »Seven Pillars of Wisdom« (der Titel bezieht sich auf einen salomonischen Spruch: »Die Weisheit bauete ihr Haus und hieb sieben Säulen«) am ehesten als ein Epos in Prosa bezeichnen. Dank der Eigenart des lawrenceschen Geistes, dessen schöpferische Natur in allem, was er ersann, Harmonie und Vollendung erstrebte, und dem hier ein günstiges Schicksal zu Hilfe kam, war dieser Feldzug in Anfang, Durchführung und Ende samt seinen durch das wechselnde Kriegsglück bewirkten retardierenden Momenten zu einem Spiel von Kräften geworden, das über seinen unmittelbaren Zielen und Zwecken die höhere Vollkommenheit des reinen, sich selbst genügenden Spieles erfüllte. Schon der Feldzug an sich kann als Kunstwerk betrachtet werden, von Lawrence episch geplant, vom Schicksal episch verwirklicht. Lawrence brauchte seinen Verlauf nur aufzuzeichnen, um eine meisterhafte epische Handlung zu haben. Zum anderen aber kam die Tatsache, daß das Geschilderte wirklich geschehen ist, nicht als Kriterium gelten, demzufolge es nicht erlaubt wäre, in diesem Werk eine Dichtung zu sehen. Was letzten Endes eine solche von einem bloßen Tatsachenbericht unterscheidet, ist niemals Frage des Stoffes, sondern wird durch das auf ihn gewandte gestalterische Vermögen bedingt. Eine bestimmte geistige Sicht, eine besondere Art zu erleben, genügen, um ein Faktum bei seiner Darstellung, ohne es in seiner Wahrhaftigkeit zu verändern, Dichtung werden zu lassen, ja, es wird sich dabei erweisen, daß jene bestimmte Sicht überhaupt erst die höhere Wahrheit eines Faktums erkennen und darstellen kann. Lawrence besitzt sie in hervorragendem Maße. Seine Schilderung hebt diesen Feldzug mit allen unersparten sachlichen Einzelheiten und Daten über die Ebene historischer und lokaler Bedeutung weit empor. Alles, was hier mitgeteilt wird, ist von der Gültigkeit eines absoluten Gewichts. Dabei ist der Ton des Erzählers verhalten, meist schlicht, und wenn die Emphase der Ergriffenheit, die wie ein unterirdischer Strom den Fluß der Erzählung begleitet, zuweilen hervorbricht, so wählt sie, um in Erscheinung zu treten, lieber verdunkelnde Worte als grelle, lieber das Ausdrucksmittel der verzerrten, aber stummen Gebärde als den Lärm des oratorischen Hinausschreis. Ohne mit den Mitteln der Diktion einen erheblichen Aufwand zu treiben, erreicht Lawrence die eindringlichsten und erschütterndsten Wirkungen rein durch die Schlagkraft der Gebärde, die er durch ein aufreizend sachliches Gegenüberstellen gegensätzlicher Gehalte hervorbringt. Ein Beispiel, eine Stelle aus der Schilderung eines Gefechtes, die ich versuchshalber durch Vorzeichen in ihre polaren Elemente zerlege, mag das verdeutlichen: »(-) da strauchelte plötzlich mein Kamel und brach wie von einer Axt getroffen zusammen. Ich wurde aus dem Sattel geschleudert, segelte in großem Bogen durch die Luft und landete auf dem Boden mit einer Wucht, die mir fast die Sinne raubte. Da lag ich nun, wartete hilflos darauf, daß die Türken mich niedermachten, (+) und summte dabei die Verse eines halb vergessenen Gedichts, dessen Rhythmen mir durch irgend etwas, vielleicht durch den langen Galopp meines Kamels, ins Gedächtnis gerufen worden waren, als wir den Berg hinunterstürmten:

O Herr, vor mir standen all deine Blumen,
doch ich wählte der Welt düstere Rosen
und darum sind nun meine Füße wund
und die Augen mir blind von Schweiß.

(-) Und ein anderer Teil meines Gehirns dachte indessen daran, wie meine zerquetschte Masse aussehen würde, wenn die ganze Flut der Menschen und Kamele über mich dahingebraust war.

