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8

Johannes ist vierzehn Jahre alt, sitzt auf der Untersekunda und wird »Sie« genannt. Er ist auf der ganzen Schule bekannt, beim Lehrkörper und bei den Schülern aller Klassen. Selbst Kulicke hat eine vorsichtig-zurückhaltende aber wohlwollende Teilnahme für ihn. Er ist »der mit den komischen Augen und den Karstenzahlen«. Das genügt für eine Gemeinschaft, die Tag für Tag, Jahr für Jahr durch die Normenwalze geht. Weishaupt tut ein übriges zur Verbreitung seiner »verstockten Gesinnung«. Seine Aufsätze sind berühmt. Sie sind immer mangelhaft, und auf jedem Seitenrand steht mit roter Tinte »Thema?«, aber jeder Lehrer – sie wechseln im Lauf der Jahre –, der die große römische Vier heruntermalt, hat einen Augenblick lang das Gefühl, als ob ebensogut, vielleicht sogar besser eine Eins darunter stehen könnte. Aber diese Gefühle werden unterdrückt, im Keim, wie Weishaupt sagt, denn wohin sollte es führen, wenn man solche Dinge großzüchten wollte? Aber die Aufsätze machen jedesmal die Runde durch das Konferenzzimmer, und selbst in den Familien werden sie besprochen. Johannes wird berühmt, ohne daß er es weiß.

Er selbst geht Tag für Tag denselben Weg zu dem roten Gebäude, ohne Lust, ohne schmerzenden Widerwillen. Er ist wie eine Frucht in einer Schale. Sie klopfen an ihm herum, und er hat es warm und sicher in seiner eingesponnenen Welt, und am Tage wie in der Nacht hat er das unerschütterliche Gefühl, daß einmal eine Hand aus der »Zukunft« herausgreifen und die Schale öffnen wird. Es ist ein Gefühl, so sicher, wenn auch oft nicht bewußt, wie das Gefühl, daß sein Herz schlägt, daß er atmet. Er fragt sich mitunter, weshalb er zur Schule gehe und nicht zum Schwarzbart oder zum Wassermann. Aber er findet es nicht heraus. Es ist befohlen, alle tun es, die etwas werden wollen. Will er etwas werden? Er weiß es nicht.

Er sucht nach Vergleichen und findet keinen. Höchstens ist es so wie beim Zahnarzt, zu dem er jedes Vierteljahr gehen muß. Seine Mitschüler finden es »affig«, und der Lehrkörper, dem nichts entgeht, lächelt ironisch dazu. Man sitzt dort im Wartezimmer und besieht Bilder, Fliegende Blätter, die aus einem Museum zu stammen scheinen, und Bäderprospekte in seltsamen Farben, auf denen alle Menschen mit einer gleichsam erstarrten Glückseligkeit auf ein unglaublich blaues Meer hinaussehen. Die Luft ist geladen mit einer leise bohrenden Angst und einer gereizten Übellaunigkeit. Dann sitzt er auf dem Stuhl, und das Unentrinnbare macht den Vergleich mit der Schule zu dem einzig möglichen. Der Zahnarzt sagt »wir« mit einer öligen und gleichzeitig tückischen Herablassung. Er macht Witze, die sich wiederholen wie in der Schule, und Johannes glaubt, daß er abends auf dem Ruhesofa liege und die Fliegenden Blätter auswendig lerne. Er steckt seine säuerlichen Finger in Johannes' Mund, und auch das fordert zu Vergleichen heraus. Manchmal tritt er an seiner Bohrmaschine wie ein Scherenschleifer, und am Schluß setzt er einen »Mühlstein« auf den Bohrer und reinigt die Zähne. Es riecht nach versengtem Fleisch wie bei einem Menschenopfer, und dann geht man wieder fort, ein fremdes Gefühl im Mund, als sei man für eine Weile die ohnmächtige Behausung wilder Dämonen gewesen. Und dann ist wieder alles beim alten.

Die Mitschüler wachsen Jahr für Jahr aus ihren Kleidern heraus. Ihre Stimmen werden rauh und brüchig, ihre Gesichter wie trocknender Ton, ihre Glieder ihnen immer irgendwie zuviel. Sie schicken seltsame Zeichnungen und Worte unter der Bank herum, grinsen wie bösartige Affen und erstarren erst in tückischem Gehorsam, wenn die Kryptogamen gleich Wärtern den Raum betreten. Johannes ist es, als öffneten sie dann widerwillig ihre Schädeldecke in knarrenden Scharnieren und als schütte man Korn in sie wie in eine schlecht geölte Mühle. Er sieht dem allen zu, von einem dumpfen Druck befangen, und er ist nicht frei von dem Hochmut des Andersseins. Ab und zu tauchen Kandidaten auf, mit roten Flecken auf den Wangen, und die vereinte Kraft der »Rotte« stürzt sich auf sie wie auf ein verendendes Wild. Bonekamp erhebt sich aus dem Sarge der Vergangenheit, und Johannes sieht schweigend, von einem leisen Grauen erfüllt, zu, wie die Opfer verbluten.

Mitunter, wenn er gegen Abend in den Wald geht, trifft er eines von ihnen, das auf einsamen Wegen in die Stadt zurückzuschleichen scheint. Johannes grüßt höflich, und er empfindet die Angst, Überraschung und befreite Seligkeit des Dankes wie eine Scham. Nach einer Weile bleibt er stehen und sieht dem Kandidaten nach, und auch dieser dreht sich um, erschrickt, täuscht ein Interesse an dem Landschaftsbild vor und geht dann mit gemachter Langsamkeit weiter, wobei er seinen Stock auf eine seltsam gezwungene Weise schwenkt und ein Lied zu pfeifen beginnt. Und Johannes geht langsam nach dem Walde, und eine tiefe, nicht abzuschüttelnde Traurigkeit fließt aus der Begegnung immer unaufhaltsamer in seine Seele.

