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Steine und Brot

Es ist hier nun wohl der Ort, zum erstenmal als einer Gesamtheit derjenigen Anstalt zu gedenken, die mir sieben Jahre lang nach dem Willen meiner Eltern eine wenn auch erzwungene Heimat sein sollte.

Es ist natürlich auch mir so gegangen, daß die Schule weit davon entfernt sein konnte, mir den Garten Eden zu ersetzen, aus dem man mich vertrieben hatte, zumal meine ersten Begegnungen mit ihr nicht ein Quell der reinen Freude waren. Aber wenn ich von den ersten dumpfen Jahren absehe, in denen das Kind nur empfängt, von Unvermutetem immer noch überwältigt und bedroht, und in denen es in sich noch nicht die stille Kraft entwickelt hat, die es dem Fremden entgegenstellen kann: so muß ich hier doch sagen, daß ich meiner Schule nicht im Bösen gedenke, auch wenn dieses Gedenken eigentlich nur die drei letzten Jahre in Freundlichkeit umfaßt.

Meine Schule wird nicht besser und nicht schlechter gewesen sein als andere auch. Zwar im Äußeren ließ sie in jeder Einzelheit den Vorzug erkennen, eine Gründung des Großen Kurfürsten zu sein, von dem lichtlosen, von gelben Mauern umgebenen Hof bis zu den nach Geruch und Ansehen unvorstellbaren Orten, die der stillen Zelle entsprachen, deren Tür bei uns zu Hause durch ein ausgesägtes Herz geschmückt war. Zumal an nebligen Wintertagen, während des Nachmittagsunterrichts, den wir damals noch genossen, hing über Hof und Gebäude, über Korridoren und von Gaslicht mühsam erhellten dumpfen und engen Klassenräumen eine unendliche und hoffnungslos zu Boden drückende Wolke der Melancholie und eines wahrhaft acherontischen Fröstelns. Doch sind wir ja auch in diesen Räumen groß geworden, haben das Unsrige gelernt, getobt und gesündigt, und wenn man bedenkt, daß unser Geschlecht wie kein anderes den Krieg erlebt und bestanden hat, so scheint es mir müßig, über hygienische oder sonstige Zustände vergangener Zeiten beweglich zu klagen.

Es ist nicht leicht, mir heute die damalige Schule als ein Gesamtbild in die Erinnerung zu rufen und es etwa mit dem heutigen zu vergleichen. Ein Kind vermag ja noch nicht zu abstrahieren und aus der Summe der Einzelerscheinungen den Typus zu erkennen. Aber wenn ich mir zunächst den »Lehrkörper« vorzustellen versuche, so ergeben sich mir doch zwei deutliche Unterschiede gegen die heutige Zeit. Mit der Schule war damals noch eine Vorschule verbunden, und alle an ihr Unterrichtenden leben in meiner Erinnerung nach ihrer äußerlichen Erscheinung als vergröberte Abbilder des »Löwen«, wie etwa ein Götterbild von den Osterinseln von denen aus der Pharaonenzeit unterschieden ist. Sie schienen mir in der Robustheit ihres Körpers, in der finsteren Schweigsamkeit ihres Wesens, in der halb geächteten Einsamkeit, in der sie innerhalb des übrigen Kollegiums lebten, wie erstarrte Zeugen aus dem Mittelalter, einer Zeit also, in der man die ABC-Schützen noch mitunter mit Arm- und Beinbrüchen aus der Schule trug, die der Bakel eines rasenden Schulmeisters ihnen beigebracht hatte. Und so wie jene längst vermoderten Zuchtmeister erschienen auch diese ihres Amtes zu walten, in der Meinung, ein Kind müsse »in der Furcht des Herrn« aufwachsen, und nur mit einem leisen Grauen erinnere ich mich besonders des einen von ihnen, dessen glattrasiertes und rotes Gesicht von vielen Warzen entstellt war und von dem das sicherlich begründete Gerücht umging, daß er seine Nonaner halb zu Tode prügle. Die denn auch wie früh verdammte kleine Schatten durch die dunklen Korridore zu schleichen oder zu schweben schienen.