(+) Nach einer endlos langen Zeit war ich mit meinem Gedicht zu Ende, und noch immer kam kein Türke, und kein Kamel trat auf mich. Von meinen Ohren schien plötzlich eine Binde fort genommen zu sein, und ich hörte tobenden Lärm vor mir. Ich setzte mich hin und überblickte das Kampffeld; (-) unsere Leute trieben die letzten Reste des Feindes zusammen und machten sie nieder. (+ und -) Der Körper meines toten Kamels lag wie ein Fels hinter mir; er hatte unseren Angriff in zwei Ströme gespalten, und hinten in dem Schädel des Tieres steckte die fünfte Kugel, die ich aus meinem Revolver abgefeuert hatte.«

Auch am sachlichsten Bericht, wie ihn der Verlauf der Darstellung dem Gegenstande gemäß immer wieder erfordert, erweist sich Lawrence als Künstler, der auf überlegene Art die Gesetze ästhetischer Ökonomie beherrscht. Ein Kapitel wie jenes, in dem er aus dem Zusammenwirken von sinnlichen und geistigen Umständen, Einflüssen und Eindrücken das allmähliche Klarwerden seiner strategischen Leitidee schildert, wurde zu der unvergleichlichen Darstellung eines »Abenteuers im Geiste«. Etwas ganz Ungewohntes ist hier gestaltet: die Geburtsgeschichte eines Gedankens, wie sie im gesamten Schrifttum nur in einigen seltenen Fällen vorgebildet ist, z. B. einer höchst ästhetischen Zweckmäßigkeit zuliebe, bei Descartes in seinem »Discours de la méthode«, wie sie aber meines Wissens noch nie so wie hier als geklärte Gattung vollendet wurde.

Episch sind die »Sieben Säulen der Weisheit« bis zur Erfüllung jenes letzten Sinnes, demzufolge sie von einer Welt ein geistiges Bild errichten: von der Welt Arabiens, ihrer Landschaft und ihrer Menschen, die um so großartiger in Erscheinung tritt, als das Geschehen, das sie bewegt, die Ereignisse des Aufstandes ihr wesensmäßig angehören, aus ihr entstehen, in ihr sich vollziehen und zu Ende kommen in ihr im selben Maße wie bei der llias das Geschehen des Trojanischen Krieges in der Welt des Griechentums. Daß auch wesensfremde Mächte und Menschen beteiligt waren, daß Lawrence vor allem als Europäer an führender Stelle stand und schließlich zum Erzähler dieser Geschichte wurde, schafft die Möglichkeit ungeahnter Kontraste.

Das mögen freilich nur Richtung gebende Andeutungen sein, die Vorhandenes charakterisieren, bei einer genaueren Durchführung aber das lawrencesche Werk in seiner Unvergleichbarkeit eher hervortreten lassen, als daß sie es nach Bedeutung und Stellung endgültig festlegen könnten. Es ist ein Buch von unmeßbarem innerem Umfang. Die eigentliche Absicht, die Lawrence mit ihm verfolgte, hat ihm, ohne tendenzhaft hervorzutreten, doch im einzelnen wie im ganzen einen Charakter verliehen, der schlechthin einmalig ist. Lawrence schrieb sein Werk, einer inneren Nötigung folgend, um sich über sein Tun eine Rechenschaft abzulegen; Bericht eines Kriegszuges, Bild einer Welt, sind die »Sieben Säulen der Weisheit« außerdem Stück einer Selbstdarstellung, in dem ein ebenso umfassender wie komplizierter Geist mit einer zuweilen schonungslos werdenden Schärfe und Aufrichtigkeit zwei Jahre seines Lebens beschreibt. Daher konnte das Werk, wie es heute vorliegt, erst nach dem Tode seines Verfassers der Öffentlichkeit übergeben werden. Zu seinen Lebzeiten erschien nur eine stark gekürzte Fassung, die unter dem Titel »Aufstand in der Wüste« auch in Deutschland großen Erfolg hatte. Auch die gegenwärtige Ausgabe der »Sieben Säulen der Weisheit« (erschienen im Paul List-Verlag, Leipzig, aus dem Englischen übertragen von Dagobert von Mikusch), die einem von Lawrence noch zu Lebzeiten in Auftrag gegebenen Privatdruck entspricht, ist immer noch eine Kürzung des Originals, das in seinem vollen Umfang erst zehn Jahre nach Lawrences Tod und nur in beschränkter Auflage erscheinen soll. Das Bild von Lawrences Persönlichkeit, das sich aus der vorliegenden Ausgabe ergibt, dürfte sich später vielleicht noch vertiefen, in seinen Grundzügen aber schwerlich verändern. Lawrence war mehr als ein außerordentlicher Stratege; es ginge nicht einmal an, in seinen militärischen Fähigkeiten das Zentrum seines Wesens erfassen zu wollen. Der Feldzug – der ihn, der Natur der Sache gemäß, berühmt gemacht hat: keine menschliche Handlung steht so sehr im Blickpunkt des öffentlichen Interesses und wird so richtig und rasch nach ihrer Größe beurteilt werden wie die kriegerische, – wurde von Lawrence selbst nicht anders als ein Versuch betrachtet. Zufall, Schickung, das Wirken außerpersönlicher Mächte, deren Ursprung beliebig weit in metaphysischem Bezirk zu suchen ist, hatten ihm diese Aufgabe zugestellt. In Lawrence selbst wirkte nicht jene Macht der Berufung, die den Menschen veranlaßt, seine Kräfte bewußt und gesammelt auf ein lebenbeherrschendes Ziel zu richten, die Gelegenheiten, durch die es erreicht wird, aufzusuchen oder, wenn es notwendig ist, sie zu schaffen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet war der junge Lawrence berufslos. Er hatte sich als ein tüchtiger Archäologe betätigt, ohne in dieser Profession eine wesentliche Erfüllung seines Daseins zu sehen. Ebensogut und mit demselben Interesse tat er auch vollkommen anderes, verdingte sich als Arbeitsaufseher, zeichnete Landkarten, beschäftigte sich mit Literatur oder vagabundierte umher. »Viele Dinge hatte ich aufgegriffen, mit ihnen gespielt, sie betrachtet und wieder weggeworfen; denn ich fühlte keinen Zwang zum Tun. Erdichtung schien mir beständiger als Taten. Ein selbstsüchtiger Ehrgeiz kam über mich, aber er währte nicht lange, denn mein kritisches Ich lehnte angeekelt seine Früchte ab. Ich beherrschte immer die Dinge, in die ich hineingeweht wurde, aber in keins davon ließ ich mich freiwillig ein.«

