Christoph Martin Wieland
Agathodämon
Christoph Martin Wieland

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Die Erstlinge, die durch den Dienst der Apostel zu diesem Glauben gebracht wurden, waren, wie gesagt, Juden, die dadurch keineswegs der Religion ihrer Väter zu entsagen gemeint waren, und sich von den übrigen ihres Volkes nur dadurch unterschieden, daß der Messias, den die andern noch erwarteten, für sie schon gekommen war. Da sie aber von der herrschenden Partei als eine irrgläubige Sekte betrachtet, und, weil sie standhaft auf ihrem Glauben an den Auferstandnen beharreten, von aller Gemeinschaft mit den Rechtgläubigen, die sich im Besitz des Tempels, der Schulen und des Synedrions befanden, ausgeschlossen wurden: so war es eine ganz natürliche Folge dieser unpolitischen Maßregel, daß sie dadurch desto enger zusammen gedrängt, und eine besondere Gesellschaft, gleichsam einen kleinen Christlichen Staat in dem herrschenden Jüdischen, auszumachen genötigt wurden. Diese neue Gemeine zeichnete sich durch eine Einmütigkeit des Geistes und Sinnes und einen Grad von Eintracht, Liebe und Unsträflichkeit der Sitten aus, wovon die Welt, außer unsern alten Pythagoräern, vielleicht noch kein Beispiel gesehen hatte. Sie waren, nach dem schönen Ausdruck eines ihrer Geschichtschreiber, Ein Herz und Eine Seele. Durch den feurigsten Glauben an den gekreuzigten und wieder auferstandenen Gottgesandten, durch wetteiferndes Bestreben, seine Gesinnungen zu den ihrigen, sein Leben zum Vorbild ihres Tuns und Lassens zu machen, und durch die hoffnungsvolle Sehnsucht nach seiner glorreichen Wiederkunft aufs innigste vereiniget, die ersten Genossen seines himmlischen Reichs auf der Erde, betrachteten sie sich selbst als die Heiligen und Auserwählten Gottes, die mit den unreinen Kindern der Welt so wenig als möglich gemein haben dürften. Sie unterwarfen sich den Aposteln, als sichtbaren Stellvertretern ihres unsichtbaren Herrn, mit kindlicher Ehrfurcht und unbeschränktem Vertrauen: unter sich aber waren alle gleich, alle Brüder und Schwestern in Christus. Vermöge dieses Geistes einer vollkommenen Gleichheit, und um so mehr, da ihre Existenz zu Jerusalem von der momentanen, wenig zuverlässigen Duldsamkeit der Jüdischen Priester und Vorgesetzten abhing, verkauften die Begüterten unter ihnen alle ihre Habe, und legten das Geld zu den Füßen der Apostel in eine gemeinschaftliche Kasse, zu welcher jedes Glied der Gemeine seinen Erwerb oder sein Vermögen beitrug, und woraus er und die Seinigen mit allem Notwendigen versehen wurden, so daß keines von ihnen Mangel hatte oder für den andern Morgen zu sorgen brauchte. Diese Einrichtung konnte zwar, aus leicht in die Augen fallenden Ursachen, von keiner langen Dauer sein: aber der Gemeingeist und Brudersinn, der ihr zum Grunde lag, erhielt sich, wiewohl sein Quell nach und nach immer trüber floß, bis auf diesen Tag, und wird sich auch so lang' erhalten, bis diese unvermerkt immer zahlreicher und mächtiger werdende Sekte die Alleinherrschaft, auf welche alle ihre Bestrebungen gerichtet sind, auf die eine oder andere Art endlich errungen haben wird.

