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6

Drei Jahre blieb der kleine Johannes zu den Füßen des heiligen Berges. Er nahm zu an Alter, Weisheit und Verstand, und Bonekamp sagte, daß er einmal ein »Großer vor dem Herrn« sein werde. Aber Bonekamp war ein Mann mit einem vertauschten Hut, der keine Disziplin halten konnte und dessen Urteile von allen Leuten mit Welterfahrung belächelt wurden. Knurrhahn sagte, daß er eine »tückische Kanaille« sei, die am Galgen oder im Irrenhaus enden werde. »Kleiner Johannes«, sagte seine Frau, »es wird die Zeit kommen, wo du nur noch Pantoffeln tragen wirst, und für dich wird die Zeit sehr bald kommen.« – »Schreckliche Dinge kannst du sagen, Waldläufer«, meinte der Schwarzbart, »gleich zum Druckenlassen. Paß auf, du wirst ein Dichter werden und ohne Hut durch den Wald gehen, und ich werde noch einmal meine Pfeife zerrauchen über deinen Versen. Soviel Sorgen muß man um dich haben …« – »Idiot«, erklärte Joseph mit sachlicher Kürze, und der Bahnmeistersohn, dessen trauriger Kopf noch größer geworden war, konnte stundenlang schweigend in das Antlitz des kleinen Johannes starren und mit einer ihm ganz fremden Entrücktheit sagen: »Ich bin zu früh geboren, Johannes, das weißt du. Aber ich denke, du bist überhaupt nicht geboren. Du bist ein Heiliger.« Die anderen Großen seiner kleinen Welt, der Großvater, der Wassermann, König David, sagten nichts. Es schien, als hingen ihre Augen, sich im Schatten verbergend, mit einem leisen Erschrecken an dem jungen Gesicht mit der seltsamen Schmerzenslinie um den verschlossenen Mund und den zarten Schläfen, in denen die blauen Adern schimmerten und die nur wie eine dünne Haut waren, über verletzlicher Tiefe gespannt.

Auch Gina sagte nichts. Drei Jahre lang stand sie jeden Morgen an der Gartentür und sah ihm nach, wie er langsam, ein wenig gebeugt, den Weg zur Schule ging. Der Tornister schien viel zu schwer für seine schmale Gestalt, und es war ihr, als sei es eine Sünde, ein Kind so in das Leben hinauszuschicken, seit Christus unter dem Kreuz zusammengebrochen war, als er zur Schädelstätte ging. Und drei Jahre lang stand sie an der Gartentür und sah ihm entgegen, wenn er wiederkam. Sie fragte nichts, und er erzählte wenig. Aber wenn er um die Abendzeit neben ihr saß und ganz leise ihre Hand nahm, wußte sie, daß es schwer gewesen war, und sie streichelte leise über seine Stirn zwischen den Augenbrauen, obwohl sie nun wußte, daß die Zerrgiebelfalte nicht mehr erscheinen würde. Sie wußte noch immer nicht, was Gott mit diesem Kinde vorhabe. Sie wußte nur, daß es sich einmal von ihr lösen würde, um einen einsamen Weg zu gehen, und daß sie den Becher seines Lebens mit Liebe erfüllen müsse, solange es Zeit sei. Die Unerfülltheit ihres Frauentums gab dieser Liebe eine schmerzliche Inbrunst, wie sie ihrem Antlitz jene starre Schönheit verlieh, die über dem Insichverglühen der Leidenschaft sich langsam breitet.

Johannes selbst sagte nichts. Er ging aus der Jahreszeit in die Jahreszeit, aus einer Klasse in die andre, aus dem Wachsein in den Schlaf, aus einer Station in die nächste. Er fuhr in einer Eisenbahn, wie der Großvater sie ihm gebaut hatte. Es saßen Leute bei ihm, die mit ihm sprachen. Sie stiegen aus, und andre sprachen mit ihm, manche böse, manche gut. Die Landschaft wechselte unter Sonne und Regen, Wälder, Felder, Moore, Sand. Aber die Erde blieb unter sich veränderndem Kleid, die Schienen blieben, ihr Abstand, ihre Endlosigkeit, das Dröhnen der Räder, der Rhythmus der Bewegung. Es öffnete sich Neues vor ihm, aber die Öffnung war nur eine Entfaltung. Es war ihm, als trüge er die ganze Welt in ein großes Haus und mitunter gäbe ihm jemand ein Licht in die Hand und bäte ihn, einen bisher verschlossenen Raum zu betrachten. Er tat es, sah Bilder und Dinge, Menschen und ihre Gebärden, und dann war es wieder gut. Es gab Angst, aber die Ängste dieser drei Jahre waren gleichsam nur Variationen seiner Urangst, die am Anfang seines Bewußtseins stand. Es gab Spannung, Erfülltheit und Hingabe, gab Trauer und Müdigkeit. Aber es waren Variationen. Es war wie seine Flöte. Er wußte, wieviel Töne sie hatte, kannte ihre Klangfarbe, ihre Möglichkeiten. Die Melodien waren unerschöpflich, aber das andre war begrenzt. Das Holz griff sich ab, die Klappen wurden lose, und einmal würde es zu Ende mit dieser Flöte sein. Sie hatte gespielt, und es war gut so. Es wurden neue Flöten gemacht, neue Melodien gefunden, aber man konnte nicht mit einem Bogen über sie streichen oder einen Baum mit ihr absägen.

Es war eine sehr frühe Erkenntnis in allen diesen Dingen, und sie gab seinem Sein jene schmerzliche Getragenheit, die den Kindern eignet, die um schwere Geheimnisse wissen. Jenes leise Zerbröckeln der Hoffnung, der Freude, der Sorglosigkeit, und den schweren Ernst der Kranken, die um ihren Tod, der Tiere, die um ihr Gitter, der Soldaten, die um ihr Schicksal wissen. Was ihn erhob über die anderen, selbst über die Erwachsenen seiner Welt, war dies stille Wissen um die Unabänderlichkeit seines Lebens, das stille Sichbeugen über eine Pflanze, die sich erschloß, ohne Hast, ohne Willkür, und das leise Zittern, mit dem jeder Tag sich umschlug wie das Blatt eines Buches. Das Buch war fertig, unabänderlich fertig, und ob der Hirtenknabe eine Krone tragen würde oder ein Bettlerkleid, war lange entschieden, bevor es der Leser wußte.

