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2

Vom ersten Tag dieser Ehe aber geschah das Erschreckende, daß Gott nicht still war. Und es schien nicht nur ein harter, eifriger Gott zu sein, sondern auch ein listiger Gott, der sein Opfer bis an das Tor der Schmerzen lockte, aber nun erst in Wahrheit mit ihm zu spielen begann, weil er erkannt hatte, daß er ohne Mühe mit ihm spielen könne.

Gina hatte gedacht, daß es genug sei, Frau Zerrgiebel zu werden und dem Kinde eine Mutter zu sein. Auch hatte sie gewußt, daß sie eines neuen Lebens Mutter würde werden müssen. Aber alles andere hatte sie nicht gewußt, und in diesen ersten Monaten konnten ihre Augen mit einer harten Drohung in Gottes Augen blicken. Sie beugte sich, aber Gott mußte sie schlagen, damit sie sich beuge. Niemals in ihrem Leben war sie geschlagen worden, und das Furchtbare des Erlebnisses traf wie ein Hammer auf ihr nacktes Herz. Sie war ungezwungen und unentstellt durch ein ruhiges, wenn auch ein wenig trauriges Leben gegangen. Sie hatte lachen und weinen, schweigen und reden dürfen, wenn ihre Seele es ihr befahl. Niemand verschloß den Wald vor ihr, den Ofenwinkel, den Regen, die Sterne. Sie war ein Vogel gewesen. Der Habicht stand wohl ab und zu über ihr, aber sie hatte ihr Nest, die Hecken, die Zweige, das Unsichtbare, die unbetretenen Heiligtümer.

Nun aber richtete man sie ab. Das Zugeteilte war ihr Los: der Raum, die Nahrung, der Atem, die Freude. Und vor allem anderen das Alleinsein. Ihre Stimme wurde ihr verhaßt, ihr Lächeln, der Blick ihrer Augen, das Gefühl ihres Körpers. Sie war wie ein Kind, dem man eine widerwärtige Speise in den Mund preßt. Die Lippen schließen sich gehorsam, aber der Blick der verzweifelten Augen geht über die Härte der zuschauenden Augen in eine ganz weite Ferne, bis in die Hände eines unbekannten Gottes.

Es begann im Dunkel der Frühe, wenn der schneidende Ton des Weckers die Wände des Schlafes zusammenstürzte und das Bewußtsein des Lebens wie ein Gewölbe auf ihre Stirne niederbrach. Dann setzte ihr Herzschlag aus, und ihr Körper lag fremd und gelähmt um das schreckliche Schweigen. Und jedesmal vernahm sie auf dem knirschenden Schnee der Straße einen zögernden Schritt, und jedesmal dachte sie, daß es Gott sei, der nun von ihrem Bett in die großen Wälder gehe, wo er bis zum Abend die hungernden Tiere füttere.

»Etwas lebhafter, wenn ich bitten dürfte«, sagte Zerrgiebel und drehte sich behaglich auf die andere Seite. Sie kleidete sich im Dunkeln an, weil das Licht ihn störte, machte Feuer in der Küche und kam dann wieder herauf, um Theodor anzuziehen. Er lag wie ein kleines, böses Tier in seiner Kammer, und das erste, was sie von ihm sah, sobald die Lampe brannte, war die Querfalte zwischen seinen Augenbrauen. Er sprach kein Wort am Morgen, aber seine eng zusammenstehenden Augen funkelten wie die einer Ratte, und sein Körper war ein einziger, geballter Widerstand. »Sei liebreich zu dem Knaben«, rief Zerrgiebel mit milder Mahnung durch die Tür. Der Knabe lächelte höhnisch und ließ die Zahnbürste in seine Waschschüssel fallen. Er steckte den rechten Fuß in den linken Schuh, den sie ihm entgegenhielt, und den rechten Arm in den linken Ärmel seiner Jacke. Es war sein Morgenvergnügen, ihm wie ein Erbrecht zustehend, und das Lächeln um seine Mundwinkel ließ unmißverständlich erkennen, daß er sich die ganze Zeit darauf freue.

Gina hatte nicht die Kraft, ihn zu schlagen. Ein dumpfes Grauen erfüllte sie vor diesem runden, blassen Gesicht, und jeden Morgen erwartete sie mit krankhafter Spannung, daß über Nacht auch ihm der blonde steile Schnurrbart Zerrgiebels gewachsen wäre. Sie hatte die jungen Tiere auf dem Karstenhofe geliebt, mit ihren klagenden Augen, die nichts als Spiegel waren, ihren feuchten, hungrigen Lippen und ihren hilflosen Gliedern, die ihnen immer irgendwie zu viel waren. Und sie hatte gedacht, daß Kinder etwas seien, auf deren Stirne noch der Atem Gottes hafte. Aber nun dachte sie, daß dieses Kind sicherlich in dem furchtbaren Keller geboren worden sei, dessen Atem bis an ihr Bett stieg, und die Mutter wohl dort gelebt habe, immerdar, und vielleicht noch dort lebe und gar nicht gestorben sei, wie Zerrgiebel gesagt habe.

Sie sah scheu von der Seite auf seine lautlosen Bewegungen, mit denen er sich über seine Büchertasche beugte, und daß er wie immer die rechte Hand in seiner Tasche hielt, gleichsam um etwas Verborgenes geklammert, das er aufheben könne zum Wurf oder zum Stoß, wenn man ihn reizen sollte.

Und dann kam der Kaffeetisch. Alle Zerrgiebels aßen hastig und leise, mit den Blicken eines Vogels, der eine Beute gerettet hat, und immer stand in ihren Zügen ein Mißvergnügen, daß auch andere aßen. Ihre Hände glitten nicht wie in einem schönen Spiel um die Speise, sondern griffen sie an wie in einem Kampf, und in ihrem Sieg lag etwas Rohes, fast Blutiges.