Unstreitig war ein so seltner und von dem herrschenden Egoism unsrer Zeit so stark abstechender Gemeingeist eine der wirksamsten Ursachen der so schnellen Vermehrung der Christianer. Wer wollte nicht in eine zahlreiche Gesellschaft zu treten wünschen, deren Glieder in jedem Fall auf die tätigste Unterstützung von allen übrigen rechnen dürfen? Es kommen aber noch verschiedene andere hinzu, wovon ich nur die hauptsächlichsten berühren will. Erstens: alle weichen, gutartigen, von der Ansteckung der herrschenden Verderbnis frei gebliebenen, und zu einer gewissen herzerhebenden Schwärmerei geneigten Seelen, zumal unter dem zärtern Geschlecht, sind, so zu sagen, als natürliche Kandidaten des Christentums zu betrachten, und werden schon durch den bloßen Anblick der Liebe und Eintracht, der Gemütsruhe, der guten Ordnung und Zucht, und der stillen unscheinbaren, aber beglückenden häuslichen Tugenden, die unter den Christianern herrschen, für diese guten Menschen, und folglich auch für den Glauben, der sie dazu macht, eingenommen und gewonnen. Zweitens: auf der andern Seite finden sich auch unter denen, die der Welt bis zum Überdruß genossen haben, oder die von ihr verlassen worden sind, so wie unter der Menge von großen Sündern, die von ihrem erwachten Gewissen schwer gedrückt und geängstiget werden, manche, denen das Asyl, das ihnen hier aufgetan wird, – die Hoffnung von allen ihren Sünden rein gewaschen und sogar in die Gemeine der Heiligen aufgenommen zu werden – um so willkommener ist, da die Eleusinischen und andere Mysterien, wo diese Bequemlichkeit sonst auch zu haben war, ihren Kredit immer mehr und mehr verlieren. Drittens: die Religion, die in gewissem Sinne der Menschheit überhaupt unentbehrlich ist, wird insonderheit für gewisse Gattungen von Menschen, in irgend einer Epoke des Lebens, ein dringendes Bedürfnis der Einbildungskraft und des Herzens. Aber dann ist ihnen auch mit einer Religion, die in bloßen religiösen Gebräuchen und Festivitäten besteht, und deren Ansehen sich bloß auf ein hohes Altertum gründet, wenig gedient. Sie verlangen eine Religion, die in Geist und Herz eingreift, die auf beide wohltätig wirkt, die dem Niedergeschlagenen aufhilft, den Betrübten tröstet, den Schwachen stärkt, den Leidenden erquickt. Wer sich in diesem Falle befindet, wird natürlicher Weise eine neue Religion, die alles dies verspricht und hält, einer alten vorziehen, die nur noch ein leeres Phantom ohne Geist und Leben ist, und weder den Kopf noch das Herz befriediget.

Ich sagte dir vorhin, der erste Stifter des Christentums scheine die Absicht nicht gehabt zu haben, der Urheber einer neuen Religion, in der gewöhnlichen Bedeutung dieses Wortes, zu sein. Allein so bald sein Institut von den Juden zu den übrigen Völkern überging, mußte es nun gewisser Maßen für das besondere Bedürfnis der letztern eingerichtet werden, und, da es mit der alten Vielgötterei nicht wohl bestehen konnte, notwendig die Gestalt einer neuen Religion annehmen, die an die Stelle der alten träte, und das alles wirklich leistete, was jene durch eitle Täuschungen vergebens zu bewirken gesucht hatte. Diese Notwendigkeit scheinen die Vorsteher der Christianer immer mehr einzusehen, und ihre ganze Verfassung darnach einzurichten. Was im Geiste des ersten Stifters bloße reine Angelegenheit des Herzens war, gewinnt nun unvermerkt eine Form, in der ich bereits die ganze Anlage zu künftigen Tempeln und Altären, zu Priestern und Opfern, zu einem öffentlichen Gottesdienste, der unsern Griechischen und Römischen an Pracht, und zu einer Priesterherrschaft, welche die alte jüdische an Furchtbarkeit hinter sich zurück lassen, ja sogar zu einer neuen Art von Mythologie und von Dämonism, unter welchem der Geist und das Wesen des ersten Instituts endlich erdrückt werden wird, erblicke. Schon jetzt haben die Christianer sich zu einer geheimen Gesellschaft, die ihre exoterische und esoterische Lehre hat, gebildet; schon jetzt haben sie ihre Mysterien, die kein profanes Auge entweihen darf; und indem sie von den unsern, als von Erfindungen der bösen Geister, mit Verachtung und Abscheu sprechen, finden ihre Vorsteher es doch (um dem Reiche Gottes desto mehr Untertanen zu gewinnen) wohl getan, die Formen und die Sprache des geheimen Gottesdienstes zu Eleusis auf die feierliche Begehung einer gewissen, von ihrem Meister kurz vor seinem Tode zu seinem Andenken gestifteten symbolischen Handlung, anzuwenden. ›Sie allein sind im Besitz des wahren Lichts und des wahren Mittels die Seelen zu reinigen; auch sie haben ihre unaussprechlichen Worte; und was der Hierophant zu Eleusis seinen Eingeweihten betrüglicher Weise verspricht, ein frohes Gemüt im Leben, und Hoffnung eines bessern im Tode, davon können sie allein den ihrigen die vollständigste Gewißheit geben.‹ – Wie stolz und anmaßend auch diese Behauptungen der Christlichen Hierophanten klingen, so gründen sie sich auf das Bewußtsein ihrer guten Sache, und es ist nicht zu leugnen, daß in dieser Rücksicht der Vorteil ganz auf ihrer Seite ist.

