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Und noch einmal die Wälder …

Mir ist, als hätte in dem Jahr, das diesen Erschütterungen folgte, die Heimat alle Kräfte der Heilung noch einmal versammelt, um mir zu zeigen, daß nur in ihr das wahre Leben ruhe. Daß es wohl nötig sei für mich, an Menschen und menschlichen Schmerzen zu reifen, aber daß die Ernte immer nur in ihren Bezirken eingeholt werden könne. Wenigstens sind die Ferien dieses letzten Schuljahres in meiner Erinnerung von einem besonderen Glanz erfüllt. Nicht mehr sehe ich die Wälder wie durch einen Schleier, der sich überall um die Gestalt der Geliebten webt, sondern es steht nun nichts mehr zwischen ihnen und mir. Wir sind wieder wie zu meiner Kinderzeit. Ich habe das fremde Kleid und die fremden Schuhe abgelegt, und ich darf wieder eintreten in die große Einheit, ohne daß sie mich verstößt oder mit einem kühlen Schweigen empfängt.

Ich besitze eine Doppelflinte und eine Büchse, eine Jagdtasche, eine kurze Pfeife und einen ledernen Tabaksbeutel. Ich trage einen breiten grünen Hut wie die Reiter der Schutztruppe. Die Melone wie die Lackschuhe sind zurückgeblieben, das silberne Armband wie die hohen Stehkragen. Ich sehe nicht sehr elegant, sondern eher etwas verwahrlost aus, und ich fange an, mich um die Meinung der Leute nicht nur nicht zu bekümmern, sondern in ihrer Mißachtung den richtigen Lebensweg zu finden. Ich stehe mit der Sonne auf, und ihr Untergang findet mich noch tief in den Wäldern oder Mooren oder an den Ufern der Seen, wo die Reiher zum nächtlichen Fang sich in das Schilf schwingen. Ich habe keine Freunde und keine Gesellschaft, keine Geliebte und kein Geheimnis. Ich lebe ein männliches Leben, einsam wie die Jäger nördlicher Länder, und die übrige Welt liegt wie hinter verschlossenen Toren, deren Flügel verrosten und mich nichts angehen.

Ich lerne wieder die Tugend der Geduld, die die Welt nicht lehrt, aber die der Wald zu jeder Stunde den geöffneten Augen zeigt. Ein halbes Jahr lang arbeite ich an einem Dohnenstieg, der zum Fang von Drosseln bestimmt ist. Und da ich in diesen Dingen noch ohne Sentimentalität und auch ohne tiefere Erkenntnis bin, so mache ich mir keine Gedanken über die Grausamkeit dieses Handwerks. Ich schneide Hunderte von Wacholderzweigen, armlang und von besonderer Biegsamkeit und Härte. Und dann drehe ich sie mit den Händen zu der für die Fangbügel nötigen Form. Es ist eine harte Arbeit, und die Hände sind mit Blasen bedeckt. Aber ich bin so stolz darauf wie ein Soldat auf seine ersten Wunden. Und dann flechte ich die Schlingen aus Pferdehaar, für jeden Bügel zwei, und zu jeder Schlinge sind sechs oder acht Haare nötig, und als ich fertig bin, sind die Fingerspitzen wund von der ständigen Reibung. Der Dohnenstieg ist viele Kilometer lang, und immer nach ein paar Schritten muß mit einem Bohrer ein Loch in den Stamm eines Baumes gebohrt werden, in den der Bügel hineinkommt. Und jeder Bügel bekommt zwei Schlingen, die übereinandergreifen, und wenn alles fertig ist, hole ich die Vogelbeeren vom Boden, und in jeden Bügel kommt ein Zweig der roten Früchte, um die Drosseln anzulocken.

