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13

Frau Gina sah es und Luther sah es, aber sie sagten nichts. Es war etwas um ihn wie das Glück und die stille Sicherheit einer Pflanze, und wenn man daran gerührt hätte, würde man sie zerbrochen haben. Sein Gesicht war schmaler geworden, und das Nichtwissen des Kindes war erloschen in ihm. Aber statt dessen war es ein leuchtendes Gesicht geworden, auch wenn er schwieg, ja, besonders wenn er schwieg. Er war teilnahmsloser denn je, aber es war keine stumpfe Teilnahmslosigkeit. Die Schroffheit war von ihm gewichen, und eine weiche Güte umhüllte alle seine Bewegungen, so daß jede Gebärde seiner Hände so zart und behutsam war, als berühre sie ein zerbrechliches Geheimnis. Das Glück machte ihn nicht zu einem Prahler und nicht zu einem Kraftlosen. Es adelte ihn, und der lange Weg des Geschlechtes schien zurückzulaufen, nachdem er in Gina den Gipfel des Leides erreicht hatte. Er schien die Kette rückwärts aufzurollen, und es war wie ein Ausgleich unendlicher Generationen, was in Johannes geschah.

Er hatte eine Hütte in der Dickung des Waldes gebaut, aus Ästen und Moos, und die Stunden seiner Liebe blühten zu Welaruns Füßen. Die Verzauberung des Lebens fiel über seinen Weg mit einer betäubenden Macht. Himmel und Erde unterlagen ihr, der Wald und die Gräser, die er zwischen den Händen hielt, ja, das Brot, das er aß, schien ihm verwandelt und geheiligt wie ein Abendmahl, das ihn der Sünden entledigte. Über dem niedrigen Dach der Hütte brannten die jungen Birken in den Tod hinein, verwandt und verbrüdert auf eine seltsame Weise. Der Vogel, der vertraut aus den Wipfeln rief, der Wind, der leise beugend durch die Kronen ging, ferne Rufe aus sich verschließendem Wald, die Wolke, die ruhig suchend über die Verlorenheit glitt: alles war ein anderes, war nahe geworden, vertraut, hatte die Wände leise zerbröckelt, die zwischen den Gattungen gestanden hatten. Alles war Heimat, große, ungeschiedene Heimat, in der die Träne nicht anders war als der Regentropfen oder das Harz, das im Mittagsschweigen in das Moos fiel. Das Wort war nicht fremder als Ruf des Vogels oder Rauschen der Bäume. Der Kuß war nicht anders als der Fall der Sonne in erglühende Lichtung. Das Streicheln der Hände um selig geschenkte Nacktheit war nicht anders als Atem des Windes um erbebende Blüten, das Opfer des Leibes nicht anders als Tau des Mondes, der lautlos in den Kelchen der Nacht sich barg. Johannes war im Paradiese, und die Schlange war verbannt in die Bereiche der Menschen, wo Städte sich breiteten und Straßen liefen, wo die Tage sich vergeudeten für des Leibes Nahrung und Notdurft und ein fremdes Geschlecht um fremde Güter die kalten Hände regte.

Er saß auf der niedrigen Schwelle, und die kleine Flöte erfüllte die herbstliche Stunde mit der leisen Klage eines einsamen Vogels. Aber es war kein Schmerz in ihr, sondern die Klage des tiefsten Glückes, mit der die Kreatur jenseits aller Erkenntnis spricht: das Kind, das Tier, der Baum, die Quelle.

Und dann kam die leise Antwort aus der Ferne, und dann kam Frau Lisa. Dann schwiegen die Töne, und er verbarg sich in ihr, in dem Duft ihres Körpers, in ihren Worten, im Streicheln ihrer Hände, im Atem ihres Mundes. Erschütterung fiel über ihn, und er küßte ihre nackten Füße, auf denen die blauen Adern nach Zärtlichkeit zu rufen schienen.

Immer noch war das Geheimnis des Menschen um sie, eines Körpers, einer Seele, die in sich geschlossen waren. Er wußte nicht, wie der Wald vor ihren Augen stand, ob es der gleiche Wald war, den seine Augen sahen, die Flammen der Birken, das Geäder der Äste, der Teppich des Mooses. Er wußte nicht, ob sie ihre Hand als ein Glied fühlte, als eine Last oder als ein Gleichgültiges. Er wollte sie sein, für eine Stunde lang, das Dasein tauschen, hinüberfließen und sich zurückverwandeln, in ihr verborgen sein, ganz und gar, als ihr Herz schlagen, als ihr Mund lächeln, als ihre Hingabe vergehen. Aber er konnte es nicht, und auch ihre Vereinigung war eine Seligkeit der Grenzen, nicht des Mittelpunktes.

»Erzähle mir von dir«, bat er. »Alles, was du weißt und bist und gewesen bist. Von deinem Leben, von deinem Körper, was durch deinen Schlaf wandelt und durch dein Wachsein. Weshalb küßt du mich, und wer bist du? Weshalb sagst du mir nicht, wer du bist?«

Dann mußte sie ihre Wange an die seine legen, bis er keine Trennung mehr fühlte. »Jetzt sind wir ein Gesicht«, sagte er plötzlich. Sie verschlangen ihre Hände und verflochten sie wie die Wurzeln eines Baumes. Sie verflochten ihr Haar und vereinigten den Atem ihrer Lippen, und die Sehnsucht ihres ernsten Spieles umklammerte immer wachsend den Becher der Erlösung, bis die Erschütterung des Sterbens sie überstürzte und seine Tränen auf ihrer Schulter brannten.