Er nannte bei einem Rückblick aus vorgeschrittenem Alter diese abseits verbrachten ziellosen Jugendjahre seine glücklichste Zeit. Der Sieg hatte Lawrence enttäuscht und verzweifelt zurückgelassen. Noch ehe sein Feldzug zu Ende gekommen war, hatte ihn die grausame Einsicht in die Nichtigkeit seines Tuns überfallen, ohne erklärlichen Grund, als eine unwillkürliche, aber um so bedeutsamere Regung seelischen Instinktes, an der offenbar wird, wie Lawrences Anschauungen über die entscheidenden Probleme menschlicher Existenz in der durch die Vernunft nicht zu beeinflussenden Sphäre des »Lebensgefühles« gebildet werden. Lawrence besaß einen ungemein scharfen, durchdringenden Geist. Doch sein Erkennen mußte zerstörend wirken, da ihm jeder Vorbehalt sowohl geistiger als materieller Art fehlte. Dummheit, im besten Falle Beschränktheit: ein Nicht-weiter-Denken von einem gewissen Punkt an, schließlich die Fähigkeit zu glauben, die jedoch als eine Anlage der menschlichen Natur durch keine Dialektik des Geistes zu übertragen ist, verhindern allein, daß der Mensch sein Tun nicht augenblicklich der Sinnlosigkeit überführt. Oder aber die Eigennützigkeit, wie sie schon La Rochefoucauld als Triebfeder menschlichen Handelns in ihren subtilsten Verkleidungen enthüllt hat.

Die Konsequenz, mit der Lawrence jede irdische Zielsetzung des Menschen als Egoismus oder als Flucht vor dem Bewußtsein des Lebens-an-sich betrachtet, stellte ihn zwar unmittelbar der Frage nach einer göttlichen Existenz gegenüber – kein Irrtum, keine Beruhigung in irgendeinem Tun hätte ihn hindern können, an die Idee eines göttlichen Wesens zu glauben; doch der äußerste Grad an Verzehrungskraft, der seinem Geiste eignete, sah hierin nur die letzte und sicherste Zuflucht des Menschen, der nicht mehr imstande ist, das Erlebnis seiner Nichtigkeit und das Bewußtsein von der Sinnlosigkeit der Welt zu ertragen. »Wer lange genug in der Wüste lebte ..., der wurde unweigerlich auf Gott zurückgeworfen als einzige Zuflucht und Rhythmus des Seins.« Die Vorstellung von der Fülle Gottes war für Lawrence nur eine Möglichkeit des Denkens. Sie anzunehmen als Realität, hinderte ihn eben dieselbe Macht, mit der er die gegenteilige Einsicht erlebte: daß Gott nicht war; jene selbe unwiderlegbare und gleichermaßen unübertragbare Überzeugung, ohne die der Gottesbegriff rational bleibt, axiomatisch wie die Grundlagen der Arithmetik. Es ist nicht zufällig, daß die Worte, mit denen Lawrence den Beduinen der Wüste charakterisiert, zugleich die Züge seiner eigenen Natur umschreiben. Schon für den Zwanzigjährigen, der allein durch Syrien wandert, war das Gefühl, ausgesetzt zu sein in einer vollkommenen Leere, die entscheidende Daseinserfahrung. Die Wüste bedeutete ihm die Analogie der Welt, das Leben in ihr, in seinem Entblößtsein von allen Vorwänden die einzig wahrhaftige Daseinsform, die er selbst getreulich befolgte. »Er hat alle materiellen Bindungen, Annehmlichkeiten, Verfeinerungen, Luxus und sonstigen Ballast des Lebens hinter sich gelassen, um dafür eine persönliche Freiheit zu gewinnen, die von Elend und Tod bedroht ist. In der Armut sieht er keine Tugend an sich; er liebt die kleinen Freuden und Genüsse, die er sich noch leisten kann. Sein Leben bietet ihm Luft und Wind, Sonne und Licht, freien Raum und eine große Leere.«