Eine harte Arbeit. Eine Arbeit, bei der es keine törichten Gedanken gibt, weil sie die letzte Aufmerksamkeit erfordert. Und so ist es mit den Marderfallen, die ich baue, mit den Netzen, die ich stelle, mit den Raubvogelhorsten, die ich ausmache. Es gibt keine Zeit, keine Entfernung, keine Müdigkeit. Es kommt vor, daß ich im Winter, wenn der Schnee bis zu den Knien reicht, am frühen Morgen eine Marderspur finde und sie verfolge; daß ich Jagen nach Jagen umkreise; daß ich Stunden verliere, weil der Marder eine Strecke lang von Wipfel zu Wipfel sich geschwungen hat, ohne eine Fährte zu hinterlassen. Daß ich dann, vielleicht sechs Stunden später, den Marder festmache, auf einer starken Kiefer, die in der Mitte ein Nestloch hat. Und da er nicht herauskommt, laufe ich eine Meile nach Hause und komme im Schlitten wieder, meinen Vater und zwei Holzarbeiter bei mir. Der Baum wird gefällt und donnert in einer Schneewolke zu Boden, aber der Marder verläßt sein Haus nicht. Mein Vater lächelt etwas spöttisch und meint, es komme vor, daß auch große Jäger sich »verspüren«. Aber da fährt einer der Arbeiter mit der Hand am Baum entlang, bis er das Nestloch findet, und der Marder ist so gut, ihn in den Finger zu beißen. Nun wird ein meterlanges Stück des Baumes herausgesägt, da die Öffnung auf der Erde liegt, und herausgerollt, und nun fährt der Marder aus dem dunklen Haus, und der Schuß wirft ihn in den Schnee. Die Sterne ziehen auf, als wir nach Hause kommen. Ich bin müde, naß, erfroren und stolz.

Der Wald hat keine Grenzen für mich. Ich bin überall zu Hause, bei allen Förstern. Man achtet mich, weil ich nicht wie eine städtische Vogelscheuche im Walde mich bewege, sondern weil ich einer der ihren bin, ein junger Mensch vom Handwerk, auch wenn der Glanz der höheren Schule mich umgibt. An dem zweiten See, der uns früher gehört hat und an dem nach dem Fischfang Trilljam in seinem gelben Mantel erschien, ist nun eine Försterei gebaut, und dort bin ich oft. Es sind zwei Töchter da, und die ältere, ein stilles, zartes Kind, ist mir wohl gut. Aber ich will die Schmerzen der Liebe nicht mehr. Ich will an das dunkle Fließ, das mit schwarzem Wasser unter alten Erlen dahinzieht, und Krebse fangen. Ich töte ein paar Frösche, ziehe sie ab, daß ihr Fleisch weiß leuchtet und stecke sie an Weidenstöcken in das Wasser. Und nun kommen sie aus ihren Höhlen heraus, tastend und schleichend, Dutzende, Hunderte, eine schauerlich sich bewegende, gestaltlose Masse, die sich um die Beute drängt. Und ich habe nur unendlich behutsam mit dem Netz unter das grausige Mahl zu fahren, um sie herauszuheben, manchmal ein Schock in einer Viertelstunde. Und dann geht es wieder heim, eine Meile weit, durch den abendlichen Wald, müde, glücklich und stillen Herzens.

Mitunter bin ich eine Woche fort, bei einem Onkel, der Förster ist am Spirdingsee, wo es Kreuzottern und Uhus gibt, und wo ich beim Baden beinahe ertrinke. Oder bei einem Onkel, der Förster ist am Niedersee, und wo an den Abenden jemand tief aus den Wäldern herrlich auf einem Waldhorn bläst. Überall ist noch ein wunderbar wildes Land, über dem die Adler schweben und die wilden Schwäne brausen, wo die Menschen eine fremde Sprache sprechen und russische Wilddiebe aus den Philipponendörfern zu Kampf und Abenteuer locken. Noch ist überall Raum und Größe und die unendliche Einsamkeit, die bald ein Märchen sein wird in unsrem Land. Da ist kein besonderes Ereignis, das an mir formt, keines Menschen Vorbild oder Neigung, aber die ganze Welt jener Verborgenheit nimmt mich noch einmal auf, bewußter nun schon gefühlt als früher, eindringlicher in ihrer Schwermut, tröstender in ihrer Stille, bevor ich für immer hinausgehen werde auf die Straßen der Fremde, um nur wie ein Gast wiederzukehren, dem die Ahnung des Abschieds schon die Einkehr verdunkelt.

Leuchtend steht der Herbst dieses Jahres, des letzten kindlichen, wie mir scheint, in meiner Erinnerung. Der Dohnenstieg ist fertig, und die Drosseln sind da, bevor sie südwärts ziehen. Beim Sternenlicht schon bin ich unterwegs nach einer weit entfernten Feldmark, um einen Hasen bei der Rückkehr von der Saat zu schießen. Reif liegt schon auf der Erde, und im Walde riecht es bitter nach Pilzen und welkem Laub. Ich sehe, wie der Nebel fällt und der rote Tag über den Feldern aufgeht. Der Bussard fliegt zu seiner Jagd, und ein Fuchs trabt den Grenzgraben entlang. Die Vögel erwachen, die Brombeeren leuchten in der Hecke vor mir, und manchmal zerbricht der Donner meines Schusses das Schweigen der Frühe. Heimkehr durch den aufleuchtenden Wald, in dem die Nüsse reifen und die Häher lärmen. Eine kurze Rast, ein Frühstück im Garten, über den die Kraniche in Geschwadern nach der südlichen Sonne ziehen.

