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12

»Nein, Johannes«, sagte Luther, »auch wenn ich nicht verreist gewesen wäre in jener Nacht, würde ich dir nichts gesagt haben, kein Wort. Sieh, es steht irgendwo im Neuen Testament: ›Herr, wenn du dagewesen wärest, wäre er nicht gestorben.‹ Was für eine Gotteslästerung! Und davon ist es übergegangen auf die Pfarrer, die Pädagogen, die Richter, die Eltern. ›Wenn er Vertrauen gehabt hätte, wenn er sich ausgesprochen hätte, dann wäre alles anders gekommen.‹ Was für eine Dummheit, Johannes! Gut, nimm an, ich hätte gesagt, du müssest dich verlieren. Ich hätte es in jener Nacht gesagt. Du hättest vor mir gestanden und hättest gefragt: ›Was muß ich tun, daß ich selig werde?‹ Und ich hätte geantwortet, daß du dich verlieren müssest. Was wäre geschehen? Du wärest dort hingegangen und während des ganzen Weges hättest du vor dich hingesprochen: ›Ach, wie leicht ist mein Herz! Wie ohne Zweifel! Wie will ich nun selig sein!‹ Aber plötzlich, an der ersten Straßenecke schon, würde eine Stimme in dir gesprochen haben, eine unterdrückte, ganz tief aus dem Brunnen heraus, aber eine nicht zu überhörende: ›Du lügst!‹ würde sie gesprochen haben. ›Dein Herz ist weder leicht, noch ist es ohne Zweifel. Du wirst durchaus nicht selig sein, du wirst vielmehr sehr unselig sein.‹ ›Unsinn!‹ sagt Johannes. ›Dort ist schon das Haus, das Haus der Seligkeit … ich muß mich ja verlieren, hat er gesagt … so leicht ist mir ums Herz …‹ Und du würdest die Tür geöffnet haben, dich abgeschlossen haben vom Leben der Straße, vom Leben der Vergangenheit, du würdest die Hand gehoben haben ins Dunkel des Kommenden, daß die Seligkeit sich hineinschmiege, und die Stirn gehoben, daß der Kranz der Verwandlung sich um sie schlinge … Aber siehst du, nichts würde dagewesen sein als das Dunkel des Treppenhauses, ein furchtbares, schweigendes, drohendes Dunkel. Die Treppenstufen knarren leise, ohne daß du deinen Fuß auf sie setzest, das Geländer flieht, als wolle es deine Hand ins Bodenlose nachlocken. Gefahr ist um dich, Grauen, schreckliche Entscheidung. Du stehst, an die Tür gelehnt, und denkst an mich, mit aller Gewalt deines Willens denkst du an mich und willst meine Worte wieder hören. Aber sie sind nicht mehr zu hören. Und du fühlst, daß ich gelogen habe. Nicht an sich gelogen, sondern für dich gelogen, verstehst du? Ein Schwamm ist da und wischt über deine Tafel, und plötzlich ist alles fort, was ich gesagt habe, was der Pfarrer gesagt hat, die Schule, die Bücher. Eine armselige Kreidelüge hat dort gestanden und ist verschwunden, und du hältst den Griffel in der Hand und hast allein zu schreiben, ganz allein, denn nun, in der Stunde der Entscheidung, ist niemand da als dein Blut. Dein Blut diktiert, verstehst du? Dein Blut ganz allein. Eine schreckliche, unbekannte, aber erbarmungslose Macht, vor der alle Kreideweisheiten zerstieben wie Spreu vor dem Winde. Vielleicht stehst du eine Stunde allein mit deinem Blut, vielleicht bis zur Morgenröte, wie du sagtest. Aber die Treppe wärest du nicht hinaufgegangen, Johannes, verstehst du? Dein Blut hätte sich auf die unterste Stufe geworfen, und niemand kann in sein Blut treten, Johannes, niemand.«

»Aber sagen die Menschen nicht, daß das Blut uns treibe, solche Treppen hinauftreibe?«

»Ach, was sagen die Menschen alles, Johannes … Sehnsucht, Wünsche, Gier, Trieb, das nennen sie das Blut. Aber sie wissen nicht vom Geheimnis des Blutes, von dem Unsichtbaren und Schrecklichen und Heiligen, was hinter diesen Dingen wie hinter Spiegeln steht. Sie wissen nichts von der Notwendigkeit, Johannes, dem Gott aller Götter. Du aber müßtest davon schon etwas wissen, denn du hast eine Nacht auf jenem Stein gesessen und hättest wissen können, daß du dort sitzen mußtest, verstehst du, bis auf die Sekunde gezwungen, dort zu sitzen und auf die Morgenröte zu warten … Und es wird eine Nacht kommen, Johannes, wo du von jenem Stein aufstehen wirst, um in eine andre Morgenröte zu gehen …«

»So habe ich recht gehandelt, Herr Professor? Immer? Mein Leben lang?«

»Immer, Johannes, und dein Leben lang wirst du recht handeln. Aber du darfst nicht an das Recht denken, das die Gerichte verkünden oder die Kanzeln oder die Schuldirektoren. Du mußt an ein anderes Recht denken, an ein neues Recht, das doch so uralt ist … Sieh, wenn der Seidelbast blüht im Frühling, dann hat er recht, verstehst du? Und wenn der Habicht niederstößt und tötet, dann hat er recht, verstehst du? Und wenn Johannes vor der Türe umkehrt, dann hat er recht. Und wenn er morgen oder in drei Jahren nicht mehr umkehren wird, dann hat er ebenso recht, verstehst du das?«

