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9

Im Lauf des Winters begann die Stadt sich unmerklich mit einer leisen Unruhe zu erfüllen. Zwar hatte Professor Luther nicht aufgehört, den stillen Spiegel zu trüben, den Gesetz, Herkommen, Rang und Einkommen aufgestellt hatten und in dem jedermann täglich neu das Unveränderte seines Antlitzes und Lebens wiedersehen konnte. Aber es war eine Trübung, die nicht jeden betraf. Es gab Familien, denen die Stürme im Gymnasium gleich waren, und solche, denen der Affe an der Kette gleich war.

Aber was im Lauf des Winters begann, ging jedermann an, weil es jedermann treffen konnte. Es ging bei Nacht durch die Straßen, lautlos, ungesehen, und »nahm das Seine«, verschwand ohne Spur, schwieg für eine Weile und schlug von neuem zu. Es begann bei Nathanleben, bereits im November, indem während einer dunklen Nacht aus seinem Laden eine Reihe warmer Mäntel, wetterfester Schuhe, wollener Decken und ähnliche Gebrauchsgegenstände verschwanden. Zwei Schlösser waren geöffnet, ein Eisengitter aufgebrochen worden. Man stand vor dem üblichen Rätsel, und Nathanleben rang die Hände, ließ einen Kunstschlosser kommen und schloß eine Versicherung gegen Einbruch ab. Im Kreisblatt wurde eine Belohnung ausgesetzt, zahlreiche Artikel wurden geschrieben, die »Polizeiorgane« wurden zu erhöhter Wachsamkeit angehalten, aber alles andre blieb im Dunklen.

Acht Tage später, in einer gleich dunklen Nacht, traf es die einzige Waffenhandlung am Ort und das Kolonialwarengeschäft Grimm & Kohn. Pistolen, Munition, Dolche, Riesenvorräte an Konserven, geistigen Getränken, Zigarren, Süßigkeiten, Leckerbissen waren die Beute.

Und von nun an war es gleich der ägyptischen Plage, die die Erstgeburt schlug. Es traf den, der besaß, und es scheute nicht davor zurück, von den »Sachwerten« zum baren Gelde überzugehen. Landratsamt, Post, Stationskasse, Raiffeisenverein entgingen ihrem Schicksal nicht. Die Zeitabstände waren unregelmäßig, ein System nicht zu entdecken, der geringste Anhalt nicht zu finden.

Langsam veränderte sich das Gesicht der Stadt. Zeitung, Gespräch, Haltung, Gebärde wurden von der rätselhaften Drohung beherrscht und geformt. Es gab Fenster, in denen während der ganzen Nacht Licht brannte, Läden, die bewacht wurden, Straßen, durch die Patrouillen der Bürgerschaft gingen. Es fehlte nicht an Beschimpfungen der Staatsgewalt, Verhöhnungen des Magistrats, Verdächtigungen, die wie langsames Gift sich weiterfraßen. In der Zeitung überstürzten sich die Aufsätze, Hypothesen, Ratschläge. Die Theoretiker spalteten sich in zwei Lager und fochten erbitterte Zeitungskämpfe aus. Die einen behaupteten, die »Bande« stamme von auswärts, aus dem »sittlichen Sumpf der Großstadt«, die anderen beschworen, daß leider in der Bürgerschaft selbst diese »Judasse der Gesellschaft« zu suchen seien. Es fehlte nicht an bitteren Ausfällen, Schlußfolgerungen, Prophezeiungen. Es war kein Zweifel, daß zur Theorie der Auswärtigen sich bekannte, was im allgemeinen Sinne zuverlässig, staatserhaltend, heimatliebend war, und daß auf der andren Seite sich alles zusammenscharte, was Nörgelei, Kritik, Verneinung, Zersetzung bedeutete. Es führte zu einer Spaltung des gesellschaftlichen Lebens, des Lehrkörpers, der Schulklassen, der Familien.

Es fehlte nicht an leisen Stimmen, die von dem neuen Geist sprachen, der seit einiger Zeit in die Stadt eingezogen sei, daß nicht alles Gold sei, was glänze, und daß schon manches dagewesen sei, was noch nie dagewesen sei. Diese Andeutungen, so dunkel sie klangen, waren doch jedermann verständlich, da selbst der beschränkteste Geist ein feines Gefühl für alle Verleumdung besaß, und obwohl manche diese Vermutung als »doch zu stark« von sich wiesen, dauerte es nicht eine allzulange Zeit, bis jeder Schritt, den Luther tat, jedes Wort, das er sprach, jede Falte, die in seinem Gesicht sich bewegte, beobachtet, ausgelegt, gewertet wurde.