War also diese »Unterwelt« schon auf eine deutliche Weise von der Gegenwart unterschieden, so ist mir als ein zweites Unterscheidendes im Gedächtnis geblieben, daß die äußerliche Erscheinung vieler damaliger Oberlehrer einen Schimmer der »Vornehmheit« trug, den man heute vergeblich suchen würde. Unser erster Klassenlehrer zum Beispiel kam niemals anders zur Schule als mit einem wunderbar glänzenden Zylinder auf seinem herrlich frisierten und pomadisierten Haupte, mit Anzügen, deren Eleganz musterhaft war, mit einem Ebenholzstock mit Elfenbeinkrücke, und alles an ihm war so, daß jede Bühne es sich zur Ehre angerechnet haben würde, ihn als einen älteren Bonvivant mit urbanen Umgangsformen zu gewinnen. Zwar hatte seine Frau wenig Ähnlichkeit mit der Gestalt der Venus Anadyomene, doch war sie dafür aus einem reichen Hause, und etwas von dem Glanz ihrer Herkunft fiel somit auch auf »Charlemagne« und sein sonst vielleicht nicht besonders hochgeachtetes Gewerbe.

Auch eines anderen Lehrers derselben Art erinnere ich mich, der im Musikleben der Stadt eine große Rolle spielte, der durch seine Körperlänge und die Höhe seines Zylinders alles Volk um Haupteslänge überragte und dessen Gestalt, mit Zylinder und Hohenzollernmantel, mir unvergeßlich ist, wie sie, so angetan, auf unsrem sommerlichen »Schulspaziergang« uns durch die ernste, schweigende Nehrungslandschaft vorauswallte, ein groteskes Beispiel für die Art, wie man vor wenig mehr als dreißig Jahren Natur- und Wanderfreude zu pflegen liebte. Er ist dann früh pensioniert worden, weil wir in seinen Stunden Skat zu spielen und Zigaretten zu rauchen pflegten, und hat dieses frühzeitige Ende seiner Laufbahn wahrscheinlich frohen Herzens hingenommen.

Neben diesen Grandseigneurs ihres Berufes verschwimmen die anderen mir in der Erinnerung zu einer gestaltlosen Masse, mit Brillen ausgerüstet, mit klugen oder flachen Gesichtern, mit komischen oder gefährlichen Angewohnheiten. Es gibt bis weit in die Oberstufe hinauf keinerlei menschliche Beziehung zu einem der Lehrer. Sie sind eine Welt und wir eine zweite. Es gibt keine Genies unter ihnen, weder der Erziehung noch des Wissens. Es gibt solche, die unbarmherzig prügeln, und solche, die wir zu Tode quälen. Bei einigen lernen wir vieles, bei anderen nichts, und nicht immer liegt es daran, daß es an unsrem guten Willen fehlt. Gewiß, auch damals gab es Lehrpläne und Methoden, die Zucht war streng, und wenn der Schulrat kam, ein Mann mit dem Titel eines Geheimen Oberregierungsrates, so erbebte die Schule bis zu ihren Fundamenten.

Aber man muß es als Ganzes doch wohl falsch angefangen haben. Ich habe erst von der Obersekunda ab geistig zu leben begonnen, und bis dahin habe ich nur meine Pflicht getan und oft auch dieses nicht. Zu Anfang zwar stürzte ich mich mit einem brennenden Ehrgeiz auf das vor mir Liegende, und die Erziehung, die ich von meiner Mutter empfangen hatte, ließ mich nicht rechts noch links blicken, wenn es galt, meine Pflicht zu tun. Aber die Schule versäumte, mich darin zu bewahren. Wir haben einen Lehrer für Botanik und Zoologie, der zu fast jeder Stunde betrunken erscheint und vergeblich versucht, seinen Hut auf den dazu bestimmten Haken zu hängen. Er schwatzt, singt und lärmt, und wenn er unterrichtet, löst das lebendige Bild der Natur sich in tote Namen und Systeme auf. Er ist nach seiner frühen Pensionierung Blaukreuzer geworden, aber an den Segnungen dieser Einrichtung haben wir nicht mehr teilnehmen können.

Wir haben einen Religionslehrer, aber wir lernen Sprüche, Lieder und Psalmen, und wenn jemand stockt, hagelt es Ohrfeigen. Wo sind die ergreifenden Gestalten meiner Kinderzeit, Ruth und Joseph und das Heilandskind? Sie sterben vor meinen Augen, den Tod des »Geistes«, und erst viel später, jenseits von Schule und Kirche, feiern sie eine späte Auferstehung.