»Vielleicht … es gibt nicht ein Recht wie ein Einmaleins?«

»Es gibt nur ein Recht des Blutes, nicht des Blutes, das die Menschen so nennen, das ist die Kommismoral. Sondern des Blutes, das vor Gott Blut ist, weil es Gottes Blut ist … Sieh, Percy würde zurückgekommen sein und gesagt haben: ›Er hat nicht geschworen, und es tut mir leid, daß ich es nicht ändern kann.‹ Und … Joseph, ja, Joseph würde zurückgekommen sein und gesagt haben: ›Er hat geschworen, und ich bitte um meinen Lohn.‹ Johannes aber kam zurück und sagte: ›Er hat geschworen, aber ich darf keinen Lohn haben.‹ Alle drei würden sie recht haben, und der Unterschied ist nur der, daß Percy das Blut eines Grafen hat, eines Menschen, der sein eignes Blut trinkt um der Wahrheit willen, um des Schildes willen sozusagen. Und daß Joseph das Blut eines Kommis hat. Und daß Johannes das Blut eines Dichters hat, eines Menschen, der sein Blut trinkt, damit ein andrer ruhig schlafen kann. Und da siehst du, daß es auf das Blut ankommt, nicht auf das Recht.«

»Aber Sie meinen nicht, daß man die Hände falten soll und darauf warten, was das Blut spricht? Das meinen Sie doch nicht?«

»Nein, Johannes, das meinen die Toren. Sieh, jede Träne, die du weinst, gegen dein Blut sozusagen, jede Sekunde, die du auf dem Stein gesessen hast, jede Sekunde zwischen dem ›Ich möchte‹ und ›Ich darf nicht‹, alles dieses, Johannes, ist Sache deines Blutes. Das Wichtige aber, ja das furchtbar Entscheidende ist, daß wir das nicht wissen, verstehst du? Es ist uns um Haaresbreite bestimmt, wie weit wir gehen können, aber es ist uns auch bestimmt, ewig und unerschütterlich zu glauben, daß wir bis an den Rand der Ewigkeit gehen können. Wir sind begrenzt, aber wir halten uns für grenzenlos. Wir glauben, die Hände falten zu können, aber das Blut zwingt uns, die Hände nicht zu falten, sondern sie zu ringen. Und wer sie faltet, tut es nicht, weil es ihm leichter erscheint und ihm so paßt, sondern weil sein Blut ihm befiehlt, sie zu falten. Was ist, ist gut. Vergiß das nicht, Johannes. Aber vergiß auch nicht, daß der Weg bis zu dem was ist, ein unabänderlich notwendiger Weg ist. Wir predigen das Schicksal, aber wir predigen nicht das blinde Schicksal, sondern das mit tausend unbestechlichen Augen.«

Plötzlich lächelte Johannes, ein unerwartetes, glückliches Lächeln. »Dann sind auch Sie, Herr Professor … auch Sie sind mein Schicksal, nicht wahr?«

»Ich bin so gut dein Schicksal, Johannes, wie du das meine bist, für eine genau abgegrenzte Zeit, für einen genau bestimmten Zweck. Für einen Ast an unsrem Baum, Johannes, verstehst du?«

»Und … auch sie, auch sie ist mein Schicksal, nicht wahr?«

»Du mußt wissen, Johannes, daß jeder Mensch an unsrem Schicksal webt, jedes Wort, ja jede Pflanze, die du siehst. Weißt du, was die Toren sagen? Sie sagen: ›Wenn ich diesen Menschen nicht getroffen hätte, wäre mein Schicksal anders geworden.‹ Man trifft immer die Menschen, Johannes, die das Blut zu treffen befiehlt. Denn die anderen trifft man eben nicht. Man trifft sie, wie man Leute in der Eisenbahn trifft, Hunderte, Tausende, aber unter ihnen ist der eine, der wartet und der erwartet wird. Es ist noch niemand aus seinem Schicksal herausgefallen, Johannes.«

»Sagen Sie mir noch eines, Herr Professor … glauben Sie, daß sie … daß sie ein schlechter Mensch ist?«

»Ach, Johannes, was ist schlecht? Ist der Seidelbast schlecht, der hier auf meinem Schreibtisch steht? Er ist giftig, aber ist giftig schlecht? Kann eine Frau, die liebt, schlecht sein? Eine Frau, die vorgibt zu lieben, kann unwahr sein. Aber schlecht? Sieh, die Menschen sagen, eine Frau habe ihren Mann zu lieben und wenn sie einen andren liebe, sei sie schlecht. Aber mir scheint, daß alle Liebe wie der Glanz einer Sonne ist, die Gott in der Hand hält. Sie löscht das Dunkle in einem Menschen aus, und aus der bittersten, ärmsten und schlechtesten Seele blüht die schönste Blume, die aus diesem Boden jemals wachsen kann. Wenn ein Mensch liebt, hängt Gott sein Bild in die Kammer seiner Seele. Erst die Menschen haben Menschliches aus diesen Dingen gemacht: Liebe, Schuld, Recht, Sünde. Aber das Blut weiß nur vom Blühen oder Schweigen … Grüble nicht zuviel über diese Dinge, sondern warte, bis man anklopft bei dir.«

»Und dann … dann soll ich öffnen?«

» Es wird öffnen, Johannes, nicht du.«

Dieses Gespräch, das Johannes das Schicksalsgespräch nannte, fand im Frühjahr des letzten Jahres statt, das er auf der Schule verbrachte. Er hatte Frau Lisa ein paarmal gesehen und war in ein Haus geflohen, damit sie ihn nicht sähe. Und er hatte eine Reihe von Nächten auf dem Stein im dunklen Torweg gesessen und gewartet, ob »es öffnen« werde. Und sonst war nichts geschehen.