Zwischendurch fragte Zerrgiebel seinen Sohn nach seinen Tagesaufgaben. Er erhielt mürrische, sehr unvollkommene Antworten. Dann schüttelte er bekümmert den Kopf.

»Der sittliche Kern des Geschlechtes welkt dahin«, sagte er leise, den trüben Blick auf Gina gerichtet. »Die Pfeiler wanken, Pflichtgefühl, Fleiß, Strebsamkeit. Ich werde mit Gram in die Grube fahren. Sag du es, Gina: zwölf mal dreizehn, wieviel?«

»Einhundertsechsundfünfzig«, erwiderte sie mit starrem Gesicht.

»Brav, meine Liebe, sehr brav. Und da sagt man, daß die Bauern keinen Verstand haben. Wiederhole, Theodor, mein Liebling. Wieviel?«

Aber Theodor schwieg bisweilen auf solche Fragen. Dann führte Zerrgiebel lächelnd mit der Rechten die Kaffeetasse zum Munde, und mit der Linken drückte er Theodors Oberarm langsam zusammen. Es sah aus, als spiele er, aber die Falte zuckte zwischen seinen Brauen, und das Kind biß die Zähne in die blasse Unterlippe. Und dann sagte es tonlos, mit geschlossenen Augen die Antwort. »Siehst du wohl«, meinte Zerrgiebel, die Augen lächelnd auf Gina gerichtet.

Mitunter las er aus der letzten Abendzeitung eine Skandalnotiz, die er rot angestrichen hatte, und tauchte sie Zoll für Zoll in die Säure seiner Betrachtung. »Tja, die Gebildeten …«, sagte er freundlich, und er zerlegte das Leben seiner Vorgesetzten und aller Honoratioren des Städtchens sauber und kunstgerecht wie ein Präparat. »Ich kenne sie«, sagte er bescheiden, »ihre Frauen, ihre Söhne, ihre Töchter, ihre Dienstboten. Alles gebucht, belegt und beglaubigt. Ich bin ein einfacher Mann, aber wenn sie wüßten, würden sie zittern … Auch du zitterst, meine Liebe, aber du brauchst es nicht … Tue recht und scheue niemand! Das ist die Devise. Wiederhole, Theodor, mein Liebling … ja, so war es richtig.«

Gina zitterte wirklich. War er nicht zur Nacht in den Kellern gewesen und lagen dort nicht aufgehäuft die Bücher aller dieser Menschen, die er nun aus dem Gedächtnis ablas? Hatte er sie nicht in Ketten geschlossen, in kleinen Nischen, an verrostete Ringe in der feuchten Mauer? Und ging er nicht von einem zum andern, die Hand um ihren Arm legend wie um den seines Sohnes, bis sie bekannten, alles und mehr als alles? Und dann saß er wohl irgendwo an einem steinernen Tisch und schrieb es auf, Geständnis um Geständnis, mit seinen klaren, geschwungenen Buchstaben, und kein Wort fiel aus der ehernen Kammer seines Gedächtnisses.

»Laßt uns beten«, sagte Zerrgiebel feierlich zum Abschluß.

Theodor mußte einen Psalm lesen, und Zerrgiebel faltete die knochigen Hände, den lächelnden Blick auf seine Frau gerichtet.

Das erstemal hatte Gina fassungslos in dieser Szene gesessen, deren Verruchtheit sie unbewußt fühlte. Die Stimme des Kindes hatte die leise Drohung einer lose gespannten Stahlsaite, und es spielte mit diesem Instrument in einer Bosheit, die in einem schrecklichen Gegensatz zu den einfachen Worten des Buches stand. Die Wehrlosigkeit des Frommen und Schönen war in seine Hände gegeben, und es war, als spiele ein Unhold mit dem entstellten Leichnam eines schuldlosen Tieres.

Sie war aufgestanden, hatte das Buch aus seinen Händen gerissen und war zur Türe gegangen. Aber sie war so lautlos und unwiderstehlich ergriffen und zu ihrem Platz zurückgeführt worden wie von dem Treibriemen einer verborgenen Maschine. »Derartiges ist hier nicht üblich«, klang es aus der Tiefe stählerner Abgründe. »Lies zu Ende, mein Liebling.« Und sie verleugnete Gott und weinte nicht einmal darum.

Dann gingen sie den kurzen Weg zum Bahnhof. Zerrgiebel legte Wert darauf, daß Gina sie begleite und ihnen zum Abschied winke. »Die Leute sollen sich auch ein wenig an unsrem Glück freuen.« Sie sah Vater und Sohn einsteigen, wußte nach der Zahl ihrer Herzschläge, wie lange der Zug hielt und sah dann die beiden Gesichter noch einmal im Fenster. Dieses Nebeneinander war die letzte Hypnose, der man sie unterwarf, eine Lähmung, die nicht aus einer Addition zweier Erscheinungen floß, sondern aus einer unendlichen Potenz, zu der ihre Ähnlichkeit stieg. ›Wenn auch er einen Schnurrbart hätte‹, dachte sie beim letzten Blick auf das Kind, ›das wäre der Tod, ganz gewiß …‹

Im Hause, ohne den Mantel abzulegen, sank sie auf den ersten Stuhl und saß so, die Hände gefaltet, mit geschlossenen Augen, wohl eine Stunde lang. Und dann begann sie an ihre Arbeit zu gehen. Es war ihr, als höbe sie die einzelnen Stunden auf eine kaum merklich geneigte Ebene, ließe sie ablaufen und blickte ihnen nun nach, wie sie als drohende Kugeln zu Tale rollten, ein leeres Echo aus leeren Wänden rufend und in einer unmeßbaren Ferne verhallend. Sie konnte dabei lächeln gleich einer Maske und plötzlich still erschrocken vor einen Spiegel gehen und sich, immer noch lächelnd, betrachten, und die vier geheimnisvollen Augen versanken ineinander, starr und verständnislos wie die Augen eines Tieres in seinem Spiegelbild.