Dann legte er sein Gesicht in ihren Schoß und atmete wie ein schlafendes Kind hinter vergangenem Leide. »Johannes hat geweint«, konnte er dann leise sagen. »Hast du mich nicht von den Toten erweckt?«

Frau Lisa lag ganz still, die Hände um sein Haupt geschlungen, und ihr Gesicht, das so viele Dinge gesehen hatte in ihrer Gier und Nacktheit und Häßlichkeit, war so fromm wie nach der Empfängnis des Abendmahles. »Mein Kind«, sagte sie leise, »mein so geliebtes Kind …«

Und dann gingen sie heim, während die Wildgänse über ihnen durch das Dunkel brachen. Sie hielt seine Hand, wobei sie ihre Finger zwischen die seinen schob, und Blut und Herzschlag gingen ungehindert durch ihre Verbundenheit. Eine leise Traurigkeit war über diesen stillen Wegen, verstärkt durch den Geruch der herbstlichen Felder und die Lichter der Stadt, die ihnen entgegenwuchsen. Sie würden die Hände nun voneinander lösen, die Lippen und das Blut, das wie in zwei verschwisterten Brunnen stieg und rauschte, und in ihre Einsamkeit gehen, die die Einsamkeit der Welt war. Sie sprachen lächelnd davon, daß sie unter die Erde gehen wollten gleich den Feldmäusen, in eine gepolsterte Kammer, und Weizenkörner essen, bevor sie entschlafen würden, Herz am Herzen. Und dann, bevor die erste Laterne kam, hielten sie einander noch einmal wie an der Schwelle des Todes, und dann hörte er ihren leisen Schritt, der im Dunkel erstarb wie Tropfen in einem Gewölbe der Nimmerwiederkehr.

Sie waren wohl ein wenig unbedacht gewesen, wie spielende Kinder am Rande eines Abgrundes. Man hatte sie gesehen, wie man alles sah, was in dieser Stadt vor sich ging, und man begann über sie zu sprechen. Und bevor Luther ihn warnen konnte, war es geschehen.

Es war in der Adventszeit, und Johannes saß in Frau Lisas Raum, in dem sie vor ihm gekniet hatte. Das Haus war still, und draußen fiel lautlos der Schnee. Man konnte ihn nicht sehen, aber alle Dinge waren weit fortgerückt, Wagen, Menschenschritte und Kirchenglocken, und ab und zu rieselte es ganz leise an den Fenstern und wehte dann wieder über die Dächer fort und ließ einen abgeschlossenen Frieden hinter sich, als ob eine Hand sich vergewissert hätte, daß nichts Fremdes vor den Türen stehe. Die kleine Lampe brannte in der Ecke am Bücherschrank, die Goldleisten der Bilder schimmerten aus der Dämmerung, der Teppich war erfüllt von heimlicher Güte, und alle dunklen Räume des großen Hauses waren wie Wächter um diese Insel des Lichtes geschart.

Johannes saß am niedrigen Ofen und sprach Verse vor sich hin. Seine Hände spielten ihr müßiges Spiel, und aus ihrer Zartheit schienen die seltsamen Worte wie fremde Blumen aufzusteigen, die er zusammenlegte und wieder trennte, auflöste und verband, bis der ganze Raum von ihrem Leuchten und Duft erfüllt war. Frau Lisa kauerte in ihrem Schaukelstuhl, die Hände um die hochgezogenen Knie gefaltet, das Gesicht in die Nacht emporgehoben wie in einen warmen Regen, der durch blühende Bäume fällt. »Wie du mich segnest, Johannes«, sagte sie leise. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer war geöffnet, und auf dem Nachttisch brannte die kleine Lampe und warf ihr grünes Licht wie eine Erwartung auf die weißen Kissen.

»An deines Leibes Schrein will ich verbluten …«, sagte Johannes.

»An deines Leibes Schrein will ich verbluten
und nach dem Gott, den du verhehlest, rufen,
bis er mit leiser Hand die Tore öffnet
und groß hinaustritt auf die roten Stufen …«

»Johannes!«

Er wandte den Kopf und lauschte. »Hörtest du nichts?«

»Es ist der Wind, Johannes. Laß ihn wehen und den Schnee auf die Erde schütten, daß man uns nicht findet …«

»Ich will nachsehen«, sagte er ohne Sorgen.

Er ging zur Türe, wobei sein Blick die kleine Lampe im Schlafzimmer streifte, und ein verlorenes Lächeln war um seine Lippen, als er die Hand an den Drücker hob.

In der Türe stand Doktor Moldehnke.

Niemand sprach ein Wort. Nur das Lächeln erstarb auf Johannes' Lippen, und die Verse schienen noch für eine Weile im atemlosen Raum zu tönen und auszuklingen wie Wellenkreise an einem stillen Ufer.

Dann trat der Doktor ein und schloß die Tür. Er schloß alle Türen ab und steckte die Schlüssel in seine Tasche; bevor er aus dem Schlafzimmer zurückkam, beugte er sich über das Bett. Dann setzte er sich in den Sessel am Fenster, legte die schwere Lederpeitsche über seine Knie und sah durch die Gläser seiner Brille zuerst auf seine Frau und dann auf Johannes. Es war der kalte Blick eines Betrunkenen, der ganz plötzlich nüchtern geworden ist, und in dessen Erinnerung mit erbarmungsloser Schärfe alle Bilder des Spotts und der Verhöhnung wiedererscheinen, die man auf seine Wehrlosigkeit gehäuft hatte und die in dem kreisenden Strudel seines Rausches versunken waren.

Der Doktor war Stabsarzt der Reserve und eine führende Gestalt in den Weishauptkreisen der Stadt. Er war bekannt als Trinker und Spieler, als Arzt von Kindern gefürchtet und von vielen Frauen der Gesellschaft gesucht. Man sagte, daß er eine feste Hand habe. Er war klein und wohlbeleibt, mit einem großen, kahlen Schädel, der von der Seite wie der eines Pferdes erschien, mit böse zurückgelegten Ohren und drohenden Kiefern, von denen man eben einen Maulkorb abgestreift zu haben schien. Es war ein Gesicht, in dem Geist und Kraft noch nicht verwüstet waren, aber sie waren ihres Adels schon entkleidet und aus dem Herrschenden in das Räuberische verwandelt.

Johannes, unbeweglich an der Tür stehend, sah dies alles, wie man die Vielgestaltigkeit eines Feindes schnell überfliegt. Aber dann hefteten seine Augen sich auf die Hände des Arztes, und vergessene Bilder der Kindheit sprangen aus dem Nebel und umwuchsen ihn wie die Wildnis eines Seegrundes. Es waren kalte, große Hände, bei denen man an die Messer und Scheren denken mußte, deren Schnitt sie lenkten, und an tote Kinder, die sie aus dem Dunkel zerstörter Leiber an das grelle Licht zogen. Johannes fühlte das Frösteln seiner Kinderzeit, umfing mit einem schnellen Blick Frau Lisas weißes Gesicht mit den Augen einer mißhandelten Sterbenden, und ging dann wieder zu den Händen des Arztes, die wie zwei Steinhände um die Peitsche lagen.

Johannes wartete auf die Hände.