Nur daß die Welt sich auf eine seltsame Weise verändert hatte. Da war die Schule und das kleine Zimmer über der Gärtnerei, der Karstenhof, die Bücher und die Flöte. Aber es waren nicht mehr dieselben Dinge. Es waren Gläser, in die man einen neuen Trank gegossen hatte. Die Stunden liefen mit der Sonne und den Sternen, aber wenn man sie anrührte, klang kein Echo der Zeit bedrückend oder hoffend aus ihnen wider, sondern Tränen tropften, oder flammende Wünsche brachen aus ihren Fugen, oder ein stilles Leuchten oder ein kaum merklicher Duft. Es war, als entkleide die Welt sich ihres Stofflichen und rücke dicht an das Herz heran. Es gab keinen Nadelwald und keinen Laubwald mehr, keinen dunklen oder sonnbeglänzten, keinen schweigenden oder rauschenden. Es gab nur einen seligen oder einen traurigen Wald, und es war das Herz, das ihn dazu machte. Die Objekte hörten gleichsam auf, ihr Insichselbstbestehen, ihre Klarheit, ihre eigenen Gesetze. Die Verzauberung der Dinge begann. Die Steine blühten, wo ihr Fuß gegangen war, die Luft tönte, der Wind war süß. Die Allmacht der Verwandlung floß berauschend in das eigene Blut.

Er wußte nicht, daß er seinem Schicksal entgegenreifte. Er fühlte, daß er sich entglitt, oder vielmehr, daß er seinem bisherigen Dasein entglitt. Aber er glaubte, daß es immer so gewesen sei und er sich dessen nur bewußter werde. Wenn er las, wenn er Verse schrieb, dachte oder sich der Stunde hingab, glaubte er, daß er der Herr dieser Stunden sei. Aber inzwischen gingen ungewußt die fremden Worte aus jenem dämmernden Zimmer über seine Seele, die Atemzüge, das Fremde und Süße der Augen, der Arme, der gefalteten Hände, die Erscheinung eines Menschen, des ersten Menschen, die erste Offenbarung der Ekstase, der Verheißung, der Erlösung.

Vielleicht wäre es ihm gut gewesen, er hätte früher geliebt, als Kind, als Sekundaner. Und es hätte die Leidenschaft sich auf ihn geworfen zu einer Zeit, wo schon im Kuß die Schauer des Todes erwachen, und dahinter ist nichts, was größer sein könnte. Aber er kannte keine Seligkeit der Zopfschleifen, der Tanzstunde, der Darbietung der ersten Rose. Das Schicksal warf ihn aus einem Garten in die Schlacht.

Frau Gina merkte es zuerst. Sie merkte es nicht so sehr aus seinem veränderten Verhältnis zu den Dingen als vielmehr aus der leisen, kaum wahrnehmbaren Wendung seines Gesichtes, wenn sie ihn küßte, aus der leisen aber verborgenen Aufmerksamkeit des Blickes, mit dem er sie schweigend betrachtete. Sie fühlte, daß nun die Zeit gekommen war, wo sie die Krone ablegen mußte für eine lange Strecke des Weges, die Krone des Einmaligen, nicht zu Vergleichenden. Wo sie aufhörte, zu sein wie Gott, aufhörte, allein ein ganzes Geschlecht darzustellen. Wo das Kind zum erstenmal ihre Hand ließ, um nach einer andern Hand zu greifen, und daß es lange dauern würde, bis der Ausgleich zwischen ihr und dem Geschlecht hergestellt war und alle Dinge wieder dort standen, wo sie im Strom des gereiften Blutes zu stehen hatten.

Sie dachte wieder an Bonekamp, lange Nächte hindurch, aber dann betete sie doch um nichts anderes, als daß ihr Kind mehr Glück haben möchte als die Karstentöchter, deren Zeichen es über dem Herzen trug.

Es kam Johannes nicht in den Sinn, den Tatsachen nachzuspüren, die in Zerrgiebels Brief angedeutet waren, es kam ihm nicht einmal in den Sinn, ihnen nachzudenken. Das Seiende war, in ihm schlug das Herz und liefen die Gedanken, und alles Vergangene war Zeit, die sich vertropft hatte, Gesetz, das sich erfüllt hatte für Menschen, die vergangen waren. Es war das Leben, wo er ein Mittel gewesen war, und nun war das Leben, wo er aufgehört hatte, ein Mittel zu sein. Er zweifelte nicht, er litt nicht Qualen der Eifersucht. Er war seines Schicksals gewiß, lange bevor es ihn erreichte.

Er wußte auch, weshalb er zögerte. Daß er sein Blut trank, damit sie ruhig schlafen konnte. Dies war es. Und ein leiser Schauer vor dem Mysterium der Hingabe. Welaruns Augen sahen ihm zu, die Schatten standen still, die Gräser bebten nicht, ja, der Herzschlag des Lebens setzte aus. Bis die ferne Stimme über die erstarrten Wipfel rufen würde. Und dann würde Gott sein oder der Tod, das Paradies oder das Land Ohneangst.

