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3

Das Früheste, was der kleine Johannes von seiner Mutter sah, wenn er später an seine Kindheit zurückdachte, war so: die Welt war ganz dunkel, ohne Wände und ohne Boden. Und mitten in ihr hing eine Lampe, die sicherlich vom Himmel herabhing. Und außer der Lampe war nur das Gesicht seiner Mutter in der dunklen Welt und ihre weißen Hände, ohne Ringe, die langsam und gütig über seine Stirne glitten, dicht über den Augen, als tue es dort weh. Und es schadete nichts, daß die Welt keine Wände hatte und keinen Boden, denn die Mutter hing wohl in einer Schaukel vom Himmel herab, und ihre Schnüre lagen in Gottes Hand. Schweigen war und Friede und eine sanfte Müdigkeit, dicht an der Küste des Schlafes.

Und wenn er seinen Vater sah, so war es dieses: es war ein Raum mit Wänden und einem häßlich gelben Fußboden, in dem schwere und hohe Dinge standen. Und in einem von ihnen saß ein Mann mit engen Augen und einem spitzen Schnurrbart, der große Hände hatte. Und diese Hände waren nicht gut. Sie waren bleich und kalt wie tote Fische, wenn sie in der Küche lagen, und er schlang sie ineinander, daß es klang, als ob die Gräten zerbrächen. Er sagte nichts, aber wo man sich auch versteckte im Raum, von überall sah man seine Augen. Man kroch hinter die schweren Dinge, lag regungslos und hob dann unmerklich leise den Rand einer Decke. Aber die Augen hatten nur darauf gewartet und waren schon da. Sie lächelten meistens, aber Johannes meinte, daß man sie »zuschütten« müsse. Er wußte nicht, wer ihm das Wort geschenkt hatte. Mitunter sollte er etwas sagen, eine Antwort geben, aber das konnte er nicht. Seine Stimme war fort, verloren, und er fand sie nicht. Dann streckten sich die Finger aus und legten sich um seinen Arm und zerbrachen ihn dort, ganz lautlos, und Johannes schloß die Augen, um das abgebrochene Stück nicht auf die Erde fallen zu sehen. Aber er schrie nicht, denn er glaubte, daß dann etwas Furchtbares geschehen würde. Daß die Finger sich in Gräten verwandeln und seinen Hals durchbohren würden, oder noch etwas Grauenhafteres. Und über allem lag ein weißliches Licht, und es war schwer, daran zu denken.

Und wenn er seinen Bruder sah, so war es dieses: ein Feld mit Unkraut und Steinen, dicht hinter einer dunklen Hecke. Eine Kiesgrube mit Abhängen und Schluchten und drohende Bäume darüber. Und mitten auf dem Feld ein Brunnen, ein verfallener Schacht, Reste einer Kette, Moos und Gewürm. Und er hing über dem Brunnen, zwischen den Schultern gehalten, und aus einer furchtbaren Tiefe sah sein Antlitz ihm entgegen. Und neben ihm schimmerte das seines Bruders, bleich, tot, wie ein verwester Fisch. Ab und zu ließ er einen Stein hinunterfallen, und Johannes sah, wie er in sein Angesicht stürzte, es zerschlug, zerschmetterte und die Teile auseinanderbrachen. Er stöhnte nur, aber er schrie nicht. Auch nicht, wenn die Hand ihn plötzlich loszulassen schien und das weiße Bild ihm entgegenwuchs. Und alles geschah schweigend, ganz lautlos, wie ein Tier an seiner Beute zerrt.

Und wenn er die Welt sah, den Raum, das Leben, so war es dieses: zunächst war eine Kammer mit dunklen, ernsten Dingen, in der es warm und still war, und wenn die Mutter zwei Schlüssel umdrehte, konnte man ganz tief aufatmen, denn die kalten Hände konnten nicht hinein und auch nicht das Gesicht, das im Brunnen neben dem seinigen schimmerte und das er den »Stein« nannte.

Dann war eine Straße mit Hunden, Wagen und Menschen. Manchmal wehte der Staub über sie hin, und manchmal fiel der Regen auf sie, und an den wassergefüllten Löchern mußte man schnell vorüber, denn es waren Brunnen, auf deren Grund immer ein Gesicht schlief. Dann war der Wald. Da standen die grünen Riesen, die immer leise sprachen und zuweilen zornig zueinander schrien. Aber der Schwarzbart war ihr Herr, und wenn er rief, so mußten sie Antwort geben.