»Gestehst du?« fragte der Arzt. Seine Stimme war leise, rauh und zerstört, die verwesende Stimme eines Trinkers. Das Licht der Lampe spiegelte sich in seinen Brillengläsern, und nur aus der Richtung seines Gesichtes entnahm Johannes, daß er zu ihm sprach.

Das Beleidigende der Anrede befreite ihn. Er hob die Augen von den steinernen Händen, und ein nutzloser Blick glitt wie der eines Tieres durch den Raum. ›Töten!‹ dachte es in ihm. ›Ich werde ihn töten müssen … das ist das Geschlecht der Zerrgiebels, das dort sitzt. Herodes heißt er, vom Geschlecht der Kindermörder, und wenn ich ihn nicht töte, wird er sie töten …‹

Er selbst war kein Begriff der Angst oder des Opfers. Er war eine Masse, ein Schutz, ein Schild für die geliebte Frau. Der Schild konnte zerhauen werden, aber auf ihrem Scheitel durfte kein Haar gerührt werden. Es war alles böse, blutig und widerlich. Es war wie mit Joseph damals, und auch dort geschah es um eine Frau. Aber wieder waren zwei Augen vor der Wirrnis seiner Gedanken, und eine müde, geliebte Stimme sagte zärtlich: »Mein so geliebtes Kind …«

›Ich werde ihn erwürgen‹, dachte Johannes. Er fühlte seinen Körper kalt und biegsam wie eine Stahlklinge. Er ließ das Blatt mit den Versen auf den Boden fallen, und seine Hände schlossen sich langsam zu. Seine Augen blieben nun unbeweglich in denen des Arztes, und beide fühlten das Kommende ohne jede Täuschung.

»Ja, dich meine ich«, fuhr Moldehnke mit derselben Nachlässigkeit fort. »Den Zuchthäuslersohn, würdigen Sproß seiner Väter, der sein Geschlecht mit dieser stets hilfsbereiten Dame fortzupflanzen versucht. Gestehst du?«

»Sie Lump!« erwidert Johannes leise.

»Alsdann können wir beginnen«, sagt der Doktor. Er sagt es so, als ob er ein Glas Wasser holen wollte oder als ob er ins Nebenzimmer müßte, um nach dem Thermometer zu sehen. Seine leise Nachlässigkeit ist das Gefährliche, nicht das Flimmern seiner Augen oder die böse Falte über seiner Nasenwurzel. Und mit derselben leisen Nachlässigkeit erhebt er sich.

»Johannes!« schreit Frau Lisa. Sie hebt die Hände an die Schläfen, und ihr Blick ist der eines Tieres vor der Schlachtbank.

Moldehnke macht einen Schritt zur Seite und hebt die schwere Peitsche zum Schlage in ihr Gesicht. Es ist das Gesicht, das Johannes geküßt hatte, so zart, als sei noch die Wärme von Gottes formenden Händen auf ihm zu spüren. Die Bewegung der Peitsche ist die Erlösung seines Hasses. Bevor der Doktor zuschlagen kann, trifft ihn die kalte Faust zwischen die Augen. Die Brillengläser splittern auf die Erde, und er taumelt blind und betäubt zurück. Aber es ist Johannes' Unglück, daß er nur ein Schild sein kann und kein Schwert. Die Berührung dieser fremden Haut lähmt ihn mit unsäglichem Ekel, und er empfängt unbeweglich den ersten Schlag der Peitsche, unbeweglich den zweiten Schlag. Erst als er das Blut über seinen Mund fließen fühlt, verschwindet das Bild der Frau, erlischt in den roten Kreisen, und in ihrem regungslosen Mittelpunkt erscheint das andere Gesicht, nackt gleichsam ohne die Brillengläser, und die wimperlosen Augen flimmern auf den wehrlosen Körper auf dem Operationstisch und prüfen die Stelle, wo das Messer anzusetzen ist.

Johannes stürzt über einen Stuhl, und der Doktor kniet auf seiner Brust und hebt die Peitsche mit der grauenhaften Regelmäßigkeit eines Automaten. Und dann legt Johannes die Hände um seinen Hals, und er weiß, daß er eher sterben wird als sie von dort lösen. Dann fällt der schwere Körper über ihm zur Seite, und der harte Knopf der Peitsche schlägt einmal zwischen die entsetzten Augen.

Und dann ist alles still.

Johannes reißt die Gardinenschnur vom Fenster, fesselt die widerstandslosen Hände auf dem Rücken und nimmt die Schlüssel an sich. »Schnell!« sagt er. »Nimm das Nötigste in einen Koffer und komm … er wird bald aufwachen.«

Er setzt sich an den Ofen, mit dem Gesicht zur Wand, und trocknet das Blut von seinem Gesicht. Er weiß nichts mehr von der Frau, er denkt nichts, und nur ein unsägliches Grauen vor seinem Körper und seinen Händen erfüllt ihn. Er zittert, als sei er nackt und die ganze Stadt stehe vor ihm und blicke lächelnd auf seine Blöße. Er hört, daß Schranktüren geöffnet werden, daß man Kleider zusammenlegt, Schubfächer aufreißt, Schlüssel umdreht. ›Es verreist jemand‹, denkt er mechanisch.

Dann gleitet ihre Hand über seine Wunden. »Johannes …«, sagt sie weinend. Es ist doch dieselbe Hand, aber sie ist fremd geworden. Die Stunde hat sie entheiligt, der Raum, die Gegenwart. Eine unsägliche Traurigkeit überfällt ihn, und er schwankt, als er aufsteht. Schwer und dunkel liegt die Gestalt unter dem Fenster. Wie Tiere haben sie gekämpft, nein, böser als Tiere, schmutziger, geschändeter. Und über dem Bett brennt unbewegt die grüne Lampe.

»Komm«, sagt er mit abgewandtem Gesicht. Er beugt sich über den Arzt und hört ihn atmen. Aus den Augenwinkeln scheint ein hohnvoller Haß zu träufeln, als verstelle er sich nur. »Gestehst du?« scheint der gepreßte Mund zu fragen. »Nein«, flüstert Johannes. »Niemals!«

Er löscht das Licht, und sie treten in den Flur. Er verschließt die Tür hinter sich und läßt den Schlüssel stecken. Die übrigen legt er auf den Garderobentisch. Dann tasten sie die Treppe hinunter. Johannes trägt den Koffer.