Knurrhahn trug die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel vor. Er trug sie so drohend und sachlich vor wie jeden andern Teil des Pensums, und das Wort des Heilandskindes: »Wisset ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?« klang wie die Erwiderung auf eine Beleidigung, die man dem Hauptlehrer Knurrhahn zugefügt hatte. Aber in das kurze Schweigen, das der Geschichte folgte, sagte Johannes deutlich vernehmbar: »Das ist gewißlich wahr.« Zu Hause hatte er hundertmal in ein Heft zu schreiben: »Ich habe im Unterricht die Schnauze zu halten.« Er schrieb es sauber und gleichmäßig in seiner kleinen, viel zu alten Handschrift hin, und darüber setzte er die Überschrift »Der zwölfjährige Jesus im Tempel«. Gina sah es und hörte seinen Bericht, den er ungefragt erstattete. »Weshalb schreibst du das darüber?« fragte sie leise. Seine Augen umfingen noch einmal das Bild der ersten Seite. Dann richteten sie sich in die Ferne, wie sie gerne taten, wenn er etwas bedachte, und dann sagte er still: »Vielleicht sieht er, wie weit Jesus ist …«

›Kleiner Johannes‹, dachte Gina, die Hand wie unabsichtlich auf seinen Scheitel legend, ›werden sie dich kreuzigen?‹

Von den Menschen, die auf der Fahrt dieser drei Jahre in Johannes' Abteil stiegen, war Frau Knurrhahn eine der ersten. Es mochte daran liegen, daß er, seit er zum erstenmal in einer Pause ihr Tiefseegesicht am Küchenfenster erblickt hatte, seine Augen nicht mehr von jener Stelle abwenden konnte, als wolle ihm jemand aus einem Kerker eine heimliche Botschaft sagen. Ein paar Wochen blieb es bei diesem Verkehr, der etwas unheimlich Schweigendes hatte, das Johannes seltsam erregte. Man rief nach ihm, und er wußte nicht, ob er folgen sollte. ›Vielleicht ist sie angebunden‹, dachte er, ›oder sie steckt in einem Eisen und er hat die Kette an einem Ring im Keller festgemacht … Ich müßte hingehen, aber vielleicht will sie nur, daß ich ihr die Kartoffeln schäle …‹

Aber eines Tages erschien neben dem Gesicht eine Hand, und es war kein Zweifel, daß die Hand winkte. Es war eine bittende Bewegung wie die eines ängstlichen Tieres, und Johann ging ohne Zögern durch die Gartentür und hinter den Stachelbeerbüschen und Bienenkörben in die Küche. Sie stand noch am Fenster, und es sah aus, als werde sie nur von ihren Kleidern mühsam zusammengehalten und müsse beim ersten Schritt zu einem Häufchen zerfallen. Aber dann bewegte sie sich doch auf ihren lautlosen Füßen, die ihrer Gestalt etwas ängstlich Gleitendes gaben und das Starre und Willenlose von Schachfiguren, die ein grünes Samtpolster unter ihrem Fuß haben und die man auf einem spiegelnden Brett hin und her schiebt, aber nur auf den ihnen zustehenden Feldern.

Johannes dachte, daß sie ein Makigesicht habe, das Gesicht jener traurigen Affen, die er in einem Buch gesehen hatte, auf einem phantastischen Zweige hockend und durch den Beschauer in eine unendliche Vergangenheit blickend, und deren Menschenähnlichkeit für ihn so ergreifend war, weil Gott am sechsten Tage sicherlich vergessen hatte, das Wort der Menschwerdung über sie zu sprechen. Und nun waren sie stumm, und alles Gebet des Mundes und der Hände lag gleichsam in ihren Augen. Sie waren wie Menschen unter einer Eisdecke.

»Kleiner Schmerzensreich«, sagte Frau Knurrhahn, und Johannes erschrak, daß sie sprechen konnte und spähte vorsichtig nach der Kette, die irgendwo aus den Dielen herauskommen mußte. Aber sie war nicht da.

»Weshalb sagen Sie so zu mir?« fragte er wie ein Erwachsener, den man mit einem seltsamen aber sinnvollen Namen anspricht.

Sie schien gar nicht zu hören, was er fragte, sondern beugte sich nur wie von einer Stange herunter und sah schweigend in sein Gesicht. »Wie alt du bist«, sagte sie endlich, »wie schrecklich alt …«

Johannes sah in ihre traurigen Augen, und in der Erinnerung an das Makigesicht sagte er nachdenklich: »Sicher hat Gott etwas mit Ihnen vergessen …«

Sie wurde ganz blaß und glitt ein paar Schritte zurück. »Siehst du«, sagte sie, »vierzig Jahre bin ich alt geworden, und dann muß ein Kind in meine Küche kommen und mir sagen, wie es mit mir steht … ja, sicher hat Gott etwas mit mir vergessen, aber vielleicht ist es ihm nun eingefallen … komm, dies habe ich für dich verwahrt.« Und sie führte ihn zum Tisch und schob ihm einen Teller mit Kuchen und ein Glas mit eingemachten Früchten hin.

Aber Johannes dankte. Er wollte »das Geheimnis« wissen. Was für ein Geheimnis? Manchmal stehe ein Mensch am Fenster, in einem ganz fremden Dorf, und sehe einen an. Er wolle das Geheimnis sagen, aber man gehe vorüber und sehe sich nur um, und wenn man zurückkomme, sei es zu spät. Ob hier auch ein Bild hänge von Isaaks Opferung? Nein. Ob sie ein Aquarium habe? Nein. Ob »Er« nach der Schule das Jehovahaupt abnehme und einen gewöhnlichen Kopf aufsetze? Nein. Wie er nur darauf komme? Weil man doch mit solch einem Kopf nicht Tag und Nacht leben könne. Wenn die Apfelbäume blühten, könne man doch mit solch einem Kopf nicht unter den Blüten stehen.

»Mein Gott«, flüsterte sie unaufhörlich. »Mein Gott, was bist du für ein seltsames Kind … aber, Johannes, sprich lieber nicht von ›Ihm‹, hörst du?«

»Das ist das Geheimnis«, sagte Johannes.

Sie sah sich scheu um und lauschte nach der Türe. »Er ist überall«, flüsterte sie. »Nun muß ich läuten gehen. Komm morgen wieder.« Sie streichelte ihm einmal zaghaft über die Wange, aber es war, als bewege sie einen hölzernen Arm, wenn sie an etwas Menschliches rührte. »Siehst du«, sagte sie, aus dem Fenster blickend, »er hat achtzig Kinder, und ich habe keines, verstehst du?«

Johannes verstand. Er sah noch einmal in das Gesicht, bei dem Gott etwas vergessen hatte, und ging dann durch den Garten auf den Hof zurück. Joseph, der alles sah, kam beim Hineingehen unauffällig an seine Seite. »Hast du ihr eine Wurst gebracht?« fragte er leise. »Nein, eine Feile«, erwiderte Johannes ernst. Und Joseph konnte wieder nichts anderes tun als bedauernd einen Finger an seine schmale Stirn legen.

