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Feste und Spiele

Man wird mir gern glauben, daß wir zu unsrer Kinderzeit nicht in die Versuchung geführt wurden, in Wohlleben und Behaglichkeit zu ersticken. Wir hatten aus Haus und Hof, aus Acker und Vieh, aus Wald und See unser gesundes und ausreichendes tägliches Brot, aber darüber hinaus konnte kein Wunsch sich schwingen, und selbst dieses war dem Unglück zuweilen ausgesetzt, wenn Mißernten oder Seuchen auch über unsre kleine Welt hinweggingen, wie ich mich noch des Bildes meiner Mutter gut erinnere, die weinend auf der Stallschwelle saß, nachdem eine Rotlaufseuche in zwei Sommertagen alle unsre zwölf Schweine getötet hatte.

Aber wir fühlten die Armut nicht, da wir ja den Reichtum nicht kannten, sondern vielmehr in den kümmerlichen Hütten der Waldarbeiter täglich einen Mangel sahen, an dem gemessen wir im Überfluß lebten. Im Sommer gingen wir barfuß, und im Winter trugen wir Holzpantoffel oder hohe Stiefel, und da wir gewohnt waren, uns, auf eine übertragene Weise, auch den übrigen Erscheinungen des Lebens ebenso natürlich anzupassen, so waren wir wahrscheinlich glücklicher als Kinder, die zwischen Schuhen und Kleidern jeden Tag wählen konnten.

Auch kamen die Feste in unsre kleine Welt ebenso pünktlich wie in das Kaiserhaus, und mir war zudem gegeben, mich auf eine leidenschaftliche und fast besinnungslose Weise dem hingeben zu können, was ja auch die ärmste Kinderwelt verzaubert: dem Spiel. Zwar war an »Spielsachen« unser Haus mitunter so leer wie eine Mönchszelle, aber besaßen wir nicht Holz, Bindfaden, Draht und Nägel, soviel wir wollten? Und besaßen wir nicht in Hof, Feld und Wald einen Spielplatz, der so weit reichte wie der Himmel? Und wenn auch Bücher nur zu Weihnachten den Weg zu uns fanden, so besaßen wir doch den »Lederstrumpf« und den »Robinson Crusoe«, und jedes von beiden genügte, um eine ganze Welt des Abenteuers, des Kampfes, der Tapferkeit und des Ruhmes damit aufzubauen.

Es war wohl nicht so sehr die Erziehungskunst meiner Eltern, sondern vielmehr der Zwang unsrer Armut, der uns nötigte, zu unsren Spielen den ganzen »Robinson« noch einmal zu verwirklichen, das heißt, von Pfeil und Bogen bis zur Kunst des Feuermachens und andren Künsten alles unsren eignen Händen zu verdanken. Es gab keinen »Waffenladen« bei uns und kein Proviantdepot, kein Kleidermagazin und keine Schiffskiste, und was unsre kindliche Welt erfüllte und beseligte, mußten wir selbst herstellen: Tomahawks und Kanus, Armbrüste und Schilde, Wagen und Schlitten, Sturmleitern und Kanonen, und selbst an traumhafte Dinge wagten wir uns mit Zuversicht und nicht immer mit gänzlichem Mißlingen, an Kielboote, Fahrräder (aus alten Faßreifen) und sogar an Schiffe, die zwar ihre Werft nicht verlassen konnten, aber die doch herrlich dastanden, wenn man freundlich übersah, daß sie auf der Erde lagen statt auf dem ihnen zugehörigen Element.

Versuche ich in der Erinnerung, in diese kindliche Welt der Spiele eine Ordnung zu bringen, so zerfallen sie mir in der Hauptsache in Helden- und Träumerspiele. In jenen, die Feld und Wald mit Lärm und Ruhm erfüllen, scheint sich die primitive Stufe aller Menschheit noch einmal darzustellen, eine vergangene Entwicklungsstufe, die das Kind nach biologischen Gesetzen noch einmal überschreiten muß. In diesen aber scheint etwas Künftiges sich zaghaft anzudeuten, im Träumen, Formen, Bilden, Dichten und Trachten. In ihnen ist Stille und Versunkenheit, ja Einsamkeit. Ihnen gehört das Haus am Winterabend, wenn der Schnee um die Fenster treibt und die Füchse aus den mondbeschienenen Dickungen bellen. Sie erheben sich nicht aus dem wilden Atem fremder Länder, sondern aus dem stillen Glanz der Märchen. Sie sind viel mehr Spiele der Seele als solche der Hand und des Auges, und manchmal enden sie in der Versunkenheit, im Entrücktsein, ja in Tränen und einer wilden, uferlosen, nicht zu beschreibenden Sehnsucht.