»Wohin, Johannes?«

»Zu Luther.«

Der Schnee fällt dicht und macht ihre Schritte lautlos. Sie vermeiden die Laternen und halten sich im Schatten der Häuser. »Die Austreibung aus dem Paradiese«, sagt Johannes in die leere Nacht hinaus. Frau Lisa hält das Taschentuch vor den Mund und weint.

Johannes pfeift zu den erleuchteten Fenstern hinauf und hört den Professor die Treppe herunterkommen. »Wohin fährst du?« fragt er. »Zu meiner Mutter …« Er nickt. Luther steht auf der Schwelle, in seiner schwarzen Samtjacke. »Welch ein schöner Besuch!« sagt er ohne eine allzulange Pause, aber er kann nicht verhindern, daß seine Stimme ein wenig schwankt.

Johannes fühlt, daß er furchtbar aussehen muß, und er möchte vor dem Professor niederknien, so sehr erschüttert ihn das bebende Lächeln um den scharfen Mund. »Frau Doktor verreist morgen früh«, sagt er heiser. »Ich bitte Herrn Professor, sie zur Bahn zu begleiten.«

»Natürlich«, sagt Luther. »Ich bitte einzutreten.«

Johannes stellt den Koffer auf die Schwelle und nimmt Frau Lisas Hand. Er küßt sie nicht, sondern legt seine Stirn auf sie nieder. »Ich danke dir«, sagt er leise. Dann steht er wieder im Schnee. »Johannes!« Es ist Luthers scharfe Stimme. »Und du, Johannes?« »Ich gehe zum Karstenhof.« »Das ist dein Wort?« »Das ist mein Wort!«

Er hört sie aufweinen, nun ganz fassungslos, und dann die Türe zufallen und den Schlüssel sich drehen.

Der silberne Wagen muß schon dicht hinter den Wolken über dem Walde stehen, als er die Stelle erreicht, von der seine Mutter auf den Karstenhof gesehen hat. Es wird ihm bewußt, daß sie ihn damals unter dem Herzen getragen hat, und der Ausdruck berührt ihn nun mit einer tiefen Feierlichkeit, seit seine Lippen auf dem Herzen einer Frau geruht haben. Ja, er knüpft ihn gleichsam wieder über durchwanderte Abgründe an den Ausgangspunkt. Er trocknet sein Gesicht, das er den ganzen Weg lang mit Schnee gekühlt und gereinigt hat, und gibt sich dem Klang des Wortes hin, das seine Lippen eben geformt haben. Der Schnee fällt auf seine Spuren und löscht sie aus, aber er sieht den Herbsttag, an dem er an seiner Mutter Hand hier gestanden hat, den Tag, in dessen Frühe fünf Kerzen vor seinem Bett gebrannt haben, den Tag, der ihn in das Land Ohneangst geführt hat.

Es ist ihm, als gleite die Schande leise von seinen Schultern und der Schnee falle auch über sie wie über seine Spuren. Er schließt die Augen, und wieder ist ihm wie mitunter in seinem Leben zuvor, als habe er dies alles schon einmal gesehen, dies bläulich verhangene Stück der Erde, die Hand, auf der die Schneeflocken schmelzen, als habe er denselben bitteren Geschmack auf den Lippen schon einmal gehabt, die Müdigkeit des Herzens, die Schlafgeneigtheit der schmerzenden Stirn. Und wie jedesmal ist das alles von einem leisen Grauen begleitet, vom Grauen einer unfaßbaren Erinnerung, vom Rätsel nie zu lösender Geheimnisse, die unvermutet und unerklärlich auftauchen aus einer außermenschlichen Tiefe, als wandere die Seele um Jahrtausende zurück und erblicke sich plötzlich selbst in einem halb erblindeten Spiegel, fremd und doch so schrecklich vertraut.

Er weiß nichts davon, daß seine Mutter vor nahezu zwei Jahrzehnten an derselben Stelle gestanden hat, Schmach in ihrem Antlitz wie er, und daß die Toten des Geschlechtes hier aufgestanden sind, um sie zu geleiten auf ihrem Wege zu der Schwelle, hinter der die Türe nicht verschlossen wurde zur Nacht. Er weiß nichts davon, daß sie ihn damals schon unter dem Herzen trug und daß der schweigende Gehalt der Stunde in seine dunkle Kammer geflossen ist, ohne daß seine geschlossenen Augen ihn sahen. Aber er fühlt einen unerklärten Frieden sich um ihn stellen, der das Blut von den Wangen wischt und die Schmach von der Stirn, und der die verwirrten Fäden zurechtlegt zu einem dunklen Gewebe sanfter Traurigkeit.

Das schwere Haus hebt sich aus dem Sturz der Flocken mit Sicherheit, Wärme und Geborgenheit. Die Tür ist unverschlossen, und er geht leise die Treppe hinauf, wo seine Kammer neben der seiner Mutter liegt. Er zögert vor ihrer Schwelle und lauscht und hört ihren leisen Ruf, der nichts von Erstaunen oder Angst hat. Er denkt an den Wegweiser, unter dem sie auf ihn gewartet hat, und alles ist ganz plötzlich so klar und ohne Verwirrungen.

Er sitzt auf ihrem Bettrand, und sie hält seine Hände. »Mein Kind«, sagt sie, »wolltest du heim?«

Er nickt nur. Das Schneelicht liegt auf seinem Gesicht, und ihre Augen erkennen die Mißhandlung. Er merkt es an ihren Händen und neigt das Gesicht in den Schatten. Und nach einer geraumen Zeit fühlt er, daß sie ihr gelöstes Haar in die Hand genommen hat und ganz leise damit über seine Wangen gleitet. »Es ist schwer, im Dunkeln alles zu wissen …«, sagt sie nur.

»Vielleicht muß ich auf eine andere Schule gehen«, sagt er dann, als er aufsteht. Aber sie lächelt zu ihm auf. »Weiter ist es nichts, Johannes?« »Auf das andre … fällt der Schnee«, erwidert er leise.

Dann sagen sie einander Gutenacht.