Klaus ist noch immer da, auf derselben Klasse sogar, wenn auch als letzter. Er ist immer atemlosen Geistes, am Ende seiner Kräfte, er hat immer die letzte Eintrittskarte, und wenn die Hand schon am Drücker ist, schlüpft, nein stolpert er noch gerade so hinein. Es reibt ihn auf, sein Kopf scheint immer größer, seine Augen immer erschreckter, seine Greisenfalten immer älter zu werden. Er würde es nicht schaffen, wenn Johannes ihm nicht hülfe. Er ist wie Gunther, der von Siegfried getragen wird. Zwei- bis dreimal in der Woche bleibt er in der Stadt, und Johannes macht ihm seine Arbeiten, erklärt, hilft, hebt ihn aus dem Staube. Klaus nennt ihn den »barmherzigen Samariter«. Er ist nicht dumm, kein »schwaches Gefäß … eisern«, wie der Fachausdruck im Lehrkörper heißt, aber die Walze dreht sich zu schnell für ihn, der Zug hält nicht da, wo er halten müßte, und Klaus steht da, atemlos, die Fahrkarte in der Hand, und grinsende Gesichter sehen aus den Fenstern auf ihn nieder. Er hat das Pensum immer erst ein Jahr später verdaut, dann aber gründlich. Es dauert eine Weile, bis er über einen Scherz lacht, bis er eine Beschimpfung empfindet. Er hat eine »lange Leitung«. Weishaupt nennt ihn den »Wasserkopf« und hat vor der Klasse vorgeschlagen, er solle »Bremser am Leichenwagen« werden. Weishaupt liebt Scherze, die den brüllenden Beifall der Masse finden. Keine Empfindlichkeit züchten. Spartaner, das braucht das deutsche Volk, um den »Platz an der Sonne« zu gewinnen.

In der Gärtnerei, abseits der Stadt und der Schule, ist Klaus glücklich. Frau Pinnow nennt ihn Benjamin, ihr Mann erklärt ihm die Theorie der »Unterdrückten«, die Brille auf der Stirn, die Gartenschere in der Hand, und Klaus beschließt Gärtner zu werden. Am Abend, wenn das »Pensum« erledigt ist – »du hast wieder mal meine Sense gedengelt«, sagt Klaus –, sitzen sie am Seeufer. Über der Stadt steht die Luft wie über einem Ofen, aber hier weht es von den Wäldern her, und die Turmschwalben schreien aus dem wolkenlosen Himmel.

»Wozu ist das alles?« fragt Klaus, und sein großer Kopf sinkt ihm müde auf die Brust. »Bist du weniger, wenn du Cäsar nicht gelesen hast? Ist der Rochen mehr als der Schwarzbart, weil er quadratische Gleichungen lösen kann? Wenn man stirbt, ob dann der Pfarrer kommt und eine quadratische Gleichung aufgibt, damit man in den Himmel kommt? Sie quälen einen ein bißchen viel, weißt du. Morgens die Backpfeifen und dann in der Bahn noch einmal alle Aufgaben durch, und du siehst, daß du wieder reinfallen wirst. Und dann fünf Stunden am Galgen. Und nachmittags noch einmal fünf Stunden über den Büchern. Und in der Nacht kommt Weishaupt mit seinen Haifischaugen im Traum und sieht mich an, und wenn ich aufwache, ist wieder alles naß. Und dann gibt's wieder Backpfeifen. Wie ein Kreis ist es alles, Johannes, wie ein Kreis. Und bloß damit ich einjährig dienen kann und nicht zwei Jahre. Als ob ich einmal Soldat werde! Mir paßt doch kein Helm. Oder glaubst du, daß der Kaiser einen machen lassen wird für mich?«

Johannes lächelt, weit fort. Es ist schon kein einzelner mehr, der zu ihm spricht. Viele sind es: die zu den Mormonen gehen, oder von Dorf zu Dorf, oder die sich ertränken. Es sind die, die bei Knurrhahn ein Kreuz bekamen, aus denen »nichts wird«. Die Makigesichter, die Bonekamps mit dem vertauschten Hut, die Pinnows, die sich durch die Türspalten winden müssen. Die im Winter unter der Erde leben möchten. Ja, auch er gehört wohl dazu. Er wird keinen Säbel tragen und schneidig sein »bei allen Dienstobliegenheiten«. Und doch weiß er, er hat etwas, das aushält, überwindet, lächelt, siegt. Er weiß nur nicht, was es ist.

»Eine Dornenkrone wird er machen lassen«, sagt er laut, »für uns alle.«

Es dauert eine lange Weile, bis Klaus das verarbeitet hat, und dann nickt er. »Du weißt es immer am besten, Johannes«, sagt er andächtig. »Wenn ich bei dir sitze, ist immer ein Dach über mir.«

Ein Boot mit jungen Leuten fährt draußen durch die helle Dämmerung. Sie haben einen roten Lampion im Bug angezündet, und Mädchenstimmen singen das Lied vom Regensburger Strudel.

»Wie fröhlich sie sind«, sagt Klaus. »Schrecklich fröhlich … bei uns wird nie gesungen … es ist, als ob sie den ganzen Tag Kornsäcke schleppen … komisch … sind Mädchen immer fröhlich, Johannes?«

»Ich denke, daß sie manchmal traurig sind.«

»Ich glaube, in der Klasse wissen sie viel davon … weißt du etwas von Mädchen?«

»Nein«, sagt Johannes hart.