O schöne, versunkene Welt des Ofenwinkels, wohin das Licht der Petroleumlampe, der Rauch aus des Vaters langer Pfeife und die Blicke der Großen nur selten und aus der Ferne kommen. Wo Hund und Katze stille Gefährten sind, das eine schlafend und von Jagden leise träumend, das andre mit fernen Augen vor sich hindenkend oder -träumend. Wo die Glut des Buchenfeuers rötlich und immer wechselnd über eine verzauberte Welt tastet und nur die Stimme des Windes klagend durch den Schornstein geht. Dann sinken die müden Hände langsam von den Bauklötzen, die sie zu Domen und Brücken aufrichteten, von den Wagen aus Garnspulen, in denen Königskinder fahren, von den weißen Blättern, die der Bleistift mit Traumwäldern und Gesichten bedeckt hat. Sinken langsam in den Schoß und falten sich, indes die Augen sich auf die seltsamen Bilder des Feuers richten, die alles umfassen, was zwischen Grauen und Süße lebt, und deren Züge mit so unheimlicher Schnelligkeit wechseln, daß nun schon der Rattenfänger von Hameln ist, was eben noch die stille Heiligkeit Josephs war, und nun schon in den kalten Windungen des Drachens sich ringelt, was eben noch als Ochs und Esel an der Krippe friedenvoll stand. Und über dem Ganzen steht fast unbeweglich der hohe, klagende Ton verglühenden Holzes, derselbe, der mitunter durch die Wipfel des Waldes geht, der spricht und ruft und lockt, immerzu, aber von dem die kindliche Seele niemals weiß, woher er kommt, und wohin er geht.

Wir begraben Vögel und Mäuse wie andre Kinder, und gleich diesen stellen wir alles dar, was der Tod zu seinem stillen Amt erfordert: Pfarrer und Küster, Totengräber und Gemeinde. Wir spielen Theater mit so kümmerlichen Mitteln, wie nur Robinson und Freitag es hätten spielen können, aber der Glanz unsrer Uraufführungen ist nicht geringer als der auf den Bühnen der Welt. Wir verkleiden uns zum Dreikönigstag und zur Fastnacht, und ich weiß nicht, ob die Bären und Wölfe, die wir darstellen, aus uralten Bräuchen oder aus der Luft unsrer dunklen Wälder stammen. Wir haben keine Lokomotiven und Eisenbahnen, keine Elektrisiermaschine und kein Laboratorium. Unsre Rodelschlitten bestehen aus zwei abgeschrägten Brettern, über die ein drittes Brett genagelt ist. Unsre ersten Schlittschuhe sind Holzpantoffel, in deren Sohle wir einen langen Draht einhämmern. Unsre Waffen sind die Steinschleuder, der Bogen und die Armbrust. Unser Kriegskleid ist der Papierhelm mit Bussard- und Habichtfedern. Unsre Trommeln sind alte Kochtöpfe, unsre Flöten sind aus Weidenrohr gemacht und die Friedenspfeife aus Schilfhalmen mit einem Kopf aus dem Stengel des wilden Rhabarbers. Sie zu rauchen, erfordert wahres Heldentum, und keiner der daran Beteiligten ist für lange Zeit imstande, an das Wiederausgraben des Kriegsbeiles zu denken.