So begann die Freundschaft zwischen Johannes und der »Frau vom sechsten Tage«. In jeder Pause saß er in der Küche vor dem Feuer des Herdes, spielte mit seinen Händen und fragte. Und Frau Knurrhahn, an die andre Seite des Herdes gelehnt, faltete die Hände über ihrem verwelkten Leibe, richtete die traurigen Augen auf ihn und erzählte seltsame Dinge, als hocke sie hoch oben im Gezweig eines phantastischen Waldes und berichte, was sie gesehen habe. Sie war zwanzig Jahre verheiratet gewesen, und zwanzig Jahre hatte sie nichts erzählen dürfen. »Du weißt, wie es in der Schule ist, Johannes«, sagte sie. »Man hat nur aufzusagen, nicht zu erzählen.« Und nun erzählte sie. Zwanzig Jahre lang hatte sie in den Pausen am Fenster gestanden und mit dem Tiefseegesicht auf den Hof geblickt. »Ich kannte sie alle, Johannes«, sagte sie. »Ich wußte, ob sie fleißig waren oder faul, ängstlich oder dreist, klug oder dumm. Das wußte schließlich auch Er. Aber ich wußte noch mehr. Sieh mal, wenn sie so hinauskommen und es hat gedonnert drinnen – und es donnert immer bei uns, im Winter noch mehr, weil dann die Bienen schlafen –, dann kannst du in sie hineinsehen wie in einen Spiegel. Die einen nehmen die Treppe mit einem Sprung und sind wie der Blitz an der Mauer, wo die Sonne scheint. Und während sie sich noch schütteln wie ein Hund, haben sie schon das Brot in der Hand und klappen es auf, um nach dem Belag zu sehen, und sehen noch schnell, was der Nebenmann hat, und dann essen sie wie ein Hühnerhund aus einer Schüssel. Das sind die, die vorwärtskommen, Johannes, aus denen ›etwas wird‹. Bauern zum Beispiel, oder Kaufleute, oder Maurerpoliere, oder Hauptlehrer.

Und andere nehmen jede Stufe einzeln und wandern langsam zu dreien oder vieren auf und ab. Sie essen dabei auch, aber vornehm, weißt du, und sehen aus der Ferne mitleidig und auch ein bißchen verachtungsvoll auf die Eßmaschinen. Und sie führen tiefsinnige Gespräche und machen Handbewegungen dazu. Sie gehen wie auf einem Theater. Auch aus denen ›wird etwas‹. Sie studieren manchmal und werden Pfarrer oder Geldverleiher oder auch nur Kreisausschußsekretäre.

Und dann sind die, die zuletzt kommen und einzeln. Das sind die, die Gesichter haben. Die andern haben nur Augen, Mund und Nase. Sie wissen nie, wo sie hingehören. Die Sonnenplätze sind besetzt, und im Schatten frieren sie. Sie essen … wie soll man sagen? mit Verachtung, weißt du. Die Stunde, die eben gewesen ist, ist an ihren Schultern zu erkennen. Sie besehen durch den Gartenzaun die Blumen, damit es aussieht, als ob sie beschäftigt sind. Und wenn ich wieder läute, sehen sie mich an, als ob ich schuld an allem bin. Aus denen wird nichts, Johannes. Einer ist ein Förster geworden, und er hat nur Hunde in seinem Haus. Einer ist nach Amerika zu den Mormonen gegangen. Einer geht von Dorf zu Dorf und erzählt, daß das Himmelreich nahe herbeigekommen ist. Einer hütet die Kühe und liest dabei Bücher. Und einer hat sich ertränkt … Er hat alle ihre Namen in einem Heft stehen, aus den ganzen zwanzig Jahren. Und dahinter steht, was sie geworden sind. Und bei diesen steht ein Kreuz. Und manchmal, weißt du, im Winter, wenn er zu seinem Verein geht, dann sitze ich hier am Abend vor dem Feuer und lese ganz langsam die Namen durch. Draußen liegt dann Schnee und der Wind rumort im Schornstein – wir haben immer viel Wind hier –, und dann ist es ein bißchen unheimlich. So viele Gesichter, und soviel ist mit ihnen geschehen, oder an ihnen geschehen, Johannes. Hinten am Herd stehen sie dann und wärmen sich ein bißchen die Hände, bevor sie wieder fortgehen, in ihren großen Wald oder übers Meer oder in den Sarg. Denn auch die Toten kommen, Johannes. Und siehst du, immer ist mir so, als ob ich schuld habe. Denn du bist der erste, dem ich gewinkt habe, Johannes. Und vielleicht wären sie nicht nach Amerika gegangen, wenn sie da gesessen hätten, wo du jetzt sitzt.«

»Sie wären immer gegangen«, sagt Johannes.

»Meinst du? Sieh, mir ist, als ob da drüben viel Unrecht geschieht, und immer ist mir ein bißchen angst, wenn ich die Glocke ziehe. Und deshalb trage ich auch Pantoffeln, weißt du. Man soll nicht so laut auftreten in dieser Welt. Glaubst du, daß der Atem eines Menschen verschwindet? Ich denke immer, daß hier alles voll ist von Atem und Seufzern, der Hof und der Garten und das Haus. Überall stößt man gegen ihn an und man tritt darauf. Liebst du die Sterne, Johannes? Siehst du, das wußte ich. Sie sind so schön, weil sie die einzigen sind, die keinem weh tun.«

Nach dieser langen Rede stand sie noch zusammengefallener da als sonst. Ihre traurigen Augen waren erfüllt von den Schicksalen der zwanzig Jahre wie die Augen eines Wärters, der zu schweigen und zu gehorchen hat, während die Stimme der »Gewaltigen« Schicksale entscheidet und lenkt. Sie hatte die Glocke zu läuten, weiter nichts, und dann zurückzukehren hinter ihr Fenster. Sie war »apokryph«, und die Schriften ihrer Seele waren nicht aufgenommen in das »Buch der Bücher«.

»Ich möchte den kleinen Wirtulla mitbringen«, sagte Johannes, »den mit dem traurigen Kopf. Seine Mutter schlägt ihn mit einem Riemen, und er ist zu früh geboren. Er ist jetzt ganz allein auf dem Hof.«

»Ja, bringe ihn mit, Johannes. Aus ihm wird auch nichts. Er bekommt ein Kreuz.«

Von nun an saß der kleine Bahnmeistersohn in einem Winkel des Herdes, und seine großen, angehefteten Augen hingen an Frau Knurrhahns Lippen, als sei ihrer das Himmelreich. Er machte sich so klein, wie er konnte, und es war ihm, als sitze er an der Tafel zweier Könige. »Es ist wie in der zweiten Klasse, Johannes«, sagte er auf dem Heimweg. »Und wenn du hustest, ist es, als ob du tot umfallen mußt. Sie ist wie der Telegraph auf der Station, weißt du. Es tickt immerzu, und ein dünner Streifen kommt aus seinem Mund. Und wenn du es lesen kannst, sind es so merkwürdige Sachen.«