Klaus verkriecht sich in sein Haus wie eine Schnecke. Lange Zeit sprechen sie kein Wort. Die Sterne spiegeln sich im See, und der Gesang, der traurig geworden ist, erfüllt den ganzen Raum vor ihnen bis an den fernen Wald. »Hörst du«, sagt Klaus ganz leise, »nun denken sie auch an morgen … es hilft ihnen alles nichts …«

Johannes legt sich in den kühlen Sand, die Hände unter dem Kopf gefaltet. »Trinke die Sterne«, sagt er, »denk nicht an morgen.«

Klaus legt sich gehorsam zurück, das Herz erfüllt von Dankbarkeit, Frieden, Geborgensein. ›Er kann es‹, denkt er, ›ich kann nichts als hinaufsehen … aber es ist schön, keine Eile haben sie, und niemand schreit dort, alles ist still …‹

Sie liegen, bis der Mond aus den Feldern steigt. Alle Schatten werden schärfer, alles Helle beginnt zu glühen. Die Welt verwandelt sich, lautlos, geheimnisvoll. Verborgenes hebt sich, das am Tage Herrschende versinkt. Der Duft der Pinnowschen Nelkenbeete weht seltsam nackt und schwer über sie hin, als entkleide der Mondschein alles, auch die Blumen.

Klaus hat die Augen groß zu dem bestirnten Himmel aufgeschlagen. »Immer mehr kommt«, flüstert er, »… immer schwerer wird es …«

Frau Pinnow raucht noch eine kurze Pfeife und rechnet Zahlen in ihrem Geschäftsbuch zusammen. Die Tür ist offen, und der Lampenschein liegt wie ein goldenes Brett vor der Schwelle. »Dreizehn fünfundachtzig …«, sagt sie, »war es schön draußen? Dreizehn fünfundachtzig … Benjamin hat wieder Angstaugen … nun geht man schlafen … vierzehn fünfundsiebzig …«

Sie kleiden sich im Dunklen aus. Dann zieht Johannes einen Mantel über, nimmt ein Handtuch und geht leise über die Hintertreppe in den Garten. Zwischen den hochstämmigen Rosen ist in Scheitelhöhe ein Wasserhahn. Er zieht den Mantel ab und öffnet den Hahn. Das Wasser blitzt und leuchtet über seiner weißen Haut. Eine herrliche Kühle und Reinheit durchdringt ihn bis in sein innerstes Leben. Der Tag fällt ab, die Schule, Gespräche, Berührungen. Er schließt den Hahn, und mit dem Verstummen des fließenden Wassers hebt die große Stille sich wieder feierlich über die Erde. Er blickt noch eine Weile über den See hinaus, und es ist ihm, als rufe Welarun, weit, weit hinten, über die schlafenden Wälder. Dann geht er leise ins Haus zurück. Klaus ist schon eingeschlafen.

Mit Joseph ist das Verhältnis unerfreulich, aber von eindeutiger Klarheit. Er trägt noch immer bunte Röcke, und sein Semmelvorrat ist unerschöpflich. Er glänzt durch leuchtende Schlipse und braucht eine stark duftende Pomade für sein Haar. In der Klasse ist er nicht beliebt. Er sagt falsch vor, und bei den schriftlichen Arbeiten schreibt er falsche Wörter und Lösungen auf sein Löschblatt. Er selbst schreibt das Richtige und sagt nachher mit bekümmertem Augenaufschlag, es sei ihm erst im letzten Augenblick eingefallen. Es gebe Menschen, die zuerst immer alles falsch machten. Sie hätten mal einen Lehrling gehabt, der immer alle Schubladen aufgezogen habe, bis er in der letzten das Verlangte gefunden habe. Sie hätten ihn entlassen müssen, wegen des Zeitverlustes, nicht wahr? Zeit sei eben Geld, das sei die Sache. Bei den Lehrern ist er sehr beliebt. Er trägt Hefte nach Hause und öffnet am Schluß der Stunde mit einem Diener die Tür. Vielleicht erzählt er auch einiges aus dem Geheimleben der Klasse, kleine Charakterbilder, so ganz nebenbei. Er ist es auch, der die Klasse und den Lehrkörper von des Bahnmeistersohnes nächtlichen Anfechtungen unterrichtet. »Es ist eine Krankheit«, sagt er sorgenvoll, »aber doch komisch, nicht wahr?«

Auf dem letzten Schulspaziergang trug er einen Rucksack, unerhörtes Besitztum in der Vorstellungswelt des Gymnasiums. Und erfüllt von dem Glanze dieser Auszeichnung begann er Johannes zu hänseln, mit dem plumpen Witz der Satten und Geborgenen, die vergnügt aus dem Fenster sehen, wenn es draußen regnet. »Ist es wahr, Johannes«, sagt er, »daß dein Großvater Zerrgiebel mal lange Finger gemacht hat, früher?« Klaus drängt sich dichter an Johannes und bekommt ängstliche Augen. Er hat ein untrügliches Gefühl für das Herannahen tätlicher Auseinandersetzungen. »Was er getan hat, geht mich nichts an«, erwidert Johannes kalt, »aber seit dem Alten Testament ist bekannt, daß niemand so lange Finger hat wie ein Kaufmann.« – »Ach …« Joseph ist etwas verblüfft und rast in Gedanken durch das Alte Testament, von den Büchern Mose an bis zum Propheten Maleachi. Aber er findet es nicht so schnell und wechselt geistesgegenwärtig den Angriffspunkt. »Ist es denn wahr, daß deine Mutter und Bonekamp … wie? Er war doch jetzt zum Besuch … komisch, nicht wahr?«

Johannes versteht ihn nicht ganz, aber er sieht seine nagende Oberlippe, die so lächelt, als sei auch sie mit Pomade behandelt, und er schlägt ohne zu denken seine Faust auf diese Oberlippe, daß Josephs spitzes Kinn im Augenblick von Blut bedeckt ist. Er zittert vor Ekel, aber er weiß, daß alles unvermeidlich ist. Klaus reißt ihm das Päckchen aus der Hand und springt zur Seite. »Paß auf, Jo … johannes!« schreit er. »Er ist gemein!«

