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Dichtung aus dem Glauben

In einer Zeit, da die deutsche Literatur durch katholische Geistigkeit wesentliche Ausprägungen erhält, die, wenn man will, mit Adalbert Stifter und Grillparzer einsetzen, nachdem die vorhergehende Epoche ziemlich ausschließlich protestantisch-humanistisch bestimmt war, muß eine Arbeit wie die von Hermann Weinert »Dichtung aus dem Glauben«, erschienen als 19. Band der »Hamburger Studien zu Volkstum und Kultur der Romanen«, Hamburg, 1934, welche die französische katholische Dichtung der Gegenwart behandelt, ein Interesse erregen, das über das spezielle Gebiet romanistischer Forschungen hinausreicht.

Der Einfluß, den katholisch-dogmatisches Denken auf das allgemeine europäische Geistesleben gewonnen hat, obwohl die Kirche kaum noch über bedeutende politische Positionen verfügt, ist heute unverkennbar. In Frankreich zeigte sich die Erneuerung katholisch-religiösen Lebens als Tatsache im selben Augenblick, als der Staat nach den erbitterten Kämpfen des 19. Jahrhunderts sich endgültig von der Kirche trennt: 1906. Diese hatte an anderer Stelle neue Kräfte bilden können, ideelle Kräfte, die außerhalb des staatlichen Machtbereichs versammelt waren, und die nun rasch und unerwartet wirksam im französischen Geistesleben eingesetzt wurden. Der Sieg des Staates war ideell erfolglos. Die Politik, die als Erbe der Aufklärung und der großen Französischen Revolution den Kampf gegen die Kirche geführt hatte, mußte zusehen, wie die Besten der jungen Generation ihre Ideale (Rationalismus, Positivismus, Laizismus usf.) verneinten. Enttäuscht von den geistigen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, umgetrieben von einem Gefühl religiöser Unruhe (le tourment de la génération de 1895), kehrte ein großer Teil der wichtigsten französischen Jugend in das Haus der Kirche zurück. Die Auseinandersetzung mit den vorhandenen gegnerischen Anschauungen begann innerhalb der Kunst, weil die ersten Vorkämpfer der neuen religiösen Ideen, allen voran Claudel, der Natur und Berufung nach Dichter waren. Erst später folgte die öffentliche philosophische Stellungnahme, die Aktivierung der religiösen Ideen an sich. Claudel war anfangs als homo publicus nichts als Dichter, dem es um die Verwirklichung einer neuen Idee von Dichtung ging. Ihre religiöse Bedingtheit blieb als Claudels private Überzeugung von der öffentlichen Diskussion geraume Zeit unbeachtet.

Man halte also fest, daß die französische Dichtung aus dem Glauben nicht auftrat als Folgeerscheinung eines bereits festgelegten, allgemein wirkenden religiösen Denkens und Fühlens, sondern daß erst durch das Vorhandensein einer bestimmten Kunst, daß erst durch die persönliche Wirkung gedruckten Wortes sich in Frankreich allmählich das Allgemeine einer neuen geistigen Haltung herausbildete, dessen Umrisse auch heute noch nicht definitiv festgelegt sind.

Um eine derart potenzierte Kunst in ihrem Wesen zu verstehen, genügt es nicht, den Bestand ihrer Werke nur literarkritisch festzustellen und zu untersuchen. Es ist das große Verdienst des Buches von Hermann Weinert, Grundvoraussetzungen, Bedingungen und Probleme dieser Dichtung darzustellen, wenn auch, wie der Verfasser selbst einleitend bemerkt, sein Unternehmen infolge der Erstmaligkeit und der vielfältigen Verzweigtheit der zu erklärenden geistigen Schichtung ein unvollständiger Versuch bleiben mußte.

Vor dem Anfang dieser Kunst steht ein absoluter Kunstbegriff. Es geht nicht darum, katholische Dichtung unter anderem zu schaffen, sondern es gilt als festgelegt, daß keine echte Kunst möglich ist, wenn sie nicht auf dem katholisch-theologischen Weltbild gegründet ist.