So kam es, daß der kleine Johannes aus der Küche der Lehrerwohnung in diesen drei Jahren mehr für den Baum seines Lebens gewann als aus dem Raum, wo er zu den Füßen des heiligen Berges saß. Denn wiewohl er lernte, was im Rechnen richtig und falsch, im Schreiben schön und häßlich, in der Religion gut und böse sei, war er früh der Meinung, daß man diese Dinge wie Geld in der Tasche tragen könne, aber daß man sie nicht essen, sich an ihnen nicht wärmen könne. Es war, als hebe das leere Leben seiner Mutter, als sie ihn unter dem Herzen getragen hatte, sich zu einem erschreckenden Hunger in ihm auf und als sei jeder Schultag ein glänzender Stein, den man ihm biete, während er heimlich seine Hände nach Brot ausstreckte. Aber hier, vor dem Herdfeuer, in den etwas wirren und dumpfen Erzählungen der Makifrau, empfing er etwas Lebendiges, die verachtete Weisheit der Apokryphen. Hier war ein anderes Richtiges, Schönes und Gutes. Aus der Erzählung von Joseph und seinen Brüdern ging man mitten unter die Brüder hinein, wurde verkauft in das seltsame Land der Ägypter, hatte Träume zu deuten und Korn zu sammeln, und das Leben war nicht mehr ein Raum mit Bänken, sondern ein großes, dunkles Tor, das von weitem seine Flügel öffnete und hinter dem die Wirrnis eines andren Seins bald hell und bald dunkel vorübertrieb und wo der Kahn schon unsichtbar heranglitt, in den man zu steigen haben würde, wenn es an der Zeit wäre.

»Und einer ging nach Amerika zu den Mormonen …« Frau Knurrhahn erzählte es, leise und traurig, aber doch so, als sei einer in ein andres Dorf gegangen. Und der kleine Johannes erzitterte unter diesen Worten und dem Ungeheuren ihrer Inhalte. »Und einer ertränkte sich …« Ein Brunnen war es, gewiß, und die Bäume allein, die dort standen, mochten wissen, wie es gewesen war und wessen Hand ihn fallen gelassen hatte. »Ist niemand unter die Erde gegangen, Frau Knurrhahn?« fragte er behutsam.

»Unter die Erde? Wie meinst du das? Ins Bergwerk?«

»Nein, zum Leben, wie die Tiere im Winter.«

Sie schüttelte nur schweigend den Kopf, und es dauerte immer eine Weile, bis sie seine querlaufenden Gedanken überwunden hatte.

»Das ist es«, sagte er, »man hätte es ihnen sagen müssen …« Und die Schicksale, die Frau Knurrhahn vor ihn hinbreitete, verloren das Gefährliche ihrer hoffnungslosen Dumpfheit, weil auch bei ihnen etwas vergessen worden war. Die Welt wurde schwer für Johannes, aber man nahm nicht das letzte Licht aus ihr fort.

Und dann war Herr Bonekamp, der in des kleinen Johannes Abteil stieg und fast drei Jahre mit ihm zusammen fuhr. Er kam zweimal wöchentlich nach der Siedlung, begrüßte Gina mit einer fast atemlosen Verlegenheit und saß dann oben in der kleinen Kammer, um Johannes die Dinge beizubringen, die in der Schule nicht gelehrt werden konnten. Er saß dann auf der Ofenbank, wo der Schatten am tiefsten war, seine langen, schmalen Hände um die Knie gefaltet, den Kopf an die Kacheln gelegt, und sah zur niedrigen Decke empor, an der es keine Augen gab, die verwirrend in die seinen blickten. Und wenn das »Handwerk« des Unterrichts beendet war, die Dinge des Wissens und des Gedächtnisses, des Verstehens und Begreifens, dann band er, wie er am Ende jeder Stunde beschämt bekannte, die Flügel um und erzählte von den Dingen, die nicht zu errechnen und beschreiben waren. »Siehst du, kleiner Johannes«, sagte er, »du kannst ein großer Botaniker sein und ein Gelehrter der Natur und kannst alle Bäume und Pflanzen und Tiere und Käfer im Walde kennen und kannst doch nicht wissen, was der Wald ist, sein Atem, seine Seele, das Gotteshaus und das Wunder. Und der einfachste Förster kann es besser wissen oder der Hirtenjunge, der lauscht, wenn der Wind über ihn geht, oder der Dichter, der mit ein paar Versen heimgeht aus seinem Rauschen. Und so ist es mit aller Wissenschaft und allen Schulen, von unsrer an bis zu den Universitäten.«

Johannes hatte ganz zu Recht gedacht, daß er ein vergessener Jünger Christi sei, und der Glanz des Meisters lag in diesen Stunden auf seinem scheuen und gleichsam mißhandelten Gesicht. Er war einer von den Stillen, die in allen Ständen und Berufen ihres gering geachteten Amtes walten, abseits aller Karriere und Auszeichnung, mitunter nur mitleidig oder gar widerwillig geduldet. Sie halten keine Disziplin, oder ihre Bücher sind nicht in Ordnung, oder in ihrem Verwaltungsbereich fehlt es an den Dingen, die nach der Vorschrift nicht fehlen dürfen. Der Vorgesetzte spricht zuerst väterlich mit ihnen, dann tadelt er, dann übersieht er sie, wenn er andern die Hand reicht. Und es überträgt sich, zuerst auf die Mitarbeiter, dann auf die öffentliche Meinung, dann auf die Untergebenen, bis auf die Türöffner oder Hausdiener. Der Makel der Unfähigkeit heftet sich an ihre Stirnen, und während die Lauten und Gerechten das Programm der Zeit verkünden, leben sie im Schatten dahin, legen die Noten auf die Pulte, von denen andere spielen, und verschwinden im Schatten, wenn die erhabenen Gestalten der Dirigenten lichtüberflutet und beifallumrauscht die Szene betreten. Aber das Salz der Erde ist ihnen verborgen, und wenn ihre Amtsstuben hinter ihnen liegen, Qual, Bewegung, Handwerk, Pein, kann es geschehen, daß sie zu leuchten beginnen, meistens für sich selbst, mitunter für einen oder den andern, die nach dem Licht verlangen. Dann verströmen sie sich, gleich Müttern, die spät geboren haben, demütig, ohne Stolz, und die Glückseligkeit aufgehobener Kerkerschaft, erschlossener Einsamkeit überstrahlt und heiligt sie mit dem Glanz der späten Liebe. Sie fühlen sich gerechtfertigt vor Gott, freigesprochen, wiedergeboren, und die Ekstase der Auferstandenen hebt sie über die Erde hinaus, sie und die zu ihren Füßen sitzen.

Dann kauerte der kleine Johannes im Ofenwinkel zwischen den Dingen seiner stillen Welt, die Hände gefaltet gleich seinem Meister, Ledos Kopf auf seinen Knien. Dann ließ Gina ihre Arbeit sinken und hob ihre seltsamen Augen mit einer schweren aber gleichsam leuchtenden Traurigkeit zu dem Gesicht im Schatten, aus dem die Mißhandlung verschwunden war wie aus dem Gesicht eines Verschütteten, das man von der Erde befreit hat.