Sie ringen, zuerst im Stehen, und Johannes fühlt eine eiskalte Wachsamkeit in allen Poren seiner Haut. Josephs Knie trifft ihn hart gegen den Unterleib, und einen Augenblick lang ist die Luft von farbigen Sternen erfüllt. »Du Schwein!« schreit Klaus wie auf einer Folter »Du Schwein!« Aber Johannes läßt sich sinken und krümmt den Rücken, um unangreifbar zu sein. Glühende Bilder jagen durch sein Hirn, Fetzen von Wäldern, Liedern, Menschengesichtern, Steine und Brunnentiefen, Theodors Hand in der rechten Tasche. Und dann, ohne Übergang, hört er die Stimme seiner Mutter: »Mein Leben … du mein Leben …« Geburtstagskerzen brennen, und ein blaues und ein braunes Auge leuchten in sein Gesicht. ›Das ist es also‹, denkt er, ›jetzt weiß ich, was es ist.‹ Und unvermutet fährt er auf – Klaus sieht entsetzt, daß er lächelt –, faßt den andern im Untergriff und schleudert ihn hart in den Staub der Straße. Die blutenden Raubtierzähne beißen sich in seine Hand, und er schlägt unaufhörlich in das verzerrte Iltisgesicht. »Heb die Hand!« schreit Klaus. »Heb die Hand, daß du dich ergibst!« Joseph hebt die Hand, und es ist zu Ende.

Weishaupt schäumt, als die drei ihn wieder einholen. »Natürlich«, brüllt er, »der Herr von Karsten-Zerrgiebel und der Wasserkopf. Wer denn sonst?«

»Jo … johannes ist unschuldig«, stottert Klaus.

»Er hat angefangen«, heult Joseph, nun aller Sieghaftigkeit entkleidet.

»Verantworten Sie sich, Zerrgiebel!« Weishaupts Stimme klirrt, und seine Haifischaugen stechen durch das Glas des Kneifers.

Johannes schweigt. Er sieht zu, wie das Blut an seinen Fingern heruntertropft, und um seinen Mund steht ein kalter Hochmut.

»Passive Resistenz?« klirrt Weishaupt. »Zwei Stunden Arrest zunächst dafür!«

»Joseph hat seine Mutter beschimpft«, schreit Klaus. »Es war gemein!« Eine kalte Angst vor seiner Verwegenheit würgt ihn, aber er schließt die Augen vor dem Rochengesicht und stürzt sich kopfüber in den Abgrund.

»Beschimpft? Was heißt das, beschimpft?«

Klaus sieht Johannes an, und ein drohender Blick verschließt seinen Mund.

»Wenn Johannes es nicht sagen will, darf ich es auch nicht sagen.«

»Zwei Stunden!« klirrt die Stimme. »Ist es wahr, Martin?«

»Sie lügen«, heult Joseph. »Gar nichts habe ich gesagt.«

Weishaupt prüft sie einen Augenblick lang mit den Augen. »Der Fall zeugt von solcher sittlichen Roheit«, entscheidet er, »daß ich ihn vor die Konferenz bringen werde. Raubmörderallüren wollen wir hier nicht einführen … antreten in Gruppenkolonne, Front nach Westen! Im Gleichschritt … marsch! Singen!«

Der Fall kam nicht vor die Konferenz. Johannes erhielt vier Stunden Arrest, womit Weishaupt in vollem Bewußtsein seine Amtsbefugnisse überschritt, und einen schweren Tadel in seinem Zeugnis wegen »roher Prügelei und Körperverletzung«. In den Ansprachen des Ordinarius tauchten nun ab und zu die »Leute mit Raubmörderallüren« auf, aber weiter geschah nichts. Joseph war von der eisigen Zurückhaltung, die einem Verbrecher gegenüber angemessen war.

Gina erfuhr das Ganze von Klaus. Sie sagte nichts, aber sie schrieb eine kurze Darstellung an Bonekamp und setzte darunter: »Kinder sollten nie durch Große Leid haben.« Erst viele Wochen später, als sie an einem Herbstabend vor dem Ofenfeuer in ihrer Kammer saßen – an jedem Sonnabend kam Johannes und blieb bis zum Sonntagabend –, beugte sie sich unvermutet über seine Hand und küßte die tiefe Narbe, die Josephs Zähne dort hinterlassen hatten. Er entzog sie ihr hastig und wurde glühend rot, so daß sie nicht gewiß war, ob sie das Rechte getroffen hatte. Aber nach einer langen Weile des Schweigens legte er seinen Kopf in ihren Schoß, und ihre Hände glitten wie in alter Zeit über seine Stirn, zwischen den Augenbrauen. Gesprochen wurde nicht mehr darüber. Erst am Zuge sagte Johannes mit abgewendeten Augen: »Du kannst dich immer auf mich verlassen, Mutter.« – »Das weiß ich, Johannes«, erwiderte sie ganz ruhig und gewiß.

Es sind noch zwei in der Klasse, zu denen Johannes eine äußerlich lose Beziehung unterhält, aber alle drei wissen, daß das Innerliche und Ungesagte viel tiefer geht. Der eine ist der Werkmeistersohn, ein begabter, scheuer und sehr ernster Junge, in dessen Haus Johannes mitunter geht. Der Vater ist klein und kümmerlich wie Pinnow, und wie dieser kann er mit seinen Augen auf seltsame Weise leuchten. Die Mutter ist verarbeitet, sorgenvoll und hart in ihren Urteilen. Es kommt vor, daß Johannes bis Mitternacht an dem Holztisch in ihrer Küche sitzt und mit seinen schweigenden Augen Geheimnis und Bekenntnis aus der Seele des Werkmeisters heraushebt. Er hat zwei Reihen selbstgebundener Bücher, die er wie ein Heiligtum in die Hand nimmt und aus denen er mitunter eine Seite vorliest, manchmal nur Zahlen, manchmal etwas, was wie eine Predigt oder wie ein Schrei aus Mauern hervorbricht. Aber am schönsten ist es, wenn er über das Leben spricht wie der Wassermann oder der Schwarzbart. Es ist anders als in der Schule, und Johannes weiß schon jetzt, daß auch alles Kommende anders sein wird. »Wir sind hungrig, junger Herr«, sagt der Werkmeister, »aber wir sind nicht nur hungrig nach Brot, wie sie alle sagen und schreiben. Auch nicht nach Macht. Wir sind hungrig nach Luft, verstehen Sie? Wir sehen nicht ein, daß die Reichen mehr Luft brauchen, mehr Schönheit, mehr Essen, mehr Kirchenglocken, einen größeren Sarg, mehr Platz auf dem Kirchhof und im Himmel. Wir denken, daß jeder Mensch ebensoviel Luft braucht, Pinnow soviel wie der Doktor Weishaupt, und der kleine Nathanleben soviel wie der Herr von und zu Bardeleben. Das denken wir, weiter nichts.« Seine Augen gingen zu seinem Sohn. »Ich hab' mit vierzehn Jahren am Schraubstock gestanden, und er sitzt mit vierzehn Jahren auf Untersekunda. Das ist etwas, was das Sterben leichter macht, junger Herr … und das Leben auch.« Der Junge, den Kopf in die Hände gestützt, sah dann zwischen ihnen hindurch auf die weiße Küchenwand, und sein ernster Mund wurde noch schmaler. Er sprach fast nie ein Wort. Nur wenn er Johannes herunterbrachte, sagte er: »Du mußt das nicht weitererzählen, er hat es schon schwer genug … sie haben Mutter wieder an zwei Stellen gekündigt.«