Um die Mittagszeit kam Theodor, der sein Erscheinen durch einen Schneeball anzukündigen liebte, den er gegen das Fenster warf. Mitunter auch erschien sein bleiches Gesicht lautlos vor der Fensterscheibe, wie aus dem Keller emporwachsend, und starrte regungslos in den dämmernden Raum, unter wimperlosen Lidern, die böse wie die eines Greises erschienen.

Er saß und kauerte dann in einer Ecke, mit seinen Schulaufgaben beschäftigt, die rechte Hand in der Tasche, aber seine Augen waren gleich Messern hinter einem Vorhang, und es war, als halte er die Hand in unaufhörlicher Wachsamkeit an seiner Schnur. Er antwortete, wenn sie fragte, und tat bisweilen, was sie wünschte, aber er lächelte dabei, ein erschreckend unkindliches, ein gleichsam zeitloses Lächeln, und keinen Augenblick lang konnte jemand im Zweifel sein, daß er die Freiheit besaß, nicht zu antworten und nichts zu tun.

In der Dämmerung kam Zerrgiebel. Sie mußten im Flur sein, wenn die Haustür sich bewegte, ihm Hut und Mantel abnehmen, die Hausjacke, die Hausschuhe anziehen, des Winkes seiner Augen, des Zuckens seiner Querfalte stets gewärtig sein. Nach dem Essen verschwand er für eine Stunde, die Aktentasche in der Hand, man wußte nicht wohin. Gina lauschte zwischen ihren schmerzenden Herzschlägen, und das Kind saß in seiner Ecke und starrte sie an. Es erriet aus ihrer Haltung die Wege ihrer Angst, und einmal sagte es lächelnd:

»Sicher ist er im Keller.«

Nach seiner Rückkehr war Zerrgiebel heiter, fast aufgeräumt, und schlug ein Spiel im Familienkreise vor. Lesen und Spazierengehen fand er dumm. Niemand kam, niemand schrieb, niemand verlangte nach ihnen. Der Wind rauschte drohend im Fichtenwald, ein Schritt kam die Straße entlang, wurde leiser, erstarb, ein Hund bellte, das Läutesignal am Bahnhof schlug mit seinem Hammer in das erschreckte Schweigen, und die Flamme der Petroleumlampe sang ihre sterbende Klage vor sich hin.

Dann aßen sie, und dann kam das Grauen des Schlafzimmers und der Nacht.

Gina kannte niemanden in der Siedlung. Man grüßte sie, achtungsvoll, mit einer fast schmerzlichen Ergebenheit, der Bahnhofsvorsteher, der Lehrer, der Kaufmann, vom Sehen Gekannte und ganz Fremde. Sie dankte wie in einen Wald hinein, aus dem die Vögel riefen. Aber sie kannte niemanden. Sie ging nicht auf den Karstenhof, und sie wollte nicht, daß jemand zu ihr komme. Aber am Vormittag, zuerst nur hin und wieder, dann regelmäßig, ging sie den Weg jenes Oktobersonntags bis zu der Höhe, von der man die entlaubten Wipfel über den Giebeln zu sehen vermeinen konnte. Hier saß sie auf einem der großen Feldsteine am Wegrande, die Hände im Schoß gefaltet, und sah mit tränenlosen Augen über die beschneiten oder im Nebel versinkenden Felder nach jener Stelle des Horizontes, aus der Gottes Hand sich hob. Und dann ging sie, ohne sich umzublicken, den Weg zurück.

Schon nach dem ersten Monat ihrer Ehe war Gina sehr still geworden. Sie erkannte ihr Leben, sie erkannte es sogar mit unheimlicher Schärfe, aber sie vermochte es nicht auszusprechen. Auch ihre Gedichte und Märchen hatte sie gekonnt, Wort für Wort, mit schönen und ergreifenden Worten, aber sie hatte sie nicht zu sprechen vermocht. Sie wußte, daß sie betrogen worden war, von Gott und Menschen auf eine schreckliche Weise betrogen, aber sie konnte es nicht sagen. Daß sie geschändet und erwürgt wurde von einem Mann und einem Kinde, daß sie sich scheiden lassen müßte, daß sie eher sterben müßte, als so zu leben. Aber sie konnte es nicht sagen. Es war ihr, als ginge sie den Weg dieser Tage und Nächte mit geschlossenen Füßen, die nebeneinander herglitten, durch eine kurze Kette verbunden und in einen grauenvollen Nebel geschoben, in dem ein fernes Wasser brauste. Sie nahm, wie die Kinder und Greise des Karstengeschlechts zu tun pflegten, ihr Leben auseinander, aber ohne es wieder zusammenzusetzen. Sie hielt die einzelnen Teile in der Hand, rieb sie an ihrem Herzen blank und legte sie wie in einen Sarg. Da waren Puppen und Tiere, Blumen und Weizenfelder, Bibelstellen und das Herdfeuer in der Küche. Törichtes und Sinnvolles war, Verbundenes und Auseinanderfallendes. Aber über allem war ein Duft wie über einer gemähten Wiese nach einem Abendregen, und über allem standen die Sterne des Unauslöschlichen.