Manchmal brachte Bonekamp seine Geige mit, und Johannes durfte die leisen Töne seiner Flöte in sein Spiel gleiten lassen wie den eintönigen Ruf eines Vogels in das Rauschen der hohen Bäume. Auch in diesen Stunden war das Schweigen sein Teil, aber es war nur ein Schweigen des Mundes, und er ging gleichsam atemlos an der Hand eines großen Bruders in ein großes Leben hinein. Mitunter mußte er laufen, weil man seiner Kleinheit nicht genügend achtete, mitunter stolperte er und fiel, aber niemals ließ er die Hand los, weil auch mit Schmerzen nicht zu teuer erkauft war, was er gewann.

Aber auch hier wie bei der Makifrau gab er sich nicht auf, gab er sich nicht einmal hin. Niemals ging er aus dem Allerheiligsten seiner Einsamkeit in das Allerheiligste eines andren Menschen. Sie mußten immer »ein Stück hinter dem Walde« wohnen. Man konnte zum Besuch gehen, aber man mußte allein leben. Auch die Flöte lebte allein. Sie klang zusammen, und für eine Weile konnte sie mit den anderen Tönen mitgehen, Hand in Hand. Aber immer blieb zu erkennen, daß es ein Nebeneinander war, daß zwei gingen, nicht einer, und daß ein Wald zwischen ihnen war, ein drittes Leben, das sich aus der Erde hob. Und man konnte ihn nicht so ins Herz drücken, daß er verschwand und nichts mehr übrigblieb.

Auch war er nicht blind für das Matte und Verzeichnete in Bonekamps Bild. Bonekamp fürchtete sich, vor der Rotte und ihren Streichen, und das war nicht gut. Wenn man groß war, durfte man sich nicht fürchten. Er hatte mitunter etwas Mißhandeltes im Gesicht, und er sprach darüber, lächelnd, mit einem sanften Spott, aber er sprach doch darüber. Er sprach zu viel, er hatte die Fenster zu weit auf. Die Mutter sprach nicht, und der Großvater sprach nicht, ebensowenig wie Johannes selbst. Es waren schöne Dinge, die er sagte, aber er hätte seine Hände darüber halten müssen. Er war ein großer Bruder, aber einmal würde die Zeit kommen, wo er bei Johannes anklopfen würde, unter der Erde, und Johannes würde ihm Obdach und Schutz gewähren. Es lag Verehrung und Aufblick in seiner Liebe, aber auch ein wenig Mitleid und Erbarmen, und es war gut, daß zu seinem einsamen und ganz abgesonderten Leben etwas Verwandtes trat und mit unbewußter Mahnung und Warnung neben ihm herging.

Das erstemal, als Bonekamp auf seiner Geige gespielt hatte – es hatte Monate gedauert, bis er seine Scheu überwand –, sagte Gina, daß es schön gewesen sei. Er errötete und riß ganz zwecklos ein paar feste Haare aus dem Geigenbogen. Und dann sagte er etwas, was Johannes sehr merkwürdig fand und worüber er später lange nachdachte. »Sie dürfen nicht danken«, sagte er, »Sie nicht, Frau … Karsten.« Johannes sah, daß seine Mutter errötete. Er hatte es niemals gesehen, und es war ihm, als sei es ein ganz andres Gesicht, das sie nun habe, ja, als sei sie ein ganz andrer Mensch, auf eine wunderbare Weise verändert und durch Bonekamps Worte verwandelt. Und es erschreckte ihn, daß ein scheinbar unveränderlicher Mensch so werden und aus dem Bisherigen hinaustreten konnte in ein rötliches Geheimnis. Und auch das mit dem Namen war seltsam, als trügen sie nun verschiedene Namen und wären zwei Bilder, die im selben Raum einander gegenüberhingen.

Manchmal, wenn es zu Ende war, begleiteten sie den Lehrer über das Feld bis an die Hecke, und immer wenn Johannes an der Gartentür sich umwandte, sah er Theodors Gesicht an die Scheiben gedrückt und seine »Ich weiß alles«-Augen ihnen folgen. Mitunter auch sah er ihn ferne auf den Feldern stehen, mit seinen nun ungelenk gewordenen, lang aufgeschossenen Gliedern, und zu ihnen hinüberstarren, als mahne er schweigend aber unerschütterlich an die Erfüllung einer Forderung. »Siehst du ihn?« fragte Johannes leise. »Er ist immer da.« Aber Gina sah nur flüchtig hin. »Einmal wird er nicht mehr da sein«, sagte sie ruhig. ›Schreckliches wird einmal mit uns geschehen‹, dachte Johannes.

Dann nahm Bonekamp Abschied, verlegen und so hastig, als brenne seine Stube zu Hause, und dann kehrten sie um. Worte und Geigenklänge kehrten nun erst gleichsam bei ihnen ein, als nur die Stille der Felder um sie war und der Mensch, seine Bewegungen, sein Dasein in der Dämmerung erloschen. Und nun erst war alles ganz rein und schön, und in diesen kurzen Heimkehrzeiten liebten sie ihn am meisten. »Er ist ein Kind«, sagte Gina vor sich hin, und Johannes nickte ernst.

Am ersten Osterferientage, drei Jahre nach des kleinen Johannes Schulanfang, erschien Bonekamp unvermutet am frühen Nachmittag in der Siedlung und fragte ein wenig verstört nach Johannes. Er sei beim Schwarzbart, sagte Gina. Ob etwas geschehen sei? Ja, es sei wohl etwas geschehen, etwas ganz Belangloses, aber er möchte es dem Kinde doch erzählen. Gina sah ihn prüfend an und meinte, er gehe dann wohl am besten zur Försterei. Bonekamp, mit nun ganz unglücklichem Gesicht, bekannte, daß er sicherlich nicht hinfinden werde. Sie mußte lachen, und mitten in ihrem Lachen sah sie, daß seine abgewandten Augen voller Tränen standen. »Aber das dürfen Sie nicht tun«, sagte sie erschreckt. »Was ist denn mit Ihnen?« Und als er sie nur schweigend ansah, nahm sie ein Tuch aus dem Schrank und ging ihm voran die Treppe hinunter.

Im Walde blieb sie stehen und legte die Hand auf seinen Arm. »Sagen Sie es nun«, bat sie, »ich muß es jetzt wissen.«

Er zog einen Brief aus der Tasche und reichte ihn ihr. Es war ein dienstliches Schreiben und enthielt seine Versetzung in ein fernab gelegenes Grenzdorf. Und daß man mit seinen dienstlichen Leistungen leider durchaus nicht zufrieden sei.

Sie faltete das Schreiben langsam zusammen und gab es ihm, während sie weiterging, zurück. Sie wußte alles, und sie ging den schmalen Waldweg wie einen steinernen Gang entlang. Türen wurden hinter ihr zugeschlossen, eine nach der andern, die sich niemals wieder öffnen würden, und einmal würde es die letzte Tür sein, und dann würden nur die Wände der Zelle sein, ein vergittertes Fenster, und weiter nichts.

»Johannes kommt ja jetzt in die Stadt«, sagte sie endlich, die Hände unter ihrem Tuch faltend. »Ohne ihn würde es ja doch schwer für Sie gewesen sein …« ›Wie muß ich mich schämen‹, dachte sie, ›so etwas zu sagen … ich führe ihn in Versuchung, und ich will, daß er es sagt … einmal nur soll er es sagen …‹

»Es ist nicht Johannes allein«, sagte er leise.

