Christoph Martin Wieland
Agathodämon
Christoph Martin Wieland

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IV.

Um zu leben wie Diogenes, hatte ich nichts vonnöten, als den Willen so zu leben: aber um dem Pythagoras zu gleichen, brauchte es etwas mehr, als keine Bohnen zu essen, ein stark gelocktes Haar zu unterhalten, oder einen meiner Schenkel mit vergoldetem Leder zu überziehen; dazu hatte ich noch viele Kenntnisse zu erwerben, und den Kräften meiner Seele eine viel höhere Spannung zu geben. Dieses erforderte Zeit: jenes konnte ich von Stund an bewerkstelligen. Ich fing also mit dem leichtern an.

Meine Art zu leben war von jeher immer sehr mäßig gewesen: indessen hatte ich mir doch, ohne Bedenken, manche Bequemlichkeiten und kleine Befriedigungen der Sinne, die von begüterten Personen zum Notwendigen gerechnet werden, nachgesehen. Jetzt schränkte ich mich, im strengsten Sinn, auf das Unentbehrlichste der Natur ein. Ich begnügte mich eine geraume Zeit mit der dürftigsten Kost eines Cynikers, der gewöhnlich nur aus Mangel einer bessern damit vorlieb nimmt. Ich trank bloßes Wasser. Meine Kleidung war so schlecht und einfach als möglich, und ich schlief mit einem Stein unterm Kopfe auf dem harten Boden. Auch legte ich mir selbst verschiedene Arten von Selbstpeinigung auf, in der Absicht, mich gegen Hunger, Durst und jeden andern körperlichen Schmerz weniger empfindlich zu machen. Ich setzte diese Lebensweise so lange fort, als sie mir einige Mühe kostete, und bis es mir ganz gleichgültig war, so oder anders zu leben.

Was ich dadurch erhalten wollte und wirklich erhielt, war eine doppelte Unabhängigkeit; eine innerliche, von den Trieben und Forderungen der Sinnlichkeit, und eine äußerliche, von den Menschen, unter welchen ich lebte. Da ich auf die Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft Verzicht tat, so glaubte ich berechtigt zu sein, mich als einen bloßen Menschen, und das ganze menschliche Geschlecht als eine einzige große Familie anzusehen, mit welcher ich bloß durch die Bande der Sympathie und des Wohlwollens zusammen hange. Alle übrigen Bande fielen wie vermengte Fäden von mir ab, sobald ich keine Bedürfnisse der Gemächlichkeit, der Wollust, der Eitelkeit, des Ehrgeizes und der Habsucht zu befriedigen hatte. Die Natur war nun meine einzige Gesetzgeberin, und, meiner Natur gemäß zu leben, mein letzter Zweck. Diese beiden Formeln, die man oft genug in den Schulen unsrer vermeinten Weisen tönen hört, lassen, so allgemein ausgesprochen, mancherlei Deutungen zu. Ich nahm sie in dem hohen Sinne der Pythagorischen Grundbegriffe.

Man betrachtet den Menschen gewöhnlich als ein Wesen, das aus der tierischen und geistigen Natur zusammen gesetzt ist. Aber irrig ist es, wenn man sich diese so ungleichartigen Naturen im Menschen als in Ein Ganzes zusammengeschmelzt vorstellt, wie das Weib und das Mutterpferd in der berühmten Centaurin des Zeuxis. Der Künstler konnte durch eine geschickte Verschmelzung der Farben und durch den Ton des ganzen Stücks dem getäuschten Auge möglich scheinen machen, was der Natur selbst unmöglich ist. Denn nie wird es diese unternehmen, aus zwei so widerwärtigen Naturen ein reines gleichartiges Ganzes zusammen zu setzen. Geist und Körper, Sinnlichkeit und Vernunft, verhalten sich im Menschen zu einander, wie die Sehkraft zum Auge und die Hand zum Willen. Ich betrachtete meine geistige Natur als mein eigentliches Ich; und meiner Natur gemäß leben hieß mir, das tierische Leben dem geistigen dergestalt unterordnen, daß dieses sowenig als möglich durch jenes gestört und eingeschränkt werde. Desto gemäßer also der Natur, je mehr der Mensch ein bloß geistiges Leben lebt, je völliger er die Sinnlichkeit zur bloßen Sklavin des Geistes gemacht hat, je weniger er die Bürde des Organs, an welches seine Wirksamkeit gebunden ist, fühlt, je zarter die Bande sind, wodurch er mit demselben zusammen hängt, und je mehr der Geist sie in seiner Gewalt hat; kurz, je mehr der Körper einer rein gestimmten Laute gleicht, die dem Tonkünstler bloß dazu dient, die melodischen Harmonien, die er in sich selbst spielt, hörbar zu machen.

In diesem Sinne – und selbst dem gemeinen Sprachgebrauch gemäß, der das höchste in jeder Art göttlich nennt – pflegte ich die geistige Natur den Gott in uns zu nennen, und so verstand ich mich selbst, wenn ich von meinem Dämon sprach; wiewohl in der Folge Leute, die mich nicht verstanden oder nicht verstehen wollten, mir, unter manchen ähnlichen Auflagen, auch die Torheit aufbürdeten, daß ich einen eigenen Dämon zu meinem Befehle zu haben, und Wunderdinge durch ihn zu verrichten vorgebe.


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