Ist es ein Traum, oder war ich damals ein großer Tänzer auf den Holzdielen meines Vaterhauses? Nein, es war so, und langsam steigt es aus dem Nebel empor: die winterliche Wohnstube im späten Lampenlicht, die Eltern fort, in der Stadt oder einer andern Försterei, die Großmutter im schwarzen Kleid, die Musik macht auf einem in Seidenpapier gehüllten Kamm, das Dienstmädchen in Unterrock und Strümpfen, und wir, noch einmal aus den Betten geholt, in langen Nachthemden: die Enkelin der Großmutter und wir drei Brüder. Drei Herren und drei Damen. Wir stehen einander gegenüber, so feierlich wie auf dem Parkett des Hofes, gehen aufeinander zu, entfernen uns, verbeugen uns und lächeln, und immerzu spielt die Großmutter den alten Kontretanz unsrer Heimat: »Siehst du woll, da kömmt er, lange Schritte nimmt er … siehst du woll, da kömmt er schon, der betrunkne Schwiegersohn.« Ein rauher Text, aber ein zarter Tanz, dem ich mit Hingebung verfallen bin, und den ich mit der Kreuzpolka zusammen erlerne, um auf den seltenen Festen im Saal des Dorfwirtshauses als ein frühes Genie bewundert zu werden.

Ja, diese Feste der Landschaft, ein oder zwei im Jahr, weshalb ist ihr Glanz noch immer so groß, daß alles, was inzwischen gewesen ist, davor verblaßt? Liegt es daran, daß ich ein Kind war, immer bereit, Wunder zu sehen, oder waren sie wirklich inniger, froher, heller als heute? Es will mir scheinen, als seien sie in der Armut damaliger Zeit und Landschaft wirklich »Feste« gewesen, nicht verblaßt und müde geworden durch alltägliche Wiederholung, und als seien die Menschen, die sie feierten, auch mit dem Willen hingefahren, festlich zu sein und alles dazu zu tun, was in ihren Kräften stand. Es gab ein Lehrerfest und ein Frauenvereinsfest. Es gab keine »Exklusivität«, und Bauern, Dienstmädchen und »Herrschaften« saßen mit den gleichen kindlichen Augen vor dem Vorhang der Bühne und drehten sich mit der gleichen Leidenschaft im Tanz. War nicht die Fahrt schon ein Märchen, durch den tief verschneiten Wald, über dem der Mond und die Sterne so standen, daß man es glauben mußte, dort sei eine andere Welt? Und wie herrlich war der Saal, wie froh die Gesichter, wie glänzend und voller Geheimnisse die Instrumente der Kapelle und ihre zerknitterten Notenblätter mit ihren schwarzen Zauberzeichen! Gibt es noch ein Geigensolo wie das des »dritten Lehrers« mit den schwarzen Locken? Ein bißchen falsch vielleicht, aber voll unbeschreiblicher Süße? Gibt es noch ein Lied, dem zu vergleichen, das der erste Lehrer singt, wenn die Mitternacht schon da ist und der ganze Saal ihn darum bestürmt: »Denn die Gedanken zerbrechen alle Schranken … die Gedanken sind frei?« Klingt es mir nicht nach vierzig Jahren noch immer so im Ohr wie damals, als mir die Tränen aus den Augen stürzten, jedesmal, wenn seine Melodie mich überfiel?

Und zu Hause, einmal im Winter, wenn wir unsre »Gesellschaft« gaben, war es nicht so, daß man nachher kaum weiterleben konnte? Wo hatten sie Raum, die zwanzig, fünfundzwanzig Menschen, in unsren kleinen Zimmern? Soviel Raum, daß gleichzeitig getanzt, gespielt, erzählt werden konnte? Daß eine Polonäse durch das Haus ging, ohne daß das erste Paar an den Rücken des letzten stieß? Und daß für uns noch Raum im »Kabinett« war, wo wir die Kurbel des ungeheuren Leierkastens drehten? Feste, die am Nachmittag mit Kaffee begannen und im nächsten Tageslicht beim Kaffee endeten, ja, die manchmal noch die nächste Nacht brauchten, damit alle Seligkeit ausgekostet werden konnte? Gibt es Duette, wie sie damals gesungen wurden, Verkleidungen, Aufführungen, Geschichten, wie Tante Veronika sie erzählte? Gibt es noch eine Küche mit riesigem Herdfeuer, bis zum Bersten gefüllt von seligen Kutschern in Lammfellmützen und vom Zigarren- und Pfeifenrauch so verdunkelt, daß man über unzählige Beine fällt?

Es wird wohl alles dies noch geben, in den stillen Winkeln unsres Vaterlandes, aber für mich ist es ein versunkener Traum, und nur manchmal steigt es noch auf, wie dunkle Wälder unter dem blauen, lautlosen Licht der Blitze hinter dem Horizont.