Es war das Blut, das sie hielt. Keine Hoffnung, keine Pflicht, kein Gesetz. Nur das Blut. Und als sie die erste Regung des neuen Lebens unter ihrem Herzen fühlte und die Hände mit den geöffneten Fingern weit von sich streckte im namenlosen Entsetzen vor dem, was in ihr geschah wie in einem fremden Keller, hielt das Blut sie davon ab, sich zu zerstören, bevor es wüchse und sich von ihr nährte, dieses Fremde mit den eng zusammenstehenden Augen, das ein Dämon in sie hineinverborgen hatte, damit er sich freue an seiner Macht und seinem Spiegelbild.

Doch wurde nach der ersten Erschütterung dies Wissen um ein Lebendiges wie eine Kammer des Friedens für sie. In der toten Welt war es ein leiser Atem, nur ihr vernehmlich; in dem schrecklichen Schweigen ein leises Sprechen, nur ihr hörbar; unter der ständigen Lauer der vier Augen ein ganz Verborgenes, nur ihr sichtbar. Und so wob sich das Gewebe des neuen Lebens unter den Händen des Hasses und der Liebe, geknüpft und zerrissen, beleuchtet in stumpfem Grau, und die beiden seltsamen Augen standen wie ein Symbol verbundener Fremdheit über der Tiefe, in der Gott in eine neue Offenbarung wuchs.

Im Juni, als der Roggen blühte und sie schon ein wenig schwerfälligen Ganges war, geschah es, daß ein Fremder ihr antat, was weder Vater noch Mutter ihr angetan hatten, so daß die Schmach sie brannte wie ein Feuermal. Zerrgiebel war aufgeräumter als sonst zurückgekehrt – es war ein Sonnabend – und länger als sonst in seiner geheimen Stunde gewesen. Sie war schon in der Küche, um das Abendessen zu bereiten, als er, anscheinend mit einer Geste der Großmut, sie ersuchte, in den Keller zu gehen und eine Flasche Wein heraufzuholen. Es seien noch ein paar Flaschen leichten Mosels da und ihn verlange nach einer beglänzten Stunde. So war sein Ausdruck, den er mit einem leisen Spott gleichsam vor ihr ausbreitete. Gina fühlte ihre Knie zittern und sagte, daß sie das nicht könne. Er verlangte Gründe, zureichende und überzeugende, aus einer lächelnden Entfernung wie vor dem Widerspruch eines Kindes oder eines jungen Tieres. Sie schwieg, er begann zu drohen, mit einer gefährlichen Sanftheit, ergriff ihren Arm, als ob sie Theodor wäre, und zog sie nach der Tür.

Ihr Gesicht war nun weiß vor Angst, doch schrie sie nicht, sondern ließ sich nur zu Boden fallen, schwer wie eine entgleitende und stürzende Last. Er beugte sich über sie, zunächst nur in einer Fassungslosigkeit des Erstaunens. Und dann, unter dem unverhüllten Haß ihrer dunklen Augen, schlug er sie hart ins Gesicht. Sie lächelte, und er wiederholte den Schlag. Aber unverändert spielte das grauenhafte Lächeln einer Toten um ihren Mund.

Wortlos, langsam rückwärtsgehend, verließ Zerrgiebel den Raum.

Und nun, unter der Schmach des Unerhörten, tat Gina, was noch nie eine Karstentochter getan hatte. Sie hob sich langsam auf, wie aus der Schande von tausend Augen, zuerst auf die Knie, dann auf die Füße, und ohne das Licht zu löschen und nach Mantel oder Tuch zu greifen, ging sie aus dem Hause, die noch helle Straße entlang, über die Schienen hinweg, auf den täglichen Weg nach dem Karstenhof. Ihre Füße glitten bewußtlos vor ihr hin, dicht nebeneinander, in bestaubten Schuhen, wie ein taubes Räderwerk, das sich zu Tode lief, und um ihre Lippen stand das eingegrabene Lächeln, vor dem die ihr Begegnenden die Blicke senkten wie vor der gewaltsamen Entblößung einer Heiligen.

So ging sie durch den Abendfrieden als die erste ihres Geschlechtes, die ihr Haus noch nicht bestellt hatte, vor ihrer Zeit und vor ihrem letzten Abendmahl. Aber sie fühlte keine Scham, weder der Feigen noch der Gesetzlosen. Sie ging wie ein verkauftes Tier, das aus der Fremde in die Heimat kehrt, durch das graue Unbekannte, über Felder, Bruch und Zaun, mit geschlossenen Augen, weil nur sie den Weg finden. Friede ist nicht und nicht Gefahr, Sonne nicht und nicht Sterne, nur der Schattenarm des Weisers, der am Wege der Seele steht. Der Duft der gemähten Wiesen teilte sich gleich einer Wand bei jedem Schritt und schloß sich hinter ihr, so daß das Kommende sich öffnete und das Gewesene hinter Mauern versank. Das Abendrot überwachte noch die Ferne dunkelnder Hügel, mit sanftem Zutrauen die weiße Dämmerung erfüllend, und aus seinem rötlichen Saum stieg der Ruf der Wiesenschnarre wie ein Spiel des müden Gottes über den Abendtau.