Der Sommer ging heiß, mit schweren, bläulichen Gewittern durch das Jahr. An den Rändern der Stadt stand der Duft der Wiesen und dann der des Kornes wie eine körperhafte Mauer, und aus Herrn Pinnows Gärtnerei brannte eine betäubende Flamme des Duftes und der Verzehrung. Wenn der Tau vom Monde fiel, schien die Flamme bis unter die Sterne zu reichen, und die schwere Sättigung ihrer Pracht drang durch die geöffneten Fenster in die kleine Kammer, in der Johannes in schweren Träumen lag, reifend und sich bereitend wie die Felder vor den Toren.

Und dann kam jener Sonnabend im August, an dem Johannes mittags mit Klaus auf dem Bahnhof stand, um zum Karstenhof zu fahren. Er legte seine Büchertasche auf den kleinen Tisch vor dem Fahrkartenschalter und zählte in der linken Hand das Geld ab. Er dachte nichts, so sehr, daß er den Betrag noch einmal Stück für Stück in die andre Hand nahm, weil er vergessen hatte, wieviel es war. Aber in diesem Augenblick des Versinkens in ein bewußtloses Leben, als er die Augen in das Gesicht des Beamten hob, das sich erwartend zu ihm beugte, schob sich zwischen ihn und jenes andre bekannte, alltägliche und müde Gesicht die klare, unmißverständliche, ganz wirkliche Erscheinung einer Hand. Sie erschien in dem schmalen Raum zwischen den beiden Augenpaaren, nicht von irgendeiner Richtung her, sondern gleichsam aus sich selbst heraus, aus dem Nichts, wie ein Lichtbild im Entwickler auf einer durchsichtigen Platte. Es war die Hand einer Frau, die innere Fläche, so deutlich, daß die Schicksalslinien bis in ihre feinsten Verästelungen sichtbar waren. Sie war geöffnet, in einer gleichsam erwartenden Haltung, und Sehnsucht wie Glück lagen in der schweigenden Gebärde mit unfehlbarer Gewißheit ausgedrückt. Aber dann, während sie in ihrem seltsamen Schein plötzlich zu verblassen begann, schlossen die Finger sich langsam zu, als legten sie sich um die köstliche Heimlichkeit eines Geschenkes, und als es verborgen war, erlosch der letzte Schein, und nichts war da als der Schrecken des leeren Raumes.

»Was ist denn?« sagte der Beamte. »Ist Ihnen schlecht? Das kommt von der Hitze.«

Aber Johannes hob nur abwehrend die Hand und drehte sich um. Der Schalterraum war leer, die Steinfliesen lagen wie sonst, die Plakate schrien von den grauen Wänden. Aber es war kühler geworden, als habe die Sonne sich verdunkelt, und die Windfangtüren schienen leise nachzubeben, als sei soeben jemand durch sie hindurchgeschritten, das Unsichtbare, das schweigend an das Kommende gemahnt hatte.

Er war so bleich, daß Klaus ihn halten wollte. Aber Johannes sah durch ihn hindurch. »Hast du nichts gesehen?« fragte er leise.

Die großen Augen öffneten sich noch weiter. »Jo … johannes?«

»War keiner da? Hinter mir? Ist niemand hinausgegangen?«

»Johannes … was ist dir?«

»Natürlich … nichts war da … ich habe ein bißchen geträumt … geh … ja, geh nach dem Karstenhof, Klaus, gleich, und sage, daß ich nicht komme … Ich hätte … nun, irgend etwas … sag, was dir einfällt, aber nichts hiervon, hörst du?«

Klaus sah verstört aus und nickte. »Vielleicht bist du krank, Johannes?«

»Ja … wahrscheinlich … die Hitze, sagte der Mann … nun leb wohl …«

Aber nach ein paar Schritten kehrte er noch einmal um und sah in das blasse und erschreckte Gesicht. »Kleiner Klaus«, sagte er zärtlich wie ein Abschiednehmender. »Kleiner Klaus …«

Dann wehten die Windfangtüren hinter ihm auf und zu. Da war die Stadt, sonnenbeglänzt, ausgestorben in der Hitze des Mittags. Ein weißblauer Himmel über den Dächern, die zu schmelzen schienen, und in der Lücke neben dem Kirchturm die dunkelblaue Wolkenwand, fahl verhängt, hinter der die kommenden Blitze schliefen. ›Was für eine Stadt!‹ dachte Johannes. ›Nur gebaut, damit sie hier ein paar Jahre wohnen und mein Schicksal werden kann … und dann wird sie verfallen, wilden Wein um die Trümmer, Tiere der Wildnis auf dem Gras der Straßen … heute also wird es sein, um eine Stunde dieses Tages oder dieser Nacht … es wird öffnen, so ist es also …‹

Langsam ging er nach der Gärtnerei. Er ging durch die Straße mit dem Torweg und sah ruhig an ihrem Hause empor. Die Vorhänge waren geschlossen, und keine Bewegung lief über die graue Wand. Da wußte er, daß er hier nicht zu warten hatte, daß es nicht hier sein sollte. Und er ging nach dem See hinunter, wo in der Ferne die Luft über dem Brand von Wasser und Erde flimmerte.

Das Gesicht der Mittagsstunde bebte wohl in ihm nach. Es war, als schwimme er um die Abendzeit auf den Waldsee hinter der Kiesgrube hinaus, dessen Wasser so schwarz war und der mitunter mit einer gleitenden Ranke kühl und mahnend an die schauernde Haut rührte. Das Ufer schloß sich zu gleich einer Tür, die sich niemals mehr öffnen würde, und der scheue Blick, der nach der Tiefe tastete, sah die Schwärze eines Abgrundes, in der das Abendlicht vertropfte wie sinkendes Gold.