Doch darf ich, da ich diese vergangene Welt einmal beschworen habe, nicht an dem vorübergehen, was die Krone aller Feste und Spiele war, worin des Jahres Anfang und Ende sich zusammenzog und was über allen zweiundfünfzig Wochen wie ein sich langsam hebender Stern der Verheißung stand: das Weihnachtsfest.

Wenn ich es recht bedenke, begann es für mich im Frühjahr, wenn ich auf meinen Waldwegen nach dem nächsten Weihnachtsbaum Umschau zu halten begann. Und glaubte ich ihn dann gefunden zu haben, manchmal früh, manchmal spät im Jahr – denn die alten Waldleute pflegten zu sagen, einen richtigen Weihnachtsbaum zu finden, sei mindestens ebenso schwer, wie die richtige Frau zu finden – so konnte ich ein paarmal in der Woche vor ihm sitzen, der noch durch nichts über seine Umgebung erhoben war, und mir vorstellen, wie ich ihn auf dem Rücken heimtragen und wie das Fest unter seinen Zweigen sein würde. Auch tat es diesem schönen Amt keinen Abbruch, als einmal am Heiligen Abend, als ich mit der Axt über der Schulter ihn holen kam, ein Wildschwein von nicht geringer Majestät sich unter seinen Zweigen erhob und zornig schnaufend aus dem gestörten Lager sich davonmachte. Vielmehr habe ich diesen Baum in einer besonders schönen Erinnerung, und ich weiß, daß ich mich nicht ohne Scheu umblickte, ob nicht vielleicht das Dach eines Stalles durch den verschneiten Wald zu sehen wäre und das Licht über der Krippe, das allen Tieren des Waldes eine Freistatt verheißen sollte.

Je tiefer ich zurückzugehen versuche in das Land der verfließenden kindlichen Erinnerung, desto mehr scheint mir, als ob nicht das erste Weihnachtslicht es sei, das sich aus dem Dunkel der Heiligen Nächte vor meinen Augen aufhebt, sondern als sei vielmehr die erste Erinnerung an den Glockenton gebunden, der an jedem Adventssonntag und in der letzten Adventswoche an jedem Abend »vom Himmel hoch« bis an die Fenster unsrer Wohnstube kam. Die Knechte, die wir während meiner Kinderzeit hatten, mögen in ihrer Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit verschieden gewesen sein, aber in einer Hinsicht war ihre Fertigkeit gleicher Bewunderung würdig: in der Kunst, den Klang der Schlittenglocke von der Stalltür bis zum Fenster so allmählich anschwellen zu lassen, daß auch der verstockteste Heide auf die Knie gezwungen worden wäre, weil eben kein Zweifel daran sein konnte, daß dieser Glockenton aus dem Himmel herabgestiegen kam, von Schneeflocken umweht, vom Winde leise vertrieben, bis das Metall sich draußen auf das Fensterbrett legte und nun das Schweigen eintrat, das nur über zwei gefalteten Engelsschwingen wohnen konnte.

Ich kann nicht glauben, daß die »Hirten auf dem Felde« überwältigter gewesen sind von Licht und Chor der himmlischen Heerscharen, als ich es damals war. Voller Ernst und Spannung wandten die Gesichter der Großen sich uns zu, indes wir die Hände falteten und nacheinander die Gebete sprachen, die man uns gelehrt hatte, wobei das Herz uns im Halse schlug und unsre Augen auf das verhängte Fenster gerichtet waren, hinter dem doch kein Schatten verriet, ob ein Engel oder Gottvater selbst davorstand. Und dann kam die dunkle fremde Stimme von jenseits der Sterne: »Sind's art'ge Kind? Sind's böse Kind?« Und die klare, tapfere Antwort unsrer Mutter: »Sind art'ge Kind!« Dann hob die Glocke sich auf, immer höher, leiser und ferner, bis sie verstummte und das Blut wieder zum Herzen strömte. Eine Weile später führte die Mutter uns in die Vorderstube, wo auf der Ecke des Tisches eine Pfeffernuß für jeden von uns lag. Nur ein einziges Mal, wenn ich mich recht erinnere, lag ein Stock statt der Kuchen da, und wiewohl das sicherlich seinen zureichenden Grund gehabt hat, so ist mir nicht ein tiefes Schuldgefühl mit dieser Erinnerung verknüpft, sondern ein fassungsloses Erstaunen, daß dieser Stock schwarz und glänzend von Ruß und Fett war, genau wie die Stöcke, über denen in der Räucherkammer die Würste und Schinken zu hängen pflegten. Doch mag ich mich wohl damit getröstet haben, daß dieser Stock aus höllischen Bezirken entliehen sein konnte und daß es dort vielleicht nicht viel anders aussehen mochte als in unsrer Räucherkammer, die an und für sich ein Ort des Schreckens für uns war, weil mitunter Feuer in ihr ausbrach und mein Vater dann auf das Dach steigen mußte, um feuchte Betten auf den Schornstein zu pressen.

