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Erste Liebe

Doch will ich nicht den Anschein erwecken, als wären die entscheidenden Jahre meiner Jugend von nichts anderem als dem »reinen Geist« erfüllt gewesen, als hätte ich wie ein früher Säulenheiliger mich nur der Meditation hingegeben und die Welt der Dinge mit der souveränen Verachtung behandelt, zu der die »Spekulation« auf eine so verhängnisvolle Weise führen kann.

Auch ist es nicht ganz richtig, daß ich dieses Kapitel mit dieser Überschrift benenne, denn man wird sich erinnern, daß ich bereits mit vier oder fünf Jahren einer hoffnungslosen Liebe zu der Frau verfallen war, die ich »marmorn« nannte. Und da ich schon damals erkennen mußte, daß wenige Menschen die prometheische Kraft besitzen, ihre geliebten Marmorbilder mit rückatmendem Leben zu erfüllen, so hat mein Herz sich im Lauf der Jahre noch an manche Schönheit verloren, die ich für weniger steinern hielt, aber auch diese menschlichere Beschaffenheit hat, soweit ich mich erinnere, nicht zu einer Erwiderung meiner Liebe geführt, wie sie meinem schwärmerischen Sinn vorgeschwebt haben mag. Und wiewohl wir in den ersten Jahren unsres Stadtlebens eine freundlich-nachbarliche Beziehung zu zwei uns nicht nur an Alter überlegenen Mädchen gewannen, so blieben auch hier die Gefühle der Gegenseite gänzlich im Verborgenen, was von den meinigen nicht immer gesagt werden konnte.

Ich bin leider – oder glücklicherweise – immer ein schüchterner Mensch auf diesen Wegen gewesen, und nüchternere Freunde haben mich später oft mit harten Worten getadelt, daß ich in der Frau Gnaden erblicke, die sie gar nicht besäße, daß ich eine sehr unvollkommene Bildung der Natur auf eine schwärmerische Weise entstelle, und daß ich mich so mitschuldig daran mache, der Frau eine engelhafte Stellung in dieser Welt zu verleihen, die ihr gar nicht zukomme und die nur geeignet sei, die dem Manne bestimmte Überlegenheit zu gefährden. Aber da ich leider in vielen Dingen dieser Welt zeitlebens ein unbelehrbarer Mensch gewesen bin, zum Gram meiner Vorgesetzten und ihresgleichen, so hat eine heimliche Stimme in meiner Brust sich auch gegen diese klugen Beweisführungen immer zur Wehr gesetzt, und auf der Höhe meines Lebens bin ich noch immer bereit, in der Frau, die reinen Herzens ist, etwas zu erblicken, was Gott aus dem Paradiese auszustoßen vergessen hat, und das er uns geschenkt hat, damit die trübe Dunkelheit dieser Welt für eine kurze Spanne beglänzt und erwärmt werde.

Die Überschrift zu diesem Kapitel nun gewinnt ihre Berechtigung daraus, daß dies meine erste Liebe war, von der ich sagen kann, daß sie erwidert wurde, worüber meine bisherigen Götterbilder mich stets in einem grausamen Dunkel gelassen hatten. Doch habe ich zu dieser Erkenntnis als ein früh zweifelnder Mensch anderthalb Jahre gebraucht, denselben Zeitraum, den ich brauchte, um von dem ersten heimlich getauschten Blick bis zu dem ersten gesprochenen oder geschriebenen Wort zu gelangen. Und wenn mir später manchmal scheinen wollte, als hätte ich damit anderthalb Jahre des Glückes verloren, so wie Parzival einen Teil seines Lebens dadurch verlor, daß er die ihm bestimmte Frage nicht stellte, so erkannte ich doch bald, daß es eine Täuschung war, nicht nur, weil meine Natur es mir so vorschrieb, sondern auch, weil die Zeit des Bangens und der Sehnsucht das Kostbarste war, was mir damals geschenkt werden konnte.