»Was ist es denn?« ›Wie ich lüge!‹ denkt sie. ›O mein Gott, wie ich lüge!‹

»Sie sind es, Gina.« Es ist gut, daß er nun weint, denn das macht es leichter für sie. Sie kann glauben, daß sie wie eine Mutter spricht und handelt.

Sie stehen nun beide auf dem schmalen Waldweg, und die hohen Tannen rauschen in der Sonne, so daß sie beide aufblicken müssen. Sie lehnt sich ein wenig an seine Schulter, die Hände noch immer unter dem Tuch gefaltet. Außer dem Rauschen ist es ganz still über dem Walde, und plötzlich ist sie so müde, daß ihre Knie zittern. »Die Karstentöchter haben kein Glück, Andreas«, sagt sie leise. »Sie haben auch nicht Mann und nicht Kind. Ich aber habe ein Kind, und sein Name steht verzeichnet im Buch auf dem Hof. Ich darf diesen Namen nicht auslöschen, Andreas. Ich … vielleicht hat Gott gewollt, daß ich … zwei Kinder habe, Andreas, und ich weiß nun, daß er mich lieb hat … die Karstentöchter haben nun wieder ein Glück.«

Und sie hebt ihre schönen Hände aus dem dunklen Tuch und legt sie um seine Schläfen. Sie muß seinen Kopf ein wenig zu sich herabbeugen, und dann küßt sie ihn auf seine scheue Stirn.

»Und nun müssen wir es Johannes sagen.« Sie geht nun schneller und ohne sich nach ihm umzuwenden, der ein wenig betäubt hinter ihr hergeht. Aber sie weiß nun, daß das Schwerste für sie beide überstanden ist.

Sie erzählt es gleich, als sie um den Kaffeetisch sitzen, damit es nicht als eine geheime Last auf sie drücke. Johannes zieht die Augenbrauen ein wenig zusammen und sieht dann die ganze Zeit still auf Bonekamps Hände. Der Schwarzbart, der sieht, daß es hier irgendwo an Trost gebricht, erzählt, daß er die Gegend kenne und daß es eine ungefährliche Gegend sei. Der jüngste Jahrgang auf der Schule krieche noch auf allen Vieren und belle, und selbst der älteste Jahrgang belle, wenigstens in den Pausen. Der junge Herr müsse sich nur ein Halsband für jeden Schüler besorgen. An der Längswand der Klassenzimmer seien Dutzende von Haken eingeschraubt, alle in gleicher Höhe, und wer nicht pariere, werde da festgemacht. Er sei einmal in der Schulzeit dagewesen, um mit dem Lehrer über dessen Brennholz zu sprechen, und da wären etwa zwanzig an der Wand gewesen. Es sei ganz unheimlich gewesen und er sei mit Mühe fortgekommen, weil sein Hund sich durch die ganze Reihe habe durchriechen müssen. Und auf seinen Reviergängen sei er manchmal in Versuchung gewesen, zu schießen, und dann sei es nur ein solcher Hosenmatz gewesen.

»Hast du auch gebellt, Schwarzbart?« fragt Johannes mahnend.

»Das war es eben«, antwortet der Schwarzbart und stößt schreckliche Rauchwolken aus. »Einmal war ich ganz in Gedanken, so wie du, und da traf ich meinen Oberförster, und da bellte ich ihn an. Da war es denn Zeit, mich versetzen zu lassen.«

Bonekamp sieht ihn fassungslos an, aber er findet das alles großartig. Als der Schwarzbart es faustdick aufträgt, lächelt er sogar fast glücklich, und es will ihm scheinen, als sei alles nun etwas leichter.

Als sie Abschied nehmen, dreht Johannes sich noch einmal zum Hause um. »Du müßtest eine Stube einrichten, dort oben, Schwarzbart«, sagt er, »für alle, die sich fürchten …«

Der Schwarzbart muß erst eine Weile nachdenken, bevor er seinen dunklen Kopf schüttelt. »Nein, Waldläufer«, sagt er mit Entschiedenheit, »wer sich fürchtet, muß sich eine Stube in seinem Herzen einrichten und darin Posten stehen mit geladener Büchse. So muß man es machen … aber ich weiß ja, daß du ein Dichter werden wirst. Schrecklich ist es mit dir …«

Und gegen Ende der Ferien verschwindet Bonekamp leise aus ihrem Leben. Er verschwindet wie ein Stern, und wenn man wieder hinsieht, ist er nicht mehr da. Er ist nur noch einmal gekommen, um Abschied zu nehmen, und sie stehen alle drei an der Hecke des Weges. Es dämmert schon leise, und ein kalter Wind geht mit drohenden Tönen über das leere Feld. Sie stehen eine Weile und sehen schweigend den Weg nach dem grauen Dorfe entlang. Ein Hase kommt zwischen den Geleisen auf sie zu und verschwindet mit einem Sprung in den dunklen Fichten. ›Wie schön, wenn man das kann‹, denkt Bonekamp. Er sieht sich dort hinten an der Grenze in einer kahlen und kalten Stube. Ein Licht flackert auf dem nackten Tisch, und durch das Fenster dringt das Gebell der Kinder drohend herein, die am nächsten Morgen über ihn herfallen werden. Er sieht Gina an, aber ihr schmales Gesicht schimmert an ihm vorbei in die Dämmerung hinaus. Dann gibt er den beiden die Hand. Tränen erfüllen seine Augen, und er kann nicht sprechen. »Sie müssen nicht weinen, Herr Bonekamp«, hört er Johannes sagen. »Sie müssen nach innen weinen.« Und eine kleine Hand schiebt etwas zwischen seine erstarrten Finger. Es ist ein hölzernes Tier, ein kleiner Hund aus Großvater Karstens selbstgebautem Stall. Er sieht, daß Johannes ihm ein winziges Halsband umgelegt hat.

Er fährt dem Kind über die Wangen, und dann geht er. »Vergessen Sie uns nicht«, sagt Gina. Er hebt mit einer ohnmächtigen Bewegung die Hand, und es sieht aus, als greife er in den Wind. Der Mantel weht um seine langen, zarten Glieder, und das helle Haar über seinem gebeugten Scheitel geht wie ein Licht von ihnen fort. Dann hört man noch, wie sein Fuß an einen Stein stößt, und dann ist es, als habe die Ewigkeit ihn genommen.

»Bist du traurig?« fragt Gina, bevor sie schlafen gehen.

Er blickt in das ersterbende Feuer des Ofens und schüttelt den Kopf. »So wird es immer sein«, sagt er dann still.