Trat also mit diesem Glockenton die jenseitige Welt bis an die Schwelle unsres Hauses und Lebens, so hatten wir in der diesseitigen doch das Unsrige zu tun, um ihr auch würdig und feierlich zu begegnen. Das Landleben war ja damals noch auf eine altertümliche Weise an den Gang des Jahres und der Feste angeschlossen, und die Zurüstung zu den Heiligen Nächten mochte bei uns nicht viel anders gewesen sein als auf einem Bauernhof Schwedens oder Norwegens, weil die Bedürfnisse, die Frömmigkeit und der Aberglaube der nordischen Seele sich überall auf die gleiche Weise bewahrt hatten. Und wenn auch die wirtschaftliche Seite, das heißt das Schweineschlachten, mir auf eine unpassende Art in diesen Kreislauf eingeschlossen schien, so war mein Reich doch unter dem milden Licht der Hängelampe, und dort entstanden unter unsren Händen alle die Zauberwerke, die dieser verzauberten Zeit vorbehalten waren: Ketten aus rotem und blauem Glanzpapier, versilberte und vergoldete Nüsse und Äpfel und bronzierte Tannenzapfen. Auch mußte heimlich angefertigt werden, was wir selbst auf den Gabentisch zu legen hatten, und dann wurde unter der Leitung des Letzten der Mohikaner unsre Oberstube mit dem grünen Kachelofen und dem Duft der Bratäpfel ein Paradies, in dem wir nicht viel anders schalteten und walteten als Gottvater zu seiner Zeit, wenn er Tiere und Vögel bunt und fröhlich anmalte, um die frohe Erde damit zu erfüllen.

So hatte das Allerheiligste dieses Festes den schönen Vorzug, daß vor ihm eine Reihe von »Vorhöfen« lagen, in denen das Letzte bereits zu ahnen war, und nicht der geringste von ihnen war die Stätte der Weihnachtsbäckerei, die vom Reiben der Mandeln bis zur Herstellung des Marzipangusses alle Künste erforderte, derer wir fähig waren, und bei der nicht etwa das Recht auf Abfälle und Reste das Beseligende war, sondern die schöne Feierlichkeit alter Gebräuche und Rezepte, die Eintracht, der Friede, das stille Geborgensein im tief verschneiten Haus und in der Liebe der Eltern, die um diese Zeit ja von besonderer Innigkeit war.

Und gingen bei aller Tätigkeit die Tage auch mit erschreckender Langsamkeit dahin, so kam doch einmal der Morgen, an dem der Baum hereingeholt und in seinen Fuß gestellt wurde, worauf er in der Vorderstube verschwand und damit das Haus und das Leben in zwei Hälften zerfielen, eine irdische und eine himmlische. Früher als sonst wurde die Wirtschaft »beschickt«, wie man bei uns sagte, und während wir beim Licht der Stallaterne auf der Futterkiste saßen, indes die Pferde gefüttert und die Kühe gemolken wurden; während die großen Schatten der Tiere an den Wänden auf und nieder glitten, die Ketten sich leise rührten und aus den Wäldern der Ruf der Eulen über die verschneite Erde ging, hörten wir den Geschichten des Knechtes und des Mädchens zu, biblischen, weltlichen und jenseitigen Geschichten, mit der Gläubigkeit einfacher Seelen erzählt, und Haus und Stall erschienen unsren erschauernden Herzen als der stille, verschollene Mittelpunkt aller Welt, umgeben von himmlischen Heerscharen, überstrahlt vom Stern von Bethlehem, und wir selbst auf eine unverlierbare Weise eingebettet in eine göttliche Vaterhand, aus der uns kein Leben und kein Tod jemals würden vertreiben können.