Der erste, der es bemerkte, war Johannes. Er verließ Luthers Haus am Abend, und im Schatten zwischen zwei Laternen stand ein Mann, der ein wenig zu eifrig in seinen Taschen nach etwas suchte und dann langsam der Stadt zuging. Er verließ das Haus um Mitternacht, und eine Streife der Bürgerwehr stand schweigend in einem lichtlosen Torweg, die Augen harmlos zum Himmel aufgeschlagen. Von nun an öffnete er mitunter die Vorhänge in Luthers Arbeitszimmer, und sie sahen beide hinaus. Immer verschwand irgendwo ein Schatten, und dann lag die Straße drohend und leer in dem fahlen Schneelicht der Nacht.

Sie fanden keine Erklärung, bis eines Tages Klaus, stotternd vor Erregung, ein Gespräch berichtete, das er in der Bahn gehört hatte. Luther, weit davon entfernt, Empörung zu fühlen, warf sich in einen Sessel und lachte. Und dann, in der nächsten Nacht, begann er ein wenig Vergeltung zu üben. Er ging spazieren. Er verließ das Haus, schloß leise die Tür, blieb an der Gartenpforte stehen und sah sich lange um. Dann nahm er seinen Weg zur Stadt. Er ging an den Häusern entlang, wich den Laternen aus, blieb stehen, drehte sich um, sah lächelnd die Verfolger sich gleichsam in die Mauern drücken, umkreiste den Markt, starrte von der andern Straßenseite in Schaufenster hinein, wechselte wie ein Wild bis an die Grenzen der Wohnungen und Laternen, kehrte um, schlug Haken und zog nach ermüdender Jagd die Meute wieder an sein Haus zurück. Dann stand er noch eine Weile bei geöffneten Fenstern in seinem erleuchteten Arbeitsraum, rauchte eine Zigarre und sah unbefangen auf die Straße hinaus, als bedenke er sein Arbeitspensum für den nächsten Tag oder die Witterung, die zu erwarten sei. Und dann löschte er das Licht, legte sich nieder und dachte fröhlich an die Mühe, die die Menschen sich umeinander bereiteten.

Es erfolgte nichts. Der Zustand der Gefahr, der Recht- und Gesetzlosigkeit blieb bestehen, entlud sich in unvermuteten Schlägen und war wie eine Wolke, die dunkel, drohend, unaufhörlich über dem Lebendigen hing. Dazu kam, daß im Februar falsches Geld im Kreise und in der Provinz aufzutauchen begann, Banknoten höheren Wertes, geschickte Fälschungen, die erst entdeckt wurden, nachdem sie vielmals den Besitzer gewechselt hatten.

Neue Belohnungen wurden ausgesetzt, die Zeitungen der Hauptstadt bemächtigten sich des Stoffes, die Pfarrer begannen von den Kanzeln gegen den Antichrist zu predigen, der umgehe wie ein Wolf in Schafskleidern.

Aber niemandem als Johannes war es auf eine schmerzliche Weise vorbehalten, mit seinen Händen den Faden zu ergreifen, den das Schicksal scheinbar achtlos aus seinem dunklen Gewebe fallen ließ. Die Märztage waren schon warm und schneelos, die Wildgänse zogen hoch über der grauen Stadt nach Norden, und der Wald hob sich wie ein Auferstandener, von seinen Grabtüchern entbunden, in das neue Licht.

Johannes lag am Rand der »Grube«, über sich den hohen Fichtenwald, und sah über die Schlucht hinweg nach dem gegenüberliegenden Steilhang, der, mit Ginster, Weißdorn und Brombeergerank überwuchert, wie eine Mauer hinter einer Efeuwand lag. Eidechsen spielten um seine Füße, und drüben im Weißdorn saß ein Würger und lockte das Weibchen.

»Die Grube« war ein verrufener Ort. Sie lag abseits der Straßen tief im Walde, sah wie ein eingesunkenes Stück der Erde aus und hatte früher den Kies zur Befestigung der Waldwege geliefert, die durch das große Moor führten. Verrostete Feldbahnschienen lagen auf ihrem Grunde, von Disteln überwuchert, eine vom Sturm gebrochene Birke hatte das Dach einer verfallenen Baracke eingedrückt, und die Erde vor ihrer Schwelle hatte damals das Blut eines Menschen getrunken, der hier im Streit von einem Arbeitsgefährten erschlagen worden war. Füchse hatten ihren Bau in der steilen Wand, der Hühnerhabicht horstete im Fichtenwald, und die Würger spießten ihre Opfer an den Weißdorn, der um die Zeit seiner Blüte die Luft mit seinem bösen Geruch erfüllte.

Es geschah nichts, als daß der Würger plötzlich mit einem schrillen Schrei sich von seinem Ast warf und von der Höhe des Hanges herab böse und unaufhörlich zu zetern begann. ›Ein Fuchs‹, dachte Johannes und drückte seinen Körper tief in die jungen Birken hinein. Es verging eine lange Zeit, und die Luft stand flimmernd vor der regungslosen Wand. Dann bewegte sich an ihrem Fuße die Staude eines Ginsterbusches, so leise, als nage etwas an ihren Wurzeln, stand wieder still, zitterte von neuem und bog sich langsam zur Seite. Eine Hand erschien, etwas Dunkles, Gestaltloses, ein heller Fleck, der sich wie um eine Achse lautlos drehte, ein Gesicht, ein Körper, ein Mensch.