Diese erste Geliebte meiner Jugend nannte ich Judith, und obwohl sie weder mit der Gestalt des Hebbelschen Dramas noch mit der des Kellerschen »Grünen Heinrich« etwas gemeinsam hatte, so empfing sie ihren Namen doch von der Frauengestalt dieses Romans, den ich damals kennenlernte und der von einer sehr tiefen Einwirkung auf meine Entwicklung gewesen ist. Eigentlich hätte ich sie Julie nennen müssen, denn das andere Buch, dem ich damals in blinder Leidenschaft verfallen war, war Rousseaus »Julie oder die neue Heloïse«, woraus sich eine seltsame Huldigung vor der Polarität des Daseins ergab, indem ich die kluge und weise Klarheit des Schweizers neben die schwüle und wortreiche Verstiegenheit des Franzosen als gleichberechtigte Mächte meiner Erziehung stellte. Aber Julie erschien mir damals als ein Name von vollendeter Nüchternheit, der nur alternden Tanten zugehören dürfte, und wer die Straßen meiner Provinzhauptstadt kennt, wird zugeben, daß es unmöglich war, eine in ihnen Wandelnde »Heloïse« zu nennen, auch wenn die Häuser dieser Straßen im Glanz ihrer Erscheinung hätten aufglühen müssen.

So entschied ich mich denn für »Judith«, einen Namen, der auch dem Dunklen und leise Glühenden ihrer Erscheinung angemessen war. Ich weiß nicht mehr, wo und wie ich sie zum ersten Male gesehen habe. Wahrscheinlich auf der sonntäglichen Promenade des Paradeplatzes, wo zu den Klängen einer Militärkapelle alles auf und ab wandelte, was vermöge seiner äußerlichen Erscheinung und der noch unerfüllten Leere seines Lebens imstande und getrieben war, sich auf Plätzen zu versammeln, auf denen die »Töchter des Landes« erschienen. Dort mögen unsre Blicke einander zum erstenmal begegnet sein, denn auch die künftigen Könige des Geistes, deren Krone ich ja schon heimlich zu tragen wähnte, verschmähten es nicht, mitunter sich unter das Volk zu mischen, weil von den Träumen des Ruhms allein sich schwer leben ließ und weil auch das originellste und exklusivste Gedicht ab und zu eines Mädchengesichtes bedurfte, aus dem die Bestätigung abzulesen war, daß die Gestalten der Dichtung zwar in einem Himmel wandelten, aber ihren Ursprung doch auf dieser unvollkommenen Erde genommen hatten.

Ich wohnte damals schon im Studentenviertel in der Nähe der Universität, und da das Haus, das zur Wohnung eines Götterbildes vom Schicksal ausersehen war, nur ein paar Straßen entfernt lag, so fehlte es nicht an zufälligen und gewollten Begegnungen. Es mag dem Erwachsenen, der auf seine Jugend spöttisch als auf einen unfertigen Zustand zurückblickt, komisch, ja einfältig erscheinen, daß während einer Zeit von anderthalb Jahren nichts anderes geschah, als daß wir beide unsre Schritte verlangsamten, wenn wir einander auf uns zukommen sahen, um den ersehnten Anblick doch für ein paar Herzschläge länger genießen zu können, und daß dann unsre Augen aneinanderhingen, bis wir vorüber waren, mit der stummen Frage, die zu allen Zeiten bei bedeutenden wie bei unbedeutenden Menschen dieselbe ist, eben eine Frage von Leben oder Tod. Und nur in der letzten Zeit geschah es mitunter, daß ein leises Lächeln über ihre Züge glitt, als ahnte sie, daß ohne dieses wir vielleicht noch in weißem Haar so stumm und geisterhaft uns begegnen würden.

Aber nur dieser Art von Erwachsenen wird das komisch erscheinen. Denn wer seiner Jugend nicht mit Spott gedenkt, wird auch diese Scheu vor dem ersten Wort als etwas achten, das an die Heiligkeit eines ersten Gefühls gebunden war. Die auf der Furcht beruhte, ein Menschenbild, das bis unter die Sterne erhoben war, möchte vielleicht mit denselben menschlichen Worten sprechen, die auch wir benutzen, um Dinge des Alltags zu beschreiben oder zu begehren, und seine Hand möchte sich ebenso anfühlen wie unsre auch, statt doch die Hand eines Engels zu sein, unvorstellbar in ihrer zart geäderten Färbung oder Kühle.

Ach, gesegnete Zeiten, in denen die andere Welt hinter einem Schleier lag, ihre Arbeit, ihre Pflicht, ihre schalen Freuden! In denen jedes Buch und jedes Blatt sich mit Versen bedeckte, die den Stempel der Unsterblichkeit für den Schreibenden untrüglich trugen. In denen der Mond nicht der Mond war, sondern eine Ampel Gottes, die er über uns hielt, damit das harte Licht der Sonne nicht unsre Träume störe. In denen alles Gute und Edle meiner noch gärenden Natur aus dem Dunkel sich aufhebt und mich verwandelt, damit ich der Geliebten zwar nicht gleich, aber doch nicht allzu unwürdig werde. Zeiten auch, zu denen die Erwachsenen spöttisch oder hämisch zu lächeln pflegen, die Lehrer, die Verwandten, mitunter die Eltern, als neideten sie mir, was sie längst verloren haben, und was auch wir deshalb so schnell wie möglich verlieren sollen, damit die Speise unsrer Hände sie nicht an ihren Hunger erinnere.