Zu allem diesem kommt noch eine Art von innerer Polizei, wodurch ihre Gemeinen, und (vermöge der engen Verbindung, worin sie mit einander stehen) das ganze Christianische Wesen, als Ein Leib, der von Einem Geiste regiert wird, so zu sagen einen besondern Staat im Staate ausmachen, der entweder von diesem noch in Zeiten unterdrückt werden muß, oder ihn selbst zuletzt verschlingen wird. Die Diener ihrer Gemeinen sind in verschiedene Klassen abgeteilt, und die so genannten Aufseher haben sich, als Stellvertreter der Apostel, bereits eine Art von obrigkeitlichem Ansehen zu verschaffen gewußt, welches sich mit dem Wachstum der Gemeinen natürlicher Weise immer weiter ausdehnen wird. Einen Glaubensgenossen, oder, nach ihrer Art zu reden, einen Bruder, vor die ordentliche Römische oder von Römern angeordnete Obrigkeit zu ziehen, ist eines der größten Verbrechen in ihren Augen. Ihre Vorsteher schlichten nicht nur alle unter ihnen über streitige Rechtsfragen, wiewohl selten vorfallende Händel, sondern üben auch ein sehr scharfes Zensur- und Strafamt über ihre Untergebenen aus; und da alle Verbrechen, die etwa in ihrem Mittel begangen werden, zu Vermeidung des Skandals (wie sie es nennen) mit der äußersten Sorgfalt verheimlicht und dem Auge des gesetzmäßigen Richters entzogen werden, so leuchtet die Unschuld und Unsträflichkeit der Christianer, in Vergleichung mit den Anhängern der alten Religion, welche noch die ungleich größere Mehrheit ausmachen, um so viel stärker hervor, erhält sich immer in ihrem alten Ruf, und erwirbt ihnen unter dem bessern Teile des Volks immer neue Anhänger.

Was dieser, auf möglichste Unabhängigkeit vom Staat abzweckenden, obgleich bis jetzt noch unschuldigen Verfassung die Krone aufsetzt, ist die Einrichtung, vermöge deren jede Gemeine, die nicht etwa ihrer Armut oder zufälliger Umstände wegen selbst Unterstützung bedarf, eine mehr oder weniger reiche Gemein-Kasse besitzt, die mit der größten Gewissenhaftigkeit verwaltet, und zu allen Arten von Liebeswerken (wie sie es nennen), zu Unterstützung armer Witwen, Erziehung verlaßner Waisen, Verpflegung dürftiger oder zu Arbeit unvermögender alter Leute, kranker, gefangener, oder vertriebener Brüder und Schwestern, u. dergl. auch im Notfall zu Handreichung an andre notleidende Brüder-Gemeinen, verwendet wird. Da es nichts seltnes ist, daß begüterte Christianer (deren Anzahl immer zunimmt) ihr ganzes Vermögen, oder doch einen beträchtlichen Teil, diesem heiligen Gemeinschatz schenken, so ist leicht zu sehen, daß diese ökonomische Einrichtung für die Fortdauer und den immer steigenden Flor eines so wohl organisierten, höchst moralischen kleinen Staats in dem äußerst unmoralischen großen Staate mit der Zeit wichtig werden kann.


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