Wir haben einen Lehrer für Geschichte und Erdkunde, der mit dem »Löwen« zusammen einen »Wegweiser« herausgegeben hat. In ihm sind alle Städte, Gebirge und Flüsse unsres Vaterlandes aufgezeichnet, und ihn müssen wir auswendig lernen. Er ist ein gutmütiger, riesiger Mann mit Plattfüßen, aber seine Stunden sind tot, und so beleben wir sie auf unsre Art, indem wir Knallerbsen und Stinkbomben werfen. Er verlangt eine wörtliche Wiedergabe des Pensums, und bei der ersten Abweichung zieht er den langen Rohrstock aus dem Pult. Er schlägt auf die Hände, zehnmal, fünfzehnmal, aus voller Kraft, und die getroffenen Stellen werden sofort zu geschwollenen Striemen. »Hascht gelernt?« fragt er brüllend. »Dummes Luder, hascht nich gelernt!« Und pfeifend fallen die grausamen Hiebe. Dabei ist er ein gutmütiger Mensch, überall geachtet und geliebt, aber das Amt ist für ihn das eines Scharfrichters, und nach der Hinrichtung wäscht er sich die Hände und füttert seine Vögel mit Hanfsamen.

Wir haben einen Mathematiklehrer, der früher als Steuermann zur See gefahren ist, einen wahrscheinlich genialen Kopf, aber er unterrichtet für zwei oder drei aus der Klasse und die andern sind für ihn »Leiermänner«. Wir versuchen, mitzukommen, müssen es aufgeben und füllen die Stunden mit Dummheiten und Lärm.

Wir haben einen Zeichenlehrer, den wir mit freundlichem Hohn »Professor« nennen. Wir zeichnen alte Töpfe, Würfel, Pyramiden. Manche von uns brennen vor Sehnsucht, hinter das Geheimnis der Kunst zu kommen, der Landschaftsskizze, der Farbe, der Perspektive. »Weshalb muß das so sein, Herr Professor?« »Das moß so sein, du schweinsdommes Rend!«

Noch heute sehe ich mich mit Sorge an, wie ich durch diese toten Jahre gehe. Lücken, die nie mehr zu schließen sind. Neigung zu Lärm, zu Grausamkeit, zum Untergang in einer formlosen Masse. Betrug, um Nichtgewußtes vorzutäuschen, und als Schlimmstes: langsames Zerbröckeln der Achtung vor der Autorität. Unvergeßlich die Stunde, in der meine Mutter mich hart straft, weil ich vor einem alten Waldarbeiter nicht die Mütze gezogen habe, und unvergeßlich ihre erhobene Hand, während sie das Bibelwort ausspricht: »Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen!« Und nun diese grauen Häupter, die wir betrügen, quälen und verhöhnen. Nicht weil wir schlecht sind, sondern weil sie unzulänglich und ungeschickt in ihrem Menschentum sind.

Die ersten Flecken in meinem Charakter erscheinen. Man behandelt uns grausam, und wir zahlen mit der gleichen Münze. Probekandidaten erscheinen, gutmütige und unglückliche Wesen, und die Tyrannei einer geballten Masse von vierzig Jungen überflutet und begräbt sie. Wir stellen ein Schwein aus Seife auf ihr Pult und setzen ihm eine Brille auf. Wir tragen Kneifer ohne Gläser und behaupten, wir seien plötzlich taub geworden. Wir schießen Papierkugeln in das gequälte Gesicht vor uns. Wir sind ohne Mitleid, ohne Erbarmen, ohne alles, was ein frommes Elternhaus in unsre kindlichen Seelen gepflanzt hat. Wir sind wie die Masse aller Zeiten und allen Alters: roh, blutdürstig, bereit, uns von den Bösesten widerstandslos führen zu lassen.

Es ist mir, als hätten diese vier ersten Jahre bereits den trüben Bodensatz, den jedes Leben besitzt, bis zu seiner Tiefe aufgerührt. Ich habe keinen Führer, niemanden, zu dem ich voller Verehrung aufblicke und dessen Leben ich nachzuleben versuche. Die Eltern sind weit, die Lehrer sind fremd, und Gleichgültiges, Komisches und Abstoßendes erfüllt ihr Bild. Die Pensionsmutter bekümmert sich darum, daß wir uns satt essen und es gut in ihrem Hause haben; die Kameraden sind laut, roh, nach den Geheimnissen des »Lebens« begierig, und die »Jugendbewegung« ist noch nicht da, in der ein Kind in seinen bedenklichsten Jahren mit glühender Begeisterung zu seinem Führer aufblickt. Eine furchtbar angleichende und herunterziehende Macht liegt in der Gesamtheit meiner Klasse. In ihr bin ich geborgen, und wenn ich schuldig bin, sind alle schuldig. Sie hat kein Niveau als das des Bösen, höchstens des Durchschnittlichen, und sie wirkt auf alle, die nicht früh gehärtet sind, wie ein Strudel.