Und dann, ohne Müdigkeit, das Hauptwerk des Tages: der Dohnenstieg. Eine Jagdtasche voller Vogelbeeren, die Doppelflinte, Pfeife und Tabak und ein Stück trockenes Schwarzbrot. Der Reif ist zu Tau geworden, und Tausende von Spinngeweben schimmern in der Sonne. An den Waldrändern brennt der wilde Birnbaum in glühendem Rot, und die Ahornbäume leuchten in ihrem herrlichen Gold. Niemals ist der Wald wunderbarer als im Herbst, in seinen Farben, seinem Geruch, seiner fast atemlosen Stille. Schwermut erfüllt ihn, aber sie ist sanfter als zu andren Jahreszeiten, und noch heute ist die Seele nirgends reicher mit Gestalten und Plänen erfüllt als in einem Grenzgraben am Waldrand im Herbst, wo der Blick über welkende Kartoffelfelder geht, über schweigende Moore und die großen ruhigen Wolken dieser Jahreszeit.

Der Dohnenstieg läuft am Waldrand entlang, so daß der Blick sich ab und zu öffnet auf das still beglänzte Feld, den See und ferne blauende Wälder. Es liegen fast immer Schnepfen um seinen Pfad, und jeder Schritt ist mit der Spannung erfüllt, die nur der Jäger kennt. Es ist nicht so wichtig, ob ich zwei Dutzend Drosseln heimbringe oder nur ein paar. Manchmal hängt ein Eichelhäher in der Schlinge und manchmal sogar ein Haselhuhn. Manchmal haben die Mäuse alle Beeren fortgefressen, und es gibt Arbeit und keinen Fang. Aber das alles ist nicht das Große daran. Das Große ist die Freiheit des Tuns, des Schreitens, des Raumes. Die herrliche Freiheit dessen, der im Einklang mit seiner Erde lebt. Von dem die Wände fortgerückt sind, die Menschen und die Schmerzen, die sie bereiten. Dessen Auge und Ohr immer wach sein müssen und dessen Gewehr fast ohne Bewußtsein hochfliegen muß, wenn eine Schnepfe aus dem Buchengestrüpp aufsteigt und wie ein Schatten um die dunklen Fichten schießt. Es gibt keine andre Ehre als die, ein guter Jäger zu sein, und keine andre Sehnsucht als die, eine Beute nach Hause zu bringen. So einfach ist das Leben, wenn jeder Tag in sich selber ruht und nur die Speise verdienen will, die man am Abend braucht, und den Schlaf, der zum neuen Tage stärkt.

Ich bin ein mit vielen Träumen gesegneter und beladener Mensch, schon von Kindheit an. Aber von hundert Träumen, die heute über meinen Schlaf gehen, sind neunzig dort zu Hause, wo ich aufgewachsen bin. Ich gehe durch das alte Haus, in dem ich doch seit fast dreißig Jahren keine Nacht mehr geschlafen habe, über das Roggenfeld, durch das Schilf der Seen, tief in die Wälder hinein. Und selbst der Krieg, so tief eingegraben in meine Seele, spiegelt sich nicht im Raume der fremden Länder wider, sondern ist da zu Hause, wo ich zu Hause war. Unter den alten Erlen stehen die Geschütze eingegraben, aus dem Rand meiner Wälder tauchen die Schützenketten auf, und alles Große und Grausige seines Geschehens geht über mein Kinderland hin, als hätte es den ersten Anspruch auch auf diesen so ernsten und düsteren Teil meines Lebens.