Ging Johannes dann durch die stille Stadt nach dem See, so war es ihm immer, als habe der Abend wieder ein Stück von dem Ballast hinter ihn geworfen, den der Vormittag auf ihn gehäuft, aber dafür wurde die Zukunft immer drohender und rätselhafter und das Kommende wie ein Nebel, in den man ihn hineinstieß.

Der zweite ist Graf Pfeil. Er ist bei Doktor Balla in Pension, dem Dickblattgewächs, und geht auch in den Ferien nicht nach Hause. Er verreist mit unbekanntem Ziel. Seine Mutter ist geschieden, und man sagt, daß der alte Graf ein wüstes Leben geführt habe und noch nach Kräften führe. Seinen Sohn soll er aus dem Hause geworfen haben, noch vor der Scheidung, weil dieser seine Mutter mit der Reitpeitsche tätlich und erfolgreich verteidigt habe. Percy spricht nicht davon. Er schweigt. Niemand kann so tapfer schweigen wie er. Er haßt Gespräche über den Lehrkörper, die Schule, die Stadt. Er spricht über Geschichte oder Mathematik oder Haeckels »Welträtsel« oder David Friedrich Strauß. Er liest sehr viel, auch Zeitschriften, denkt scharf, urteilt leidenschaftslos über Dinge und erbarmungslos über Menschen, den Lehrkörper, seine Standesgenossen, die Honoratioren der Stadt. Er hat immer etwas Gletscherluft um sich, rein und schneidend, und Johannes brennen die Wangen, wenn er mit ihm aus dem Walde kommt oder zwischen Herrn Pinnows Asternbeeten auf und ab geht. »Du bist zu weich«, sagt Percy. »Das macht der Blick über Felder und die langen Winterabende auf den Bauernhöfen durch Jahrhunderte. Es ist schön, aber es ist gefährlich. Sieh dir den Rochen an, das sind die Leute von morgen. Noch drei Geschlechter Blutzuschuß in ihre Plebsseele, und sie regieren uns alle. Mischung von Schaffner und Oberleutnant. Dichter bekommen dann Freistellen in Idiotenanstalten.«

Pinnow ist jedesmal begeistert, wenn er kommt. Es macht sich von selbst, daß sie ein bißchen stehen bleiben, wo er seine Rosen beschneidet, und daß er dann langsam mit ihnen auf und ab geht, immer ein wenig hinterdrein, da die Gänge zu schmal sind. Seine Augen leuchten, und er findet den Grafen »großartig«. Nur mit der Baptistenlehre hat er kein Glück. »Dämonenglauben, lieber Herr Pinnow«, sagt Percy ohne Zögern. »Heizen Sie Ihre Gewächshäuser damit und lesen Sie Darwin.« Aber Pinnow überwindet den Schmerz, und das nächste Mal gehen sie wieder einträchtig die Gänge auf und nieder. Frau Pinnow geht mitunter die Pfeife aus, wenn er spricht. Sie ist eine tapfere Frau, und bei ihrem Mann ist immer »kleine Revolution«. Aber das ist harmlos gegen das, was hier über ihren Ladentisch gesprochen wird. Sie klopft nachdenklich ihre Pfeife in einen leeren Blumentopf aus, und während sie sie von neuem stopft, sieht sie von unten her nachdenklich in Percys Gesicht. »Die Mutter fehlt, junger Graf«, sagt sie, als rechne sie ihr Geschäftsbuch durch. »Daß Ihnen einmal einer mit der Hand über die Stirn streichelt. Frau Doktor Balla … na schön, aber sie ist eine Pute … Sie wachsen zu schlank und zu hart, und es ist schade um Sie.« – »Um einen einzelnen ist es niemals schade«, erklärt Percy. Frau Pinnow streicht ein Streichholz an und lächelt vor sich hin. »Wenn der liebe Gott ein Kaufmann wäre«, meint sie dann, »dann könnte es vielleicht nicht schade sein. Aber da er vielleicht ein Hirte ist, vielleicht auch noch mehr, so könnte es doch schade sein … so, und nun wird schlafen gegangen, marsch!«