Ich bin nicht nur ehrgeizig, sondern ich werde neidisch. Wir haben nicht nur in den Zeugnissen eine Rangordnung – eine der verruchtesten Untaten früherer Pädagogik –, sondern auch in der Stunde, so daß etwa bei einer schwierigen Frage, die von zehn, zwanzig nicht gewußt wird, plötzlich der einundzwanzigste »herüberkommt«. Und da er mit seiner ganzen Ausrüstung wandern muß, mit Tornister, Büchern, Atlanten, Reißbrett, Turnschuhen und so weiter, und da das bei jeder Frage geschieht, die einer beantworten und der andre nicht beantworten kann, so ist leicht vorzustellen, welche bewegte Völkerwanderung in einer einzigen Stunde stattfinden konnte. Und sie verdirbt den Charakter. Todfeinde wechseln die Plätze, der eine steigt, der andre stürzt, und kaum ist die neue Ordnung des Geistes hergestellt, so wirft die nächste Frage das Gleichgewicht wieder durcheinander, Freundschaften wie Feindschaften, und der Krieg aller gegen alle beginnt von neuem.

Etwa drei Jahre bin ich unangefochten Primus gewesen, ein Amt, dem sich niemand ohne Gefahr für seine Seele lange Zeit hingeben kann. Aber eines Tages wird mein Nachbar Primus, nicht nur auf Grund seines besseren Zeugnisses, sondern auch seiner größeren Begabung. Er ist der Sohn eines kleinen Beamten, in bitterer häuslicher Armut, ein stilles, zartes, sehr feinsinniges und sehr sauberes Kind. Und nach den Ferien, als er mir von meinem angestammten Platz freundlich wie immer die Hand gibt, sehe ich die Hand nicht. Ich bin sein Feind geworden, weil er der Bessere ist, und weil ich einsehe und weiß, daß er der Bessere ist.

Welch eine Verwirrung aller guten Kräfte in meiner Seele! Ein Gefühl, das ich nie gekannt habe, eine Handlung, derer ich niemals fähig gewesen wäre, solange ich noch in den Wäldern lebte. Ein Makel, der bis heute brennt, wiewohl das Schicksal, gütiger als wir meinen, es so gefügt hat, daß gerade dieser Primus der einzige meiner Schulfreunde ist, mit dem mich noch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit verbindet.

Wo ist der Einklang geblieben mit Wald und Tier in jenen so traurigen Tagen? Innerlich brennt die Sehnsucht nach dem, was wir einst besaßen, aber so viel haben wir schon gelernt, daß es eines jungen »Mannes« unwürdig ist, Schmerzen zu tragen, und so tun wir, was auch die Großen tun, wenn etwas Unsicheres und Mahnendes in ihren Herzen ganz leise spricht: wir lärmen.

Wie also bringen wir unsre Nachmittage zu? Die Zeit der Freiheit und der Einkehr? Wir versammeln uns in unsrer Pension, die »heimattreuen« Landsleute, die beiden von dem Sandgut der Johannisburger Heide, der Kapitän, Iltis, Jule, mein Bruder und ich. Iltis hat einen Landsmann aus seiner Gegend in unsrer Straße, der einen kleinen Laden hat und auf einen schönen polnischen Namen hört. Er ist Iltis irgendwie seelisch verwandt, ein Prahler, Lügner und kleiner Hochstapler. Aber er verkauft uns jeden Nachmittag eine Bierflasche mit Kümmelschnaps für zwanzig Pfennige und viele Zigaretten, Marke Pteo, elf Stück für zehn Pfennige.

Und damit setzen wir uns zum Skat. Wir schmettern die Trümpfe auf den Tisch, daß es seine Art hat. Wir stoßen an und rauchen. Wir sind Männer. In einer Steinwüste vertreten wir unsre Landschaft, verbannte Recken, die der Heimat gedenken. Es tut nichts, daß die Recken viel schneller betrunken sind, als es sich für Recken geziemt. Daß die kleine Pensionsmutter die Hände ringt und man uns Zuchthaus und Galgen prophezeit. Wir schlagen mit der Faust auf den Tisch, verbitten uns jede Einmischung und verlangen die uns zustehende Freiheit. Ich bin dreizehn Jahre alt, Obertertianer, und weshalb sollte ich nicht ein Recht auf Freiheit haben?

Ist es nur ein schlechtes Beispiel, oder bricht ein dunkler Quell vergangener Geschlechter in mir auf? Ich weiß es nicht. Aber nach zwei Monaten ist alles vorüber. Der Schnaps schmeckt nicht, die Zigaretten, der Skat. Ein erschrecktes Kind erwacht mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge und im Herzen, und abends vor dem Einschlafen erblicke ich mitunter Trilljam in seinem gelben Mantel und mit seinem gelben Pferd, und ein leiser Schauer rührt mich noch heute an, wenn ich bedenke, wie nahe ich manchmal dem war, was ich verfluchte.


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