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Zum Abschied

Vor drei Jahren habe ich mein Vaterhaus wiedergesehen, nach fünfundzwanzig Jahren. So lange Zeit hatte ich mich gefürchtet, mein Leben an seinen Anfang zurückzutragen und den kleinen Kreis des Ursprungs noch einmal auszuschreiten. Aber nun wollte ich weit fort von meiner Heimat, bis in das Alpenvorland, und das Tor zumachen hinter einem lauten Weg. Und da wollte ich sie noch einmal sehen, die Stille meines Anfangs, um das Bild mit hinüberzunehmen und es aufzustellen über einem fremden Herd.

Aber nun war es vielleicht doch nicht gut. Ich kam aus einer großen Stadt, aus vielen Städten. Ich hatte vorgelesen, es waren viele Menschen um mich gewesen, Lob, Tadel, Fragen, Schicksale. Und nun hatte ich eine Nacht in der Heimat geschlafen, in einem kleinen Haus am Cruttinnenfluß. Auf dem kleinen Friedhof hinter dem Gartenzaun schliefen meine Großeltern, und vor mir lag die weite Krümmung des Flusses, und hinter ihr lagen die weiten Wälder. Und alles war grau und winterlich und still, so totenstill. Und ich sah nun, daß es ein Gesetz war, nach dem ich angetreten und weitergegangen war, und es schauerte mich ein wenig vor der Größe und der Schwermut dieses Gesetzes.

Am nächsten Morgen machte ich meinen Wagen fertig und fuhr in die Wälder. Nebel hing um die hohen Tannen. Kein Vogel sang, keine Blume blühte.

Ich fand die Stelle, an der ich meinen ersten Adler geschossen hatte. Der Hochwald war fort, fremde Schonungen sahen mich an. Ich wußte nicht, wer sie gepflanzt hatte. Die Sonne kam über die Wipfel und beleuchtete ein fremdes Land. Was unwandelbar erschienen war, hatte sich gewandelt. Das Paradies, hatte ich geglaubt, könne sich nicht wandeln. An derselben Stelle müßten die Rehe stehen, unter demselben Baum müßte Gottvater ruhen. Hatte ich bedacht, daß ich selbst als ein anderer wiederkam?

Je näher ich meinem Vaterhause kam, desto fremder wurde die Welt. Hier trug ich jeden Busch in meiner Seele, hier konnte ich die Augen schließen und sagen: »So muß es hier sein.« Aber es war nicht so. Alles Kleine der Kinderzeit war groß, erschreckend groß geworden, alles Große war fort. Auch hier war Geburt und Tod gewesen, aber ich hatte weder an den Wiegen noch an den Särgen gestanden. Ich stieg aus dem Wagen, um die Erde an meinen Sohlen zu spüren, ich blieb zwischen den Kiefern stehen und lauschte. Ich wußte, wie es gerauscht hatte zu meiner Kinderzeit, in den unvergeßlich großen Bögen der stillen Melodie, hinunter bis in die letzten Wurzeln meines jungen Lebensbaumes. Es rauschte auch jetzt, von Wipfel zu Wipfel, groß, gelassen und fern, aber es streifte mich wie ein fremder Mantel. Es hob sich auf wie von einem Irrtum und ging davon. Es ließ mich außer sich. Es war, als hatte es mich enterbt.

Und dann sah ich das Haus. Das erste war die Tannenhecke am Weg mit den Ahornbäumen. Ich sah sie, aber sie war nicht da. Mein Vater hatte sie gepflanzt, und man hatte sie aus seinem Leben geschnitten, als sei er schon tot. Dort hatten die Hasen zur Winterszeit gelegen, und immer war ein leises Rauschen in dem Dunkel der Zweige gewesen, und die ersten Gestalten einer kindlichen Dichtung hatten dort gewohnt, im grünen Dämmerlicht, das immer über dem schmalen Wege stand.

Und da wußte ich, daß auch das andre so sein würde, alles andre. Es war eine freundliche Frau, die mich empfing, aber in ihrer Freundlichkeit lag die Sicherheit des Besitzes und die gütige Nachsicht für die Seltsamkeit eines Sonderlings. Die Oberstube? Nein, die Oberstube sei leider nicht mehr da. Es sei angebaut worden, und da habe sie leider verschwinden müssen. Aber ich könne ruhig hinaufgehen. Nein, das wollte ich nun nicht mehr. Auch in einem Totenhaus geht man nicht umher, um Hausrat und Aussicht anzusehen. Und dieses war doch ein Totenhaus. Meine Kindheit lag dort aufgebahrt, ohne Anspruch und Feierlichkeit, und man hatte vergessen, ihr die Augen zuzudrücken, so daß sie mich ansah, wohin ich auch immer ging. Ich ging sehr leise, wie es sich gehörte, sehr scheu und so schnell, wie es erlaubt ist in einem Totenhaus.

Ich ging auch in den Garten, wo die hohen Tannen gerauscht hatten, und wo ich mit meinem Kranich geschlafen hatte, sein Herz an meinem Herzen. Die Tannen waren nicht mehr da. Sie seien krank gewesen, hatte die Frau gesagt, und sie hätten auch zuviel Schatten geworfen. Auch die Kirschbäume waren fort und der alte Apfelbaum mit grünem Moos auf seinem gekrümmten Stamm. Nur die Esche am Giebel stand da, die mein Vater gepflanzt hatte, und ihr grauer Gipfel reichte hoch über das Dach.