Am nächsten Nachmittag kommt Luther und sitzt oben in der Kammer an Johannes' Bett. »Natürlich das Konsilium, Johannes. Denn der Gentleman war beim Direktor. Ja, du kennst eben das Geschlecht unsrer Kleinkalibergentlemen noch nicht. Er hat sich natürlich sehr vorsichtig ausgedrückt, aber es genügte, um deine moralische Verkommenheit zornbebend zu bescheinigen. Die ganze Konferenz bebte, selbst der Tisch. Es war sehr ergreifend für Leute, die, wie ich, moralisch nicht ganz intakt sind. Weishaupt machte eine schüchterne Bemerkung über etwaige Konsequenzen, die dein Hinauswurf ›in gewissem Sinne‹ nach sich ziehen könnte, aber die deutsche Seele schäumte eben und kannte keine Kompromisse. ›Wir fürchten Gott, sonst nichts in der Welt‹, erklärte Doktor Balla, und ich glaube, selbst seine Plattfüße zitterten vor Entrüstung … Ich fahre natürlich zum Schulrat, und wir werden dich eben wo anders unterbringen. Es sind ja nur ein paar Wochen.«

Johannes machte eine Handbewegung, als gehe ihn das alles nichts an. »Und … am Morgen?« fragt er.

»Es war alles gut«, erwidert der Professor leise.

Dann ist nur der Schnee an den Fenstern zu hören und Dietrich Karstens ruhiger aber immer wandernder Schritt in der Wohnstube. Johannes wendet das Gesicht zur Wand. »Es gibt kein Paradies?« fragt er.

»Nein!«

»Es hat nie eins gegeben?«

»Nein!«

»Und als sie … als Adam und Eva ausgestoßen wurden … blieb die Liebe oder kam der Haß?«

»Ich denke, daß die Traurigkeit kam, der Alltag, der Pflug, die Kinder. Die erste Ehe kam, und ich glaube, daß sie aneinander vorbei sahen.«

Johannes nickt. »Ich habe schmutzige Hände«, flüstert er. »Ich bin so gestorben, und keiner wäscht mich …«

»Regen und Schnee fallen auf alle Straßen …«

»Man braucht nichts zu tun?«

»Man braucht nur die Stirn zu heben, daß der Regen auf sie fällt.«

»Und dann ist sie wieder rein?«

»Was Gott abwäscht, wird immer rein.«

»Das ist die Heilslehre für den Fluch der Wiederholungen.«

»Es gibt keine Wiederholungen in der Natur, nicht einmal im Weltall.«

»Sie sind ein Priester, Herr Professor.«

»Vor dem Wunder sollen wir alle Priester sein, und jedes Wunder ist neu.«

»Auch das zweite?«

»Auch das zweite. Du weißt nicht, daß es schon auf dich wartet. Du weißt auch nicht, daß du ein Mensch bist, der sein Leben immer von vorn anfangen wird. Du bist kein Mensch der Leitern, der auf jeder Sprosse ausruht. Du bist ein Mensch der Stürze. Jedes Jahr wirst du höher steigen, und jedes Jahr wirst du tiefer stürzen. Alle Dichter haben so gelebt, und nur so haben sie von Himmel und Hölle gewußt. Du weißt noch nicht, was du wert bist, Johannes.«

»Ich werde niemals wissen, aber ich werde viel glauben. Ich werde an die Wunder glauben, Herr Professor, an die Menschenwunder, an die Heilungen, die Erweckungen, die Auferstehungen …«

»Und vor den Auferstehungen stehen die Kreuze, Johannes.«

»Ja, auch an die Kreuze werde ich glauben … auch an die Schächer …«

»So ist es gut, Johannes.«

Nach Neujahr kam Johannes in ein Gymnasium der Provinzialhauptstadt. Er wohnte bei einer Beamtenwitwe, die eine kleine Menagerie besaß und gut und ohne Aufdringlichkeit für ihn sorgte. Jeder seiner Schritte war der Schritt eines Fremden, und er schloß sich zu, wie man in einem Hotel Türen, Schränke und Koffer verschließt. Lehrer und Schüler waren höflich zu ihm, aber er fühlte, daß er vom Hauch der »Sünde« umwittert war, einer gestaltlosen, nicht zu greifenden Sünde, aber daß von irgendwoher die Losung ausgegeben war, ihn »mit Vorsicht zu behandeln«.

Die Tage glitten vorbei, paradieslos und ohne Wunder. Schule war, Arbeit und Lesen. Sie umfingen ihn beim Erwachen, trugen ihn wie einen treibenden Baum und stießen ihn abends an ein Ufer des Schlafes. Er hatte keine Wurzeln, er gebar sich nicht, hob sich nicht, rauschte nicht. Er lebte die Tage nicht, sondern die Tage lebten ihn. Aber tief in seinem Innersten, im Schweigen, in der Verlorenheit eines Blickes, in der Handbewegung beim Umblättern einer Seite, vollzog sich die neue Verwandlung, floß der Gehalt der letzten Monate ganz unmerklich in die geöffneten Adern unter seinem Herzen. Es war mehr als Erinnerung, Trauer, Sehnsucht. Er preßte seine Frucht. Er ließ sich nicht genügen an Bitterkeit oder Süße. Er trat nicht aus einem Rausch, um auf den neuen zu warten. Er schloß nicht ab, sondern ordnete ein. Er suchte rückblickend nach dem Schicksal. Er war das Ausgeworfene der Woge, aber er sah mit furchtlosen Augen zurück, um zu ermessen, was geschehen war. Widerstand und Hingabe, Freiheit und Zwang. Er trachtete nach dem Gesetz. Er wollte die Frucht nach der Blüte. Er wollte Zukunft.

Um die Abendzeit liebte er durch die Straßen zu gehen, den Strom der Menschen und Dinge leise zu teilen und Schicksal, Erscheinung, Gleichgültigkeit und Versuchung lautlos an sich stoßen zu fühlen wie an eine gläserne Wand. Er lernte Theater kennen und Konzerte, Versammlungen, Müdigkeiten und Empörungen. Aber er hatte keine Fäden in seiner Hand, er konnte sich nicht anknüpfen. Was er an Teilnahme aufbrachte, schien ihm die Teilnahme der Gattung zu sein, Empfindungen für Töne, Farben, für das Primitive der Lust oder Unlust. Aber die Teilnahme des Individuums war erloschen, erschöpft für geraume Zeit, auf Nachbilder beschränkt. Er war ein Kind, das in die Sonne gesehen hatte, und in seinem Blickfeld wanderte der schwarze Kreis, die Frucht erschöpfter Netzhaut.

Er war ein Mensch der Stürze, aber er war dazu der Mensch ohne Vergessen. Er warf nicht über Bord, sondern er bewahrte. Er fühlte die Last, aber er vermochte nicht, gegen die Heiligkeit des Lebens zu sündigen. Sein Pflug ging tief, und er sah alle Furchen voraus, die er noch zu ziehen hatte. Und seine Lippen wurden schmäler, als es seinen Jahren zukam.

