Christoph Martin Wieland
Agathodämon
Christoph Martin Wieland

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Die Bauern horchten meinem Orakel mit starrer Aufmerksamkeit, wiewohl leicht zu sehen war, daß sie ein weniger mühsames Mittel erwartet hatten, und über den Schluß meiner Rede stutzig wurden. Ich fand aber nicht für gut, das Ende des leisen Gemurmels, das jetzt unter ihnen begann, abzuwarten. Ich übergab ihrem Ältesten eine Abschrift des Orakels, ermahnte sie nochmals den Befehlen der großen Götter zu gehorchen, schwang mich, nachdem ich eine Hand voll Drachmen unter ihre zerlumpten Kinder geworfen hatte, wieder auf mein Roß, und verschwand eben so schnell als ich gekommen war, ohne mich um den Erfolg dieses Abenteuers weiter zu bekümmern.

Ungefähr vor zehen Jahren, da ich aus Italien durch Epirus und Thessalien zurück reiste, erinnerte ich mich dieser alten Begebenheit wieder, und ließ mich von der Neugier, zu sehen was sie für Folgen gehabt hätte, zu einem Umweg in die Gegend, wo die Szene derselben lag, verleiten. Ich befand mich eine gute Weile mitten darin, ohne sie zu erkennen; so gänzlich hatte sich das unfruchtbare Land, der sumpfige Talgrund und das armselige Dörfchen in diesem langen Zeitraum umgestaltet. ›Bin ich wirklich zu Gyreinä?‹ fragte ich endlich einen ziemlich abgelebten Greis, der vor der Tür eines ansehnlichen Meierhofes in der Sonne saß. Der alte Mann bejahte meine Frage, indem er mich mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. ›So hat es sich in funfzig Jahren sehr verändert‹, sagte ich. ›Du hast es also vor funfzig Jahren gesehen?‹ fragte jener, mit sichtbarem Streben sich meiner zu erinnern. ›Allerdings‹, erwiderte ich, ›und, wenn mich ein Rest von Ähnlichkeit nicht trügt, auch dich, der damals ein junger Mann von fünfundzwanzig sein mochte, und eben beschäftigt war, einige magere Garben einem Gespenst von einem Karrengaul fortschleppen zu helfen, als ich seine Bekanntschaft machte. Ist dein Name nicht Dryas?‹ Bei diesen Worten sprang der Alte so lebhaft auf, als ob sie ihm seine Jugend wieder gegeben hätten, und ich konnte ihn kaum abhalten, sich vor mir auf die Erde zu werfen. ›Göttlicher Mann‹, rief er aus, ›nur die Schwäche meiner Augen konnte mich verhindern, in dir, an dessen Gestalt und Gesichtszügen diese lange Zeit nur wenig verändert hat, den ehrwürdigen Priester aus Samothrake zu erkennen, dem die Bewohner dieser Gegend den Wohlstand, worin sie jetzt leben, einzig zu verdanken haben; dem auch ich es verdanke, daß ich ihm das Gastrecht unter meinem eigenen Dach anbieten kann.‹ – Angenehmer wurd ich vielleicht in meinem ganzen Leben nie überrascht, als durch diesen Erfolg einer Handlung, die bloß aus einem schnell aufwallenden Gefühl entstanden war, und von welcher sich ein solcher Ausgang mehr wünschen als erwarten ließ.