Aber das entscheidende Erlebnis dieses Jahres kommt zu Johannes nicht in den Gesprächen mit dem Grafen Pfeil oder in dem Kampf mit Joseph oder in einer Abendstunde am Seeufer. Es kommt zu ihm in Gestalt eines Menschen, und das Wunder ist, daß dieser Mensch ein Lehrer ist. Nach den Herbstferien, nach der ersten Morgenandacht, steht ein neuer Mann auf dem langen Podium an der Wand der Aula. Die Schüler grinsen mit langen Hälsen, und fünfhundert Augen tasten an seinem scharfen Gesicht herum wie an einem Raubtier, das gezähmt in seinem Käfig sitzt und von dem man nicht weiß, wie es sich bewegen wird, wenn man die Tür öffnet. Der »Löwe« teilt mit, daß das Professor Luther sei, von der Hauptstadt der Provinz »aus dienstlichen Gründen« hierher versetzt. Es klingt so, als habe der Professor einen Raubmord begangen, und eine ganz leise Ahnung von »Zusammenhängen« kriecht bis in die fernsten Ecken. Er werde den naturwissenschaftlichen Unterricht übernehmen, und er, der Direktor, bitte sich aus, daß die Disziplin der Anstalt dieselbe bleibe. Es klingt ein wenig merkwürdig, und der Lehrkörper hat ein Gesicht wie gefrorenes Holz. Luther läßt seine Augen über die Gesichter der Schüler gehen, prüfend, nicht ganz ohne Neugier. Als nichts mehr erfolgt, kein Willkomm, kein Handschlag, setzt er sich, macht es sich auf seinem Stuhl bequem, zieht den Siegelring von seiner linken Hand und betrachtet liebevoll den Stein. Sein großer Schauspielerkopf hat Falten, Licht und Schatten, und wirkt fremd, aufgewühlt, zerrissen in der satten Behaglichkeit der Phanerogamen und der starren Schneidigkeit der Sporenträger. Seine Kleidung ist ungehörig elegant und eine Beleidigung für die ganze Stadt. Beim Hinausgehen ist zu merken, daß er ein wenig hinkt.

Als er in die Untersekunda tritt, beginnt er mit etwas ebenso Unerhörtem. Er beginnt mit der vordersten Bank – es gibt noch eine Rangordnung, und Klaus sitzt am Ende der Gerechten – und fragt nach Namen und Herkunft. Bevor Klaus, gänzlich fassungslos, ein Wort herausbringt, erhebt sich Gieseke und sagt bescheiden, aber nicht ohne durch Taktlosigkeit verletzte Würde, daß er der Primus sei. Luther sieht auf, höflich überrascht, und um seine Mundwinkel spielt ein bedrohlich fröhliches Lächeln. »Danke sehr«, sagt er, »bin entsprechend ergriffen.« Und dann strahlt er seine grauen Augen, die wie mattes Metall funkeln, in die verstörten Augen des Bahnmeistersohnes. »Kreuzträger«, murmelt er, wie für sich allein, »Haupt voll Blut und Wunden …« Dann gibt er ihm die Hand und kommt zum nächsten. Bei jedem murmelt er ein weniges für sich hin, häufig ist es nichts als »Hm …« Bei Johannes verweilt er lange, und schließlich fragt er: »Weshalb sind Sie denn hier?« Johannes antwortet nicht, aber in diesem Schweigen liegt eine ihn fast mit einem Schwindel erfüllende hüllenlose Berührung mit einem anderen Menschen, und er ist tief erblaßt, als er sich setzt.

Von den Bauernsöhnen bringen die meisten es nur zu einem Grinsen, der Adel verharrt in kühler Reserve, selbst die Namen werden lässig hingesagt, als bedürfe es eines weiteren Gewichts gar nicht, um die neugierige Zudringlichkeit dieses »Laffen« zu erledigen. Aber niemand widersetzt sich, das Lächeln ist gefährlich, und die grauen Augen blicken so kühl wie auf ein Präparat unter dem Mikroskop.

»Nun, wir werden sehen«, sagt Luther am Schluß, »junge Eichen brausen nicht.« Es klingt etwas rätselhaft, aber es klingt wenigstens anders als das Bisherige.

Klar ist in der ganzen Schule, daß er ein »Kerl« ist. Es gibt seltsame Dinge in seinem Unterricht, nicht nur unter dem Mikroskop, das er von zu Hause mitbringt. Die Natur wird zu einem Abgrund der Geheimnisse. Fenster werden aufgestoßen, eingeschlagen, Mauern niedergerissen. Das Leben braust herein, Tagesereignisse, Menschenschicksale, Völkerschicksale, Erdkatastrophen. Eine Blume ist keine Blume mehr. Tempel stürzen ein und werden neu aufgebaut. Weltanschauungen wanken, Könige schleichen davon, die Krone im Staub, Bettler und Fremde steigen auf den Thron. Alle Werte werden umgewertet, Revolutionen dröhnen durch die verstaubten Räume, und über allem Tod und aller Auferstehung stehen unerschüttert die grauen, leuchtenden Augen, furchtlos, erbarmungslos, grenzenlos in verlangender Güte.

Die Stadt schäumt. Er hat eine Hausdame, die kein Korsett trägt und die die »Wanze« nicht grüßt, Ledermöbel, einen Konzertflügel, Bilder an den Wänden, die der Lehrkörper »einfach gemein« nennt. Er trägt große, graue Hüte und Mäntel von einer Kühnheit, über die Nathanleben die Hände ringt. Er versammelt Schüler bei sich, zum Kaffee, zum Abendessen, zur Mitternacht, wie es ihm beliebt. Er bekommt Briefe aus dem Ausland, und Weihnachten fährt er in die Alpen. Er hält ein halb Dutzend Zeitungen, auch hier einige aus dem Ausland, aber nicht die Stadtzeitung. Er macht Besuche, wird eingeladen, erwidert die Einladung, und dann ist es zu Ende. Eine Eismauer erhebt sich zwischen ihm und der Stadt, und nur sein schonungsloser Spott funkelt über sie hin. Er bewohnt eine Villa allein, zieht hochstämmige Rosen in seinem Garten, trinkt Pfirsichbowlen mit seinen auserwählten Schülern, hat die Unehelichen bei sich, den Werkmeistersohn, auch einen Juden, geht nachmittags mit einem Affen, den er an einer dünnen Kette führt, durch die Straßen nach der Buchhandlung, schlägt vor niemandem die Augen nieder, ist ohne jeden Respekt vor den Göttern und Autoritäten der Stadt, des Vaterlandes, der Welt, sagt dem »Löwen«, als er ihn bei einem Unterrichtsbesuch verbessernd unterbricht, er halte es für zweckmäßig, nur über die Dinge zu urteilen, die man verstehe, kurz: er ist ein Stern, der über Nacht in die Stadt hineingedonnert ist, daß die Dächer aufklaffen, die Mauern wanken und das fremde, bläuliche Licht wie eine Fackel Satans über dem Untergang der Erde braust.