Die Schriftsteller des Renouveau Catholique können natürlich nicht bestreiten (zumal sie für objektive Werte ein feines, von keiner weltanschaulichen Voreingenommenheit getrübtes Gefühl besitzen), daß gleichwohl große Dichtungen vorhanden sind, deren Geist weder religiös, noch gar katholisch-dogmatisch ist. Um diese Tatsache zu erklären, gebrauchen sie den Begriff der irréligion nostalgique. Die menschliche Seele gilt als naturaliter christiana. Wie das Böse in der katholischen Theologie nicht als ein Seiendes, sondern nur als ein Abstrich, als eine Verminderung des einzig wirklich Seienden: des Guten gefaßt wird, so kann auch eine areligiöse Dichtung nicht als aus sich existierend, sondern nur als ein Negativum, höchstens als ein Vakuum begriffen werden. Insofern ist diese areligiöse Kunst ethisch gesehen zwar fragwürdig, besteht aber immer noch als Kunst, ja kann, wenn die Seele des Künstlers sich in unbewußter Sehnsucht und mystischer Unruhe nach Glauben verzehrt, von ihrer Negativität aus, die dann nichts als eine unglückliche Pervertierung des Positiven ist, geradezu als christlich-katholisch begriffen werden. So wird heute in katholischen Kreisen Frankreichs die Dichtung des anarchisch veranlagten Menschen Rimbaud gedeutet. Für den jungen Claudel war die Lektüre seiner Werke einer der Anlässe zur Konversion. Selbst einer der extremsten Atheisten der französischen Literatur, Flaubert, erfährt durch François Mauriac in diesem Sinne eine Würdigung.

Im Grunde sind dies natürlich Versuche, den katholisch absolut gefaßten Begriff des Dichters gegen Einwände zu schützen, die, indem sie auf Tatsachen verweisen, ihm Beschränktheit vorwerfen könnten. Streng genommen und durch Claudel, Ghéon, Jammes, Mauriac u. a. verwirklicht, bedingt diese neue Idee des Dichters ein möglichst vollkommenes bewußtseinsmäßiges Leben innerhalb des katholisch-dogmatischen Glaubens. Aus ihm allein erwächst dem Dichter die schöpferische Kraft. Der Glaube ist ihm Ausgang und zugleich, indem der Dichter sein Werk als Bekenntnis zum Glauben bildet, höchstes und letztes Ziel. Aus dem Glauben allein gewinnt er wieder Adams fraglose Sicherheit, mit der er vor die Erscheinungen hintritt, ihre wahren gottgewollten Bezüge erkennt, um sie im dichterischen Werk zu benennen und zu gestalten. Der katholische Glaube gilt als die grundsätzliche puissance créatrice, als die unendliche Fülle künstlerischer Möglichkeiten. Nur der katholische Dichter ist im Besitz der réalité complète. Ohne sie ist große Dichtung nicht möglich. Der katholische Glaube gibt wiederum die absoluten Kriterien für sie; er ist die objektive Wahrheit, folglich die Ordnung, folglich die Schönheit. »Alles« sagt Jammes, »was dieser Wahrheit widerspricht, ist falsch, ist folglich häßlich, sowohl moralisch als auch künstlerisch.« Für den Dichter, der nicht im Besitz der vom Dogma bestimmten ewigen Maßstäbe ist, muß die Welt der Erscheinungen zum sinnlosen Chaos werden, vor dem er bis zur Ermattung grübelt, um schließlich dem Nichts zu begegnen. Dieser Zustand bedeutet nach der Auffassung des Renouveau catholique das Ende der Kunst.

Dichter wie Gide, die derselben am Geiste leidenden Generation angehörten wie Claudel, bezeichneten diese Rückkehr zum katholischen Glauben als Fahnenflucht. Das Suchen nach einer allgemein gültigen geistigen Ordnung konnte für sie auf diese Art nicht beendet werden. Um diese geistige Situation zu verstehen, muß man sich bewußt sein, wie stark das Ästhetische in der Natur des französischen Geistes als Grundanlage wirkt. Wenn es galt, eine geistige Ordnung wieder aufzurichten, so war dies vor allem Aufgabe der Kunst. Es ging dabei um eine Wiederbestätigung des von der Geistigkeit des 19. Jahrhunderts in Frage gestellten und abgeleugneten Bildes des ewigen Menschen. Claudel und der Renouveau catholique fassen es katholisch. Gide, Proust, Valéry (ich nenne nur diese drei Namen), alle drei beeindruckt durch die stärkste, zeitlich unmittelbar vorhergehende Erscheinung, durch Mallarmé, fassen dies Bild innerhalb des Begriffes einer absoluten Kunst, die als solche der reinste, unmittelbarste, der vollständigste Ausdruck des Menschen und des menschlichen Geistes ist. Die Kennzeichnung l'art pour l'art, die vielleicht noch das Werk Mallarmés umschreibt, wird dieser Auffassung nicht mehr gerecht. Sie beschränkt den Seins- und Bedeutungsbereich von Kunst keineswegs, sondern dehnt ihn weiter aus, als es jemals bewußt geschehen ist; sie umfaßt in der Kunst, als der einzig absoluten Ordnung, die vom Künstler der Welt der Erscheinungen auferlegt wird, die menschliche Existenz mit einer Vollständigkeit, wie es die katholisch-dogmatische Kunstauffassung, die die menschliche Existenz schon vor dem Beginn ihrer dichterischen Deutung deutet, begrenzt und festlegt, niemals vermag.