Dies alles war der Anfang, die erste Seite, die man in seinem Buch aufschlagen konnte. Es mußte noch andere Bücher geben, aber sie waren verloren. Manches war hell auf dieser Seite, und manches war dunkel. Tränen waren keine, und Einsamkeit war keine. Aber viel Angst war, vor Kellern und Brunnen, vor allem Tiefen und Abgründigen. Nicht vor den Wipfeln der Bäume oder den Dächern der Häuser. Aber schon in den Weggeleisen lag Gewürm, das tückisch fortkroch, Wasser, das spiegelte, Steine, die dort hingelegt schienen. Es war Gefahr in ihnen, dunkel und kaum zu greifen.

Auch Worte waren nicht viele. Das Sprechen tat weh. Man hatte Augen und den Herzschlag und die Gebärde der Hände. Sie waren besser als das Wort. Und die Mutter war so schön, wenn sie schwieg. Ihre Augen »blühten« dann, wie er zu sagen liebte.

Wenn Vater und Bruder nach Hause kamen, die »Beiden«, wie sie oben in der Kammer hießen, wurde es dunkel. Er wußte nicht, von wo sie kamen, aber er glaubte, daß sie »aus der Tiefe« kämen, aus Brunnen, in die sie Kinder gestürzt hatten, aus Kellern, wo sie das Gewürm für den nächsten Tag gemacht hatten. Er erinnerte sich, daß ihm gewesen sei, als zögen sie von Dorf zu Dorf und sammelten die Kinder, die schon zitternd warteten. Und dann gingen sie auf ein wüstes Feld, hinter schweigende Hecken, und warfen die Kinder hinein. Und dort lagen sie nun wie weiße Steine. Er sprach darüber nicht, auch nicht mit der Mutter, aber er ging ganz leise und vermied die Dielen, die knarrten, weil es dann von unten zu ihm heraufsprach. Er lebte wie auf einem Turm. Abgrund war um ihn, Krähenschrei und ein Lächeln, das ihn stürzen wollte. Erst in der Ofenecke in der Kammer wurde es gut, wenn die Schlüssel umgedreht waren und der Stern der Lampe über der Schwelle des Schlafes stand.

Das war die erste Seite des Buches, und auch auf ihr wie zu allem Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Gina sah die Zeichen und mühte sich um ihre Deutung, aber was an ihrer Hand durch den Wald lief, was an ihrer Brust atmete, auf ihrem Schoße schwieg, in ihre Augen sich hineinbarg, war Geheimnis, lebend, atmend, sprechend, aber Geheimnis. Da war das Geheimnis der Natur, das dem Kind die gleichen Augen gegeben hatte wie ihr, und die feine Schmerzenslinie, die Gottes Hand in den Nächten um ihre Lippen gezeichnet hatte. Aber das andere war tiefer und verborgener: daß man seine Gedanken nicht wußte, seine Traurigkeit, sein Lächeln. Daß seine Glieder wuchsen, sein Haar sich lockte, seine Augen in die Tiefe des Waldes blickten und sich langsam abwendeten, in andere Wälder, die sie nicht sah. »Bist du traurig, Johannes?« fragte sie. Sein Blick hob sich zu ihren Augen und ging dann fort, weit, aus ihrem Leben hinaus. »Johannes hat Angst«, erwiderte er. »Wovor, mein Kind? Wovor denn?« – »Weil so viele Dinge da sind … Bäume, Menschen, Steine.« – »Aber was schadet es dir denn, Johannes?« – »Du bist doch allein da, Mutter, und ich bin allein, und die andern sind so viele, schrecklich viele …«

›Er wird zerbrechen‹, dachte Gina. ›Wir Frauen sind wie Weiden, und wenn wir blühen, sind wir wie Flöten, und wenn man will, kann man uns flechten und biegen, bis wir wie Körbe sind, in die sie Lust und Leid und Mühe packen, ganz wie es ihnen beliebt. Aber er ist keine Frau, und man wird ihn nicht biegen können. Meine Seele war zu weich, als sie ihn im Dunklen nährte. Nun wird Gott von mir ablassen und seine Hand gegen ihn erheben.‹