Der Mensch war Theodor.

Er war herausgetreten wie aus einer Wand und stand nun im Sonnenlicht als eine fremde und unheimliche Erscheinung. Er war gleichsam ohne Ursache, ja ohne Möglichkeit da. Es war, als dürfe er nicht da sein. Und doch trug er seinen grünen Lodenmantel, den Johannes kannte, den braunen Filzhut, den hellgelben Spazierstock. Seine rechte Hand war in der Tasche, sein Kopf drehte sich langsam von rechts nach links, sein Körper blieb bewegungslos, und Johannes meinte, daß dies alles ein Traum sei, daß dahinter eine Hecke und ein Feld liege, über das der Abendwind wehe, und daß Theodor dort stehe, regungslos gegen den brennenden Horizont, und zu ihnen herüberstarre, die dort mit Bonekamp standen, um Abschied zu nehmen.

Aber es war kein Traum, denn plötzlich, ohne Übergang, erwachte die Gestalt aus ihrer Erstarrung, glitt am Steilhang entlang, tauchte unter überhängenden Ästen unter, umging die Baracke und verschwand im Walde, wie ein Wild verschwindet. Dann hörte Johannes sie ein fröhliches Marschlied pfeifen, immer weiter fort, immer unbekümmerter, und dann rauschte nur der Wald, und der Würger rief wieder ruhig von seinem Weißdornbusch.

Als Johannes an der Ginsterstaude stand, sah er einen schmalen Pfad, so schmal wie ein Wildwechsel, und als er ihm folgte, fand er nach einigem Suchen eine Tür in der Kieswand. Er mußte Gebüsch und Rankenwerk mit beiden Armen zur Seite drängen und seine Kleider aus den Dornen reißen, aber dann öffnete er den Eingang zu einem schmalen Spalt und zwängte sich hinein. Die Luft war feucht und kühl, und das matt einfallende Licht fiel über feuchte Bohlen, die das Erdreich abstützten.

Er lehnte den Rücken an die Tür, weil seine Knie zitterten, und sah lange Zeit in das matte Dunkel hinein, das vor seinen Händen stand. ›Die Kinder werden dort sein‹, dachte er, ›die geraubten, und wenn ich weitergehe, wird sich ein Brunnen öffnen, ohne Rand, und ich werde hineinstürzen zu den Steinen in der Tiefe …‹ Hinter sich hörte er den Ruf des Würgers, fern wie hinter einer Wand, und er sah das Sonnenlicht über dem Walde liegen, so schmerzlich und unwirklich, als würde er es niemals mehr sehen.

Als nichts geschah, keine Schlange seine Füße umwand, kein Tier herankroch, kein Weinen zu vernehmen war, nur das unerhörte Schweigen des Unterirdischen, begann sein Herz ruhiger zu schlagen. ›Wenn ich es Luther erzähle‹, dachte er, ›muß ich es in seine grauen Augen erzählen, alles, ohne eine Lüge …‹ Und dann berührte er die Bohlen mit der Hand und tastete sich weiter.

Die Dämmerung erstarb, und er fühlte die Weite eines sich öffnenden Raumes. ›Mein Gott‹, dachte er plötzlich und griff in die Tasche. Er zog ein Streichholz heraus und hielt es an die Reibfläche. Aber bevor er es anstrich, schlug sein Herz wieder laut und weithin hörbar in das dunkle Schweigen, und es war ihm, als schlüge ein Hammer, mit Stoff umhüllt, an den Deckel eines Sarges. ›Lächeln wird er‹, dachte er, ›zuerst spöttisch und dann traurig … die Waage ist es, die große Waage …‹ Und dann sprang die Flamme auf, der Raum schoß zurück, die Decke floh, und die Wirklichkeit baute sich gleichsam mit festen Wänden in das gestaltlose Dunkel hinein, drängte Grauen, Spuk, Ahnung zurück und blieb auch, als die Flamme erloschen war. Eine Tischecke war zu sehen gewesen, ein Lichtstumpf, Kisten, Lagerstätten, Kleider, Gerät.

Als das Licht brannte, lag alles klar und ohne Drohung vor seinen Augen. Es war ein Wohnraum, und … ja … es war ein Beuteraum. Lagerstätten mit Pelzen, geöffnete Kisten, leere Flaschen, Weinkelche, ein eiserner Ofen, Mäntel und Decken. Der Raum war klein, zum Teil mit Holz gestützt, ein Überrest aus der Zeit der Feldbahnschienen, behaglich, warm, geborgen, eine Märchenhöhle.