Er hatte nur ein Erlebnis in diesen Monaten. Der Tag nach den schriftlichen Arbeiten zur Reifeprüfung war schulfrei. Eine helle Märzsonne stand über dem vergehenden Winter, und die ersten Stare riefen von den feuchten Dächern. Johannes wollte vor die Tore. Er mußte einen Wald sehen und Felder, auf denen der letzte Schnee schmolz. Aber als er am Gerichtsgebäude vorbeikam, überfiel ihn die Erinnerung an die Korridore, über die die »Spinne« geherrscht hatte, und er stieg langsam die Treppen hinauf. Auf den Bänken saßen die Parteien, Gruppen standen auf den Fluren, Beamte mit Aktenbündeln verschwanden hinter Türen, wobei ihre Augen die Wartenden mit jener aufmerksamen Kälte streiften, die überall das Kennzeichen der Macht über das ›Material‹ ist. Wenn ein Richter in feierlicher Robe durch die Gänge schritt, erstarb das halblaute Gespräch. Alle Gesichter wendeten sich, der vorgetäuschten Ruhe und Sicherheit plötzlich entkleidet, und der Schatten des Kommenden lief vor der dunklen Gestalt her, bis auch seine Tür sich schloß und eine harte Auktionatorstimme die Parteien aufrief.

Johannes war ganz wach geworden, durchschritt das ganze Haus und fühlte sich immer tiefer umhüllt von der Luft des Schicksals, die zwischen den grauen Wänden stand. Und endlich trat er mit einer Gruppe blasser Menschen, deren Namen er beim Aufruf wie sinnlose Klänge empfand, in einen der Räume, setzte sich in eine Ecke, die dem harten Sonnenlicht entzogen war, und begann in sich aufzunehmen, was an Gesichtern, Gebärden, Formeln und Schicksalen sich vor ihm entrollte.

Allmählich erst entwirrte sich aus dem Gestaltlosen für ihn das Bild des Leidens, nach dem die Hände in Angriff oder Abwehr sich hoben. Es war ein Ehescheidungsprozeß, und die Frau war die Angeklagte. Sie stand unbeweglich da, schwarz gekleidet, und die Sonne lag erbarmungslos in jeder Schmerzensfalte ihres jungen, klaren Gesichtes. Ihre Augen hingen an dem Gesicht des Richters, und nur einmal während der ganzen Verhandlung verließen sie diese Stelle, als sei sie das einzige Asyl vor einer lärmenden Schar von Mördern.

Sie war schuldig und verhehlte es nicht. Zeugen beeidigten es, und der Ehemann, ein großer, ungefüger Mensch mit einem moralisch gefalteten Beamtengesicht, ergriff jede Gelegenheit, um mit Entrüstung von der Schändung seines ehrlichen Namens zu sprechen.

Nur einmal wandte sie ihr Gesicht, als ihr Geliebter, ein Mensch von kümmerlicher Erscheinung, durch etwas aufdringliche Eleganz gehoben, sich ohne Zögern zur Aussage bereit erklärte und mit nachlässiger Milde zum Ausdruck brachte, sie habe sich ihm gewissermaßen an den Hals geworfen. Sie ließ ihre Augen auf seinem Gesicht ruhen, aber es schien Johannes, als gingen sie durch diese bemalte Wand in eine unendliche Ferne, in die Ferne ihres Geschlechtes und ihres Schicksals. Es lag keine Bestürzung mehr in diesem Blick, kein Flehen, keine Anklage. Es war eher ein tiefes Verwundern, die Ungläubigkeit eines Kindes vor einer Marter, ein schnell vergleitender Schatten der Scham und die abgrundtiefe Trauer eines Wissens um das Letzte, Unverrückbare und Ewige des Schicksals der Gattung. Es war der Blick der Gekreuzigten und der Blick eines Tieres, ein Blick ohne Hoffnung, ohne Verschleierung, ohne Täuschung. Und er traf Johannes durch jenes lächelnde Gesicht hindurch bis in jene Stelle unter dem Herzen, wo er seine Zukunft und Bestimmung als ein Ungeborenes mit geschlossenen Augen trug.

Sie wurde für schuldig erklärt und als eine Ehrlose, Recht- und Mittellose aus allen Gemeinschaften gestoßen. Und es war, als hebe der Richter den Arm im schwarzen Talar, um den glühenden Stempel auf ihre Stirn zu drücken, der sie zeichnen sollte für Gerechte und Ungerechte als eine Sünderin und Verworfene.

Er holte sie im Korridor ein, als der Rechtsanwalt sie verlassen hatte. Sie ging langsam vor ihm her, und es schien ihm, als habe man ihre Glieder zerbrochen auf einem Rade, dessen Speichen hinter den geschlossenen Türen brausten. Er sah von der Seite in ihr Gesicht, das geradeaus vor sich hinblickte, nahm den Hut ab und sagte leise: »Sie waren das einzig Heilige in jenem Raum.«

Sie sah ihn an wie eine Erscheinung, die aus den Wänden getreten sei, Bestürzung, Scham und endlich ein schwaches Leuchten in ihren Zügen. Und dann nickte sie irgendwohin wie nach dem Ursprung seiner Stimme und ging weiter, mit ihren zerbrochenen Gliedern, eine steinerne Treppe hinunter, auf eine steinerne Straße hinaus.

Zwei Wochen später bestand Johannes die Reifeprüfung. Als er, schon um die Abenddämmerung, die Schule verließ, erfuhr er, daß einer seiner Mitschüler, den man während der Prüfung aufgefordert hatte zurückzutreten, sich erschossen hatte. Er blieb einen Augenblick bei der Gruppe jüngerer Schüler stehen, die mit blassen Gesichtern die Einzelheiten besprachen, jungen Soldaten gleich, die vom Grauen kommender Schlachten hören, und ging dann durch die sich erhellenden Straßen nach seiner Wohnung, mit dem leisen Druck über dem Herzen, den der Anblick des Unabänderlichen erzeugt. Er hörte die Worte des Gebetes, die der Religionsprofessor am Morgen im Konferenzzimmer gesprochen und in denen er Gottes Segen auf den schweren Tag herabgefleht hatte, und eine lächelnde Bitterkeit stieg aus der Erinnerung wie aus einer giftigen Pflanze auf. Auch hier hatte man zerbrochen, ausgestoßen, gerichtet. Auch hier schwangen die Speichen des Rades, und plötzlich, in der nun ganz hellen Straße, sah er sich um, schnell, heimlich, sprungbereit, mit dem Blick seiner Kindheit, der nach Theodor sich umsah, nach der Hand in der Tasche, nach dem Brunnen auf wüstem Feld.