An solcher in äußerste Verlassenheit vorgeschobenen, aller Gewißheiten beraubten Stellung menschlichen Bewußtseins bewältigt Lawrence sein Leben. So wenig er sich fähig fühlt, es metaphysisch auszuweiten, um von dorther einen Sinn zu erhalten, so wenig wiederholt er den von der Antike und ihren späteren Nachbetern unternommenen Versuch, das Dasein vor Idolen hinzubringen. Der Ruhm, dem eine ephemere Sehnsucht galt, ist wertlos geworden, noch bevor er erreicht ist. Lawrence ist weit entfernt von jener individualistischen Haltung, die luziferisch auf ihre eigene Herrlichkeit blickt. Niemals vielleicht ist in früheren Zeiten die »bloße« Tatsache menschlicher Existenz auf solch absolute, und damit heil-lose Weise erlebt worden wie hier. Pascal als einziger fühlte sich von dieser Möglichkeit zumindest bedroht, Leonardo war ihr auf geheimnisvolle Weise gewachsen. Sonst aber wußte der Einzelne stets eine Stelle, auf die er, um der Verzweiflung des reinen Daseins zu entweichen, zurückgehen konnte, sei es Gott, sei es irgendeine Idee, Vaterland oder Menschheit, oder sei es auch nur sich selbst als die Möglichkeit des Egoismus und damit als die Quelle der Genüsse bis zum Selbstgenuß.