Langsam ging Johannes von Gegenstand zu Gegenstand. Die Flamme brannte ruhig, Schweigen stand hinter den Wänden, und ein Gefühl des tiefen Friedens kam leise über ihn. Er setzte sich auf eines der Lager und stützte die Hände auf das weiche Pelzwerk. Ein feiner Duft stieg langsam zu ihm auf, und als er die Falten zur Seite schob, rührte seine Hand an Seide, die leise knisterte. Was er herauszog, war weich, mit Spitzen geziert. Mädchenwäsche. Er hob sie ans Licht, nun gänzlich ratlos, und nun sah er einen eingenähten Streifen, mit roter Druckschrift: »Samuel Nathanleben … en gros & en detail.«

Das Licht schien aufzubrausen zu einer weißen und erbarmungslosen Glut und dann zu erlöschen zu völliger Finsternis. Johannes saß noch immer auf dem weichen Lager, die Seide noch immer in der Hand. Er hörte den Streit der Kameraden um die Täter, sah die Überschriften der Zeitungsartikel, sah den Mann vor Luthers Haus, der in seinen Taschen nach Streichhölzern zu suchen schien. »Das ist es also«, sagte er laut. »Das ist es …« Er sah Theodor vor dem Ginsterbusch stehen, die rechte Hand in der Tasche, die Querfalte zwischen den Augen. Er wußte, daß sie ihn töten würden, wenn sie ihn fänden. Daß er fort mußte, schnell, ungesehen. Aber er blieb sitzen, atmete den zarten Duft, hörte das Schweigen unter der Erde. Wie bei dem Kampf mit Joseph sah er Fetzen des Lebens vorübergleiten, Gesichter, Worte, Landschaften. Er dachte nichts. Seine Seele lief wie ein Rad, dessen Kraft verrinnt, immer langsamer, müder, ersterbender.

Dann erlosch das Licht, und er erwachte. Mit dem Raum versank die Betäubung, das Draußen stand aus der versunkenen Ferne auf, der Ruf des Würgers klang wieder vertraut vor der halbgeöffneten Tür. Johannes tastete sich hinaus, der Ginsterbusch erzitterte wie vorher, die Sonne stand schmerzhaft über der veränderten Welt, und von neuem verlor sich eine spähende Gestalt gleich einem scheuen Wild unter überhängenden Zweigen, im hohen Wald, auf dem Weg zur Stadt.

Erst als der Morgen dämmerte, wußte Johannes, was zu tun sei. Es wäre leicht gewesen, zu Luther zu gehen, zum Großvater, zum Schwarzbart. Aber das Leichte war nicht gut hier. Bonekamp würde so getan haben, auch Klaus und die anderen. Aber der Großvater würde nicht so tun, oder Luther, oder Percy. Zu wem hätten sie gehen sollen? Es war lächerlich, das zu denken. Es gab Dinge, die man allein machte.

Er ging nicht zur Schule, sondern zum Markt. Er stand vor einem Schaufenster und las die ausgelegten Drucksachen, Namen auf Namen sinnlos verfolgend. Und dann sah er Theodor aus seinem Hause treten und ging ihm langsam entgegen. ›Vielleicht sieht er traurig aus‹, dachte er, ›und ich kann es ihm noch sagen … oder vielleicht merkt er es …‹ Sein Gesicht war so weiß, daß Theodor einen Augenblick zögerte. Aber dann steckte er langsam die rechte Hand in die Tasche und lächelte höhnisch, als Johannes einen Schritt zur Seite wich. ›Er will es nicht‹, dachte Johannes, ›er will es ja nicht …‹

In diesem Augenblick hob Theodor mit der linken Hand unvermutet seinen Stock und streifte im Vorübergehen lässig die Mütze von Johannes' Kopf. »Wirst du grüßen, du Kröte?« sagte er leise, und dann war er vorbei.

Johannes blieb stehen und sah ihm nach. Es war nun alles klar und ohne Zweifel, aber ebenso deutlich war die tiefe Trauer, die ihn plötzlich nach der Anspannung überfiel. Seine Mütze lag vor ihm im Staub der Straße, und der Briefträger, der mit der Postkarre von der Bahn kam, fragte ihn, ob er Spatzen darunter habe. Er sah ihn an, und unter seinem Blick wurde der andre verlegen. »Na … es war ja bloß Spaß«, meinte er mit einem unsicheren Lächeln.