Mit dem Augenblick, in dem Gina den Fuß über die Grenze der väterlichen Erde setzte, erlosch das Lächeln um ihre Lippen, und eine tiefe Versunkenheit umspann ihr blasses Gesicht, mit jedem Schritt wachsend, als gehe sie in einer träumenden Starrheit leise rufend und leise gerufen wie ein Kind in einen Wald der Zauber. Sie verließ den Weg und ging die Grenze entlang, auf den schmalen Rainen, wo das Korn an ihre Brust reichte. Ihre Hände streiften durch die Ähren, das Gras näßte ihre Füße, und der Tau fiel auf ihren bloßen Scheitel. Sie wußte nicht, weshalb sie dort gehe, sie wußte kaum, ob sie selbst es sei. Sie ging nur aus der Schande, deren Schlag noch in ihrem Gesicht brannte. Andere konnten wohl zu ihrer Mutter gehen oder in die erlösende Reinheit des Wassers, aber sie mußte hier gehen, wo der Roggen unter dem steigenden Monde blühte. Alle Karstens gingen mit ihr und hielten den Schild über sie. Sie standen schweigend aus den Feldern auf, in denen ihr Schweiß ruhte und ihr Staub, ihre Blicke und stillen Gedanken, und schlossen sich ihr lautlos an, Männer und Frauen und die als Kinder gestorben waren. Und Gina, das Kind, ging mit und alles Getier, das sie getröstet und geheilt hatte. Ein ganzes Heer war um ihren Weg, diese stillen, ernsten und guten Gesichter, die aus jedem Schlaf sich erhoben, wenn man sie rief, die alles beiseite legten, wenn man sie brauchte, und die mitkamen, auch in den Tod.

So umwandelte Gina das Reich ihres Blutes, segnend und gesegnet, gleich einer schweigenden Rutengängerin, und bei jedem Schritt neigte die Rute sich zur Erde, und überall klopften die Adern aus der Tiefe. Sie hatte nicht geweint in diesen sechs Monaten und kein Wort des Trostes empfangen, bis die mißhandelte Natur sie zum Tisch des Herrn gehen ließ, den das Geschlecht für die Kommenden bereitet hatte, wenn sie seiner bedürfen sollten.

Und als sie den Hof erreicht hatte, ging sie durch die offenen Ställe, von Tür zu Tür, von Laut zu Laut, mit ihren schönen Händen den Schlaf berührend und die Erschöpfung, und aus jeder Berührung floß der Friede des Unverlierbaren in die zerstörten Kammern ihres Seins.

Die Tür des Hauses war geöffnet, und sie saß eine kurze Zeit auf der Schwelle und gedachte in müder, noch ein wenig verwirrter Erinnerung ihrer Mutter. Der Riegel dröhnte in Zerrgiebels Hause, allabendlich, und sie wußte nun, hier auf dieser Schwelle, zum erstenmal, weshalb es so schrecklich gewesen war, schon an jenem ersten Abend. Sechs Monate hatte sie es nicht gewußt, und nun, in der hellen Nacht der Erschütterungen, glitt der Vorhang von versunkenen Erinnerungen, und das Unbewußte wurde bewußt. Ein Tisch mit einer Lampe war und viele Gesichter, und der Sturm ging um das Haus. Und Gina saß auf Margrets Schoß und war müde und ein wenig furchtsam. Und sie sah die Hand der Mutter, wie sie sich auf des Vaters Arm legte, und hörte ihre ruhige Stimme, von der Gina in einer seltsamen Eingebung immer sagte, sie sei wie eine Linde. »Du mußt die Türe auflassen, Dietrich«, sagte sie, »immer und jede Nacht. Denn Gott kann zu uns kommen wollen oder ein Sterbender, und sie dürfen nicht auf der Schwelle bleiben.« Und der Vater hatte still gelächelt, und dann war das Bild zu Ende. Vor ihm war die Nacht des nicht mehr Gewußten, und hinter ihm war sie. Aber dieses Bild war wie ein Stern zwischen zwei Wolken, klar und ganz scharf, und selbst der Tonfall der Worte schien noch nachzuhallen durch den Raum der langen Jahre. Und Gina wußte, daß das Wort »ein Sterbender« ihr als eine schwarze Kugel erschienen war, die langsam und schwer über den Tisch rollte, bis in der Mutter Schoß.

›Wie seltsam, daß mir dies einfällt‹, dachte sie, ›hier und zu dieser Stunde … das ist der Segen der Füße, die über diese Schwelle gegangen sind, ganz gewißlich ist er das …‹

Dann saß sie vor dem Küchenherd und tastete nach den Streichhölzern, und ihre Seele stand noch immer zwischen Wachsein und Traum. Und dann brannte das Feuer, und sie sah hinein wie sonst, die Hände in dem roten Schein spielerisch bewegend. Ihr Rücken schmerzte wie zerbrochen, und das neue Leben regte seine Glieder in der dunklen Kammer, von der sie nicht wußte, ob sie ihr zugehörte oder einem Dämon. Sie stützte den Kopf in beide Hände und trieb nun wie ein dunkler Ball in einem grauen Wasser. Und wenn es sie schwindelte, konnte sie heraustreten aus diesem Dunklen und Getriebenen, an ein stilles Ufer, und von dort zusehen wie einem toten Ding, und sie war außer sich und in sich zu gleicher Zeit, wie es in Träumen geschieht oder in schwerem Fieber.

Sie verwunderte sich auch nicht, als der Vater leise aus seiner Stube kam und bei ihr stand. »Das ist ja schön, Gina«, sagte er, »daß du da bist.«

Sie sah zu ihm auf, in sein stilles, erschüttertes Gesicht. »Du mußt mir verzeihen, Vater«, sagte sie. »Ich wollte das alles nur einmal streicheln. Es sollte mich niemand sehen, und die Haustür war ja auf … für Gott und die Sterbenden, weißt du.«

Er saß auf dem Schemel neben ihr, den Feuerhaken gedankenlos in den Händen, und sie sah, daß er das Eisen zu einem rechten Winkel zusammenbog. Aber seine Augen waren gut und traurig wie immer.

»Gott biegt noch stärker, Vater«, sagte sie leise.

Der Tau tropfte von ihrem Kleide, und sie strich mit ihren Händen das Wasser von ihren Knien.