Eine Weile stand ich da, in meiner bitteren Verlorenheit, und starrte hinaus, nach dem Kreis der Wälder, der dies alles umschloß. Wie aus einer Schale tropften die Jahre des Gewesenen in mich hinein, alle Bitterkeit und alle Süße eines Kinderlebens, und plötzlich war mir, als sei mein Haar grau, als rühre die Hand der Geschlechter mich an, mit einer leisen Mahnung, daß das Unsterbliche in der Kette liege und nicht in ihren Gliedern.

Da wendete ich den Wagen auf dem schmalen Hofe und fuhr davon. Und noch als er aus dem grauen Tor rollte, fiel mir ein, daß ich nun in einem glänzenden Wagen den Weg heraufgekommen sei, den ich so oft barfuß als Kind heruntergelaufen war, um die Kühe zu hüten oder den Frühstückskorb auf das Feld zu tragen. Es hätte ein Trost und vielleicht sogar ein Stolz in diesem Gedanken liegen können, aber ich war weit von allem Stolz entfernt. Sehr demütig fuhr ich nun aus meinem Kinderland. »Fremd ist dir alles geworden«, dachte ich, »aber vielleicht ist dieses alles hier geblieben wie am ersten Tag, und nur du selbst bist als ein Fremder eingekehrt in ein stilles, wartendes Haus. In einem großen Wagen bist du angekommen, so wie es in den Märchen steht, aber alle diese Dinge deiner Kindheit wollten das nicht. Sie wollten, daß du die Schuhe auszögest an der Schwelle eines heiligen Landes und wiederkehrtest, wie du einst gegangen warst: barfuß, demütig und arm.«

Und ich sah mich um in der schweigenden Runde, ob nicht ein Trost geblieben sei, an dem ich mich aufrichten könnte in meiner Verlassenheit. Und da, in diesem Augenblick, sah ich sie. Auf einem Heidekrauthügel, unweit des Weges. Weiß und schmal stieg ihr Stamm in die Höhe, und ein rötliches Licht hing über der schmalen Krone.

Ich legte die Hände um ihren kühlen Schaft und sah zu ihr empor. Es war mein Eigentum, meines allein, denn ich hatte sie gepflanzt, am Tag vor Pfingsten, als ich sechs Jahre gewesen war. Niemand war bei mir gewesen als Tante Veronika, die immer da war, wenn ein Wunder geschah, die Stimmen hörte und Gespenster sah, deren Hand den Himmel öffnen konnte und deren leise Stimme bis zu den Toten drang. »Eine Birke mußt du pflanzen, Andreas«, hatte sie gesagt, »damit der Heilige Geist sich ausgießen kann über sie in der Pfingstnacht …« Ich wußte nicht, was der Heilige Geist war, aber als ich die dünne Wurzel in die feuchte Erde senkte und die Kühle des Frühlingsbodens meine Hände berührte, floß etwas hinein in meine verzauberte Seele, was nicht unähnlich dem sein mochte, was Tante Veronika mit den Worten des Neuen Testamentes nannte. »Wenn du groß bist, Andreas«, sagte sie und sah mit ihren blauen Augen über die Wälder hin, »und du hast Angst in der Welt, dann mußt du unter diese Birke treten und die Augen aufheben zu den Zweigen, von denen dir Hilfe kommt. Und Friede wird in deiner armen Seele sein …«

Und da stand ich nun unter meinem Kinderbaum, der so groß geworden war, daß er auf mich herabblickte, und hatte die Hände um seine Rinde gelegt und sah die vierzig Jahre in den rötlichen Zweigen und in der Haut meiner Hände, und hörte die Stimme, die lange versunken war, und wußte nun, daß alles gut so gewesen war. Daß ein Mensch nicht fremd sein kann auf seinen Wegen, weil die Spur seiner Geleise hinter ihm herläuft, rückwärts bis zu dem Beginn seiner Kinderträume. Daß das Sichtbare sich wandelt, aber niemals das Unsichtbare, und daß das Kind uns niemals verstößt, aus dem wir aufgewachsen sind zur gegenwärtigen Form.

Und ich hob meine Augen auf zu den Zweigen, von denen mir Hilfe kommen sollte, und kehrte um und fuhr aus den Wäldern hinaus, die mich geboren hatten. Ich wußte, daß ich Tage und Nächte zu fahren haben würde, bis ich in meine neue Heimat käme. Daß Jahre vergehen würden, bis ich sie wiedersähe, daß Menschen und Bäume sterben würden, ehe ich wiederkäme. Aber es bedrückte mich nun nicht mehr. Ich hatte keinen Zweig gebrochen aus der jungen Birkenkrone. Ich nahm nichts mit mir als den Staub des Weges, der hinter mir aufstand. Aber in diesem Staub war ein Glanz wie der Glanz einer Morgenröte, und ich hob meine Augen auf zu den kommenden Dingen, die mich erwarteten.


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