Christoph Martin Wieland
Agathodämon
Christoph Martin Wieland

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Drittes Buch

I.

Anstatt den alten Kymon im Garten aufzusuchen, begab ich mich nach der Felsenhöhle, in welcher die Quelle entsprang, woraus ich diesen Morgen die kleine Nymphe Wasser schöpfen gesehen hatte. Die von der Hitze des Tages gemäßigte Kühle dieser Grotte lud mich ein, auf einer dicht bemoosten Bank auszuruhen, und meinen Gedanken über alles, was ich an diesem Morgen gesehen und gehört hatte, nachzuhängen. Je mehr ich darüber dachte, desto mehr fand ich mich in der Vermutung bestätiget, daß dieser außerordentliche Greis, auf den das Homerische Beiwort götterähnlich so gut paßte, kein andrer sei, als der berühmte Apollonius von Tyana, eben derselbe, dessen Lebensgeschichte, von einem gewissen Damis aus Ninive geschrieben, mir vor kurzem aus Athen zugeschickt worden war.

Dieser Damis hatte, seiner Versicherung nach, den großen Wundermann auf seinen morgenländischen Reisen begleitet, und alles, was er von ihm erzählt, entweder selbst gesehen, oder glaubwürdigen Personen nachgeschrieben. Aber welch eine Erzählung! Wie viel Unsinn in den Sachen! Welche Barbarei im Stil! Eine gewisse kindische Art von Einfalt und Leichtglaubigkeit, die aus dem ganzen Buch hervor leuchtet, scheint ihn zwar gegen allen Verdacht vorsätzlicher Unwahrheiten sicher zu stellen: aber diese Einfalt ist mit einer so großen Schwäche des Geistes und einem so gänzlichen Mangel an Urteilskraft und Kenntnissen verbunden, daß seine Erzählung, durch die beständige Vermischung oder Verwechslung dessen, was er sah oder hörte, mit seinen eigenen verworrenen Begriffen und Vorurteilen, in dem wunderbaren Teil derselben alle Glaubwürdigkeit verliert, und selbst da, wo er vielleicht die Wahrheit sagt, den Leser gegen seine Zuverlässigkeit mißtrauisch macht.

Ich hatte sein Buch, der barbarischen Schreibart zu Trotz, auf meinen Wanderungen im Gebirge nach und nach durchgangen; und da mir alles noch in frischem Andenken lag, so schien mir, wie augenscheinlich auch der schiefe Blick und die ungeschickte Hand des Malers das aufgestellte Bild verzeichnet hatte, doch in mehrern Zügen die Ähnlichkeit noch immer groß genug, um mir keinen Zweifel übrig zu lassen, daß ich in dem vermeinten Agathodämon das Urbild selbst gefunden hätte.

Aber wie es möglich gewesen, daß aus einem so lichtvollen Geist, einem so erklärten Feind aller Schwärmerei, einem Manne, der die höchste Veredlung der Menschheit an ihm selbst und andern zum einzigen Geschäfte seines Lebens gemacht, sogar unter den Händen des stümperhaftesten Sudlers, entweder ein fanatischer Wiederhersteller und Beförderer des ungereimtesten Dämonismus und der gröbsten Volksvorurteile, oder ein moralischer Gaukler, der aus selbstsüchtigen Bewegursachen sein Spiel mit der Leichtglaubigkeit der Menschen treibt, hätte werden können: dies schien mir noch immer etwas unerklärbares; wiewohl verschiedene, von Agathodämon selbst mir gegebene Winke mich auf eine Spur gewiesen hatten, die zur Auflösung dieses Rätsels führen konnte.


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