So war es auch um diese Stunde. Erklärungen? Johannes suchte nicht nach ihnen. Ob es ein unbekanntes Erbe des Geschlechtes war, aus rätselhafter Tiefe nach langem Schweigen wieder emportauchend, ob eine schwüle Frucht brennender Monate: er forschte nicht danach. Er fühlte kein Grauen, nicht einmal Furcht. Er ging in einer warmen Sicherheit dahin, quälender Zweifel froh enthoben, eigener Verantwortung fast befreit. Denn es hatte gerufen. Eine Hand hatte sich vor die Stunde geschoben, hatte seinen Fuß angehalten, der aus dem Schicksal hatte gehen wollen, hatte ihn gewendet in das ihm Zugemessene und hatte sich leise geschlossen über der kommenden Frucht.

Und es war ihre Hand gewesen.

Er hatte vergessen, daß das Haus leer und verschlossen war, daß Herr und Frau Pinnow zu einer Hochzeit gefahren waren. Er erinnerte sich erst, als die Tür sich nicht öffnete. Von neuem floß ein leiser Schauer zwischen seinen Schulterblättern abwärts, und ein traumhaftes Lächeln erschien um seinen Mund und blieb dort von nun an bis zum Abend. Er holte den Schlüssel, der unter der Treppe zum Gewächshaus lag, und ging in seine Kammer hinauf.

Das grüne Licht der Weinranken stand kühl und still im schweigenden Raum. Der Garten brannte, und in der Ferne, hinter dem See, wo die drohende Wand über dem Walde lag, war er wieder erschienen, der Große, Schweigende, der gestorben war oder ihn verstoßen hatte. Welarun stand über dem fahlen Wipfelrand, die Lippen leise geöffnet, und um die heilige Stunde würde sein erlösender Ruf über das Land kommen. Die Schatten würden wandern, das Gras im Sande sich biegen, und aller Herzschlag aller Kreatur würde wieder einmünden in den großen Strom der Ewigkeit, der unter den Wipfeln raunte, wo das ewige Leben sich gebar.

Noch einmal stieg Johannes die Treppe hinunter zu der Stelle, wo die Rosen blühten, und wusch seinen Körper zu dem Opfer des Tages. Dann häufte er brennende Blüten in seinen Arm, soviel er tragen konnte, und erkannte die Veränderung seines Lebens, weil er es zum ersten Male tat und ohne Schmerzen tat.

Und dann stellte er sie in seine Kammer, daß das grüne Licht nun von dem Glühen brennend erfüllt war. Und dann legte er sich auf sein Bett, und faltete die Hände über der ruhigen Brust, und wartete auf seine Stunde.

Er sprach zu Frau Lisas Gesicht, Stunde um Stunde. Er sah, daß das Licht in der Kammer sich veränderte, fahler, aber auch auf eine geheimnisvolle Art leuchtender wurde. Er fühlte, daß die Wolke über dem Walde stieg, aber er wußte es nicht. Das Gesicht aber blieb unverändert und klar, als leuchte es von einem inneren Licht, das sich verstärke, je mehr das äußere erlösche. Er konnte nicht sagen oder denken, was das Gesicht ausdrückte. Er fühlte nur, daß es befreit war von dem, was es sonst erfüllt hatte, von Angst, Flehen, Verheißung, Schmerz. Es war ein stilles Gesicht geworden, und ein warmer Friede floß aus seinem Schimmer in den dunkelnden Raum.

Johannes war es, als sehe er dies Gesicht nun zum erstenmal, wie man ein Geschmeide sieht, das man von der Erde und dem Rost seines Wartens befreit hat. Er sah es nun so deutlich wie die Hand in der Mittagsstunde, jede ausklingende Linie, den feuchten Glanz der Augen, die weiche Blüte der Lippen. Er nahm es in sich hinein, bevor es Wirklichkeit wurde, er erfüllte sich mit ihm, ganz und gar, und es war, als ob der Kelch seiner Seele sich lautlos neige unter der Schwere des Tautropfens, der schweigend in die Erfüllung wuchs.

Und dann ging unten die Tür, und die Glocke rief durch das leere Haus. Die Schwingungen kamen die Treppe hinauf und stießen in das stille Licht, daß es mit blühenden Kreisen an die Wände schlug, leise wie ein kaum bewegtes Wasser.

Johannes saß aufrecht auf seinem Bett. Eine leise Dämmerung stand im Raum, aber es war die Dämmerung des Gewitters, nicht des Abends. Er lauschte in das Schweigen hinunter, von dessen Rand die letzten Glockenschwingungen flohen. Er hatte keinen Zweifel, keine Ungewißheit. Er fühlte den Tautropfen in seiner Seele, wie er langsam zum Rande des Kelches rollte und ihn erdwärts beugte. Das Gesicht war verschwunden.

Und dann hörte er ihren Tritt auf der Treppe. Ja, er hörte das leise Rauschen ihres Kleides und wußte, daß es ein weißes Kleid sein würde. Er beugte sich ein wenig vor, die Hände zwischen den Knien gefaltet, und sah auf die Türe. Es fror ihn plötzlich, so daß er zitterte.

Sie trat sehr leise ein und blieb an der Türe stehen. Eine weiche Gebärde des Bittens war noch um sie und ein letztes Atmen vor der Gewißheit. Ihre rechte Hand war geöffnet, in einer gleichsam erwartenden Haltung, und in dieser Hand war das Kommende schon beschlossen, bevor ein Wort in das Schweigen gestürzt war.