Bei Lawrence nun wird das eigene Ich nicht zuletzt das gequälte Opfer dieses zur äußersten Fähigkeit gesteigerten Bewußtseins. Zwar wird es erkannt in der Fülle der Möglichkeiten, die es umschließt; Lawrences Geist stößt bis zu dem Ausgangspunkt vor, von dem aus sich der Uomo universale hätte verwirklichen können. Schöpferisch schlechthin und dank der zauberhaft öffnenden Kraft seines Erkennens fähig, bei jedem Gegenstand nach kurzer Betrachtung um das Gesetz seines Wesens zu wissen, ist für Lawrence im Grund jede Betätigung möglich. Ohne sich auf irgendeinem der verschiedenen Gebiete, auf denen er sich versuchte, bis zur Erfüllung verwirklicht zu haben, hat er sich doch auf jedem genügend geäußert, um die geniale Komplexität seines Geistes in der Anlage wenigstens ahnen zu lassen. Aber dieselbe Durchschaukraft, die Ideen, Dinge und Menschen zum gefügigen Stoff des planenden Geistes macht, wendet sich auch nach innen, wendet sich gegen das eigene tätige Ich, um ihm die Mangelhaftigkeit und Verächtlichkeit seiner Motive bis zur Verdammung vorzuwerfen. Selbsterniedrigung ist die Folge davon – Verzweiflung, Ermattung, Gelähmtsein, Verzicht. Eine unausdenkbar großartige Vorstellung von menschlicher Vollkommenheit, die im Geheimen glüht, wird zum Maßstab für jede Erfahrung über die Natur des Menschen, sei es die eigene, sei es die anderer; die Unzulänglichkeit offenbart sich, Lawrence versinkt in trostlosen Schmerz, sucht Schutz in Verachtung; – der Narr von Dublin hat sie nicht stärker empfunden, Verachtung, die ihren Grund in einer durch die Gewalt der Erfahrung ihres Gegenstandes beraubten Liebe besitzt: der Mensch ist eine Bestie, wie ihr Gulliver im Lande der Pferde begegnet, ein Yahoo. Lawrence erzählt entsprechend akzentuiert die Geschichte, wie ein türkischer Pascha einen Greis bei lebendigem Leib in die Feuerung eines Dampfbootes werfen läßt, die andere von dem raffiniert geschändeten Dorf, für das die Araber eine ebenso kunstvolle Rache nehmen, – Lawrence, von der angetroffenen Lage erregt, verhindert es nicht. Er erzählt, wie ihn die Umstände zwingen, den Henker zu machen: »Dann kam das Entsetzliche, das den zivilisierten Menschen veranlassen könnte, den Richter wie die Pest zu meiden, hätte dieser nicht den Bedürftigen, der ihm gegen Bezahlung als Henker dient«; oder wie er den verwundeten Diener erschießt, um ihn vor der Grausamkeit des herannahenden Feindes zu retten. Seine »Notizbücher waren statt mit Tatsachen und Zahlen mit Gemütszuständen angefüllt, mit Träumereien und Selbstquälereien«. Eindrücke, gegen deren Illusion zersetzende Schärfe eine Durchschnittsnatur sich mit der Hygiene des Vergessens schützt, treffen bei Lawrence auf das Gedächtnis einer überempfindlichen Seele, auf einen mit niemals schwindender Wachheit geschlagenen Geist, an dem er leidet, als läge in ihm das Gewissen der Welt. Wenn er gezwungen war, im Verlauf des Feldzuges den Arabern aus politischen Gründen Versprechungen zu machen, von denen er annehmen mußte, daß sie England aus ebensolchen Gründen nicht würde einhalten können, unterlag er den schlimmsten Depressionen. Er beneidete den Primitiven, der blind im Geschehen stand. Warum nur hatte er sich eingelassen auf dieses Tun! »Sein Körper schleppte sich mechanisch weiter, während sein vernünftiges Denken ihn verließ und von außen kritisch auf ihn herabblickte, sich fragend, was dieser wertlose Ballast eigentlich tat und warum. Manchmal unterhielten sich die beiden Ichs im Leeren; und dann war der Irrsinn nahe.«

Zurückgeworfen auf sich selbst, isoliert stand Lawrence zwischen den Mächten, denen er diente. Weder konnte er sich mit ganzer Seele auf Seiten der Araber fühlen, gesichert durch jenen blinden Glauben an eine Idee wie Byron, als er für Griechenland kämpfte, noch hatte für ihn seine englische Nationalität die Konsistenz des Right or wrong – my country, die der sichere Untergrund war, von dem aus ein Cecil Rhodes seine Taten vollbrachte. Lawrence handelte, in äußerster menschlicher Einsamkeit stehend. Jede außerpersönliche Sicherheit, der er sein Tun mit der Zuversicht eines Gläubigen hätte anheimstellen können, war ihm versagt. Was Lawrence auch unternahm, legte er ausschließlich seiner persönlichen Verantwortung zur Last. Dieser geistgroße, Geschichte machende Feldzug war letzten Endes Angelegenheit einer einzelnen Seele: verzweifelter Versuch, an Stelle der Leere etwas zu setzen, – eine großartige Tat, wie man feststellen wird, weil das Individuum, das sie vollbrachte, groß geartet war – doch zuerst und zunächst ein Tun, das nur für den Einzelnen galt, ein Tun um seiner selbst willen, von dem erhofft wurde, daß es hinreichen möchte, damit sein Urheber an ihm sein fragwürdiges Selbst bestätigen konnte; ein tragisches Tun, und als solches außerstande, die darauf gesetzte Erwartung zu erfüllen. Schon während der Ausführung mußte Lawrence einsehen, daß eine Kreisbewegung beschrieben wurde, die mit entsetzlicher Genauigkeit zu ihrem Ausgangspunkt zurückkam, zu diesem Bewußtsein, mit dem er begabt war, und welches nur feststellen konnte, »daß nichts sich lohnte, zu tun, und nichts wert war, getan zu sein.«

*

Nach der Einnahme von Damaskus sah sich Lawrence veranlaßt, die neue arabische Regierung möglichst rasch auf eine Grundlage zu stellen, die sie vor dem eigenmächtigen Zugriff der einrückenden alliierten Generale bewahrte. Es war schon ein unverhältnismäßig großer Erfolg, als er den General Barrow bewegen konnte, die arabische Flagge zu grüßen. Chauvel, der französische General, zog es vor, bei seinem Einzug in Damaskus das flaggenbesetzte Rathaus zu umgehen. Abhold jeder Theorie, ließ sich Lawrence auch bei seinen Maßnahmen als Staatsmann, Wirtschaftler und Organisator, die er plötzlich zu treffen hatte, von den Erfordernissen der gegebenen Lage bestimmen. In kürzester Frist errichtete er das Gerüst des neuen syrischen Staates, das jeder Beanspruchung, die sich aus der komplizierten innerpolitischen Lage ergab, gewachsen war und zwei Jahre lang standhielt, bis es dem zu jeder Vernichtung fähigen Federstrich der Großmächte wich.