Unendliche Stunden am Ofenfeuer der Wohnstube, indes nebenan hinter der verschlossenen Tür Schritte und Stimmen heimlich gehen, Papiere rascheln und ab und zu ein Ton leise aufklingt, als habe man eine Geige berührt oder ein geheimnisvolles Instrument, von den Engeln bis in unsre Wälder gebracht. Hoffnung, Verzagtheit, Seligkeit und Angst. Bis doch einmal die Tür sich öffnet und in unsre fassungslosen Augen und Herzen das Allerheiligste überwältigend sich stürzt.

Was gab es auf dem kleinen Gabentisch, was ich noch besitzen möchte? Einen Taubenschlag, anderthalb Spannen hoch, und wenn man eine Kurbel dreht, ertönt eine ganz zarte, leise und verstimmte Melodie. Einen Leierkasten an einem breiten grünen Band, und wenn man den Deckel öffnet, sieht man die Walzen mit glänzenden Stiften sich langsam gegeneinander drehen. Ein Paar Schlittschuhe für uns drei Brüder zusammen, eine Kegelbahn und eine Kanone. Ein Buch vom Schmied von Ruhla und vom Rattenfänger von Hameln. Holztiere mit steifen Beinen und herrliche Bäume, die man hinstellen kann, wo man will, und die so grün sind, daß sie sicherlich nicht von dieser Welt stammen. Und dann der erste kleine Tesching, den ich ins Bett nehme, und einen Säbel, über dem ich vor dem Einschlafen auf der Brust die Hände falte, so daß ich daliege wie ein kleiner Ritter in einer Kirchengruft.

Täuscht mich die Erinnerung oder liegt ein ganz kleiner Schmerz neben allen diesen Freuden? Und ist es nicht deshalb, weil meine Mutter leise weint unter dem brennenden Baum? Zuerst ist es der gestorbene Bruder, den sie nie vergißt, und dann ist es wohl ein leiser Gram um manches, was im Jahr gewesen ist, und um manches, das sich nicht erfüllt hat und von dem sie weiß, daß es sich nie erfüllen wird. Und dann ist es wohl die Ahnung, daß der Tod früher für sie kommen wird als für uns andere und daß sie gehen wird, ohne zu wissen, was aus uns werden wird, und ob wir auch nie vergessen werden, daß Gott durch alle Wände sieht.

Aber für ein Kind ist das ein kleiner Schmerz, denn wenn die Träne vorbei ist, glaubt es, daß alles andre vorbei sei. Und niemals kann dieser Abend aufhören, weil es ihn noch in seine Träume mitnimmt, die Hände um die kostbarsten Geschenke gefaltet, und jedes Erwachen versichert es der Seligkeit des Gestern und des Morgen.

Vier Feiertage gab es auf dem Lande, Schlittenfahrten, Gäste, Lieder und Tanz. Und es gab den Silvesterabend, von alten Bräuchen erfüllt, unter denen der feierlichste das Glückgreifen war, an das auch die Großen nur mit einem leisen Bangen gingen. Denn Himmelsleiter und -schlüssel und der Totenkopf sahen den ernsthaft an, der den Teller von ihnen hob, und mochte das Jahr auch deutlich genug gezeigt haben, daß weder Geld noch Kranz noch Ring noch Wiege mit ihren Symbolen sich erfüllt hatten, so vergaß es sich doch immer wieder vor der neuen Weissagung, und der furchtloseste Knecht erblaßte, wenn aus dem freundlichen Kuchenteig die schwarzen Kreidenelken ihn ansahen, die die Zähne des Totenkopfes bildeten.