»Du hast dich verletzt, Gina?« fragte er, sich zu ihrem Gesicht beugend, auf dem die Spur des Schlages noch brannte. Aber schon während seiner Worte wandte er sich wieder ab und suchte in dem Holz nach einem Scheit zum Nachlegen. Und sie sah, wie seine alten, verarbeiteten Hände zitterten.

»Ja, es war wohl ein Ast«, erwiderte sie, zur Seite blickend, »und er wußte wohl nicht im Dunkeln, was er tat …«

»Es ist schwer, im Dunklen alles zu wissen, Tochter.«

»Weißt du, Vater, es ist so merkwürdig, wenn ich jetzt zurückdenke … es war nie dunkel hier auf dem Hof. Es muß wohl jeden Tag die Sonne geschienen haben, und abends war das Feuer, und dann war die Lampe, und dann war Gottes Licht über dem Schlaf … ich möchte in deiner Stube schlafen, Vater.«

Er stützte sie und ging wieder in die Küche, bis sie die nassen Kleider abgestreift hatte. Dann saß er neben dem Bett und hielt ihre Hand.

»Es ist … nie eine von ihnen zurückgekommen, Vater?« fragte sie, schon mit geschlossenen Augen. »Vor ihrer Zeit?«

»Nein, Gina.«

»Ob sie sich gefürchtet haben?«

»Sie waren wohl zu stolz, Gina. Aber ich glaube, es war eine falsche Furche in ihrem Stolz.«

»Ja, es ist wohl so, daß auch Gott nicht immer gut pflügt. Aber man muß auch die falsche Furche gehen. Man darf nichts auslassen auf seinem Feld, Vater, nicht wahr?«

»Wenn du willst, werden wir kein Korn säen in diesem Jahr, Gina.«

Sie legte seine Hand auf ihre geschlagene Wange, und ihr Atem senkte sich zum Schlafe. »Man darf nichts auslassen, Vater«, sagte sie ganz leise, »nichts auslassen …«

Und dann schlief sie ein.

Am nächsten Tage, zur angemessenen Zeit, erschien Zerrgiebel mit Theodor. Das Gesinde war in der Kirche, und der Hof lag still in der Sonne. »Wie es wächst, Schwiegervater!« sagte er begeistert. »Der Segen Gottes liegt auf deinen Feldern, sichtbarlich, in der Tat. Und ich sah die Taler hierherrollen, auf allen Wegen. Ein berauschender Anblick!«

Dietrich Karsten sah auf die knochige Hand, die zärtlich über den steilen Schnurrbart glitt, und mußte dann zur Seite sehen. »Laß den Jungen hier und komm mit«, sagte er.

Er ging voran, auf die Felder hinaus, ohne sich umzublicken. Er ging bis zu einem Hügel, an dessen Fuß Feldsteine zu einem großen Haufen zusammengetragen waren. Eine verkrüppelte Kiefer wuchs über ihnen, und Unkraut wucherte an ihrem Rand. Inmitten der blühenden Felder war es ein trauriger Ort, und eine Elster flog lärmend aus den dunklen Zweigen nach einem nahen Gehölz.

Der Bauer stand still, die Hände über seinem Stock gefaltet, und sah über seine fruchtbare Erde hin. »Die Karstentöchter«, sagte er – und er sprach, als lese er es aus einem Buche ab –, »haben niemals Glück gehabt. Schon damals nicht, als sie am Meere saßen. Aber sie hielten still, denn es war ja ihre Sache, und weder Mensch noch Tier wurden auf unsren Höfen gezwungen. Aber einmal, es ist schon viele Geschlechter her, kam eine von ihnen zurück, und sie hatte häßliche Striemen auf ihrer Haut. Da kamen die Karstens zusammen und luden ihn vor ihr Gericht. Und er sollte sagen, weshalb es so gewesen sei. Aber er verhöhnte sie und meinte, es sei noch gar nicht so lange her, daß jeder Bauer die Peitsche auf seinem Rücken gefühlt habe, und es sei dem Bauern sehr gut, daß man ihn von Zeit zu Zeit daran erinnere. Und da führten sie ihn auf das Feld und sagten ihm, er solle ein Vaterunser sprechen. Aber er spie ihnen ins Gesicht und meinte, das sei gut so für sie. Und da erschlugen sie ihn mit Steinen, alle zusammen, und ließen den Leichnam unter dem Hügel. Sie mußten alle büßen, im Kerker, und man sagt, sie seien seither stille Leute geworden. Und auf jedem Karstenhof liegt heute noch solch ein Steinhügel, und man sagt, daß sie ihn zum Gedächtnis errichten. Gott schlägt die Karstentöchter wohl hart, aber weder Vater noch Mutter haben sie anders als in Liebe berührt.«

Er stand noch eine kurze Weile, den Fuß auf die Steine setzend, und ging dann langsam zum Hofe zurück. Zerrgiebel, etwas mühsam lächelnd, folgte ihm schweigend.

Dann bat Gina, daß der Vater anspanne, um sie zurückzufahren. Sie mußten eine Weile nach Theodor suchen und fanden ihn im Kälberstall, wo er den jungen Tieren die Schwänze mit Peitschenschnüren zusammenband.

»Welch ein Humor!« sagte Zerrgiebel bewundernd. »Sieh nur, Gina, diese herrlichen Knoten, die er gemacht hat … ein zuverlässiges Geschlecht, die Zerrgiebels. Was sie anfassen, hat Hand und Fuß!«

Der Bauer und Gina mühten sich wortlos um die unruhigen Tiere, und Theodor stand daneben, die rechte Hand in der Tasche, schweigend und nachdenklich an einer Mohrrübe nagend, die er aus dem Garten gezogen hatte.