Sie liegt lange wach, die Arme ausgestreckt, die Füße gekreuzt. Der Wind geht um das Haus, und sie denkt, daß ein Licht verlöschen würde, wenn man nun mit ihm nach dem grauen Dorfe gehen wollte. Sie ist unsäglich müde, und sie wünscht, daß sie erst erwachen könnte, wenn die Rosen in ihrem Garten blühen. Aber sie möchte überhaupt nicht mehr, daß sie blühen. Alles ist so schrecklich leer, das Haus hat keine Wände und kein Dach, und der Wind allein geht durch die leere Welt. Aber es ist der Atem des kleinen Johannes, und es ist wohl gut so, daß er allein durch ihre Welt geht. Um die Morgendämmerung erst schläft sie ein.

Und dann ist noch jemand, der für ein Jahr auf Johannes' Lebensbahn mitfährt. Er steigt nicht ein, sondern er bleibt auf dem Trittbrett stehen und starrt durch das Fenster hinein. Es ist Zerrgiebels Vater, die »deutsche Eiche«. Ein Jahr etwa vor Bonekamps Abschied klopft es mittags, und ein alter Mann mit einer schwarzen Holzkiste steht auf der Schwelle. Er sagt nichts, sondern starrt Gina schweigend aus seinen eng zusammenstehenden, rotgeränderten Augen an. Sie denkt, daß so ein Mann aussehen müsse, der aus dem Zuchthause komme. Aber dann sieht sie die Querfalte zwischen den dünnen Brauen und manches andere, und die Ahnung von etwas Schrecklichem, aber noch nicht im einzelnen Bewußten legt sich wie eine kalte Hand um ihre Kehle.

»Was wünschen Sie?« fragt sie leise.

Er schweigt noch immer, aber ein fast unmerkliches, höhnisches Lächeln erscheint langsam um seinen linken Mundwinkel, nistet sich dort ein wie ein wildes Tier in einer Bodenspalte und sickert wie ein fressendes Gift von dort aus über das übrige unbewegte Gesicht. »Das bist du also«, sagt er langsam mit einer heiseren Stimme, die aus einem besonderen eisernen Rohr hervorzukommen scheint, nicht aus einer warmen Seele, sondern aus einem kalten und dunklen Schacht wie ein Entlüftungsrohr.

Sie will die Türe zuschlagen, solange ihre Hand noch Kraft hat, aber er stellt seinen Stock dazwischen, und das Erschreckende ist, daß nur seine Hand diese blitzschnelle Bewegung macht und alles andre unverändert bleibt, der Körper, das Gesicht, die Augen. Er trägt eine schwarze Schirmmütze, wie die alten Bauern in jener Landschaft sie tragen, und wenn er den Kopf neigt, sieht es aus, als verschwänden die Augen hinter dem Schirm in tiefen Löchern wie Gewürm in der Dämmerung und spähten von dort aus nach ihrer Beute.

»Ja, ich bin nun also dein Schwiegervater«, sagt er endlich mit ätzender Freundlichkeit. »Er hat mich eingeladen, der gute Sohn, und ich werde nun also in diesem Hause wohnen.«

Und dann schiebt er die Tür mit Gina zurück und betritt mitsamt der schwarzen Holzkiste den Flur. Es sieht aus, als bringe ein Mann einen Sarg und werde nun warten, bis jemand gestorben sei.

Gina zeigt ihm das Vorderzimmer und geht dann schweigend an ihre Arbeit. Sie ist töricht gewesen und will es nun nicht mehr sein. ›Aber Johannes muß es vorher wissen‹, denkt sie. ›Ich muß ihm entgegengehen.‹

Der Alte wirtschaftet verstohlen in seinem Zimmer herum. Sie hat das Gefühl, als hebe er jede Diele einzeln auf und betaste jede Blume auf der Tapete. Eine unheimliche Verstohlenheit breitet sich langsam hinter seiner Schwelle aus.

Dann besichtigt er das Haus. Man hört nur das leise Aufstoßen seines Stockes, und eine blaue Tabakswolke aus seiner kurzen Pfeife weht hinter ihm her. Er bleibt lange fort, als öffne er jede Schublade, jede Schranktür, ja als greife er in jede Tasche jedes Kleidungsstückes. Es ist, als sei das Gericht im Hause und gleichzeitig die Verletzung des Gerichtes, der Tod und die Beschauung des Todes. Es ist Zerrgiebel, aber Zerrgiebel mit schrecklich viel Zeit, der entfesselte Zerrgiebel gleichsam, ohne Dienst, ohne Schlaf, ohne Beschränkungen, ein Wesen, das lautlos durch die Wände zu gehen vermag und dessen Taschen wie die Theodors mit unerhörten Dingen gefüllt sein mögen.

Dann steht er in der Küchentür. »Man hat ein Zimmer verschlossen?« fragt er freundlich. »Ja, mein Zimmer.« Er stößt einen leisen Pfiff aus seinem lächelnden Mundwinkel, tastet mit den zurückweichenden Augen die Wände und Schubfächer ab und geht dann in den Garten.

Johannes weigert sich, seinem Großvater die Hand zu geben. Beim Mittagessen wandern seine Augen über die drei Zerrgiebels, und seine Hand bewegt sich, als ob sie zeichnen wollte. Das Gespräch zwischen den beiden Männern ist ironisch, vorsichtig, von Heimlichkeiten erfüllt. Sie tasten um die Dinge ihrer Rede wie mit lautlosen Fangarmen, und man weiß nicht, ob sie einander lieben oder hassen. Sie sind wie Spinnen im Hinterhalt. Aber Albert Zerrgiebel ist der Unterlegene, weil er zerstreut ist. Er ist das ganze letzte Jahr zerstreut gewesen, oft über Sonntag von Hause fort, und die Bewegungen seiner Hände haben etwas Fahriges und Unstetes bekommen, das sein ganzes Wesen so unmerklich verändert wie ein neuer Beruf. »Mir scheint«, sagt der Alte zum Schluß, »du bist dumm gewesen wie gewöhnlich.« Seine Augen streifen Gina und Johannes, und es ist sehr klar, was er meint. »Wir werden sehen«, erwidert Zerrgiebel rätselhaft. Theodor grinst und empfindet den Zuwachs als amüsant.

»Er ist ein Wolf«, sagt Johannes oben, »ein alter, zahnloser Wolf mit zerrissenem Fell. Aber hast du bemerkt, daß er auch immer die rechte Hand in der Tasche hat?«

Gina nickt. »Du mußt dich nicht fürchten, Johannes.«

Er schüttelt den Kopf. »Es wäre schön«, sagt er nach einer Weile, »wenn sie alle drei an einem Tage sterben möchten …«

»Johannes!«

Aber er sieht sie nur forschend an, und sie kann nichts weiter sagen.

Der Großvater steigt nicht ein bei Johannes, weil Johannes die Tür verschlossen hält. Aber er steht auf dem Trittbrett und sieht durchs Fenster. Johannes kommt aus seiner Kammer, und der Alte steht auf der andren Seite des Ganges an der Wand, die Pfeife im Mundwinkel, die Augen hinter dem Mützenschirm. »Früchtchen«, sagt er freundlich. Weiter nichts. Johannes kommt aus der Schule, und der Alte lehnt am Gartenzaun. »Früchtchen«, sagt er. Weiter nichts. Johannes bekommt die Angewohnheit, sich umzusehen, ganz schnell und unvermutet, auf der Treppe, der Straße, in der Schule, selbst im Walde. Aber es geschieht nichts, nur daß die Hand immer in der Tasche bleibt.