Aber wir verloren es nicht. Eine untrügliche Stimme bewahrte uns davor, dem Lächeln der Großen Glauben zu schenken und uns nach ihrem Willen einer Entzauberung hinzugeben, die uns nicht nur der Liebe, sondern alles dessen beraubt hätte, was unser Dasein trug. Wir fahren fort, zu warten, Blicke zu tauschen, Verse zu schreiben. Wir fahren auch fort, zu schweigen, als ahnte uns, daß mit dem ersten Wort der Abgrund schmäler werden müßte, der uns von den Großen trennt. Denn auch sie hatten ja einmal geliebt und geschwiegen, und vielleicht rührte es von dem ersten Bruch des Schweigens her, daß sie nun lächelten oder einander wissend anblickten und daß der Glanz von den stumpfen Flügeln ihres Daseins abgestreift war.

Auch der Wald ist mir nun verwandelt in den ersten Sommerferien dieser Liebe, die Eltern, die Heimat, die ganze Welt. Noch immer bin ich ein Fischer und Jäger, aber länger als früher kann ich auf dem Bootsrand sitzen, die Netze gedankenlos in der Hand, und in die dunkle Tiefe blicken, wo die Fische stehen mögen, wo aber nun das Bild der Geliebten wie auf einem Spiegel ruht. Noch immer streife ich hinter dem Adler her, ganze Tage, aber dazwischen kann ich an einem Waldrand sitzen, hoch über den Schonungen, das Gewehr über den Knien, und hinausblicken über das sonnige Land, das so schrecklich leer und tot ist ohne die Gestalt, die allein es lebendig machen könnte. Wohl erlöst das Herz sich manchmal durch Tränen und Verse, aber eine dunkle Schwermut hängt über Feld und Wald, und der »kleine traurige Vogel« gewinnt zum erstenmal Gewalt über mich. Es ist ein kleiner grauer Sänger, der in den dunklen Fichtenwäldern lebt, wo die Fliegenpilze im Moos leuchten und nur ab und zu ein Sonnenstrahl durch die Wipfel fällt. Sein Lied besteht nur aus einem einzigen Ton, aber der klagende und hoffnungslos eintönige Fall dieses Tones ist wie die Seele dieses großen, finsteren, schweigenden Waldes, durch den das Einhorn schreiten könnte, die fremden, kalten Augen auf den erschauernden Menschen gerichtet.

Aber dann, bevor ich vergehe in meiner Sehnsucht, beginne ich Briefe an die Geliebte zu schreiben, die Briefe Abälards an Heloïse, die Briefe aller Liebenden aller Zeiten. Endlose, glühende, verzehrende Briefe. In ihnen sage ich, was bei unsren Begegnungen verschwiegen wird und auch in aller Zukunft verschwiegen bleiben muß, weil es eine letzte Keuschheit des gesprochenen Wortes gibt, die nicht verletzt werden darf, wenn der Zauber nicht sterben soll.

Ich schreibe sie im Walde. Das Tintenfaß liegt unter dem Moos, und ich trage es von Ort zu Ort, immer dahin, wo ich glaube, daß der Wald mich am besten bewahrt und am tiefsten zu meinen Worten rauscht. Ich kann keines dieser Worte mehr nennen, denn ich habe sie später verbrannt, und auch wenn ich sie noch hätte, würde ich sie nicht nennen, weil sie nicht der Welt angehören, sondern mir allein.

Und eben weil diese Briefe der Liebe, die ich schreibe, mir etwas Heiliges sind, und sei es auch nur etwas kindlich oder töricht Heiliges, trifft es mich mit einem unsäglichen Schmerz, daß eines Tages jemand die Briefe gelesen hat. Sie sind im Walde vergraben, in Ölpapier eingeschlagen, unter Moos und verwelktem Laub, und einmal sehe ich, daß nicht alles so daliegt, wie ich es zurückgelassen habe, daß eine andre Hand alles berührt hat, daß andre Augen gelesen haben, was niemand außer mir lesen darf. Ich glaube nicht, daß die Scham das Stärkste war, was mich bewegte. Es war vielmehr die Erkenntnis, daß Gott zulassen konnte, daß ein Heiligtum geschändet werde und daß auch solches also mit seinem Willen geschehen konnte. Und es ist wohl möglich, daß die Zeit der Gottesleugnung, die bald darauf für mich folgte, ihre Wurzel an dieser Stelle des Waldes hatte, wo man einen kindlichen Altar heimlich umgestürzt und entblößt hatte.