Ein blaues Licht flammte über den fernen Wald und stand sekundenlang über dem See, über den blühenden Beeten, in der Kammer, die nun wie von Glas erschien. Die Blumen im Raum flammten auf, die Wände, das Kleid, die Gesichter. Es war ein durchsichtiges Licht, und es schien durch die Körper hindurch. Als es erlosch, blieb eine leise Nacktheit zurück, wie von gefallenem Gewand, eine zarte, geheimnisvolle Nacktheit, in der die Blumen betäubender dufteten und in der die Seelen aus den Körpern traten, weil ihnen nun keine Verhüllung mehr angemessen war unter diesem unvermuteten Sturz eines fremden Lichtes.

Als es von neuem aufleuchtete, länger und befehlender gleichsam, sah Johannes, daß die Hand sich geschlossen hatte.

Er sank vornüber wie ein gemähter Halm, bis er auf den Knien lag und die gefalteten Hände den Boden berührten. Sein Gesicht war zu ihr aufgehoben, und als ihr Kleid ihn berührte, legte er nur die Arme um ihre Knie und drückte sein Antlitz in ihren Schoß.

»Du kannst es nun tun«, flüsterte er. »Alles … alles, was du willst …«

Sie vergrub ihre Hände in seinem Haar und beugte seinen Kopf zurück, bis sie seine geschlossenen Augen sah.

»Ich war dort, Johannes«, sagte sie. »Heute war ich dort. Ich weiß nun alles …«

Sie fühlte an seinen Schultern, daß er verstand.

»Du solltest … ruhig schlafen …«

Sie lachte. Ein leises, glückliches Lachen wie aus einer Vogelkehle.

»Ich werde ruhig schlafen, Johannes … an deinem Herzen … horch, wie es ferne grollt … welch eine verzauberte Nacht …«

»Welarun ruft«, flüsterte er, die Augen öffnend. Sie sind ganz gefüllt mit blauem Licht, wie Blumenkelche oder wie Waldseen, die die Flamme durchleuchtet bis zum Grund.

»Du brennst, Johannes«, sagte sie, sich niederbeugend.

Er lauscht ihren Worten nach bis zum nächsten Leuchten. Sie sieht das traumhafte Lächeln um seinen schmerzlichen Mund und stürzt sich hinein wie in einen Abgrund der Erlösung. Ihre Brust bedrängt ihn. Er streift das Kleid von ihren Schultern, und als der Raum wie blaues Glas um sie steht, umfangen seine Augen die Offenbarung Gottes. Er drückt seinen Mund in die Wärme des anderen Lebens. Er stürzt aus sich heraus, aus der Welt, aus seinem Blut, in ein anderes Blut, das nach dem seinen ruft, und während sie sein Antlitz an sich drückt, während sie wünscht, daß ihre Brust sich öffne, um ihn zu empfangen, fühlt sie, daß aus seiner Erschütterung Tränen stürzen, wirft sich auf die Knie zu ihm nieder, tastet über sein Haar, sein Gesicht, spricht törichte Worte des Trostes, des Erbarmens, der Hingabe und weiß, daß er weint. Weiß nicht, daß es die ersten Tränen seines Lebens sind, die Tränen eines Sterbenden oder Wiedergeborenen, fühlt die Erschütterung eines Kindes, das in ihren Armen stirbt und tastet mit den zitternden Händen erster Hingabe an ihrem Kleid, bis er sich in ihren unverhüllten Gliedern verbirgt, damit er nicht sterbe, bevor er sie umfängt und sich erlöse vor seinem Tode.

Und dann fällt das blaue Licht über ihren Tod, und ihre Hände streicheln über seinen geopferten Leib, während der Regen brausend über die Erde geht und im fernen Wald der Schrei des Donners in die Wipfel stürzt, daß die Wände der Kammer leise beben. Da zieht sie die weiße Decke leise über ihrer Körper Enthüllung, und die Blitze tasten nur matt in das Dunkel, in dem sie leise atmen wie auf den Schattenwiesen einer versunkenen Welt.

Als die Mitternacht lange vorüber ist, sagt sie, daß sie gehen müsse. Sie muß behutsam zu ihm sprechen, und ihre Hände dürfen nicht zu weit von ihm fortgehen, denn sein Gesicht ist von einer eigentümlichen Starrheit, als wollte er sich in einen Abgrund stürzen, weil das Leben nun aufgehört habe, der Mühe wert zu sein. Aber dann steht er gehorsam am Fenster, während sie das Kleid überstreift. Es ist ganz dunkel in der kleinen Kammer, und nur ein trauriger Schein des späten Mondes zittert in den Weinranken, die im leisen Wind der Frühe sich bewegen. Sie fragt, ob es noch regne, aber er wendet sich mit einem erstarrten Lächeln. »Es wird niemals mehr regnen«, sagte er leise. »Es kann ja niemals mehr regnen.« »Johannes!« »Weißt du denn nicht, daß Gott eine neue Erde geschaffen hat in dieser Nacht? Wie sollte es regnen auf ihr? Sterne könnte es regnen, aber nichts anderes …« Auch seine Stimme ist anders geworden, eine Traumstimme, die am Tage stumm sein wird, wie die Stimme eines nächtlichen Vogels, die nur der Mond erweckt und der Duft der Nachtgewächse.