Zwei Jahre lang spielte Lawrence bei den Pariser Verhandlungen, die sich mit der Neuordnung des Nahen Orients befaßten, eine ebenso aufrechte, wie durch die Aussichtslosigkeit der von ihm vertretenen Sache erschütternde Rolle. Obwohl von Seiten Englands eine feste Abmachung bestand, die den Arabern in den von ihnen eroberten Gebieten Selbständigkeit zusicherte, erhob Frankreich auf Grund des weiter zurückliegenden Sykes-Picot-Vertrags, der schon vor dem Krieg die Aufteilung der Türkei im geheimen bestimmt hatte, Anspruch auf den Besitz Syriens mit der Hauptstadt Damaskus, und England, das seinerseits an Mesopotamien interessiert war, vermochte nicht, sein den Arabern gegebenes Versprechen einzuhalten. Die Wirklichkeit führte ein regelrechtes Trauerspiel auf. Lawrence war nicht der Mann, der sein Rechtsgefühl vor der Macht politischer Faktoren zu beugen gedachte. Dies um so weniger, als er sich für die arabische Situation persönlich verantwortlich fühlte. Stärker als die Vorstellung eines objektiv gültigen Rechtes, die Michael Kohlhaas oder General Sutter bewegte, wirkte bei Lawrence die Überzeugung, daß der Einzelne uneingeschränkt für sein Handeln und alle aus ihm sich ergebenden Folgen die Verantwortung trage. Lawrence kämpfte, um sich von der Schuld zu befreien, die ihm aus seiner zu Eigenleben gekommenen Tat erwuchs.

Mit dem ganzen Einsatz seiner strahlenden, überlegenen Persönlichkeit, eine erzengelgleiche Erscheinung unter den Dunkelmännern des grünen Tisches, verteidigte er die Sache Feisals und der Araber. Umsonst. Während die Reihe der künstlichen Staatengebilde, die die Willkür irrsinniger oder stupider Politiker konstruiert hatte, Danzig, polnischer Korridor, Memel, Jugoslawien, Rhodos, unangetastet weiterbestand, fiel Syrien, das als Staatswesen die Lebensfähigkeit des Schöpferischen besaß, dem französischen Imperialismus zum Opfer. Nach dieser persönlich empfundenen Niederlage folgte Lawrence einem Angebot Winston Churchills und nahm in der neugegründeten Mittelorientalischen Abteilung des britischen Kolonialamtes einen Posten an, um dort seine Bemühungen fortzusetzen, bis die Versprechungen, die man den Arabern gegeben hatte, soweit wenigstens eingelöst wurden, als es in Englands Macht stand. Das Ergebnis war besser, als Lawrence erwartet hatte. England verzichtete auf eine unmittelbare Einflußnahme in Mesopotamien. Schon nach Ablauf seines ersten Amtsjahres hat Lawrence die Genugtuung, den aus Syrien vertriebenen Feisal als unabhängigen König im Irak zu sehen. Er fühlte sich damit einer weiteren Verpflichtung entbunden; die hatte ohnedies schon länger gedauert, als ihm lieb war. Entgegen allen Beschwörungen Churchills, der sich seine Mitarbeiterschaft um jeden Preis zu erhalten versuchte, trat Lawrence 1922 von den Staatsgeschäften zurück.

Das Leben, das er in der Folgezeit führte, wird eine Betrachtung, die den Menschen nur nach dem Ertrag seines Daseins, nach einer möglichst in Maße zu fassenden Leistung beurteilt, schwerlich begreifen können. Hier war der geniale Stratege, der Mehrer von Englands Größe, der Königsmacher Arabiens, der Schöpfer der Landbrücke nach Indien, der an hervorragender Stelle das Geschick der Erde hätte bestimmen können – und er wurde gemeiner Soldat: Shaw, Flugzeugwärter der königlich englischen Luftflotte.