Indessen wuchs Johannes aus seinem Geheimnis in die Jahre. Er war krank und wieder gesund, traurig und wieder froh, unruhig und wieder still. Über den dunklen Strom seines Geschehens hoben sich langsam die Brücken, von denen man auf ihn niederblicken konnte: er hob jede Blume auf, die abgerissen im Staub der Straße lag, und trug sie sorgsam zur Seite ins Gras. Er umarmte jedes Tier, sah ihm schweigend in die Augen und wandte sich dann mit einer leisen Gebärde der Hoffnungslosigkeit wie von etwas sich Versagendem. Er hatte das tränenlose Weinen seiner Mutter, ihre schönen, ein wenig schutzlosen Hände und ihr träumerisches Spiel. Wenn er sprach, sah er in eine spurlose Weite hinaus, als sei es unheilig, einem Menschen in das geöffnete Heiligtum seiner Augen zu blicken. Er wahrte einen leisen Abstand von allem Menschlichen, als fürchte er, daß man nach seinem Arm greifen könnte, um ihn zu zerbrechen, und sein erster Blick ging nach den Händen dessen, der neu in sein Leben trat.

Er hatte keinen Jähzorn, keinen Starrsinn. Er verbarg sich, aber ohne zu lauern. Er neigte sich, aber ohne sich hinzugeben. Er konnte quälen, durch Blicke, durch Schweigen, Trauer, nicht unähnlich seinem Vater, wenn man dessen Lächeln statt seiner Trauer nahm, aber er war ein Quäler in der Liebe, nicht im Haß. Er glich keinem jungen Baum, der seine Äste wehen ließ und sich der Vögel freute, die bei ihm einkehrten, sondern einer stillen Blume, die unter hohen Tannen stand. Er suchte nicht, sondern ließ sich suchen. Er ging leise über die Erde, und seine Worte bewegten sich wie im dunklen Raum einer Glocke, an deren Rand man nicht schlagen durfte, weil sonst der große Klang, allen vernehmbar, in das befohlene Schweigen dröhnte. Es war ihm, als binde man ihn jeden Morgen an das Rad des Tages und das Rad rolle mit ihm davon, und am Abend binde man ihn wieder los und sage tröstend: »So, kleiner Johannes, nun ist es wieder überstanden.« Und dann kam die Stille, das schöne, schmerzlose Schweigen. Die Bäume standen ganz ruhig vor dem Fenster, schrien nicht mehr, rissen nicht mehr an ihren Wurzeln. Die Menschen hatten ihre Worte ausgeschüttet in die Brunnen des Tages, und wenn die Mutter noch sprach, war es nur ein tönender Atem. Die Dinge in der Kammer waren ernst und nichts als Zuhörer, der Mond war nicht lärmend gleich der Sonne, sondern befahl Schweigen, ein blaues und unbedingtes Schweigen, das die Augen der Menschen schloß und die Träume an die Fenster schickte, die mit vorsichtigen Händen Bilder aufrollten und leise wieder zusammenlegten.

Zerrgiebel bemühte sich nicht um sein Kind. Er fühlte dumpf und widerwillig, daß sein Blut unterlegen war. Hier war eine Entscheidung gefallen, klar und unzweideutig, aus der Hand der Natur, und sie hatte gegen ihn entschieden. Vorläufig wenigstens. Und so bewachte er das Kind wie ein Wesen hinter einem Schilde. Der Schild konnte sich heben, sich senken, sich verschieben. Und dann konnte man zustoßen. Man konnte vorläufig nichts anderes tun als es unruhig machen, es ansehen, lange Zeit, am besten lächelnd. Es zitterte dann, und es war immerhin ein Gefühl der Macht. Man brauchte einen kleinen Trost in der Niederlage. Man hatte sich an einer Sache beteiligt, und die Zinsen fielen den andern zu. Es war Diebstahl, nackter und gemeiner Diebstahl. Theodor trug Zinsen. Er war ein Spiegel, der nur dazuhängen hatte. Man konnte davortreten, und der Spiegel warf das Bild zurück, gehorsam, schweigend, weil er nicht anders konnte. Dieser aber verhüllte sich, ebenso wie die Frau. Sie hingen da und verweigerten den Dienst. Man war ein kleiner Beamter, gebeugt von studiertem Pack. Aber man wollte seine Ewigkeit haben so gut wie jeder andre, sein Reich, in dem man beugen konnte, wenn man beugen wollte. Die Kanzleibogen hatten keine eigne Form, die Aktenschränke, die Federn. Die Angeklagten versuchten es ab und zu, aber dann ließ man die Walze laufen, die Paragraphen, die Gesetze, und die Form hörte auf. Die Fläche war da, in der die Form ertrank, und nur die Umrisse blieben, und er streute Sand darüber und sah, wie sie trockneten.