Dann fuhren sie ab.

Die Tage liefen wie Schienen in das Jahr hinein, vom Schrei des Weckers in der Frühe bis zum Dröhnen des Riegels am Abend. Die Unterhaltungen blieben, die Mahlzeiten, die Spiele. Nur die Gebete erfuhren eine stärkere Betonung. »Der Sünder bedarf der Hilfe, mein Liebling«, sagte Zerrgiebel zu seinem Sohn, die Augen lächelnd auf Gina gerichtet. »Bis ins dritte und vierte Glied … ja, so ist es. Wer wirft den ersten Stein? Ja, lasset uns beten.«

Gina ging nicht mehr den täglichen Weg zu dem Hügel, von dem man die Baumwipfel des Hofes sehen konnte. Sie hatte ihre Gnade vorweggenommen und hatte nun zu warten bis zum letzten Abendmahl. Aber als die Erdbeeren reiften, ging sie oft in den Wald hinter dem Hause, tief hinein, und saß dort lange, auf dem Tannenhang über den Schonungen, und hörte den Kuckuck rufen und das Klopfen des Spechtes in den hohen Wipfeln. Es schien ihr, als sei die Last des neuen Lebens hier sanfter zu tragen, wo Dach und Wände des großen Hauses lebendig waren, nicht tot wie dort, und wo keine grauenvolle Tiefe dunkler Keller sich dumpf tönend unter ihr breitete, sondern die warme Erde, in der die Wurzeln leise atmeten, die Quellen sprachen und die Steine schliefen. Und sie grub die Hände tief in das Moos, als würde der Segen des Waldes durch sie hinaufsteigen bis an den durstigen Mund dessen, an dessen Seele noch gebaut wurde und die schon nach jedem Bilde sich formte, das man vor die blinden Augen stellte.

Dinge und Zeiten verloren ihr Gewicht wie bei einem Kinde. Sie saß im Walde wie an ihrer Mutter Kleid, und ihre Gedanken spielten mit den Tieren und Stunden ihrer Kindheit wie mit bunten Bällen, die man ins Moos rollen ließ und wieder aufhob. Einmal kam der Förster vorbei, aber er grüßte nur still, als wisse er, daß es Genoveva im Walde sei, die dort sitze und die seltsamen Augen zu ihm hebe, und sein Hund kam noch einmal zurück und ließ sich von ihren Händen streicheln. Kehrte sie dann wieder heim in das Haus, so empfand sie wohl alle harte Wirklichkeit, aber sie war doch von ihrem Geheimnis still und beglückend erfüllt und schlug einen Mantel um sich, von dem niemand wußte als sie allein.

Doch lag sie in den Nächten lange wach und lauschte auf den zweiten Herzschlag in ihr und fühlte, daß ihre Wege immer enger wurden und die Kreise immer kleiner, die um die verschlossene Kammer liefen. Und ob sie auch weit fort ging, in den Wald und in die Jahre ihrer Kindheit und noch weiter bis in den Nebel der vergangenen Geschlechter, so kehrte sie doch immer wieder und legte das Ohr an die dunkle Tür und sprach viele schnelle Worte, um die eine Frage zu übertönen, die sich doch nicht übertönen ließ, ob sie auch die Hände faltete: »Hasse ich es oder liebe ich es?«

Sie wußte nicht, daß diese Frage schon Antwort war, und sie dachte mit immer wachsender Angst, daß in den Bibeln der Karstensöhne kein Name eines Kindes stand, das eine Karstentochter geboren hatte. Immer hatte das fremde Blut das Karstenblut erwürgt, und die Mütter hatten das Schwerste getragen, das sie tragen konnten: sie hatten unedel geboren.

»Erinnerst du dich an deine Mutter, Theodor?« fragte sie einmal den Knaben.

Er hob die Augen von seinem Buch und sah sie lange an, mit all der frühen Bosheit der Zerrgiebels, die durch Lächeln, Blick und Schweigen töteten.

»Ich besinne mich auf sie«, sagte er langsam, »als sie im Keller am Haken hing. Sie zeigte ihre Zunge, und der Vater schnitt sie ab.«

Ginas Kopf fiel gegen die Lehne ihres Sessels. Ein Brausen stieg durch die Dielen empor, zerbrach die Bretter und riß die feuchten Abgründe auf, in denen das Entsetzen kauerte. Und die Hände der Toten hoben sich auf zu ihr, damit sie nicht so allein sei in ihrem dunklen Reich.

Vielleicht war es die Enthüllung des bisher Unenthüllten, die Verwandlung von Grauen in Wissen, des Gespenstes in eine Tote. Aber als Gina erwachte, war sie aus dem Nebel getreten. Die Linien der Landschaft waren hart und klar, aber die Berge waren zu sehen und die Abgründe, die Nähe und die Ferne. Die Richter hatten gesprochen, und sie hatte ihr Urteil empfangen. Es gab keine Folter mehr und keine lautlose Drohung. Sie hatte zu büßen, und das Gesetz stand strafend wie schützend über ihr. Sie hob ihre Hand ruhig gegen das Kind und sagte: »Geh hinaus. Ich will nicht, daß du in diesem Zimmer bist.« Als er zögerte, stand sie auf und ging langsam auf ihn zu, wobei in ihren Augen eine kalte Entschlossenheit erschien. Da verließ er wortlos den Raum.

Am Abend, als das Kind in seine Kammer gegangen war, sah sie von der Bibel auf, in der sie gelesen hatte – ihrer eigenen, nicht der des Hauses –, und betrachtete Zerrgiebel, bis er über den Rand der Zeitung zu ihr hinüberblickte. »Weshalb hat sie das getan?« fragte sie.