Lawrence, der es brennend bereute, der Versuchung, das Außerordentliche zu vollbringen, erlegen zu sein, kehrte, um das verloren gegangene und stets nur schwierig zu erhaltende Gleichgewicht seiner Seele wiederzufinden, zu dem latenten Leben seiner Jugendjahre zurück. Schon das Erdulden des bloßen Daseins war hart genug. Er trat in den Heeresdienst ein wie der gläubige Mensch in ein Kloster. Er legte seinen Namen ab, der nie sehr fest an seinem Ich gehaftet hatte – bezeichnenderweise nannten ihn seine Freunde nur bei den Anfangsbuchstaben seines Vornamens T. E. –, und lebte unter gleichgültigen Pseudonymen. Sein kritischer, in seiner Überlegenheit jeden Zwang verabscheuender Geist, der bisher immer frondiert hatte, unterwarf sich den Regeln militärischer Disziplin wie ein Kranker den notwendigen Unannehmlichkeiten einer Therapeutik. »Die Unterordnung unter Befehl sparte Gedanken, konservierte Charakter und Willen und leitete schmerzlos über zum Vergessen des Tuns.« Vorausgegangen war die Niederschrift der »Sieben Säulen der Weisheit«, die er, ein anderer Versuch, sich selbst zu bestätigen, mit künstlerischem Ehrgeiz unternommen hatte. Auch dieses Beginnen hatte mit dem Gefühl der Nichtigkeit und Verzweiflung geendet. »Ich versuchte damals, zu schreiben. Vielleicht um Künstler zu werden, ... mindestens aber, um geistig zu sein. Mein Hirn hatte zum Ziel, unantastbare Dinge zu schaffen. Aber das ist falsch, alles Geschaffene ist antastbar« Vgl. Oberst T. E. Lawrence, »Selbstbildnis«, Die Neue Rundschau, August 1935. Von seiner Meisterschaft in der Sprache zeugt nur noch ein zweites Werk. Er übertrug die Odyssee in eine kostbare englische Prosa, hinter der, wie englische Kritiker versichern, die vorhandenen Übertragungen in Versen alle zurückstehen müssen.

Nicht ohne Schwierigkeiten, die ihm inner- und außenpolitische Umstände bereiteten, diente Lawrence, jede Beförderung ablehnend, in der englischen Armee. Man fürchtete ihn, denn man begriff nicht den eigentlichen Grund seines Tuns: diese abgründige Tiefe eines Verzichts; er schien bei dieser untergeordneten, unkontrollierbaren Betätigung gefährlicher denn je. Als Lawrence nach Indien an die afghanische Grenze versetzt wurde, beschuldigten ihn die Sowjets der Spionage im Dienste des britischen Imperialismus. Die afghanische Regierung, die in gespannten Beziehungen zu Indien stand, erließ einen Aufruf, ihn beim ersten Anblick zu erschießen; Lawrence mußte nach England zurückgeschickt werden, Kommunisten verbrannten ihn in effigie auf dem Platz vor dem Tower Eine sachliche Biographie, die ich dankbar benutzte, verfaßte Lidell Hart, »Oberst Lawrence«, deutsch von Theodor Lücke, Vorhut-Verlag Otto Schlegel, Berlin..

Die Eroberung der Luft erschien ihm als die einzige große Aufgabe, in deren Dienst er eine letzte Befriedigung fand. »Ich ging zu den Fliegern, um der Mechanik zu dienen, nicht als Führer, sondern als Teil der Maschine ... Ich überlasse es den anderen, zu beurteilen, ob ich gut gewählt habe oder nicht. Einen Vorteil hat es, Teil der Maschine zu sein: man lernt, daß es nicht auf den Einzelnen ankommt.« Eines der beängstigenden Probleme unserer Zeit: die Übergabe der Herrschaft an den Geist der Maschine wird mit diesem Schicksal folgerichtig erklärt. Der Mensch, der des Wertbewußtseins verlustig gegangen ist, unterwirft sich der Materie als der einzig unbezweifelbaren Realität. Am Ende einer jede überlieferte Ordnung als sinnlos erkennenden Einsicht, aus jeder naturhaften Beziehung gelöst, jeder menschlichen Bindung entgangen, aller Gewißheit beraubt, als es nur noch um die Frage persönlichen Seins oder Nichtseins ging, findet Lawrence das Heil im Dienst an der Maschine. »Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß heute nicht das einzelne Genie den Fortschritt bewirkt, sondern die Gemeinschaftsarbeit.« Eine »Überzeugung« also steht wieder am Anfang. Wenn auch nur irgendeine: – sie allein vermag dem Menschen das Dasein erträglich zu machen. Lawrence wird die seinige immerhin mit Vorbehalten gefaßt haben. Nicht als Fanatiker und Heilsverkünder, sondern als einer, der sich bewußt blieb, aus welch ernüchternden Umständen sie sich erhob.