Theodor, ohne um die Gedankengänge seines Vaters zu wissen, tat dasselbe und einiges mehr. Er konnte Johannes nicht mehr über den Brunnenrand halten, seit Gina aus den wirren Traumgesprächen der gequälten Seele etwas erraten hatte. Er konnte überhaupt nicht mehr mit ihm allein sein. Aber seine Blicke folgten ihm wie einem entflogenen Vogel in die Äste des unerreichbaren Baumes. Aus der Ecke des Zimmers konnte er ihn stundenlang betrachten, unbeweglich, und nur ab und zu das linke Auge auf eine gefahrdrohende Weise schließend. Auch konnte er, vor ihm stehend, ganz langsam die rechte Hand in die Tasche schieben, heimlich, aber so, daß die Absicht der Heimlichkeit sichtbar war, sie dann hervorziehen, verstohlen in sie hinabblicken und sie dann wieder zurückschieben.

Er besaß nicht die Zurückhaltung seines Vaters. Er war ungeduldiger, machthungriger, ungebändigter. Er konnte im Vorübergehen einen Stein fallen lassen, ein offnes Messer, das in der Diele böse zitternd stecken blieb. Er konnte leise und seltsam klopfen, ohne daß man es sah, und er konnte lauschen, vorgebeugt, unruhig, gequält, in den Keller hinunter oder auf die Straße, nach etwas, was man nicht hörte und wahrscheinlich nicht da war, aber das Spannung erweckte, Qual und ein dumpfes Grauen.

Er wußte nicht, weshalb er das alles tat. Man stellte nichts auf den Tisch seines Lebens, und so zerschnitt er mit dem Messer seine glatte und erschreckend tote Fläche. Er schnitt um des Glatten willen. Er brach junge Chausseebäume und schoß mit der Schleuder nach Fensterscheiben. Er band Katzen mit den Schwänzen zusammen und hetzte junge Hunde auf sie. Er zerschnitt Mäntel in der Eisenbahn, goß Tinte in die Schulbücher, schlug heimlich Nägel in die Stühle der Lehrer. Wenn der Unterricht zu Ende war und er bis zur Abfahrt des Zuges in der Schule bleiben durfte, schlich er wie ein kleiner Teufel von Raum zu Raum, und seine eng zusammenstehenden Augen, so eng aneinandergedrückt wie zwei Verschworene, spähten nach dem Unzerstörten, um es zu zeichnen. Er war gleich einem Kinde mit einem Stempel, das nach dem Objekt sucht, das dem Abdruck Ewigkeit verspricht, aber der Stempel war böse geworden, und die lebenden Objekte waren besser als die toten.

Getreu der Familientradition war ihm niemals etwas »zu beweisen«. Er war gehaßt, aber gefürchtet, und in dem leeren Raum, der ihn umgab, wucherten seine Instinkte wie Unkraut. Er hatte das verächtliche Lächeln der Verfemten, das ihnen ein Stab in der Einsamkeit ist, aber die Verachtung stand so erschreckend in dem jungen Gesicht wie die Unzucht in dem eines Mädchens. Sein Vater war etwas »Subalternes« für ihn und seit der Umlegung der Schlafzimmer selbst in dem zu Fürchtenden subaltern. Ihre Gesichter ähnelten einander zu sehr, und es lag etwas Entwürdigendes in dieser Ähnlichkeit, die gleich der Ähnlichkeit von Gemüse oder von zwei Steinen war. Die Mutter war nicht subaltern, aber er reichte nicht an ihre Augen. Es war töricht, Verachtung zu versuchen, wenn sie ihre Hand hob und ihn aus dem Zimmer wies, und es war schrecklich zu sehen, wenn sie »den anderen« liebkoste. Und manchmal konnte er in irgendeiner Grube hinter einer einsamen Hecke auf der Erde liegen, die Fäuste vor den Augen und weinen wie ein Aussätziger.