Johannes aber, ohne ihn zu verstehen, hob seine Mütze auf, stäubte sie ab und ging langsam die Gerichtsstraße hinunter bis zum Haus des Amtsrichters. Der Amtsrichter hieß Ziegenspeck, aber dieser Name stand in einem so grotesken Mißverhältnis zu seiner Person, daß er fast in Vergessenheit geraten war. Er hieß die »Spinne«, schon von seiner Schulzeit ab, und dabei war es eben geblieben. Er war lang und dürr, ein grämlicher, säuerlicher Mensch, mit einem Gesicht, das immer etwas übelgenommen hatte. Er hatte acht Kinder, von denen der Volksmund behauptete, daß er sie immer verwechsle, wenn er nicht ihre Akten zur Hand habe, die er sorgfältig führe, und eine Frau, die etwas verwachsen war, ihm ein nicht unbeträchtliches Vermögen in die Ehe gebracht hatte, und von der man erzählte, daß selbst in Weckgläsern Eingemachtes verderbe, wenn sie es mit ihren grünen Augen betrachte. Luther nannte sie die »Kreuzspinne«. Das älteste der Spinnenkinder saß mit Johannes auf einer Klasse, war von tastender, saugender und lauernder Gemütsart und stand bei Johannes und Percy eine Zeitlang im nicht unbegründeten Verdacht, für das nicht ganz seltene Verschwinden von Frühstücksbroten verantwortlich zu sein.

Frau Ziegenspeck öffnete selbst. Er möchte gern den Herrn Amtsrichter sprechen. Ob etwas mit Alwin sei? Nein, es sei etwas ganz anderes. Die flüchtige Teilnahme erlosch, der grüne Blick gefror. Der Herr Amtsrichter sei um neun im Gericht, Zimmer fünf, zu sprechen. Es sei sehr wichtig. Ein eisiges Lächeln. Sie werde bedauern, ihn fortgeschickt zu haben.

Sie mußte nun erkennen, daß etwas geschehen war, und da es unter Umständen die Karriere berühren konnte, nahm sie schnell die Handtasche, die neben der Tür an der Garderobe hing, und rief dem Mädchen zu, sie solle einen dringenden Besuch melden. »Der junge Zerrgiebel«, sagte sie mit ironischer Erläuterung. Dann betrachtete sie Johannes, der noch immer in der Tür stand. »Komisch, wie du aussiehst«, meinte sie nachdenklich. »Alwin hat mir ja schon einiges erzählt.«

›Sie ist ganz mit Salpetersäure gefüllt‹, dachte Johannes. ›Davon kommt wohl auch sein Hunger …‹ Und dann durfte er in das Eßzimmer treten, wo der Amtsrichter grämlich vor seinem Haferbrei saß, den er jeden Morgen aus Gesundheitsgründen zu sich nahm.

Er warf einen schrägen Blick über seine Brille, nahm mit Mißfallen ein andres Gesicht wahr, als er zu sehen erwartet hatte, und fragte mit seiner immer gereizten Stimme, ob er Zerrgiebel junior sei. Ja, so heiße er. »Komisch«, sagte auch der Amtsrichter. »Er sieht doch ganz anders aus? Nun, mach also etwas schnell. Was willst du denn?«

Ein kurzes Schweigen.

›Das letzte‹, denkt Johannes. »Ich habe das Lager gefunden«, sagte er dann ganz still.

»Lager? Was? Was für ein Lager?« Die Spinne legte den Löffel hin.

›Ich habe das Netz berührt‹, dachte Johannes.

»Das Einbrecherlager, Herr Amtsrichter. Es sind die Sachen drin, von denen in der Zeitung stand.«

Ziegenspeck hatte den Mund offen, und Johannes sah seine schlechten Zähne und den Mühlstein des Zahnarztes. ›Andre Mühlen mahlen jetzt‹, dachte er flüchtig.

Und dann erzählte er. Ja, er habe dort nach Pflanzen für den Professor gesucht, und dabei habe er die Tür gefunden. Gesehen? Nein, er habe niemanden gesehen, und das sei wohl auch sein Glück gewesen.

Der Haferbrei flog zurück, und die Spinne rannte im Zimmer herum, um »Dispositionen« zu treffen. »Du kriegst die Belohnung«, murmelte er, »aber eigentlich müßten wir teilen, hm?« Er rieb sich die dürren Finger und lächelte. Rote Flecken erschienen auf seinen Wangen. »Wir müssen sie kriegen, Freundchen, verstehst du? Keiner darf uns entschlüpfen, keiner!«

Eine Stunde später verließen ein paar Wagen auf verschiedenen Wegen die Stadt. Gendarmen hielten zu Pferde unter den Bäumen des Waldrandes, und dann ging Johannes voran, von einem Dutzend Menschen behutsam gefolgt. Posten wurden ausgestellt, Revolver entsichert, Taschenlampen bereitgemacht.

Sie fanden alles unverändert. Der verkohlte Docht stand noch unberührt im auseinandergeflossenen Stearinfleck auf der Tischecke, und das seidene Mädchenhemd lag in den gleichen Falten über dem dunklen Pelz der Lagerstätte.

»Diese Schweine«, sagte der Landrat. Es war das erste Wort, das gesprochen wurde. Und dann begann die Durchsuchung.