Es gibt nur eines: geschlossene Abwehr, gefälltes Bajonett, Übergang zum Angriff. Dazu müssen die schwachen Stellen erkundet werden, und Weishaupt fährt in den Weihnachtsferien in die Hauptstadt, um Erkundigungen einzuziehen. Er erfährt mancherlei, Weibergeschichten, staatsfeindliche Tendenzen, Atheismus, Disziplinlosigkeit. Fehlendes setzt er hinzu. Boykott setzt ein, Ächtung, Verfemung. Man gräbt, bohrt, unterminiert, und, da Luther lächelt, kalt, frech, diabolisch lächelt, sammelt man vorläufig Material, in heimlich geführten Notizbüchern, und wartet auf die Gelegenheit, wo er die Grenze überschreitet, eine Lücke in seinem Panzer, eine Schwäche in seiner Parade bietet.

Am dritten Tag nach seiner Einführung erscheint er in der Gärtnerei und bestellt bei Herrn Pinnow hochstämmige Rosen. »Sie sind Sektierer?« fragt er unvermutet während des Kaufes. Pinnow, starr, bekennt sich zur Lehre der Baptisten. Luther nickt befriedigt, setzt sich auf die Regenwassertonne, raucht eine seiner schwarzen Zigarren und spricht eine Stunde lang mit Pinnow, als wären sie zusammen aufgewachsen und hätten sich nun ein paar Jahre nicht gesehen. Gott wird behandelt und Darwin, die soziale Frage und die Kaiserreden, der beste Zigarrenladen der Stadt und die beste Art, Spargel zuzubereiten. »Sehen Sie«, sagt Luther zum Schluß, »der Hamburger sagt, daß es Kinder, Menschen und Leute gebe. Das ist die Sache. Und wenn Sie Zeit haben, kommen Sie mal ein bißchen bei mir vorbei.«

Pinnow ist begeistert, und der Professor geht in den Laden, um zu bezahlen. Er setzt sich auf den Ladentisch, den grauen Hut in den Nacken geschoben, und es gibt ein zweites Gespräch. Der Raum ist behaglich und warm, sobald er da ist. Es gibt keine Formen, keine Abstände, er ist wie ein Arzt, aber mit seinem ersten Wort verschwindet die Krankheit. Er sieht alles, weiß alles, versteht alles. Seine Neugier ist grenzenlos, aber jedes Wort, das er erfährt, nimmt er zwischen seine schönen, schmalen Hände und tut es in einen Schrein der Beichte, der Güte, der Bewahrung.

»Ist er oben?« fragt er plötzlich. Frau Pinnow versteht sofort und führt ihn die Treppe hinauf. Johannes sitzt im Dämmerlicht am Fenster und hat das »Buch des Lebens« auf den Knien. Er hat eben ein paar Verse geschrieben über den Weg im Nebel.

Der Professor wirft den Hut auf das Bett, sieht sich einmal um und zieht sich den zweiten Stuhl ans Fenster. Das Zimmer erscheint plötzlich zu klein für sein gewaltiges Haupt mit den zerrissenen Linien. Eine lange Weile sieht er Johannes an, vorgebeugt, ernst, fast drohend. Dann lehnt er sich aufatmend zurück, seine Lippen entspannen sich, und eine große Güte entzündet sich wie ein Schein auf seinem Gesicht. »Erzähle, Johannes«, sagt er, »von deinem Leben, was du denkst, was du schreibst, von Vater oder Mutter … wer ist es?« – »Die Mutter«, erwidert Johannes leise. Luther nickt. »Solche Gesichter kommen immer von Müttern«, sagt er versunken. »Ich möchte sie kennenlernen … und nun erzähle.«

Und das Wunderbare geschieht, daß Johannes erzählt. Es gibt kein Besinnen, kein Auflehnen, ja, es ist sogar ein Glück, ein schmerzliches aber unsäglich beseligendes Glück. Es ist die erste Hingabe, die erste Liebe, der erste Rausch. Der Schwarzbart und Ledo, Welarun und die Flöte, Theodor, der Brunnen und der Keller, Klaus und der Rochen. Es gibt kein Aufhören, keine Grenzen, keine Scham, keine Widerstände. Er verströmt sich, gibt sich preis, er erlebt die erste Entspannung, Entladung, das erste, ganz unbewußte Opfer an Eros, und eine süße, taumelnde Schwäche umhüllt ihn, als es zu Ende ist. Und seltsam ist nur, daß er von seiner Mutter kein Wort erzählt.

Es ist dunkel geworden und spät. Der andre hat die ganze Zeit bewegungslos gesessen, und nur ein matter Schimmer erhellt sein Gesicht von dem Monde, der groß und fremd über der Gärtnerei steht. »Ich danke dir, Johannes«, sagt er endlich, fährt ihm schnell über das dunkle Haar und tastet nach seinem Hut. An der Tür, ganz im Dunklen, wendet er sich noch einmal um. »Weißt du, wie es in der Bibel heißt, Johannes? ›Ihr seid teuer erkauft. Werdet nicht der Menschen Knechte!‹ Das ist ein schönes Wort, Johannes.«

Dann tastet er sich allein die dunkle Treppe hinunter. Frau Pinnow nimmt die Pfeife aus dem Mund und sieht ein wenig besorgt zu ihm auf. Er blickt auf die Rauchwolken, die sich in seltsamen Linien verschlingen, und sein Gesicht ist plötzlich ganz alt geworden. »Manchmal geht Gott aus den Blumen in einen Menschen«, sagt er dann langsam. »Es geschieht sehr selten, aber wenn es geschieht, dürfen wir nicht mehr schlafen, nicht wahr, Frau Pinnow?«

Sie kann nur nicken, weil es so feierlich ist. Und dann begleitet sie ihn vor die Tür und sieht ihm nach, wie er die Straße entlanggeht, in seinem seltsamen Mantel, der einen riesigen Schatten wirft, den Kopf auf die Brust gesenkt. Und jedesmal, wenn er den linken Fuß aufsetzt, zuckt der Schatten wie in einem plötzlichen Schmerz.