Zu Hause fand er ein Paket von Frau Lisa. Es enthielt einen roten Stürmer, wie die Abiturienten ihn zu tragen pflegten, ein paar verwelkte Märzveilchen und eine weiße Karte mit den Worten: »Mein Johannes …«

Er nahm alles in die Hand, betrachtete es und legte es vorsichtig wieder fort. Dann saß er eine Weile mit müßig spielenden Händen und sah über den leisen Veilchenduft auf die Wand seines Zimmers. Es war der gleiche Blick, mit dem die Ehebrecherin auf das Gesicht ihres Geliebten gesehen hatte, auf eine durchleuchtete Wand, hinter der das Schicksal der Gattung stand.

Er ging noch einmal aus, weil er vergessen hatte, nach dem Karstenhof zu telegraphieren, kam wieder heim und schrieb einen Brief an Frau Lisa. Er zerriß ein Blatt mit der Anrede »Liebe Lisa« und schrieb auf einen zweiten Bogen ohne jede Anrede: »Ich danke Dir für das Gewesene und Dein Gedenken. Ich habe die Prüfung bestanden und will etwas werden, wo ich darum kämpfen kann, daß niemals mehr zwei Menschen aus dem Paradiese gestoßen werden können. Denn aus dem Ausgestoßenen gibt es keine Rückkehr, weil der Schweiß des Angesichts tötet. Johannes.«

Am nächsten Vormittag fuhr er nach dem Karstenhof. Er ging zu Fuß nach dem Bahnhof, und es war ihm die ganze Zeit hindurch, als habe er etwas vergessen. Seine Taschen schienen ihm leer, und einmal faßte er nach seinem Hut, weil die Stirn ihm kalt und unbedeckt vorkam. Und plötzlich kehrte er um, ging eine Nebenstraße hinauf und stieg in einem Mietshaus eine enge Treppe empor. Der Vater öffnete ihm, ein kleiner Beamter, der immer aussah, als habe man ihn soeben unter irgendwelchen Rädern hervorgezogen.

»Verzeihen Sie mir«, sagte Johannes leise. »Er war mein Mitschüler … ich fahre heute fort … ich möchte ihn gern noch einmal sehen …«

Der andre wollte etwas sagen, ließ es aber mit einer hoffnungslosen Handbewegung und ging durch einen dunklen Gang voraus. Dann öffnete er eine Tür und ließ Johannes eintreten. Er selbst blieb draußen und schloß die Türe leise zu.

Johannes sah das Bett in einer schmalen Kammer und trat neben den Toten. Das junge Gesicht schien zu schlafen, aber durch die schweigende Blässe liefen ein paar Linien, die die Grenze des Schlafes zerrissen und durch die man hindurchsehen konnte wie durch eine gesprungene Wand. Der Mund war seltsam gefaltet, zu unerbittlichem Schweigen geschlossen, und die Auslöschung des Kindlichen um seine Lippen war wie eine Eisdecke über das ganze Gesicht geglitten, eine fast hochmütige Zugeschlossenheit vor Frage, Anklage, Trost und Beschwörung. Es war das Gesicht eines Menschen, der »nicht zu sprechen« war und niemals mehr zu sprechen sein würde.

›Wie seltsam‹, dachte Johannes, ›daß die jungen Menschen sich immer in die Schläfe schießen … sie fürchten wohl, das Herz nicht zu treffen … oder vielleicht denken sie, das Herz sei schon von allein tot. Nur das Gehirn laufe immer weiter wie eine Maschine, und nur darauf komme es an, die kreisenden Speichen dieser Maschine anzuhalten …‹ Er empfand sich plötzlich als zudringlich in diesem Raume, als laut und gewöhnlich, als ein Zuschauer vor einem Feierlichen, das wehrlos vor seinen Blicken lag. Er empfand, daß er lebte, und empfand es als eine peinliche Geschwätzigkeit vor der Entrücktheit dieses Schweigens.

Er ging rückwärts hinaus, ein abgewiesener Bittsteller, und das junge Haupt sah streng zu ihm hinüber, bis er die Türe schloß.

Aus dem Dunkeln löste sich die Gestalt des Vaters, der, an die Wand gelehnt, gewartet haben mußte, ging wieder voraus, öffnete die Tür, schien wieder sprechen zu wollen, und wieder kam nichts als jene hoffnungslose Handbewegung, die Handbewegung der Erniedrigten, die stumm auf ihre Ohnmacht weisen.

Und während der ganzen Fahrt zum Karstenhof schien es Johannes, als sei diese Handbewegung das einzige, das sich vor dem Schweigen jenes Toten weder zu schämen noch zu fürchten habe.

Sie standen alle vor dem Bahnhofsgebäude, die Mutter und der Großvater, der Professor, Percy und Klaus, und Ledo, grau und mit den traurigen Augen des Alters, war zuerst bei ihm und drückte ihren müden Kopf in seine Hände. ›Sie freuen sich‹, dachte Johannes. ›Worüber freuen sie sich denn?‹

Er lächelte ein wenig mühsam, und die schweren Bilder der letzten Stunden standen wie eine Wand zwischen ihm und der Froheit der Gesichter.

»Ich bin durchgefallen, Johannes«, sagte Klaus, und sein großer, trauriger Kopf senkte sich tiefer zwischen seine schmalen Schultern. »Als du fortgingst, war es aus. Weishaupt hat meinen Wasserkopf massiert, aber es half nichts … Sie wollte wieder den Riemen nehmen, aber dann beschränkte sie sich doch auf ihre Hände … sie hat dich nicht vergessen, Johannes.«

Sein trauriges Lächeln erschütterte Johannes wie der Blick aus Ledos Augen, und es war ihm, als hätten diese beiden ruhig an dem schmalen Lager sein können, vor dem er morgens gestanden hatte, ohne daß der strenge Mund sie zurückgewiesen hätte.