Hatte aber die Schwarzwälder Uhr das neue Jahr geschlagen und stand der Wintermond hoch am Himmel, so rüsteten wir uns zu der Hasenjagd, die immer ein feierlicher Beginn des neuen Jagdjahres war. Mein Vater nahm seinen Stand an der Kiesgrube, die den Waldrand im Norden unsrer Felder begrenzte, und wir drei Brüder, eingehüllt wie Nordpolfahrer, machten uns auf den Weg nach den südlichen Waldrändern, wo wir uns verteilten, um dann das weite Feld meinem Vater zuzutreiben. Es war nicht so sehr die Jagdleidenschaft, die mich in dieser Stunde erfüllte, sondern das Feierliche des Herkommens und die Größe der schweigenden Landschaft, die noch heute unverändert vor meinen Augen steht. Unendlich schienen die weißen Felder, düster und schweigend die wenigen Gehöfte, von dunklen Wäldern umschlossen und von einem eisigen Mond bestrahlt. Und so klein waren wir drei auf der unermeßlichen Fläche, auf der der Schnee unter unsren Füßen knirschte und über die der Wind aus den russischen Steppen leise klagend ging.

Täusche ich mich oder war es in einer solchen Nacht, als der erste Vers sich leise blühend aus meinem Blute hob? Oder war es an jenem Ostertag, als ich durch die Wälder ging und zum erstenmal hörte, wie herrlich die Drossel sang? Oder war es an jenem Pfingstmorgen, als ich über den Birkenschonungen saß und der Kuckuck mir zurief, daß ich niemals sterben würde? Ich weiß es nicht mehr. So beglänzt liegt dieses Land vor meinen Augen, daß mir ist, als könnte jeder Tag und jede Nacht mich zu dem erweckt haben, was ich einmal werden sollte.

Oder war es nicht doch das Erntefest? Der Plonn, wie es in unsrer Landschaft hieß? War es nicht nach Weihnachten das schönste Fest meiner Kindheit? Da stehen sie auf den gemähten Feldern um die letzten Garben, die sie aufgestellt haben, Männer und Frauen, barhäuptig, und indes sie die Ähren zu Strauß und Krone einzeln aus den Garben ziehen, singen sie in ihrer polnischen Sprache langsam und schwermütig das Lied »Ach, bleib' mit deiner Gnade …« Ganz still ist die Luft, in der hoch oben die Raubvögel kreisen, und die ganze Welt erscheint mir erfüllt von diesem klagenden Lied, mit dem der Sommer sich wieder von uns wendet. Der Kranich steht neben mir am Gartenzaun, die klugen Augen auf das leere Feld gerichtet, über dem nun bald die klingenden Geschwader seiner Brüder brausen werden. Meine Hand liegt unter seinem linken Flügel, und so sehen wir beide zu, wie der langsame Zug über die Stoppeln zum Hof heraufkommt, Krone und Strauß den Eltern zu überreichen.

Aber während es noch geschieht, stehen Knecht und Hütejunge schon mit Eimern versteckt, und nach uralten, vergessenen Bräuchen stürzen sie sich auf die Mädchen, und der Hof wird zum Schauplatz einer Wasserschlacht. Und dann zu einer gastlichen Tafel und dann zu einem Tanzplatz. Und wiewohl jeder trinken darf, wieviel er will, bleibt es doch in Frieden und Fröhlichkeit, außer daß die Frau des Kranichjägers einen Stein in ihr Taschentuch bindet und damit auf den Rücken ihres Mannes einschlägt, um ihn zum Nachhausegehen zu bewegen. Aber er wird nicht zornig. Er lacht um so mehr, je mehr sie schlägt. Wir alle lachen, und noch immer höre ich aus den Wäldern das Echo der Lieder, mit denen sie heimkehren in ihre armseligen Dörfer und ihr armseliges Alltagsleben.

Mir ist, als hätten mich damals alle Menschen geliebt, bezwungen von dem grenzenlosen Vertrauen, mit dem ich jede mir dargebotene Hand ergriff. Als sei, nicht nur zur Adventszeit, immer ein Engel mit der Glocke in den himmlischen Räumen bereit gewesen, sich hinabzuschwingen zu unsrem Gehöft, um mit der Klarheit seiner Augen und dem Glanz seiner Fittiche alle Wolken zu zerstreuen, die sich um unser Kinderleben auftürmen wollten. Und als sei ihm zu verdanken, daß alles Traurige mir ohne Bitterkeit erscheint und alles Fröhliche, alle Feste und alle Spiele, von dem Glanz verklärt, den nur der frühe Morgen hat, bevor eine Fährte durch den Tau läuft und eine Vogelstimme über den dampfenden Wäldern steht.


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