So war es wohl zu verstehen, daß Johannes leise auftrat und sein Gesicht sich oft rückwärts wandte, als stehe dort jemand oder trete lautlos durch die Wand. Aber kurze Zeit, bevor er fünf Jahre alt wurde, baute sich eine neue Brücke über seinen Strom, und seine Mutter stand erschüttert vor ihrem unerhörten Bogen. Eines Abends verlangte Zerrgiebel, mit Hut und Mantel ins Zimmer tretend, Geld von Gina. Eine kleine Summe, aber er habe noch ein Geschäft abzuschließen, und sie habe ja von den Bauerntalern wohl noch eine ganz hübsche Menge. Gina lehnte ab, befremdet und nicht ohne Hochmut. Er wurde dringender, sprach erregt von moralischen und gesetzlichen Pflichten und sah die undurchdringliche Wand des Schweigens sich vor ihr aufrichten. Er stieß einen Stuhl zur Seite, trat auf sie zu und hob die Hand.

Aber plötzlich, wie aus der Erde gewachsen, stand das Kind vor ihm, eine Fußbank in den Händen, und sah zu ihm auf. Die seltsamen Augen waren weit geöffnet, und die feine Schmerzenslinie zuckte um den geschlossenen Mund.

Zerrgiebel stieß es mit dem Fuß zur Seite, daß es über die Fußbank stürzte, aber im nächsten Augenblick stand es wieder da und hob das weiße Gesicht wie der Zerstörung entgegen. Theodor, die Hand in der Tasche, stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne, und mit ihm, ganz gegen seinen Willen, zerfiel das Bild gleichsam in seine Teile, wie ein böser Traum zerfällt und im Aufatmen zerbricht. Zerrgiebel wandte sich, gab seinem Liebling eine Ohrfeige und verließ das Zimmer.

»Kleiner Johannes«, sagte Gina leise, als sie das Kind die Treppe hinauftrug, »kleiner Johannes …«

Er blieb in ihrem Bett, und sie hielt die Hand auf seinem schlagenden Herzen, das den zarten Körper erschütterte. Aber er sprach kein Wort, und sie legte nur leise den andern Arm um ihn, bis sie die Hände über ihm falten konnte.

Und an seinem Geburtstage tat Gina zum zweiten Male etwas Unerhörtes. Sie nahm Johannes bei der Hand und ging mit ihm den Weg nach dem Karstenhof. In der Seele des Kindes brannten noch die fünf Kerzen seiner Geburtstagskrone. Die Mutter hatte vor seinem Bett gekniet, die Arme um ihn geschlungen, hatte in ihn hineingesehen wie in einen Becher und nichts gesagt als: »Mein Leben … du mein Leben!« Es war ein seltsames Wort für ihn, ein schweres Wort, fast ein betäubendes, und er ging den ganzen Tag unter ihm wie unter einer Krone, gebeugt und stolz, furchtsam und tapfer. Er trug den Purpur eines Auserwählten, auch wenn er darunter seine Rüstung tragen mußte. In den lautlosen Kammern seiner Seele ging dieses Wort wie ein König umher. Er öffnete die Türen, er saß am Tisch. Glanz ging von ihm aus und ein tiefes Erschrecken.

So ging der kleine Johannes in einer leisen Erschütterung durch den stillen Herbsttag. Gina sprach von den Feldern und wie ihre Tiere nun langsam ihr Winterhaus bestellten, tief im warmen Dunkel, und Körner sammelten für den Tisch und Gräser für ihr Bett. »Ich möchte dort wohnen«, sagte Johannes und beugte sich über die Stoppeln, in denen eine Feldmaus soeben verschwand. Seine Augen waren fast schwermütig in die Tiefe gerichtet, und dann hob er das Gesicht und sah mit seinem Blick der Ferne über die Felder hinaus.

»Willst du denn allein dort wohnen?« fragte Gina.

»Ja, ganz allein … du müßtest ein Stück ab wohnen, hinter einem kleinen Wald, daß ich dich besuchen kann. Aber ein Mensch muß allein wohnen, damit es ganz stille ist.«

Sie sah ihn an, als ob er am Kreuz stände. Aber sie sagte nichts mehr, bis sie auf den Hof kamen. Als seine kleinen Füße die Schwelle hinaufstiegen, auf der Gina in der Sommernacht gesessen hatte, faltete sie, hinter ihm gehend, die Hände, und es war ihr, als könne sie sich vielleicht noch einmal mit Gott versöhnen.