Er bemerkte, daß seine Mutter sehr gerade saß und daß ein klarer Schein auf ihrem Gesicht lag, wie er an Herbsttagen im Osten steht, bevor das Licht über die Erde kommen will. Er dachte wieder an den stillen Mann im dunklen Gang jenes Hauses und schob seine Hand leise unter ihren Arm, so daß es niemand sah.

Sie saßen in der großen Stube, und Johannes sah mit dem tiefen Verwundern aller Heimgekehrten in die unveränderten Gesichter, an die sein Leben geknüpft gewesen war. Denn der Schwarzbart war da, unzählige Sorgenfalten über den hochgezogenen Brauen, weil ein Professor da war und ein Graf und weil aus dem Kindergesicht ein ernstes, leidvolles Menschenbild geworden war. »Du hast Verse geschrieben, Johannes«, sagte er, »ganz sicher hast du Verse geschrieben!« Und er hüllte sich in seine Dampfwolken, damit niemand »auf seine Fährte« komme.

Und der Wassermann war da, der zuerst wie ein Fisch auf dem Trocknen war, bis der Professor ihn nach den Fischen und Pflanzen seines Wassers fragte und wie ein dankbarer Schüler vor seinem Lehrer war.

Und König David war da, in Holzschuhen und sauberen selbstgestrickten Strümpfen, der immer nach der Decke sah, als könne er nicht glauben, daß hier kein Regen falle. »Menister, Hannes«, sagte er, »du warst Menister, as gewiß as de Adler över de Kreihen is!«

Und bevor Margret den Kaffee hineinbrachte, legte Gina die Bibel der Karstens auf ihren Platz des Tisches, und während ihre seltsam gefärbten Augen noch einmal über die Vielfältigkeit der Gesichter liefen, die am Leben ihres Kindes Anteil gehabt hatten, nahm sie die Feder und schrieb unter die letzte Zeile Tag, Monat und Jahr und darunter: »Bestand seine Reifeprüfung und wartet auf die nächste.«

Und dann legten sie das Kleid ihrer Alltage ab und feierten den, der schweren Herzens war, aber die ruhige Hand nach der nächsten Zukunft hob.

Der Professor hielt eine Rede, bei der der Schwarzbart schreckliche Wolken aus seiner Pfeife stieß, weil er nicht gerührt erscheinen wollte. Percy hielt eine Rede, bei der König David das Atmen vergaß und in der er wünschte, immer solch eine saubere Decke über sich gehabt zu haben wie in diesem Hause. Und lange nach dem Abendessen stand Johannes auf und ging von einem zum andern und sagte: »Ich danke für alles Gute« und sagte dann, daß er sich wohl heute nicht so ganz freuen könne wie die anderen, weil er in den letzten Tagen gesehen habe, wie man einer Ehebrecherin die Glieder gebrochen habe und wie ein junger Mensch im Tode aussehe. Und weil er außerdem ein Karstensohn sei und an ihren Händen die großen und gerechten Dinge habe erkennen dürfen, den Wald und das Wasser, die Sterne und das Tier. Und wie er nun erkannt habe, daß in der Welt die großen und gerechten Dinge fehlten oder entstellt seien. Und daß er beschlossen habe, nicht ein Dichter zu werden oder ein Bauer, sondern dafür zu sorgen, daß die großen und gerechten Dinge wieder ein wenig heimisch auf der Welt würden. Daß er die Rechte studieren wolle, um das Recht einsetzen zu helfen auf seinen Thron. Daß man keine Glieder mehr zerbreche und kein junger Mensch an der Welt verzweifle und daß das Land Ohneangst etwas höher steige aus dem Nebel und nicht nur auf dem Karstenhof zu finden sei. Und da vor der Auferstehung die Kreuze ständen und der Stein über dem Grabe läge, sollten sie nicht erschrecken, wenn seine Hände etwas blutig würden, denn er sei der Meinung, daß Blut und Tränen hohe Dinge seien und daß man Blut und Tränen kennen müsse, um Blut und Tränen abzuwischen.

Als der Wagen vom Bahnhof zurückkam, wohin er die Gäste zum Nachtzuge gebracht hatte, saß Gina neben dem Wege auf dem Stein, von dem man den Karstenhof sehen konnte. Johannes stieg aus, und während das Rollen des Wagens vor ihnen im Dunklen verklang, gingen sie langsam durch den herben Geruch der Felder, von denen die Sonne schon den Schnee genommen hatte, damit die Auferstehung beginne. Gina hatte ihre Hand in Johannes' Arm gelegt, und zum erstenmal wurde ihm in dieser Gebärde bewußt, daß die Bilder ihres Lebens sich langsam verschoben, daß das Pendel sich anschickte, vom Punkt der Ruhe nun nach der andern Seite zu schlagen, daß das Behütete sich nun in ein Behütendes verwandelte, das Geführte in ein Führendes, daß die Mutter nun stehen blieb an der Grenze, die das Geschlecht der Karstens in ihr erreicht hatte, und daß er nun die Bürde auf sich zu nehmen und sie weiterzutragen hatte bis an den Punkt, wo der Nächste des Geschlechtes sie von seinen Schultern nehmen würde.

Und dies Bewußtsein erschütterte ihn so, daß ihm war, als ginge ein müdes Kind an seiner Seite und er nach ihrer Hand faßte, damit ihr Fuß nicht an einen Stein stoße. Und mit einer traumhaften Helligkeit der Seele sah er auf ihr Leben zurück und sagte leise: »Einer hat gefehlt heute, Mutter …«

Sie blieb stehen und sah über ihre Schulter den Weg zurück, als komme jemand hinter ihnen her. »Es war keine Zeit für andere … bis jetzt, Johannes«, erwiderte sie. »Und wahrscheinlich wird es niemals Zeit sein«, setzte sie nach einer Weile hinzu.

Vor der Tür ihrer Kammer, ganz im Dunklen, nahm sie sein Gesicht zwischen beide Hände und sah in seine unsichtbaren Augen. »Du hast es schon getan, Johannes«, sagte sie in das Dunkle, »das vom Blut und den Tränen. Du hast sie abgewischt vom ganzen Geschlecht. Alle Karstentöchter stehen hier im Dunklen, mit erlösten Gesichtern … ich danke dir, mein Johannes …«

Und sie hob die Hand zu dem Schimmer seiner Stirn und strich zweimal leise über den schmalen Raum zwischen seinen Brauen, wie sie in Sorgen getan hatte, als er noch ein Kind gewesen war.

 


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