Ich glaube mich zu erinnern, daß ich die Briefe gleich darauf verbrannte. Sie hatten nun ihren Zauber wie ihre Keuschheit verloren. Ich zündete sie im Walde an, und so empfing er auch diese Asche eines getäuschten Lebens, und mir schien, als wäre er nun noch mehr die Heimat aller Verstoßenen und Unverstandenen als bisher.

Bald darauf muß es mir gelungen sein, den Namen meiner Geliebten zu erfahren, und zu Anfang des Winters, als wir einander täglich auf dem Eise sahen, habe ich wohl den Mut gefunden, an sie zu schreiben. Denn ich erinnere mich mit aller Deutlichkeit des Abends, an dem sie mich bei der Heimkehr in einer menschenleeren Straße erwartete. Da war es nun also, daß ich ihre Hand halten, ihre Züge betrachten durfte und daß ich wahrscheinlich dieselben törichten Worte sprach, die junge Menschen in solch einer Stunde zu sprechen pflegen. Der eisige Wind meiner Heimat ging durch die Straßen, die trüben Laternen klapperten, und die Menschen gingen wie Schemen an uns vorüber. Für uns aber blühte diese karge und winterliche Erde, für uns hingen die Sterne dicht über unsrem Scheitel, für uns war das verlorene Paradies aus seiner Verfluchung wieder auferstanden, und wir beide allein gingen durch seine verzauberten Wege, ohne allen Zweifel gewiß, daß es niemandem gelingen würde, auch Gott und allen Engeln nicht, uns aus diesem Garten Eden jemals zu vertreiben. Wir wußten noch nicht, daß das nächste Jahr uns bereits vertrieben haben würde.

Doch lief die Zeit in allen Dingen damals langsamer als heute. Sitte und Erziehung hielten die Menschen länger voneinander fern, und so dauerte es bis zum Sommer, dem vorletzten meiner Schulzeit, ehe ich die Gewißheit gewann, daß ich wiedergeliebt wurde. Wir hatten zusammen in einem der abendlichen Symphoniekonzerte gesessen, die damals im Konzerthaus des Tiergartens gespielt wurden, und dann saßen wir in einem der kleinen Holztempel, die abseits, unter Bäumen verborgen, über dem großen Wasservogelhaus standen. Der Mond schien so, wie es seine Pflicht war, nach allen Schmerzen, die ich ihm anvertraut hatte, und von dem Wasser zu unsren Füßen hob sich mitunter der klagende, gedämpfte Ruf einer großen Möwe. Und hier, fast so abseits der Welt wie in meinem Walde, gab ich das Geständnis meiner Liebe preis und empfing es wieder, und küßte zum erstenmal in meinem Leben einen Mädchenmund.

Es geschah ja nur, was immer und uns allen geschieht. Es war weder erhabener noch lächerlicher als zu anderen Zeiten. Aber wie wir alle unsren eignen Himmel und unsren eignen Tod haben, so haben wir auch dieses auf eine einmalige und nur uns zugehörige Weise, daß ein fremder Mensch zum erstenmal in unser Blut und Leben hineingeht, und wir mögen wohl berechtigt sein, seiner mit einer besonderen Dankbarkeit und Rührung zu gedenken, als des ersten Segens unter vielen anderen, mit dem das Schicksal uns gesegnet hat.

Ja, dieser Sommer, der erste und letzte unsrer Liebe, steht in meiner Erinnerung wohl wie ein einziger blühender Baum, aufgerichtet über einer dürren, grenzenlosen Erde. Jeden freien Nachmittag sitze ich auf dem Rad und fahre die vier Meilen zum Ostseebad, in dem sie lebt. Auch dies ist nicht so einfach und bequem wie heute. Denn ein junger Mensch, der zu seiner Geliebten fährt, muß damals so angezogen sein wie in den Straßen der Stadt. Er muß einen schönen Hut auf dem Kopf tragen und dazu den vorgeschriebenen, sehr steif geplätteten Stehkragen, und hier vielleicht dämmert ihm die erste Ahnung, daß sehr hohe Kragen doch vielleicht nicht das Richtige sind, wenn man bei dreißig Grad Wärme vier Meilen über Berg und Tal und manchmal gegen einen schweren Seewind zu einem Stelldichein fährt.

