Christoph Martin Wieland
Agathodämon
Christoph Martin Wieland

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VII.

Während meines Aufenthalts unter den Orphikern fehlte mirs nicht an Zeit und Gelegenheit, verschiedene Reisen nach dem festen Lande zu machen, und die merkwürdigsten Inseln des Ägeischen und Ionischen Meeres zu besuchen. Da es zu meinem Plan gehörte, auch dem seltsamen Gemische von Aberglauben und Betrügerei, das unter dem Namen der Magie von jeher den unaufgeklärten Teil der Menschheit auf dem ganzen Erdboden betört hat, wo möglich auf den Grund zu kommen, so begab ich mich bloß in dieser Absicht nach Thessalien, wo, der gemeinen Sage nach, die Zauberei seit uralten Zeiten ihren Hauptsitz gehabt haben soll. Ich hielt mich eine geraume Zeit zu Larissa und Hypata auf, machte mit allen Arten von Menschen Bekanntschaft, und fand – was ich mit etwas mehr Weltkenntnis, als ich damals besaß, leicht hätte voraus sehen können. Wer zu den höhern Ständen gehörte, und an Erziehung und feinere Lebensart Anspruch machte, verlachte größten Teils alles, was gelegentlich von dergleichen Dingen erzählt wurde; wiewohl es mir vorkam, als ob dieser Unglaube bei manchen mehr aus Anmaßung als wirklicher Überzeugung entspringe. Das gemeine Volk hingegen war von der Wahrheit aller der Zaubermärchen, die es von Kindheit an gehört hatte, so innigst durchdrungen, daß, wer den geringsten Zweifel in die ungereimtesten Erzählungen dieser Art setzte, ein Wahnsinniger oder gar ein Gottesleugner in ihren Augen war. Ihren Reden nach wimmelte Thessalien von Zauberern beiderlei Geschlechts, die den Mond vom Himmel herab ziehen, die Geister der Verstorbenen aus dem Erebus herauf rufen, ja die furchtbare Hekate selbst zu erscheinen zwingen konnten; die mit einem einzigen Worte Menschen in Tiere verwandelten, sich unsichtbar machten, auf dem Wasser oder auf den Wolken gingen, bei heiterm Himmel Stürme und Ungewitter erregten, Wildnisse und Steinhaufen im Augenblick zu prächtigen Gärten und Palästen umschufen, unterirdische Schätze hoben, und eine Menge anderer übernatürlicher Dinge bewerkstelligten; obwohl ein Fremder, dem von diesem allen nichts voraus gesagt worden wäre, zwanzig Jahre in Thessalien hätte leben können, ohne etwas davon gewahr zu werden, oder auf den mindesten Verdacht zu geraten, daß nicht alles in diesem Lande eben so natürlich zugehe, als in jedem andern. In der Tat schien der Glaube an diese Ungereimtheiten sich bei dem Thessalischen Volke bloß auf Tradition und Hörensagen zu gründen: denn unter zehen, die davon als von allgemein bekannten Tatsachen sprachen, war kaum Einer, der sich auf seine eigene Erfahrung berief; und an diesen letztern mußt es jedem Unbefangenen sogleich in die Augen leuchten, daß sie entweder Betrogene oder Betrüger waren .

Das beste also, was ich durch den Aufenthalt in diesem Zauberlande gewann, war die ungeheure Übermacht vorgefaßter Meinungen, und einer frühzeitig an erstaunliche und unbegreifliche Dinge gewöhnten Einbildungskraft über den gemeinen Menschenverstand, an einem der auffallendsten Beispiele, das vielleicht der ganze Erdboden darbietet, kennen zu lernen. Denn wiewohl mir, auch ohne nähere Untersuchung, klar genug war, daß in manchen Fällen vorsätzlicher Betrug der unwissenden Einfalt Netze stellte, so waren diese doch von so grobem Gewebe, daß man es für unmöglich hätte halten sollen, daß jemand anders als ein Kind sieh darin fangen lassen würde. Unter mehrern Beispielen dieser Art erinnere ich mich eines einzigen noch deutlich genug, um dir von den Künsten der Thessalischen Zauberer, und von der blinden Leichtgläubigkeit derjenigen, die sich von ihnen täuschen ließen, einen anschaulichen Begriff zu geben.


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