Der alte Dryas, dem ich es nicht abschlagen konnte, einen Tag bei ihm zu verweilen, befriedigte mein Verlangen, von diesem Hergang genauer unterrichtet zu sein, durch eine sehr umständliche Erzählung, wovon ich nur das Wesentliche berühren will. Als ich mich nach Verkündigung meines Orakels so schnell entfernt hatte, entstand ein ziemlich lebhafter Streit unter den Dorfbewohnern. Die Alten, die in dem Wahne, daß Pythokles ein Zauberer und die Ursache ihrer schlechten Ernten sei, grau geworden waren, wollten sich nicht ausreden lassen, der vorgebliche Priester der Kabiren sei mit Pythokles einverstanden, und habe sie mit seinem Orakel nur zum besten. Die Jüngern hingegen behaupteten, es sei keine Ursache vorhanden, den Fremden für einen Betrüger zu halten; sein bloßes Ansehen zeuge schon genugsam für das Gegenteil, und das Orakel müsse schlechterdings befolget werden. Sie legten auch, da sie die Mehrheit ausmachten, sogleich Hand ans Werk, gruben ihre Äcker um, reinigten sie von Steinen und Unkraut, bauten den Nymphen eine Kapelle, trockneten die Sümpfe aus, und brachten, nicht ohne große Mühe, nach und nach alles zu Stande, was das Orakel befohlen hatte. Die reiche Ernte des nächsten Jahres, womit die Natur ihren Fleiß belohnte, stopfte der Gegenpartei den Mund; sie bewies, daß ihnen der Fremde wohl geraten hatte, und daß ihre böse Meinung von dem reichen Pythokles grundlos war. Denn warum hätte er ihr Getreide nicht auch diesmal auf seine Felder gezaubert, wenn er es jemals getan hätte? Die Verständigern erwogen nun den Inhalt des Orakels mehr als jemals, und forschten seinem wahren Sinne so lange nach, bis sie zu sehen glaubten, seine Absicht sei bloß gewesen, sie von ihrem Vorurteil gegen Pythokles und von ihrer daher entsprungenen Mutlosigkeit und Trägheit zu heilen, und ihnen durch die Erfahrung einleuchtend zu machen, daß nicht die Zauberkünste ihres Nachbars, sondern ihre eigne Untätigkeit und schlechte Wirtschaft, die Ursache, warum sie nicht gedeihen konnten, gewesen sei. Aber was sie von dem weißen Steine, dem sie sieben Jahre lang nachgraben mußten ohne ihn jemals zu finden, denken sollten, wurde ihnen immer zweifelhafter. ›Sollte nicht vielleicht‹, sagte einer, der immer die besten Einfälle zu haben pflegte, ›dieser Stein bloß dazu erfunden sein, uns zu einer mühseligen Arbeit zu vermögen, wozu wir vielleicht durch keine andere Vorstellung zu bringen gewesen wären?‹ – Diese Vermutung war nicht ohne Wahrscheinlichkeit; aber sie getrauten sich dennoch nicht von dem Buchstaben des Orakels abzugehen. Sie setzten das Umgraben der Felder noch zwei Jahre fort, und wurden jedesmal reichlich für ihre Mühe belohnt. Inzwischen hatten sie sich auch mit ihrem Nachbar Pythokles ausgesöhnt, und erhielten von dem edelmütigen Mann alle mögliche Unterstützung bei der neuen Einrichtung ihrer Landwirtschaft. Er bestätigte sie in dem Gedanken, daß es bei dem oft erwähnten Orakel weniger darauf ankomme, es wörtlich zu befolgen, als in seinen Sinn und Geist einzudringen, der kein andrer sei, als sie zu belehren: ›Daß die Götter den Sterblichen nichts Gutes ohne Mühe verleihen; daß der Erdboden desto reichlicher ertrage, je fleißiger er bearbeitet werde, und daß der Mensch die Vernunft darum empfangen habe, damit er der Natur zu Hülfe komme, sie vor Verwilderung bewahre, gegen die verwüstende Gewalt der Elemente schütze, und, indem er sie durch klugen und unverdrossenen Fleiß zum möglichsten Ertrag bringe, sich selbst einen frohen Lebensgenuß, und den Tieren, die ihm von der Natur als eine Art dienstbarer und nützlicher Hausgenossen zugegeben sind, zu seinem eigenen Vorteil reichlichern Unterhalt verschaffe.‹ Pythokles und seine Söhne machten sich ein Vergnügen daraus, den fähigsten und lehrbegierigsten jungen Männern zu Gyreinä Anleitung zu geben, wie sie es anfangen müßten, um es mit der Zeit, wenn auch nach einem kleinern Maßstab, eben so weit zu bringen als sie selbst. Da nun ihre Nachbarn sahen, wie der Wohlstand dieser Leute von Tag zu Tag zunahm, so wurde die Wirkung ihres Beispiels endlich allgemein: und so geschah es, daß eben dieses Gyreinä, von dessen äußerstem Verfall ich vor funfzig Jahren ein Augenzeuge gewesen war, binnen dieser Zeit in den blühenden Zustand kam, worin ich es wieder sah. – ›Und was ist aus den Nachkommen des Pythokles geworden?‹ fragte ich. – ›Ein trauriges und lehrreiches Beispiel‹, versetzte der Alte, ›daß ein wohl erworbenes Gut nur durch eben die Mittel erhalten werden kann, wodurch es erworben wurde. So lange Pythokles lebte, blieb seine Familie in Eintracht beisammen, und machte eine kleine Republik von tugendhaften und glücklichen Menschen aus. Auch unter seinen Söhnen erhielt sich diese Einrichtung noch; und wiewohl der Geist des Vaters unvermerkt von ihnen zu weichen schien, so vermehrte sich doch ihr Reichtum noch immer, vielleicht zum Verderben der dritten Generation, die durch Zwietracht, Üppigkeit und Verschwendung wieder zerstreute, was die Väter mit Mühe gesammelt hatten. Du würdest dich vergebens nach den Enkeln des guten Pythokles in diesen Gegenden umsehen; es ist schon eine geraume Zeit verflossen, seit sie von uns weggezogen sind, und wir haben seitdem nichts mehr von ihnen gehört.‹

Halt es mir zu gut, Hegesias«, fuhr Agathodämon fort, »wenn ich zu umständlich in Erzählung meiner kleinen Abenteuer in Thessalien gewesen bin. Das Alter ist geschwätzig, und ist es nie mehr, als wenn es auf Geschichten seiner Jugend kommt. Aber ich habe mich vorsätzlich bei der Letztem länger verweilt, als einem doppelten Beispiel, von der ungeheuern Gewalt, die der dämonistische Aberglauben über einfältige Menschen ausübt, und von einer vielleicht unverwerflichen Art, wie man sich der Verblendung solcher Leute zu ihrem eigenen Vorteil bedienen könnte. Ich denke dir dadurch begreiflich gemacht zu haben, was ich unter einer Täuschung verstehe, die, so zu sagen, ihr Gegengift bei sich führt, weil sie in eben dem Augenblicke, da sie ihre abgezielte Wirkung getan hat, als Täuschung erkannt wird. Sie fällt dann, wie die Schale von einer reifen Frucht, von selbst ab, und die Wahrheit, deren Hülle sie war, bleibt allein zurück.«

Hier machte Agathodämon eine Pause, und da ich ihn von dem langen Reden ein wenig erschöpft sah, war ich im Begriff, ihn zu bitten, daß er mich auf etliche Stunden beurlauben möchte, als er mir mit einem gefälligen Lächeln zuvorkam. »Ich sehe warum du mich bitten willst«, sprach er: »du bist hier gänzlich dein eigener Herr; vielleicht ist es dir angenehm in der Zeit, die noch bis zu unserm kleinen Mahl verstreichen wird, mit meinem wackern Kymon Bekanntschaft zu machen.«

Mit diesen Worten begab er sich in ein Nebenzimmer, und ich entfernte mich, von Gefühlen durchdrungen, wie sie mir noch kein Sterblicher eingeflößt hatte.


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