»Johannes kommt«, sagte der Bauer. »Das ist ein schöner Tag.« Aber seine Augen gingen fragend um seine Tochter, als suchten sie nach dem Zeichen eines Schlages.

Gina, noch im Mantel, öffnete den schweren Schrank des Vaters, nahm die Bibel heraus und trug sie zum Tisch. »Sieh ihn an«, sagte sie leise, »ob er ein Unsriger ist.« Und dann stützte sie den Kopf in die linke Hand, und ihre Augen gingen die Reihe der Karstentöchter entlang: geboren, getauft, konfirmiert und an den Tisch des Herrn getreten, geheiratet … gestorben. Zu jedem Wort Tag und Jahr, aber kein fremder Name. Als ob sie sich den Unterirdischen vermählt hätten, die keine Namen tragen und nie geboren hätten als etwa Kobolde, die nun unter den Wurzeln hausten, namenlos und gottlos. Und sie sah die Seiten entlang wie eine Straße der Kreuze. Eines war wie das andre, nur immer kleiner werdend in der Ferne, aber es war eine Kleinheit der Perspektive, und es schien ihr grauenvoll, daß von allem Leben in Blut und Tränen nichts übriggeblieben war als dies stumme Zeichen in der schweren Bauernhandschrift: ein Strich und ein Querstrich, der den ersten wieder löschte als einen Irrtum, der zu vergessen war. Und daß die Unsichtbaren auf diesen Seiten umgingen und nach einer Art von Recht suchten, aber daß sie weder Nenner noch Zähler waren, daß sie Erde waren, die man an den Schuhen heimtrug und die vor der Schwelle abfiel und abgewischt wurde, und der Wind nahm sie wieder auf das Feld.

Sie sah zu ihrem Vater hinüber. Der kleine Johannes saß auf seinen Knien, den Kopf an seine Schulter gelehnt, und bewegte spielerisch seine schönen Hände. Und Dietrich Karsten sah auf die kleinen Hände herab, aufmerksam, aber mit dem Frieden und gläubigen Zutrauen, mit dem er am Koppelzaun zu lehnen und auf die junge Saat zu blicken pflegte.

Da tauchte Gina die Feder ein und schrieb unter ihren Hochzeitstag: »Johannes Karsten, Kind Gottes.« Und daneben Tag, Monat und Jahr seiner Geburt.

Es schien ihr seltsam, fast ungeheuerlich dazustehen, in einem Register der Ewigkeit, und wie die Tinte trocknete und der feuchte Glanz erstarb, lehnte sie sich erschöpft zurück, und es war ihr, als habe sie ihn nun erst geboren, nicht für die Unterirdischen wie das erstemal, sondern für die Wege der Erde, für das Geschlecht, und für alle die, deren Namen hier standen, gelöscht gleich einem Irrtum, und die ihr Antlitz verhüllt hatten über der Schande ihres Blutes.

»Kleiner Johannes«, sagte sie laut, »nun wollen wir deinen Geburtstag feiern.«

Am Abend, als Dietrich Karsten sie heimfuhr, stand Johannes zwischen Ginas Knien und sah auf die Felder zurück, die im warmen Abend versanken. Wildgänse zogen, und unter dem schnell verwehenden Schrei blieb das Land als etwas Festes und unendlich Gewisses, von einer leisen Trauer des Gebundenseins überschattet, aber so, daß man an die Saaten denken mußte, die in der Stille wuchsen, und an die Lichter, die das Dunkel der Gehöfte um sich sammelten. Es waren mütterliche Lichter, und der Wagen fuhr langsam und leise zwischen ihnen wie zwischen Betten des Schlafes hindurch.

»War es schön, Johannes?« fragte Gina.

»Es ist das Land Ohneangst«, sagte er ernst.

Zu Hause trug er seine Schätze in die Kammer hinauf: einen Korb mit Äpfeln, ein paar Haferähren, einen niederdeutschen Bauernstall, mit braunem Gras gedeckt und mit Pferden, Kühen und Schafen gefüllt, von Dietrich Karstens Hand gebaut und geschnitzt, ein Büschel Vogelbeeren, zwei Baumschwämme, ein Bündel Kienholz von Margrets Küchenherd, eine Peitschenschnur, eine kleine Flöte und schließlich Ledo, die Schäferhündin, die sich umarmen ließ wie ein Mensch und mit der man unter der Erde wohnen können würde, wenn der Winter kam und die Tiere von der Welt gingen.