Um die Mittagszeit kehre ich heim, und eine Stunde später bin ich schon wieder unterwegs. Die Schnepfen sind auf dem Durchzug, und in Schonungen und Brüchen suche ich sie auf, ohne Hund, nur mit dem Gefühl dessen, der wissen muß, wo die Tiere seines Waldes schlafen. Vier, fünf Stunden dauert der Bogen, den ich durch die Wälder mache, und bevor die Sonne sinkt, sitze ich zwischen Hochwald und Torfbruch, im Grenzgraben, wo der Blick weit hinausgeht und über den gelben Birken die roten Abendwolken stehen. Hier ist mein stillster und geliebtester Platz. Zwischen den Torfhaufen steigt der frühe Nebel auf, und durch die stille Luft kann ich hören, wie der Pumpenschwengel auf unsrem Hof auf und nieder geht. Finster und gewaltig steht hinter mir der Wald, aber hell und rötlich bestrahlt liegt der ganze Himmelsraum vor meinen Augen. Da zieht alles vorüber, was ich war und einmal werden möchte. Goldene Tore sind aufgebaut, und wie ein Traumvogel schwebt der Reiher über Säulen und Dach. Schmerz erfüllt mich und das tröstliche Gefühl des lebendigen Seins. Noch weiß die junge Seele nicht, wohin sie fliegen wird, aber sie fühlt die Kraft ihrer Schwingen, und ein glühendes Verlangen erfüllt sie, gut und groß zu werden, wie alle diejenigen, mit deren Bildern man von Kindheit an ihren Raum erfüllt hat. Manchmal schreibe ich hier einen Vers auf ein zerknittertes Blatt, aber nicht die Verse sind die Frucht dieser stillen Stunde, sondern die Bereitschaft, die aus ihr strömt, das Stillesein, das uferlose Erfülltwerden mit etwas, das ich nicht kenne und nicht nennen kann.

Dann kommt die Dämmerung, und nun ist nur der Jäger übriggeblieben, für den es keine Träume gibt. Denn die Schnepfe kommt stumm, in rasendem Flug um Wipfel und Waldecken, und die Hand, die nicht fehlen will, darf keine Verse schreiben.

Dann steigt der Mond über das Moor, und ich gehe noch zum See. Im Schilf, bis zu den Knien im kalten Wasser, warte ich auf die ziehenden Enten, bis das silberne Korn auf der Schiene des Gewehrs nicht mehr zu sehen ist. Der Tag ist zu Ende. Er hat das Seine gebracht. Dunkel liegt schon das Haus. Durch die Kammertür sage ich meinem Vater noch, wie alles war. Am Fenster meiner Oberstube esse ich mein Abendbrot, im Dunklen, und sehe zu, wie der große Herbstmond über See und Felder steigt. Die Eulen rufen aus dem schwarzen Wald, und in einem fernen Dorfe bellt ein Hund, daß das Echo lange über die Erde geht. So einfach ist die Welt, wenn man nichts hinzutut zu ihr, und der Schlaf kommt über mich, wie er über die Erde kommt: ein Lohn des Tages, der erfüllt worden ist.

Wenn ein Dichter jemand ist, der lange und schweigend sammelt, bevor er seine Ernte beginnt, so mag ich wohl dort und in jenen Zeiten ein Dichter geworden sein. Der Adler hatte daran teil und das Waldhorn, die roten Wolken über dem Moor und der bittere Geruch der Wälder. Sie alle erfüllten das Gefäß, aus dem ich später schöpfen sollte, und sie bewahrten sich für mich, zehn, zwanzig, dreißig Jahre lang, mit der schönen Geduld, die nur die Treue gibt.

Es tut nichts, daß ich dem nicht den Namen Gottes gab, womit ich mich in jenen Zeiten erfüllte. Ja, daß ich diesen Namen wohl geleugnet haben würde. Ich weiß nicht, ob die Jäger an Gott glauben oder nicht. Aber ich weiß, daß sie ihm näher sind als andere, weil sie mehr als andere in seinem Hause wohnen. Denn ein reines Tagwerk, auch wenn es nur mit der Büchse in der Hand vollbracht wird, mag Gott wohlgefälliger sein als aller Rauch, den wir aus den Küchen unsres Geistes aufsteigen lassen.