In dem rein durch die Kunst geordneten Kosmos der Werke von Marcel Proust erscheint so der Mensch komplexer als z. B. in den Romanen des Katholiken Mauriac, da jede Gestalt von dieser außerhalb der Dichtung festgelegten Ordnung in ihrem Sein im Bösen wie im Guten vorherbestimmt worden ist. Prousts absolute Kunst gibt Welt und Menschen als pures Dasein und überläßt die ethisch wertende Stellungnahme dem Leser. Vor dem Beginn der dichterischen Schöpfung ist die Welt für Proust freilich das Ordnungslose. Aber dieser Zustand, der nach der Auffassung des Renouveau catholique das Ende der Kunst bedeuten sollte, wird gerade für die stärksten und wichtigsten Dichter der neueren französischen Literatur Ursprung und Wesen des Schaffens: das angeschaute Chaos veranlaßt den Geist, als eine eigene neue Ordnung das Schöne zu erfinden.

Damit sind die Stellungen festgelegt: einerseits die Errettung des Menschen durch die Kunst, anderseits die Errettung der Kunst und des Menschen durch die streng fixierte Religion des Katholizismus. Eine Erscheinung wie die Jacques Rivières, der als Schriftsteller konvertiert, ohne aber einen in sich wirkenden Zwiespalt von Kunst und Dogma auf die Dauer zu überwinden, erweist die Problematik der letzteren Haltung. Einerseits erhebt die Dichtung Anspruch absolut zu sein, jenseits zu sein von Gut und Böse, anderseits, nach der Theorie des Renouveau catholique, wird sie ihrem Wesen nach als unfrei betrachtet. Für Claudel besteht in der Verkündigung und Verherrlichung des katholischen Glaubens, in der Darstellung des katholischen Weltbildes der letzte Sinn seines dichterischen Werkes. Omnia Ad Maiorem Dei Gloriam.

Zweifelsohne ist er die künstlerisch stärkste und reinste Erscheinung unter den Dichtern des Renouveau catholique. Seine dem Theologisch-Scholastischen zugeneigte Natur wählt sich mit Vorliebe als dichterische Ausdrucksform die Lyrik, das Hymnische und Sakrale, für das er neue bedeutsame Töne und zuweilen fast übertrieben originale Ausdrucksmittel findet. Die künstlerische Leistung wird dabei kaum getrübt durch unorganisch hervortretende, außerhalb des Dichterischen liegende Absichten, da die Form der Lyrik durchaus einen unmittelbaren oratorischen Ausdruck erlaubt. Als Dramatiker erneuert Claudel das mittelalterliche Mysterienspiel und die Spiele des spanischen Barocks, wodurch er sich wiederum treff- und instinktsicher jene wenigen Möglichkeiten erschließt, die allein ein schlackenloses Verschmelzen dichterischer Formen mit dogmatisch-katholischen Inhalten und Tendenzen zu einem reinen Kunstwerk erlauben. Sein wichtigstes Frühwerk, durch das er in Deutschland bekannt wurde, ist die »Annonce faite à Marie«, sein bedeutendstes Schauspiel, in dem sein Gedanke und seine Kunst ihr ideales Ziel erreichen, ist der »Soulier de satin«, Claudels Großes Welttheater, auf dem im Laufe einer Handlung, die sich über Erdteile und Zeiten hin erstreckt, selbst Gott und die Heiligen und die Ecclesia triumphans handelnd auftreten.