Die Erschütterung über seine Verwandlung überfällt sie so, daß sie an ihm niederkniet und seine herabhängenden Hände küßt. Sie ist heilig geworden in dieser Nacht durch die Liebe eines Kindes. Alle bisherige Liebe ist ausgelöscht, ein dumpfer Traum, und sie ist nichts weiter als die Schale für ein heiliges Blut.

»Wie kann es sein, daß du fortgehst?« fragt er, und seine Augen sind wieder von dem Licht der ersten Stunde erfüllt.

»Soll ich denn bleiben, Johannes?«

»Wie kann es sein?« wiederholt er. »Soll denn die Stadt stehen wie zuvor? Dies Haus? Diese Kammer? Und mein Herz soll schlagen, im Leeren?«

»Johannes!«

»Ist der Vorhang nicht zerrissen?« fragt er mit der eintönigen Stimme eines Fieberkranken. »In zwei Teile?«

Sie küßt schweigend seine Knie.

»Niemals mehr wird es ein Vorhang sein …«, sagt er nach einer Weile ganz leise.

Dann treten sie endlich auf die feuchte Straße hinaus. Sie nimmt seinen Arm und drückt ihn an ihre Brust, daß er ganz durchzittert wird von ihrem Herzschlag. Über ihnen wälzen sich lautlos die gespaltenen Wolkengebirge des versunkenen Gewitters, und die schwere Luft reifender Ernte liegt schmerzlich im gereinigten Raum. Die Sterne sind fort, und alle Dinge sind nahe zusammengerückt in einer verlassenen Einsamkeit. Mitunter fällt ein schwerer Tropfen aus dem Laub der Bäume auf ihre Stirn, und sie schrecken zusammen wie unter dem Wurf eines nächtlichen Steines. Alle Türen sind geschlossen, alle Fenster erstorben, und der Schlag der Kirchenuhr fällt in das aufschreckende Schweigen wie ein nachfallender Stein in die Verschüttung eines Brunnens. Und dann ist nichts mehr als die leise Verstohlenheit ihrer Füße auf der leeren Straße.

Es ist seltsam, aber Lisa ist an seinem Herzen ein Kind geworden. Sie hat vergessen, was an Rausch, an sinnlicher Freude, an Wissen in ihrem Leben gewesen ist. Sie fürchtet sich, und wie er ist sie versucht, wie im Sündenfall zu gehen. Sie denkt, daß Gott an der nächsten Ecke stehen und sie ansehen werde, als sei der Duft des Apfels noch auf ihren Lippen. Sie weiß, daß dies töricht ist und daß der neue Tag alles zurechtstellen wird. Nicht in das Gewöhnliche, das Bisherige, aber in das Wirkliche, in eine unerhörte Süße der Wirklichkeit. Aber jetzt fürchtet sie sich. Sie fühlt seine Tränen noch immer auf ihrer Haut, und sie weiß, daß sie Großes getan hat, so Großes, daß ihr davor schwindelt. Es ist ihr, als habe sie einen Toten erweckt, und sie bebt zurück vor dem Ungeheuren ihrer Macht. Sie ist eingebrochen in ein fremdes Reich, und das Reich ist zu ihren Füßen gestürzt.

»Ich werde meine Bibel verbrennen«, sagt Johannes, und nun weiß sie, daß er dasselbe denkt. Aber sie weiß nun auch, daß er sich nicht fürchtet. Er ist ein Kind, aber in der Hingabe ist sie ihm untertan geworden, und dies Bewußtsein nimmt die Angst von ihrer Stirn. Sie hat nicht an einem Kind gesündigt, sie ist in der Heiligkeit der Natur geblieben, und sie legt ihre Wange demütig an seine Schulter und fürchtet sich nun nicht mehr vor den Augen Gottes.

Als sie die Haustür aufgeschlossen hat, küßt sie ihn noch einmal. Dann bleibt er am Fuß der Treppe stehen, die Hände ein wenig erhoben und mit den Innenflächen zu ihr gewendet. Sie sind leise geöffnet, und sie fühlt in einem Aufrauschen des Glückes, daß er darauf wartet, sein Blut über ihre Schwelle vergießen zu dürfen.

»Heute …«, sagt sie leise. Und dann schließt sich die Tür.

Johannes geht sehr langsam denselben Weg zurück. Die Tropfen fallen in sein Haar, und er sieht, daß ein paar blasse Sterne dort stehen, wo der Wald sein muß. Er denkt flüchtig daran, ob die Sonne noch einmal aufgehen werde, aber der Gedanke fällt von ihm ab wie die Regentropfen von seiner Stirn. Er versucht, ein Bewußtsein seiner selbst zurückzugewinnen, nicht seines Körpers, seines Dahinschreitens, sondern seines inneren Lebens. Er versucht, den Blick gleichsam auf die Achse seines Daseins zu richten, aber vor seinen Augen kreisen nur die Speichen des rollenden Rades, schimmernd, gleitend, sich verlierend. Und sie kreisen in einem fremdartigen Duft, der wie ein zweites Leben ihn wandernd umhüllt. Die Brücke schleudert sich unter seinen Füßen empor und wirft ihn unter die Sterne. Kein Geländer ist da, und er hört den Besitz seines bisherigen Lebens wie Steine in einen Abgrund fallen.

Er weiß nicht, ob er glücklich ist. Er ist müde, als habe er sein Blut verströmt. Ein lächelndes Verströmen, das in ein anderes Blut gemündet hat. Er hat keinen Wein getrunken, aber es rauscht vor seinen Augen, als fliege er in das Antlitz eines warmen Windes. Und nun weiß er, daß er die Seele eines Menschen getrunken hat. Es war nicht nur der Atem, den er getrunken hat. Es war nicht nur der Leib, den er umfangen hat. War es nicht die Welt, das All, die Ewigkeit, der Tod?