Wahrscheinlich blickten meine Eltern nicht ohne Sorgen auf mich. Zwar lag mein Tun offen vor ihren Augen, aber ich wurde ein immer schweigsamerer Mensch, und wenn ich meine Meinungen aussprach, so waren sie voller Verachtung für das, was die Meinung der Welt bedeutete. Ich war schon damals ein unverbindlicher und in Sachen der Überzeugung ein unversöhnlicher Mensch. Damals vollzog sich das tragische Fortschreiten jeder Generation über die vorausgehende. Sie bleibt keinem Geschlecht erspart, aber sie ist am bittersten, wo der eine Teil in seinem stillen Lebensraum geblieben ist und der andere eine neue Welt für sich erobert hat. Dankbarkeit war nie eine Sache der Jugend, und es gibt wenig Häuser, in denen die schroffen Jahre der Entwicklung ohne Schmerzen vorübergehen. Meine Eltern hingen an der Sitte und Überzeugung ihrer Zeit, wie nicht anders erwartet werden konnte. Und sie sahen in manchem Lieblosigkeit, was doch nur die bittere Mühe einer Jugend war, in das Kleid einer neuen Zeit hineinzuwachsen. Erst viel später sind unsre Wege wieder zusammengekommen, und ich glaube nicht, daß wir die Schmerzen bedauert haben, die wir einander bereitet haben.

Auch hatte ich niemand, mit dem ich Umgang hätte pflegen, und von dem ich eine sanfte Stillung meiner Stürme hätte erwarten können. Vor allem hat mir in allen diesen Jahren das Kostbarste gefehlt, das ein werdender Mensch erfahren kann: die gütige, leitende Hand einer reifen Fran. Aber die Armut und Einfachheit meiner Herkunft und meine frühe Scheu, eine neue Tür zu öffnen, ließen mich in dem Kreis meiner Arbeit und weniger Menschen. Und da ich keine Gaben besaß, die geeignet gewesen wären, die Herzen der Menschen zu bestricken, sondern im Gegenteil ein schwerblütiger und unbequemer Mensch war, so habe ich lange warten müssen, ehe man die Türen vor mir öffnete, ohne daß ich zu klopfen brauchte. Und dann öffnete man sie oft so weit, daß es mir keine Freude mehr machte, einzutreten.

Ich sehe mich noch einmal um, unter allen Menschen, die ich in meiner Heimat kannte. Da sind die Verwandten meiner Mutter, in Walddörfern, auf Gütern und in Förstereien. Sie lieben mich alle, und ich bin gern bei ihnen. Aber ich ruhe nur aus in ihrem Kreis. Da ist kein Wind, der meine ungeduldigen Schwingen höbe, keine Sehnsucht, die mich verbrennte, wenn ich ihnen wieder ferne bin. Da sind die Förstereien meines Waldes, aber sie haben ihre eigene Sorge und Not, und auch dort finde ich niemanden, der mit mir zusammen Gott und alle Ordnungen stürzen würde, um eine neue Erde aufzubauen. Und dies will ich doch, dies und nichts Geringeres. Da ist der alte Lehrer unsres Nachbardorfes, den ich sehr verehre, aber er ist schon weise geworden in einem langen Leben, und ich bin noch so weit von aller Weisheit entfernt. Und die Frauen sind gut und brav und manchmal auch nicht, aber sie wissen wenig von der »Seele« und am wenigsten von der eines jungen Menschen, der ein Dichter werden möchte.

Wie schrecklich einsam bin ich doch in diesem Alter, auf der Brücke zwischen zwei Generationen! An Sonntagnachmittagen, wenn das Haus leer ist und nur die eignen Träume sitzen verhüllt in den Winkeln und auf den Stufen jeder Treppe. Wie töricht stolz ist man doch auf seine Einsamkeit, und wie bitterlich verbrennt sie die Seele, so daß das Ohr jeden Ton aus den Wäldern auffängt, jedes ferne Lied, jedes Räderrollen, in dem atemlosen Bangen, jetzt, mit diesem Herzschlag, könnte es zwischen den Bäumen erscheinen: das Glück oder der Ruhm oder der strahlende, unsterbliche Untergang. Aber es ist nur eine alte Frau, die verspätet vom Kirchgang kommt, das Tuch über der Stirn und das Bündel mit dem Gesangbuch in der Hand. Oder zwei Kinder mit einem Beerenkorb. Der Wald nimmt sie wieder auf, und immer noch kreist der Bussard über den abgeernteten Feldern. Und das Glück ist wo anders, die Liebe, der Ruhm, das Heldenlos.