Die Wahl der Ausbildung gerade dieser Kunstformen beweist zur Genüge, wie beschränkt für den Katholiken Claudel die Mittel sind, die ihm als Dichter von Einsicht und Geschmack zur Verfügung stehen. Claudel schrieb keinen Roman. Zu sicher in seiner dichterischen Natur beruhend, um einen Thesen- oder Ideenroman zu verfassen, hielt er sich von dieser Kunstgattung zurück, die in der besonderen, nur transparent erscheinenden reinen Form, wie sie sich bei Gide, Proust, Giraudoux, James Joyce allmählich heranbildet, die eigentliche Kunstform für den vorbehaltlos weltanschauenden Dichter zu werden scheint.

Die Problematik der Dichtung aus dem Glauben zeigt sich am deutlichsten beim Roman. Les coeurs sur la main n'ont pas d'histoire, sagt Francois Mauriac, der bedeutendste katholische Romanschriftsteller. Grob gesagt: die vollkommene Tugend ist gleichförmig, und ihre Darstellung wird auf die Dauer langweilig werden. Der Roman, will er nicht einfach als Erbauungsbuch enden, bedarf der indétermination, von der Thibaudet als dem accent vital des Romans spricht.

Es scheint, als liege der Hauptgrund für die künstlerische Fragwürdigkeit des spezifisch katholischen Romans darin, daß er sich noch nicht seiner selbst bewußt geworden ist. Es wäre denkbar, daß durch eine solche Selbstbesinnung sich eine neue, bisher unbekannte Form ausbilden würde. Der naturalistisch-psychologische Roman aber kann nicht, wie z. B. von Émile Baumann in »Le Fer sur l'Enclume«, katholisch-dogmatisch aufgezogen werden, ohne daß nicht etwas künstlerisch ebenso Bedenkliches entsteht wie ehemals bei Zola. Das Doktrinäre, sei es sozialistisch oder katholisch, dargeboten ohne eine Spur von Witz und Ironie (die allein das Doktrinäre genießbar machen), wird den Leser verstimmen. Bei Baumann, bei Bazin und bei ihrem Vorläufer Bourget ergibt sich der komplette Thesenroman. Dichterische Mittel und dichterische Momente, die vorhanden sind, dienen nur, die aufgestellte und beständig durchscheinende moralische These zu erläutern. Die Methode wird, besonders bei Bazin, bis zur plumpen Erbaulichkeit getrieben. Ob die künstlerische Gestaltung eines Heiligen durch realistisch-psychologische Mittel gelingt, wie sie Bernanos in »Sous le Soleil de Satan« versucht, bleibt ebenso dahingestellt. Es sei nur erwähnt, daß man diesem Werk auch von katholischer Seite schon mit Bedenken begegnet ist. Das Erhabene, allzu nahe betrachtet, gerät leicht in die Gefahr einer unwillkürlichen Komik.

Die Terminologie der modernen katholischen Literaturkritik scheidet die katholischen Romane in zwei Kategorien, in solche, die den direkten Weg einschlagen, das heißt, die unmittelbar apologetisch, heilverkündend und morallehrend wirken, und in solche, die das in katholischem Sinne Böse, das Sündhafte darstellen, die Versuchungen und Abgründe der menschlichen Natur aufdecken, um so »durch die Hölle gehend« die katholischen Wahrheiten zu erhärten. In diesem Falle entsteht im Roman wenigstens eine scheinbare Unentschiedenheit (indétermination), welche, indem sie die natürlich unzweifelhafte Entscheidung dem Leser überläßt, in ihm eine gewisse Spannung erzeugt. Der zweite Weg besitzt, wie die Werke Mauriacs erweisen, die zahlreicheren und stärkeren künstlerischen Möglichkeiten. Doch sind auch Mauriacs Romane nur nach Inhalt und Absicht katholisch, nicht aber nach ihrem Wesen und ihrer Form, wie es z. B. die Lyrik und die Dramatik Claudels oder die Dramatik Henri Ghéons hochwertig sind. Die neue Form muß noch gefunden werden. Als Möglichkeit zeigt sie sich schon, wenn auch innerhalb persönlich bedingter künstlerischer Grenzen, in den Prosadichtungen Francis Jammes', die als Idyllen das katholische Weltbild mit absichtsloser Selbstverständlichkeit zu gestalten vermögen. Erst eine Romanform, die nach Ursprung und Wesen spezifisch katholisch ist, und die man bei der geistigen Lebendigkeit des Renouveau catholique auch durchaus erwarten kann, wird, insofern als sie in ihrem künstlerischen Prinzip unantastbar und damit als geistiger Besitz gesichert ist, ihr Apostolat für die katholische Idee im Sinne der Kunst richtig erfüllen.


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