Der Glückliche war Ziegenspeck. Ein unterdrückter Ruf kam gleichsam aus den Kleidern heraus, deren Taschen er durchsuchte. Er schwenkte einen Briefumschlag in der Hand, stürzte ans Licht, ließ ihn sinken und hob ihn nochmals an die funkelnde Brille. »Theodor Zerrgiebel!« sagte er feierlich.

Der Raum schien zu erdröhnen unter dem Namen, und Johannes sah alle Augen wie Messer sich auf ihn richten. Gieseke, der Amtsbote, besetzte geistesgegenwärtig den Eingang, und, als sei es nun erst gesichert, kroch das Schweigen aus Winkeln und Spalten und sperrte das übrige aus, die Sonne, die Ginsterbüsche, den Tag, die Einfalt alles täglichen Lebens. Und nur die Höhle blieb, die Tat, der Name. Eine Kugel, die schweigend gelegen hatte, in ihrer eigenen Schwere unbeweglich ruhend, begann zu erzittern, sich zu neigen, zu rollen, und der Donner ihres Laufes zielte nach dem Kindergesicht, das weiß, mit den tiefen Falten um den blassen Mund, ihr wehrlos entgegensah.

»Komisch«, sagte die Spinne, »wie?«

Eine Antwort erfolgte nicht, und dann begann die Durchsuchung mit verstärkter Kraft. Sie förderte einen zweiten Umschlag ans Licht. Auf der Rückseite schien der Plan eines Hauses eingezeichnet zu sein, die Vorderseite aber trug einen weiblichen Namen, Lisbeth Sperling. Sie war allen Versammelten wohlbekannt, Kind ordentlicher Leute, Postgehilfin gleich Zerrgiebel und mit der Herstellung telephonischer Verbindungen betraut.

Ziegenspeck setzte sich neben das Seidenhemd und zündete eine Zigarre an. »Nun haben wir alles«, erklärte er fröhlich. »Mädchen gestehen immer. Mittags sitzt die ganze Bande fest.« Und er stieß kunstvoll mit gerundeten Lippen einen bläulichen Ring von sich, dorthin, wo Johannes an der Wand lehnte. »Du wußtest natürlich von nichts, wie?« Er lächelte zutraulich. »Nein, ich wußte von nichts.«

Erneutes Schweigen. Augen, die an ihm herumbohrten, Gedanken, die um ihn kreisten, Spinnen, die unaufhörlich an zitternden Fäden woben.

»Gestern nachmittags, sagtest du, oder nicht?« fragte die gereizte Stimme von neuem. »Und weshalb erst heute früh, wie? Sechzehn Stunden? Komisch, hm?«

Johannes wollte sagen, daß er sich gefürchtet hätte, aber er sagte es nicht. Ein kalter Zorn stieg langsam bis in seine Augen. Alwin stahl in den Pausen das Frühstücksbrot seiner Mitschüler, und dieses Gespenst tat, als suche es schon nach Handschellen für ihn. »Ich hatte zu überlegen«, sagte er kalt.

Zusammengeneigte Köpfe. Geflüster. Gebärden.

»Nun, werden sehen«, erklärte Ziegenspeck. »Erst zufassen, schnell, ohne Aufsehen … bitte, meine Herren …«

Um die Mittagszeit saßen die Höhlenbewohner hinter Schloß und Riegel. Die Telephonistin hatte nicht länger als fünf Minuten dem Spinnenblick Ziegenspecks widerstanden. Dann hatte sie alles gesagt und einen Weinkrampf bekommen. Da waren Theodor und ein Schlosserlehrling, zwei Laufburschen und die Kontoristin des Raiffeisenvereins, Kinder aus achtbaren Familien, aus denen nun alle Geheimnisse stürzten wie aus zerschmetterten Schränken.

Nur Theodor bewahrte Haltung, eine lächelnde, tückische, gefrorene Haltung. Er war das Haupt, er hielt die Fäden. Er sagte nichts, stand da, die rechte Hand in der Tasche, und zwischen seinen eng zusammenstehenden Augen war die böse Falte so tief eingegraben, daß die Spinne unbehagliche und warnende Blicke auf den Stadtsergeanten warf, er möge sich doch ja bereithalten, im entsprechenden Falle an sein Recht des Waffengebrauchs zu denken.

Johannes blieb wie ein angebundner Schatten neben Ziegenspeck. Ja, er müsse noch ein wenig Geduld haben, man brauche ihn noch. Ein fatales Lächeln um den säuerlichen Mund, eine Handbewegung nach einem Stuhl in der Ecke.

Plötzlich, mitten in die bohrenden Fragen hinein, die nebensächliche Bemerkung, daß dieser junge Herr, Johannes Zerrgiebel, die Sache angezeigt habe. Welcher Art seine Beteiligung gewesen sei?

Ein flimmernder Blick aus den Augenwinkeln Theodors, ein Stoß gleichsam und eine Rückkehr in die Ausfallstellung. Natürlich, der habe alles gewußt, er sei derjenige, der auf seinen Waldstreifzügen die Höhle entdeckt habe.