Theodor, die Hand in der Tasche, stand im Flur und sah schweigend zu, wie die Karawane aus fremdem Land die Treppe hinaufzog. Er lächelte mit einem Schein der Nachsicht und stellte nur den Fuß ein wenig vor, als Ledo vorüberkam. Der Hund knurrte warnend, und Johannes faßte in sein Halsband. »Mit dem Brunnen ist es nun nichts mehr«, sagte er still. Theodor zog den Fuß zurück und sah aufmerksam in die verborgene Höhlung seiner Hand. »Es gibt noch andere Dinge für Hunde und Kinder«, sagte er ahnungsvoll.

Zerrgiebel, aufgeräumt, lud zu einer »kleinen Feier« ein. Etwas Mosel sei noch im Keller, wie Gina wisse. Aber Karsten dankte und fuhr ab. Gina bereitete das Abendessen. Johannes blieb oben in der Kammer.

Als sie hinaufkam, brannte die Lampe, und er saß vor der Ofenecke, die Arme um Ledos Hals gelegt. Der Stall stand auf den Dielen, von Moos und kleinen Bäumen umgeben. Das Holz war zu Spänen gespalten und an seiner Seitenwand aufgeschichtet. Die Vogelbeeren hingen über dem Dachfirst, und in der Diele brannte eines der Geburtstagslichte und durchleuchtete den Frieden des kleinen Hauses, in dem das hölzerne Leben still verzaubert schien nach einem Tag der Mühsal und der Schmerzen. Und wie ein kleiner Zauberer hatte Johannes den Kopf des Tieres an sich gedrückt und die Hände um die Flöte gelegt. Ihre leisen Töne schienen erhaltend und bewahrend um dies kleine Reich der Seele zu gehen, damit das Licht so unbeweglich brenne, damit die hölzernen Tiere schliefen und Ledo die Augen schließe und er selbst sich langsam verwandle und hinübergleite aus dem Land des Lauten und Vielen in das Land Ohneangst, wo niemand sprechen könne als der Mund der Flöte.

Gina hatte lange draußen vor der Türe gestanden, überrascht zunächst und lauschend. Aber dann legte sie die Stirn an das kühle Holz und schloß die Augen. ›Weshalb spielt er so?‹ dachte sie, während die Wände ihrer Seele vor den kleinen Tönen zerbrachen. ›Die Hirten können vielleicht so spielen, weil Gott allein über ihre Tage geht vom Aufgang bis zum Untergang. Oder die Zauberer vor den Schlangen des Paradieses. Aber weshalb spielt mein Kind so? Und wer spielt aus ihm?‹

»Das ist das Lied von der Erde«, sagte die kleine Flöte. »Viel Angst und wenig Frieden. Viel Fragen und wenig Antwort. Das Spiel ist traurig, aber das Spielen ist schön. Der Mond kommt und das Schweigen … die Tiere schlafen und die unruhigen Bäume … es gibt ein Land, das heißt Ohneangst … da wird der Hafer geschnitten … da gibt es ein Erntetor für alle Stillen … da brennt ein Licht, damit der Mensch wisse, daß er nicht verloren sei …«

»Ich weiß nun, was ich werde, Mutter«, sagte Johannes, als sie zu ihm trat. »Im Sommer will ich zu den Tieren gehen, wo sie allein sind, im Wald und auf den Feldern, und ihnen vorspielen, weil keiner mit ihnen spricht. Und im Winter will ich mit Ledo unter die Erde gehen und still sein. Unter ein Saatfeld, wo die Wurzeln durch unsere Decke kommen. Da werden wir denken, viel denken …«

»Und ich werde hinter dem Wald wohnen?«

»Ja, hinter einem kleinen Wald, und wenn du kommst, mußt du dreimal klopfen. Und wenn die Sterne scheinen, bringen wir dich zurück.«

»Und was wirst du denken, kleiner Johannes?«

Er hob den Kopf und sah sie mit einem Blick des tiefsten Ernstes an. »Ich werde … ich werde denken, daß ich dein Leben bin, Mutter … und das ist viel zu denken, sehr viel …«


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