Dennoch überrascht es, diesen überlegenen Geist von »Fortschritt« reden zu hören. Ein Fortschritt wohin? Indem die Maschine zweifelsohne das Entwicklungsfähigste ist, was es gibt, in ihrem ständigen Sich-selbst-Entwerten und Sich-selbst-Übersteigern geradezu das In-Erscheinung-Treten der Entwicklung an sich, macht sie den menschlichen Geist, der in ihrem Dienst steht, zu einem Perpetuum mobile, als welches er niemals zu jenem gefährlichen Ausruhen kommt, da es ihm nahe liegt, nach dem Sinn seines Tuns zu fragen. Die Maschine vermag beliebige Mengen an Geist zu verzehren, ohne sich jemals in sich zu vollenden. Sie ist in ihren Möglichkeiten unendlich, jede ihrer durch die anonyme Arbeit einer Gemeinschaft entstandenen Formen verlangt im Augenblick ihrer Fertigstellung nach der gesteigerten, besseren nächsten. Weder in Wirklichkeit, noch in übertragenem Sinne kennt die Maschine eine Feier des siebenten Tages.

Im Getriebe dieses »Fortschrittes« um des Fortschrittes willen fand Lawrence die Erlösung des Geistes. Die einzige Tat, die ihn mit einigem Stolz erfüllte, vollbrachte er in seinem Dienst. Er entwickelte mit seinen Mitarbeitern den neuen Typ eines Schnellbootes zur Hilfeleistung für Wasserflugzeuge, dessen Idee bei den Zünftigen anfangs auf fanatischen Widerstand stieß, dann aber sich um so nachhaltiger durchsetzte. Die Boote besaßen bei gleicher Motorenstärke »die dreifache Geschwindigkeit ihrer Vorgänger, weniger Gewicht, geringeren Anschaffungspreis, mehr Rauminhalt und größere Seetüchtigkeit«.

Der Rausch der Geschwindigkeit war für Lawrence einer der wenigen Reize, nach dem seine eigenartige, einerseits starke, aber anderseits durch den Intellekt gebrochene, asketisch gezüchtigte Sinnlichkeit verlangte. Er kultivierte diese Leidenschaft, die vielleicht die männlichste ist, am liebsten auf dem Motorrad als dem Instrument, das neben dem Rennboot die Sensation der Geschwindigkeit am stärksten und unmittelbarsten – am sinnlichsten übermittelt. So kompliziert der Zustand, den sie im Geist hervorruft, auch ist: dieser vorübergehend täuschende Glaube, die Kategorien von Raum und Zeit in ihrem Wesen verändern zu können – im Grunde ist die Empfindung, die die Geschwindigkeit auslöst, das Rasen an sich, primitiv. Sie ist nicht jener anderen ungleich, die die Wollust einen Augenblick lang hervorruft: das Bewußtsein gerät in Ohnmacht; die Grenzen, an die es durch die Physis gebunden ist, werden verlassen; eine absolute Schmerzlosigkeit stellt sich ein, eine Unempfindlichkeit gegen die Folgen des zunächst physisch empfundenen menschlichen Beschränktseins. Es ist bezeichnend genug, daß diese Art Lustgefühl nicht hervorgerufen wird durch etwas, das ist, nicht durch die Gegenwart eines Objektes, einer Person, der Natur, eines Kunstgegenstandes, sondern dank einer Abwesenheit, dank des Ausgeschaltetseins aller Unlust verursachenden Einflüsse. Die Physis fühlt sich frei, die Seele erlöst; sie vergißt.

Lawrence suchte und fand diese Erfrischung durch die Maschine. Zweimal verunglückte er. 1935, kurz vor Beendigung seiner langen Dienstzeit, nach der er sein Leben in einem kleinen Landhaus in Dorsetshire zu beschließen gedachte, in dem einsamen, weichen Lehnstuhl, bei der vollständigen Sammlung der Klassiker, in Caslon gesetzt und auf Bütten gedruckt, wie er es einst in der Wüste des Sirhan sich vorgestellt hatte, traf ihn bei einem dritten Motorradunfall der Tod, den er niemals gefürchtet hat und der ihn vielleicht vor einer letzten Enttäuschung bewahrte.


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