Befriedigtes Lächeln Ziegenspecks. Und … ja … es sei bekannt, daß dieser »p. p. Johannes« Intimus einer gewissen Persönlichkeit … hm … auffallende Erscheinung, seltsame nächtliche Wanderungen … tja … es sei gut, sein Gewissen zu erleichtern, wie?

Der Professor? lächelte Theodor. Ja, der sei sozusagen das geistige Haupt der Bande gewesen. Nie persönlich beteiligt, aber der Generalstab. Plan, Taktik und so weiter … ein hochbegabter Mann.

Selbst Ziegenspeck stutzte über soviel Bereitwilligkeit und beriet sich leise mit dem Vertreter der Polizei. Hier gab es Gefahren, eine ungeheure Sensation. Hier mußte überlegt werden.

Theodor wurde abgeführt und das Verhör mit den übrigen Mitgliedern der »Bande« fortgesetzt. Sie beteuerten mit eindringlicher Überzeugungskraft, daß davon keine Rede sei. Theodor, ihnen gegenübergestellt, meinte, es könne auch ein Scherz gewesen sein, die Sache sei sonst zu langweilig. Vielleicht sei es auch wahr, er wisse das nicht mehr genau. Angebrüllt mit aller Kraft der Staatsautorität, lächelte er ironisch und meinte, daß solch ein Stimmaufwand der schwachen Brust des Amtsrichters nicht gut tun werde. Im übrigen sei Johannes ein Schaf und es sei natürlich alles Quatsch. Nur könne es nichts schaden, ihn ein wenig unter Polizeiaufsicht zu stellen.

Johannes stand in seiner Ecke an der Wand, weiß, mit scharfen Falten um seinen Mund.

»Lassen Sie das Kind doch nach Hause, Herr Amtsrichter«, sagte Lisbeth, »das ist doch nicht anzusehen.«

»Schweigen Sie!« donnerte Ziegenspeck.

Erneute geflüsterte Beratung mit der Polizei. Johannes durfte gehen. »Vorläufig!« betonte Ziegenspeck gereizt.

»Leb wohl«, sagte Theodor lächelnd. »Du bist jetzt die letzte Säule, Vertreter der ganzen Generation Zerrgiebel. Die junge deutsche Eiche. Die übrigen, Herr Präsident, holen Sie sich nun etwas fix heran, ehe sie etwas merken … und sie werden es schnell merken. Sie wissen doch: Urahne, Großmutter, Mutter und Kind … das hab' ich bei Balla gelernt, Balla mit den Plattfüßen und dem Brustton der Überzeugung … der konnte das so schön deklamieren.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, daß Vater Zerrgiebel einen schönen, geräumigen Keller in seinem Siedlungshäuschen hat, denselben, in dem seine teure Gattin verblichenen Angedenkens sich ein bißchen zu lange aufgehängt hat. In diesem besagten Keller, unter einem Haufen Brennholz, gibt es interessante Dinge, mit denen man Geldscheine herstellen kann, sehr hübsche Fälschungen, an denen es fünfhundert Mark Belohnung zu verdienen gibt. Da lacht Ihr Herz, Herr Präsident, was? Auch die deutsche Eiche, der Herr Großvater mit der Schirmmütze, ist erheblich an diesen Dingen beteiligt und wahrscheinlich noch ein paar dunkle Existenzen, deren Namen ich leider nicht weiß. Ich selbst bin übrigens passiv dabei geblieben, durchaus passiv. Aber Sie müssen sich ein wenig beeilen, denn die Zerrgiebels haben fixe Beine und eine Masse Rattenlöcher zur Verfügung … So, und nun bedarf ich der Erholung und bitte, mir mein Quartier anzuweisen.«

»Abführen, Lemke!« flüsterte Ziegenspeck, und die roten Flecken erschienen wieder auf seinen Wangen.

Johannes blieb allein mit ihm in dem großen, kahlen Raum. Hinter den Fenstern dämmerte der Frühlingsabend, und vor den hellen Vierecken schoß die dürre Gestalt des Richters vorüber, händereibend und unverständliche Worte vor sich hinmurmelnd: die Spinne, die an ihrem Netz wob.

»Was stehst du da?« fragte er, über einem fernen Türenschlagen zusammenzuckend. »Mach, daß du fortkommst! Es ist eine saubere Familie, mein Lieber. Wollen hoffen, daß du keine Schuld hast.«

Dann stieg Johannes die Treppe hinunter. Es dämmerte in dem großen, leeren Gebäude, und das Knarren der Stufen war laut und böse im großen Schweigen. ›Ich muß nun durch die Straßen gehen‹, dachte Johannes. ›Sie werden es alle wissen, und es ist ein weiter Weg bis zur Gärtnerei oder zum Professor …‹ Er sah den langen Korridor entlang, ob da irgendwo eine Nische wäre, eine Höhlung, eine noch so kleine Unterbrechung in der furchtbaren Gradheit erbarmungsloser Linien. Aber nur drei Fenster warfen ihr kaltes Licht in den dunklen Gang, und von den Türen schimmerten abweisend die weißen Schilder mit nun unleserlichen Aufschriften.