Er lehnt seine Wange an die feuchte Rinde eines Baumes und schließt die Augen. Er erschauert in jeder Faser seines Leibes, und er möchte niederknieen, um die Erde zu küssen. »Weißt du es?« fragt er in die feuchte Krone hinauf. »Weshalb blühst du denn nicht, wenn du es weißt? Aber du weißt es nicht, denn deine Zeit ist vergangen. Herbst kommt draußen, aber ich habe die Zeit hinter mich geworfen …«

Er sieht die Häuser der Seestraße, Särge des Lebens, in denen die Toten schlafen. Im Vorübergehen berührt er die Mauern, die Türen, die Zäune mit der Hand. »Ihr Armen«, sagt er leise. »Ach, ihr Armen …«

Er kniet vor seinem Bett und legt die Stirn in die noch warmen Kissen. »Hier starb das Kind Johannes«, sagt er laut. Aber die Worte gehen nicht fort wie sonst, in das Versinkende des Raumes oder der Zeit. Sie bleiben da, ein leuchtender Kreis um ein heiliges Bild. Sie schwingen wie eine gestrichene Saite, dunkel, aber mit einer blühenden Süße gefüllt. Man kann ihr Leuchten sehen, man kann sie atmen, und es ist, als wollten sie das bedrängte Herz zersprengen. ›Man müßte sich die Adern öffnen‹, denkt Johannes, ›denn so kann man nicht leben. Man ist zuviel, man muß weniger werden. Ströme muß man aussenden wie ein Gebirge, Regen wie eine Wolke, Rauschen wie ein blühender Wald …‹

Er steht auf und sieht sich in der dämmernden Kammer um. Die schreckliche Begrenzung überfällt ihn. Des Raumes, des Körpers, der Stunde, der zwecklosen Einsamkeit. Er braucht Sterne und Wind, Echo und Wege, die hinter den Horizont fallen. Er steckt die Flöte zu sich und verschließt das Haus. Die Pfirsiche duften, als er den Schlüssel unter die Treppe legt. Er pflückt aus den Spalieren, soviel er erreichen kann. Sie scheinen ihm die einzige Speise, die man essen darf, ohne die Lippen zu entheiligen.

Dann geht er dem Walde zu. Im Osten steht ein weißes Tor über der Welt, und die Sterne verblassen. Über den Weizenfeldern liegt ein dünner Nebel, und das große Schweigen der Frühe baut sich wie ein Dom zu unsichtbaren Gewölben hinauf.

Johannes singt. Es ist ein leiser, wortloser Gesang, der von den Wölbungen widerklingt. Es ist, als ob das Blut singe, nicht der Mund. Aber der Gesang geht weit über die Erde, mit der schönen Furchtlosigkeit eines Priesters, der in seinem Heiligtum singt. Er wird stärker und wächst an seiner eigenen Seligkeit. Er erweckt die Felder und einen ersten fernen Vogelruf, ein erstes Echo und eine erste Antwort Gottes. Er reicht bis an das weiße Tor im Osten und reißt die Flügel weiter auf. Er entzündet ein rotes Licht über dem Altar der Frühe. Er ist wie ein Hymnus und ist wie ein Tanz. Er ist der Wächter im Schlafenden, der Rufer im Schweigenden. Er verkündet das Leben, die Blüte, den neuen Tag. Er ist die Heimkehr in das Heiligtum. Er ruft nach Welarun, dem Gott der Kindheit, und als er den Wald erreicht, kommt über die Wipfel der Gegenruf. Vielleicht ist es ein Tier, vielleicht ein Mensch, vielleicht ein Menschenhaupt über verzaubertem Leib. Wie ein Speer schießt es auf, über die Wipfel hinweg, und taucht wieder hinein, durch rauschendes Geäst, in der Erde Grund, wo es nachbebend erstirbt.

Johannes sitzt am Waldrand und spielt die Flöte. Die Erde erwacht, und das Tor im Osten brennt. Lerchen heben sich aus dem feuchten Gras und steigen hinauf in das rote Licht. Das Tier des Waldes kehrt von den Feldern zurück, und aus dem Nebel bricht blau das Gewölbe des Tages.

Johannes steht auf und legt die Kleider ab. Sein Antlitz leuchtet wie das Antlitz eines jungen Propheten. Er weiß nichts von sich. Er hat das Gewand der Menschen abgetan und wartet auf Gott. Er hebt die Flöte in das rote Licht, das plötzlich aus allen Grüften stürzt. Er wird Flügel haben und sich aufheben über die Gräber hinaus. Wie der Engel des Jüngsten Tages wird er kreisen über Land und Meer, und der Begrabene wird auferstehen unter seinem Flug.

Die Wipfel brennen über ihm, die Stämme, das Gebüsch. Das Licht, entfesselt, bricht über die erglühende Welt. Er hebt die Stirn und fühlt den ersten Glanz. Und nun erfüllt es seine Augen und ist in seinem Blut. Das Lied bricht plötzlich ab, und er hebt die Arme auf, in die Sonne hinein, und seine Hände trinken das leuchtende Licht.

So bleibt er, bis seine Füße in der Sonne sind.

Und noch immer nicht weiß er, wer er ist. Denn das Kind ist tot, und der Auferstandene ist namenlos.


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