Diese Stunde entscheidet auf eine seltsame Weise. Nicht daß Johannes sich verliert, daß er aufgeht in dem andern und als ein Ebenbild seines neuen Gottes wieder auftaucht, seines früheren Selbst entkleidet, mit einem neuen Gewand umhüllt. Aber er erfährt die erste Wiedergeburt. Was der Gang nach Damaskus vermag, die Liebe einer Frau, eine Stunde des Schlachtfeldes, das vermag Luther. Er zerschneidet die Brünne, er ruft bis in die Särge, er öffnet, entfesselt, läßt auferstehen. Das »andere«, bisher das Feindliche, Drohende, Fremde, Zerdachte, Zerfühlte, höchstens in freundlicher Teilnahme Betrachtete, wird hier zum erstenmal Gestalt, Weite, Offenbarung. Immer noch bleibt es das »andere«, aber die Meisterung des Lebens erscheint zum erstenmal, das große Licht im Nebel. Auch hier ist das Wissen, daß man niemals so sein wird, aber mehr als dies Wissen ist das Erlebnis, daß jemand so sein kann. Ungeheuer werden plötzlich die Grenzen des Lebens. Man fliegt nicht, aber eine Hand greift herunter und reißt hinauf bis in die Reiche des Adlers, wo das andere winzig wird und ohnmächtig. Der Adel des Gefährten umfließt Johannes, der Ausgewähltheit, des Jüngertums. Die Schule ist ein Tempel geworden, denn es ist jemand da, der die Wechsler austreibt und die Mördergrube zu einem Bethaus macht. Sein Zimmer ist ein Gotteshaus geworden, die Straßen sind mit Palmen bestreut, die Tage blühen, die Nächte sind ein Rausch der Sterne, die Worte müssen gewogen werden, die er spricht, damit sie nicht sinken auf der Waagschale des anderen. Er ist geadelt und berufen worden, und er schreitet durch sein Leben wie unter einer heimlichen Krone.

Es gibt Tage, wo sie von der Mittagszeit ab bis zur Mitternacht durch die Wälder streifen, in einem verlorenen Wirtshaus einkehren, in Waldseen baden, am Rand verwunschener Schonungen liegen. Es gibt Tage, wo sie kein Wort wechseln und Johannes in einer Ecke von Luthers feierlichem Arbeitsraum sitzt und nur liest, ohne Aufhören, ohne Bewußtsein der Welt. Es gibt Tage über dem Mikroskop und Tage über Gedichten, Tage über Luthers Reiseerinnerungen und Tage über einer einzigen Melodie. Und nichts ist flach, leer, dagewesen, alles ist von unerhörter Fruchtbarkeit, Hingabe, Erschütterung. Gina beginnt zu leiden, ohne Wort und Gebärde, gleichsam nur wie ein Baum, aus dessen Krone ein Vogel sich davonschwingt. Sie ist beglückt über den leisen Wandel, den sie sieht. Sie fühlt, daß hier der erste ist, der für eine Weile stärker ist als ihr Blut, und daß er der erste ist, der einen Pfeiler in ein Gewölbe hineinbaut, eine Achse in ein rollendes Rad. Sie ist beglückt darüber, aber sie täuscht sich nicht darüber, daß sie leidet, und alles, was sie tun kann und nach ihrem Glauben tun muß, ist, daß sie gern leiden will. An den leeren Vormittagen sitzt sie mitunter in der Kammer, eine von den Kinderzeichnungen in der Hand, und denkt die Reihe der vierzehn Jahre zurück und einen weiten Weg in die Zukunft hinaus. Sie weiß, daß sie nichts als ein Gefäß gewesen ist, eine Schale für Edles, und wenn sie aufsteht, ein wenig müde und leer, vermag sie doch zu lächeln in dem Gedanken, daß auch die Schale einen Glanz des Edlen empfängt, das in ihr geruht hat. Und auch daran denkt sie, daß alle Karstentöchter ein Mal über dem Herzen tragen. Man soll nicht wider Gott gehen, auch nicht mit einem Kind.

Und sie denkt ein wenig an Bonekamp, der traurige Briefe schreibt, und ob er näher kommen werde, je ferner das Kinde gehe. Und dann spielt sie ein wenig mit ihren schönen, ringlosen Händen und denkt an das Herdfeuer auf dem Karstenhof, und daß sie ihre Füße ein wenig ruhen und wärmen möchte. Und dann geht sie an ihre Arbeit und rechnet noch einmal die Stunden zusammen, die noch vergehen müssen, bis Johannes am Sonnabend kommt.

Am Abend dann, als er schon in seinem Bett liegt – sie macht sich jetzt in der Küche zu schaffen, bis er sich ausgekleidet hat –, setzt sie sich noch einmal zu ihm, streichelt wie unabsichtlich seine Hand und fragt dann, ob er vielleicht von jetzt ab auch über Sonntag in der Stadt bleiben wolle, da der Professor ihn vielleicht brauche.

Er hebt ein wenig den Kopf, um sie besser ansehen zu können, versteht sofort und richtet den Blick zur Wand. Er braucht gar nicht zu überlegen, aber das Zittern ihrer Mundwinkel erschüttert ihn so, daß er fortsehen muß. »Ich laufe die ganze Woche, Mutter«, sagt er dann leise, »und wenn ich hierherkomme, will ich trinken. Das Laufen ist wichtiger, aber glaubst du, daß man immerzu laufen kann, ohne zu trinken?«

»Auch wenn ich zu Stein geworden bin«, sagt Gina über ihn hin, »brauchst du mich nur zu schlagen wie Moses.«

Und dann küßt sie ihn zur Gutenacht.


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