Nur eines Menschen erinnere ich mich aus dieser Zeit, eines Försters, zu dem ich mitunter ging, und der, wiewohl er viel älter war, mich mit dem Ernst empfing, den man den Gleichberechtigten zukommen läßt. Er hatte seine Frau verloren, seine Kinder fortgegeben und lebte einsam zwei Meilen weit von uns, noch hinter dem See, an dem der Fischadler horstete. Er spielte Geige und schrieb mitunter eine kleine Geschichte für eine Forstzeitschrift. Aber nicht dies allein hob ihn für mich aus dem Raum meiner Landschaft heraus, sondern ein Hauch des Wilden, Kraftvollen und Abenteuerlichen, von dem seine Gestalt mir umgeben schien. Er hatte die schönsten Augen, die ich bis dahin gesehen hatte, von einem leuchtenden Blau und jener durchdringenden Helle, wie sie nur die Augen der Raubvögel besitzen. Er hatte viel erfahren und die Erfahrung nicht wie einen Regen über sich kommen lassen, sondern er hatte sie gleichsam geerntet und sein ganzes Wesen mit ihr erfüllt. Er schien mir ein unerschütterlicher Mensch, und sicherlich war es das, wonach ich als ein Träumer verlangte. In dem Wirren und Drängenden meines damaligen Lebens richtete ich mich an seiner Klarheit auf, denn wenn ich auch ein Jäger war, so haben auch diese ihre Stunden, in denen sie ihre Büchse verfluchen und ausbrechen möchten aus ihrer Zeit.

Auch damals gibt es Feste, aber sie sind nicht mehr so schön wie zu meiner Kinderzeit, wo das Haus drei Tage lang mit Gästen erfüllt ist, wo gesungen und getanzt wird und ich in einem kleinen Nebenzimmer den großen Leierkasten drehe, dessen braune durchlöcherte Spielbänder so geheimnisvoll und tönend über die Walzen laufen. Sie sind lauter und bunter, die Feste dieses Jahres, aber sie erfüllen mit der Wehmut eines unvollkommenen Glückes. Wir fahren zur Morawa, am Cruttinnenfluß, viele Wagen, und wenn wir kommen, spielt die Kapelle: »Ich schieß' den Hirsch im wilden Forst …« Auf dem Bretterboden des Pavillons wird getanzt, indes die Fischadler hoch über den Seen kreisen, und am Abend fahren wir in vielen Booten stromab in das Dorf. Mein Onkel, der »Graf«, schickt Raketen unter die Sterne, und die Mädchen singen vielstimmig die alten Lieder unsrer Landschaft.

Auch ich bin da, und manchmal lache und tanze ich auch, aber meine Seele ist weit fort. Sie ist mit der großen Sehnsucht des Wanderers erfüllt, der einmal einkehrt, aber der wieder weiter muß, weil etwas auf ihn wartet, das er nicht kennt, aber das da sein muß: ein Gedicht, herrlicher als alle der Welt, oder ein Mädchenantlitz, so mit Süße und Schweigen angefüllt wie eine Blume am Sommerabend. Und wenn wir heimfahren, tue ich, als schliefe ich, um nicht sprechen zu müssen, und am Fenster der Oberstube stehe ich noch lange und sehe, wie der Mond über die Nebel steigt, und ich weiß nun, was der schöne Vers bedeutet: »Das Herz mir im Leib entbrennte …«

Nicht oft in meinem Leben war ich so in Gefahr wie damals, dicht am Tode, am Ekstatischen, am Sichverlieren in ein schwermütiges Haus der Träume, Wünsche und Tatlosigkeit. Aber am nächsten Morgen ging die Sonne auf wie sonst, die Wälder riefen und das Metall der Flintenläufe lag kühl und fordernd unter der ruhigen Hand. Es gibt träumende Jäger und schwermütige Jäger, aber kein Stand hat es wie der ihre in der Hand, mit dem Donner des Schusses das schweigende Haus zu wecken und Träume und Tränen aus den Augen zu wischen, damit die lebendige Welt sich wieder in ihnen spiegele.

Ich nahm nun heimlich die Mütze ab, wenn ich aus den Wäldern fuhr, um wieder in die Stadt zu kehren. Ich wußte, was ich ihnen zu danken hatte. Die Zeit war noch nicht gekommen, in der ich ihnen ein Denkmal hätte setzen können, und so hatte ich nichts als diese kindliche Gebärde. Mein Vater sagte nichts. Wir sprachen nicht viel auf solchen Abschiedsfahrten. Vielleicht sah er mich von der Seite an, und wenn er es auch nicht verstand, so achtete er doch, was ich tat.

Und dann sah ich ihn wieder heimfahren, und der Staub stand hinter dem Wagen auf. Und jedesmal schien es mir, als sei er müder und älter geworden und als würde der Wald nun viel zu tun haben, um auch ihn in der Einsamkeit zu trösten, in die er nun fuhr.


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