Aber dort, wo das Meer braust und die gebeugten Kiefern der einsamen Dünen, ist das alles vergessen. Wir denken nicht an die Zukunft. Der große Atem der Landschaft geht über uns hin. Es ist nicht meine Heimat, aber sie umfängt uns mit derselben Liebe, derselben Verborgenheit. Erst mit unsrer Liebe beginnt die Welt, und vorher war nichts, wie nachher nichts sein wird. Nur die Sonne mißt die Stunden und die Schatten, die der Strandhafer wehend über ihre Stirn legt. Und in den letzten Küssen liegt schon der Schmerz der Trennung, der Einsamkeit, der gänzlichen Verlorenheit.

Es bleibt alles in Reinheit und Unschuld, und keine frühe Erfahrung trübt oder blendet das Bild der Erinnerung. Es gibt Qualen der Eifersucht und die Süße der Versöhnung. Es gibt einen bitteren Winter, den Feind aller heimlich Liebenden, und es ist, als welke in ihm langsam aber unaufhaltsam die behütete Blüte.

Ich weiß nicht mehr, wie es gekommen ist. War das Bild der Sehnsucht so vollkommen gewesen, daß die Wirklichkeit es nicht erreichte? Verlangte ich nach der Erlösung, die kein Mensch zu geben vermag, weil niemand uns aus unsrem eignen Dasein reißen kann, aus der letzten Einsamkeit, die jedes Menschenherz umhüllt? Oder pochte das Schicksal schon leise mahnend an meine Tür, daß es nun Zeit sei, von einem Becher sich zu wenden, der den Durst meines damaligen Lebens gestillt hatte? Daß ich weiter müßte, zu neuen Versen, zu neuen Schmerzen, und also auch zu neuen Lippen, die sie schenkten?

Ich weiß es nicht mehr. Es war niemand da, der ihr Bild verdrängte, nur die tiefe Unruhe meines Herzens, das nicht ausruhen wollte, und eine verborgene Stimme, die in Schuld und Schmerzen hineintrieb. So schwer ist es, nach dreißig Jahren über sich zu Gericht zu sitzen, weil nur die Tat noch da ist, aber nicht mehr, was uns zu ihr bewegte. Wohl war ich untreu, aber es mag wohl sein, daß ich mir die Treue hielt, eine schwere Treue, weil sie eine Unschuldige mit Schmerzen belud. Ist es die Ernte, die ein Leben entscheidet? Rechtfertigt das Werk alle Härte, die wir brauchten, um es so zu formen, wie wir es hinterlassen möchten? Oder wiegt jede Träne, die um uns vergossen wurde, schwerer auf der Waage des Gerichtes als alle Kunstwerke dieser Erde?

Noch immer weiß ich es nicht. Aber ein leises Grauen weht wohl um die erste nackte Schuld, die wir begingen. Es bleibt nicht bei der Scham. Die Scham läßt uns erröten, und sie mag wohl eine heilsame Bewegung des Blutes sein. Aber das Grauen ist tiefer im Dunkeln zu Hause. Es umfaßt nicht den Einzelnen, sondern unser ganzes Geschlecht, ja es tastet langsam nach dem Gesetz alles Lebens. Denn wenn mit allem Menschenwerk die Schuld verbunden ist, so genügt es nicht, zu erröten. Ein leises Zittern geht durch den Grund, auf dem wir stehen, und es bleibt nichts, als uns in die Arme Gottes zu werfen oder den Helm noch fester zu binden, unter dem wir einmal den Tod bestehen wollen.

Ihr Weg hat dann bald die Unschuld jener ersten Liebe verloren, und bevor eine Heirat sie weit aus unsrer Landschaft fortführte, ist sie wohl durch manche Verwirrung und manche Not gegangen. Aber es kommt mir nicht zu, eine Rechtfertigung meines Tuns daraus zu entnehmen, noch eine Trübung über ihr reines Bild zu legen. Sie hat ihren Anteil an meinem Leben wie jeder Mensch, mit dessen Herz das unsrige einmal zusammenschlug, und sie hat diesen Teil mit reinen Händen gegeben und das Ihrige dafür genommen. Uns aber gebührt, für jede Traube dankbar zu sein, die in unsre Kelter fällt, und erst die Nachgeborenen werden zu entscheiden haben, ob es der Mühe lohnt, an dieser Kelter zu verharren und den Becher hinzuhalten, der die Durstigen tränken soll.


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