Es schien, als verstehe er zunächst nicht, bis sie mit der Hand auf die Dielen zeigte.

»Ah!« meinte er. »Man hat spioniert?«

Sie wiederholte die Frage.

Er legte die Zeitung aus der Hand, drückte seine Finger ineinander und betrachtete dann aufmerksam die zusammengelegten Spitzen. »Tja …«, sagte er dann, »sie war eben zu schwach, verstehst du. Einfach zu schwach für das Leben. Ich war ein guter Mann. Alle Zerrgiebels sind gut. Aber sie haben eine bestimmte Form des Lebens, und da wollte sie nicht hinein. Sie glaubte Anspruch auf eine eigene Form zu haben, und das war natürlich töricht. Und da … wie soll man sagen … da entäußerte sie sich eben ihrer Form. Eine Dummheit, aber Frauen sind nun einmal so.« Er lächelte schon wieder und zog an seiner halb erloschenen Zigarre.

Sie machte das Buch zu und stand auf. »Es ist gut, daß es nun klar ist«, sagte sie.

»Wie meinst du?«

Aber sie verließ schon das Zimmer.

Sie schlief in dieser Nacht auf dem Ruhesofa im unbenutzten Empfangszimmer, bei verschlossenen Türen, taub gegen Fragen und Drohungen. Am nächsten Vormittag schob sie das Bett des Knaben in das Schlafzimmer und das ihrige in die Kammer des Kindes, räumte ihr Hab und Gut um, steckte die Schlüssel der Türen zu sich und saß dann im Walde, der erfüllt war vom leisen Tropfen des Herbstes und dessen Stille traurig und schön war wie die eines großen Hauses, aus dem die Gäste gegangen waren.

»Ich werde es nun lieben«, dachte sie, »ich werde es ganz von Herzen lieben, und Gott wird sein Vater sein …«

Der Förster kam wieder vorüber, mit seinem dunklen Waldbart, der so viel Zutrauen in Gina erweckte, und sie fragte, ob sie ein wenig mit ihm mitgehen dürfe.

Er freue sich sehr, erwiderte er, daß sie den Wald so gern habe. Er gehe nun nach Hause und ob sie nicht mitkommen wolle. Das Haus liege so schön und er werde sie gern zurückfahren.

Gina ging mit, von einem stillen Glück erfüllt an der Seite dieses zuverlässigen Mannes, der für seine Bäume sorgte und für sein Wild, und der so gut von ihrem Vater sprach, den er kannte.

Dann saß sie in der Sonne unter den Linden des Forsthauses, und die Frau des Försters brachte ihr ein Glas Milch heraus. Der Hafer stand schon in Garben auf dem kleinen Feld, und die Wildtauben riefen aus den hohen Eichen. »Wenn es geboren ist«, sagte Gina, »dann möchte ich gerne ab und zu mit ihm hierherkommen. Darf ich das? Ich werde ihm sagen, daß die Jungfrau Maria hier im Walde wohnt, und er soll aus ihrem Frieden trinken. Denn ich werde ihn liebhaben, seit heute weiß ich es.«

Die Frau des Försters weinte, und der Schwarzbart sagte, daß er ihm ein Eichhörnchen fangen werde, und sie solle jeden Tag kommen.

»Wie schön das ist«, sagte Gina. »Welch ein schöner Tag für mich!«

Nein, sie wollte nicht, daß man anspanne. Es sei so hübsch, durch den leeren Wald zu gehen. Wagen dürften eigentlich niemals in einem Walde fahren. Es sei, als ob man auf die Gesichter von Schlafenden trete.

»Was bedeutet das?« fragte Zerrgiebel am Abend, als er aus dem Schlafzimmer herunterkam.

»Es bedeutet meine eigene Form«, erwiderte Gina.

Er trat dicht an sie heran. »Es sind noch mehr Haken im Keller, meine Liebe!«

Aber die Roheit der Antwort traf nicht so, wie er erwartet hatte. Denn ihre Augen waren auf die Falte zwischen seinen Augenbrauen gerichtet. »Ich werde es lieben, wenn es das Kainsmal nicht trägt«, sagte sie, in Gedanken verloren.

Er hob den Arm, aber sie griff mit ihrer rechten Hand schnell in das Kleid über ihrer Brust, und in ihren Augen erschien wie hinter dunklen Fenstern ganz plötzlich ein kaltes und gefährliches Licht.

Zerrgiebel wich hinter den Tisch zurück. »So also steht es …«, meinte er, als habe er soeben einen Brief gelesen. »Gut … wir wollen sehen, wer länger aushält … komm, mein Liebling, wir wollen schlafen gehen.«

Und er stieg langsam mit seinem Sohn die Treppe hinauf.

Und dann wurde das Kind geboren, mit Schmerzen, aber ohne einen Laut der Klage. Margret war da, sonst niemand, und die Türen der Kammer blieben verschlossen. Es war ein Knabe mit dunklem Haar und den Augen seiner Mutter.

Gina hielt ihn lange an ihrer Brust und sah mit bösen Augen in das kleine Angesicht. Dann legte sie sich lächelnd zurück. »Ich will warten, Margret, bis zum ersten Advent«, sagte sie, zur Decke emporblickend, »und wenn Gott ihn lieb hat, so soll er Johannes heißen. Und nun wasche ihn, daß er rein werde.«

»Ginakind«, sagte Margret nach einer Weile, »er hat ein Mal über dem Herzen. Willst du es sehen?«

Aber Gina schüttelte müde den Kopf. »Ein Mal dort ist besser als eins auf der Stirne, Margret. Alle Karstentöchter tragen dies Mal, und wen Gott lieb hat, den zeichnet er über dem Herzen …« Und dann schlief sie ein.


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