Aber in den Gesprächen bei den Mahlzeiten tritt der Alte in die Erscheinung. Er ist viel unterwegs. Sein Stock scheint über alle Straßen zu wandern. Er kennt Knurrhahn, den Schwarzbart, Josephs Vater, den Bahnmeister. Er kennt alle Menschen, und in seiner rechten Hand muß ein geheimnisvoller Schlüssel liegen. Und er serviert diese Bekanntschaften gleichsam bei Tisch, seziert, präpariert. Auch Albert Zerrgiebel beherrscht diese Kunst, aber er ist ein Stümper und übt sie auch nicht mehr aus. Aber der Alte ist ein Meister, und seine Frechheit kennt keine Grenzen. »Kennst du die Schlorrenfrau, Früchtchen?« fragt er unvermutet. »Frau Knurrhahn?« Johannes schweigt. »Sie soll ein Verhältnis mit Bonekamp haben, und seine Versetzung wird amtlicherseits erwogen.« Gina steht auf und verläßt mit Johannes das Zimmer. Albert Zerrgiebel blickt zerstreut auf, und der Alte pfeift vergnügt mit seinem linken Mundwinkel.

Zu weiteren Berührungen kommt es nicht zwischen dem Alten und Johannes. Aber das schweigsame Kind verarbeitet mit ganzer Kraft jedes neue Bild, das an der Wand seines Weltenraumes erscheint. Es lernt verstehen, was eine Falte auf einer Stirn bedeutet und was ihr Verschwinden, aus welcher Seele eine Hand wächst, ein Wort, ein Lächeln. Es ist nicht gläubig, nicht mitteilsam, nicht vertrauend. Die Welt wächst wie ein Wald über ihm empor, finster, drohend, unendlich. Und es geht still und tapfer, behutsam, gespannt durch die gefährliche Wildnis, die Flöte in den Händen, den stillen Gesichtern zu, die jede Einsamkeit ihm bringt, jeder Traum, jedes stille Insichhineinhorchen. Es weiß früh, daß es voller Wunder ist, und dies Wissen ist die Brücke, die sich vor ihm in die Zukunft spannt. Das Wort selbst ist voll samtdunkler und metallschimmernder Geheimnisse, und es denkt nah und weit in sie hinein. »Was ist morgen?« fragt Gina einmal. »Morgen ist die Zukunft«, sagt Johannes feierlich.

Mit dem kleinen Bahnmeistersohn geht es drei Jahre gut und still zusammen. Er ist die Kraft im Leben des kleinen Johannes, die von der Besinnlichkeit fortzwingt, die Tätigkeit erfordert, Rat, Hilfe, Entscheidung. Ab und zu hat Johannes das Verlangen, das Verhältnis zu »kündigen«, aber er kann es nicht. Er denkt an die erste Schulstunde, und das Leid des zu früh Geborenen ist wie eine abgerissene Blume auf einem staubigen Wege. Man muß sie aufheben und zur Seite tragen, wo die vielen Füße nicht gehen. Und man kann in dieser kleinen Seele blättern wie in einem Bilderbuch, vorwärts, rückwärts, nach Belieben. Man kann es auch für eine Weile zu den andern Büchern stellen, wo es schweigt und nur die immer gleiche Schrift auf seinem Einband darbietet.

Und ab und zu geht Johannes in das Bahnmeisterhaus. Der Mann sieht aus, als gehe er gerade immer aus einer Hintertür, aber er streichelt Johannes über das Haar und führt ihn noch schnell an den Telegraphen, aus dem der wunderbare Streifen hervorkommt. Und er erklärt ihm alle Zeichen und Worte und ist beglückt, daß das Kind ernste Augen davor hat. Die Frau ist groß und stark und scheint immer etwas zu schlachten, ein Huhn oder eine Taube, und Johannes hat das Gefühl, daß auch Klaus einmal herankommen werde.

Sie behandeln einander vorsichtig und achtungsvoll, denn ihr erstes Gespräch ist etwas merkwürdig verlaufen. »Guten Tag«, hatte Johannes gesagt. »Geben Sie mir den Riemen.« Sie hatte ihn angesehen wie ein Gespenst. »Bist du verrückt?« hatte sie endlich ganz leise gefragt. »Man darf das nicht tun«, hatte er sehr ernst gesagt. »Keiner Blume, keinem Baum, keinem Tier, keinem Menschen. Der Schwarzbart sagt, daß Jesu Wunden von neuem bluten, wenn man einen Ast bricht … man darf ein Kind nicht kreuzigen, hören Sie?« Sie hatte sich setzen müssen und ihn schweigend angestarrt. »Den Riemen, bitte«, hatte er unerschüttert widerholt. Sie hatte den Kopf geschüttelt, war rückwärts hinausgegangen und nicht wieder zum Vorschein gekommen. Der zu früh Geborene wurde weiter geprügelt, aber nicht mit dem Riemen. »Es gibt Ohrfeigen, Johannes«, sagte er lächelnd, »aber Ohrfeigen sind wie Balsam, weißt du, und ganz ohne etwas würde es doch nicht gehen. Du bist eben ein Heiliger, Johannes.«

Und so hatte der kleine Johannes, bevor er in die Stadt ging, ein nicht unbedeutendes Stück der Welt erfahren, ergrübelt und erlitten. Götter waren in dieser Welt und Teufel, Tyrannen und Märtyrer, Mißhandelte und Empörer, Tiere und Menschen, zu früh Geborene und zu unrecht Geborene. Es war gut, sich umzusehen, wo man auch ging, und manchmal war es gut, gar nicht zu sehen. Das Stille war besser als das Laute, aber es durfte nicht die Hand in der Tasche haben. Die Nacht war besser als der Tag, der Sommer besser als der Winter. Man wußte nicht, was kommen würde, auch nicht, weshalb das Lachen schwer war. Man wußte nicht, was die Menschen dachten, nicht einmal, was die Mutter dachte. Man wußte nicht, wie sie im Schlaf aussahen und welche Träume sie hatten. Man lernte und wußte nichts, nicht wie es in zehn Jahren, wie es in einer Stunde sein würde. Man ging in die »Zukunft«, das war es. Und immer war Zukunft, immerzu. Morgen abend war man da, und übermorgen war wieder Zukunft. Und niemand wußte, wie es sein würde.

›Es geht zu schnell‹, denkt Johannes, ›viel zu schnell … ich bin ja noch nicht fertig hier … noch lange nicht fertig …‹ Und er faltet die Hände vor dem Ofenfeuer und denkt, wie gut die Flammen sind und daß sie vielleicht um keine Zukunft zu sorgen brauchen.


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