Er dachte an die Hecke vor dem öden Feld, an die Brunnen, an Keller und Spinnen. Er seufzte und legte die Hände müde ineinander. Und dabei fiel ihm Bonekamp ein, wie er seine Geigerhände unter dem Pult verbarg, und er trat auf die Straße. Menschen standen vor den Häusern und verstummten, wo er vorüberging. Er schien in einem leeren Kreise zu gehen, und der Kreis ging mit ihm mit. Er war wie ein heller Ring, und Johannes sah, wie er zur Seite schob, was in seinem Wege stand. ›Ich werde das nicht abwaschen können‹, dachte er. ›Ich habe ja gewußt, daß Schreckliches aus ihm kommen wird.‹

Er ging sehr gerade und langsam, die Augen weit vor sich hin gerichtet. Es war merkwürdig, daß er nur Wald sah, schweigende, sehr ernste Bäume, über denen ein fahler Himmel stand. Sie standen erstarrt wie in seiner Kinderzeit, wenn die Schatten innehielten und alles auf Welaruns Ruf wartete. Aber er rief nicht. Nur der Schwarzbart war irgendwo zwischen den Stämmen, ganz weit hinten, und er trug den Hut in der Hand und sah bekümmert aus. »Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan«, sagte Johannes leise, aber er wußte nicht, was er sprach.

Die Seestraße … wie schrecklich lang sie war … Nachtvögel riefen schon über dem Wasser, und dort, ja, dort war die Laterne von Pinnows Haus. Johannes wollte laufen, aber er veränderte seinen Schritt nicht. Der Werkmeister trat aus einem der Häuser, nickte ihm zu und blieb stehen, als wollte er zu ihm sprechen. Aber Johannes ging geradeaus. ›Ich muß meine Schuhe verloren haben‹, dachte er. ›Die Füße sind so kalt und schmerzen …‹ Und dann verwirrte sich auch dies, und nur die Laterne blieb. Sie wuchs an Größe und Helligkeit, sie war ein ungeheurer Stern vor einer Himmelstür. Ihr Licht schmerzte und verbrannte, die Kleider fielen ab, die nackte Seele war allen sichtbar, als schon die Hand sich nach dem Türgriff streckte. Und dann war der Laden, die Petroleumlampe, Frau Pinnows helle Augen, der Rauch ihrer kurzen Pfeife. Die Türe schloß sich, die Glocke erstarb, und dann war der Friede, der unermeßliche, grenzenlose Friede.

»Alle!« sagte Johannes mit Anstrengung. Er glaubte zu schreien, aber er flüsterte nur. »Alle … die beiden und auch der Alte mit der Mütze … sie sind die Falschmünzer … und mich wollten sie auch … ins Gefängnis …«

Frau Pinnow trug ihn fast die Treppe hinauf und legte ihn auf sein Bett. »Diese Schweine«, murmelte sie erbittert, »ach, diese Schweine!« Johannes drehte den Kopf zur Wand und schloß die Augen. Er gab keine Antwort mehr. Herr Pinnow saß bekümmert am Fenster, die geschlossene Bibel auf den Knien.

Nach einer Stunde kam Frau Pinnow wieder herauf. Sie trug eine Lampe in der Hand und hielt sie hoch über Johannes' Bett. »Jungchen«, rief sie mit solcher Freude, daß Johannes den Kopf wandte und die Augen öffnete. »Jungchen, es ist ja nicht dein Blut!«

Es dauerte eine Weile, bis er sie verstand, aber dann schien ein Abglanz ihrer Freude auf ihn zu fallen. »Nicht mein Blut … nein, Frau Pinnow, nicht mein Blut, nur mein Name … einen Namen kann man ändern und abwaschen, nur Blut kann man nicht abwaschen … dann ist es gut, dann ist es besser … jetzt werde ich schlafen, Frau Pinnow.«

Als das Dunkel wieder den kleinen Raum erfüllte, ein tiefes, beglückendes Dunkel, wiederholten seine Lippen noch immer das Wort vom Blut. Unten ging die Glocke, mehrmals, und er hörte Stimmen leise durch die Wände kommen. ›Vielleicht holen sie mich‹, dachte er noch einmal in jähem Erschrecken, aber dann war es doch wohl Luthers Stimme, und vielleicht war auch Percy dabei. ›Sie verlassen mich nicht‹, dachte er. ›Aber ich werde ihnen sagen, daß ich vorläufig nur im Dunkeln zu ihnen kommen werde … nur im Dunkeln …‹

Und dann schlief er ein.

Er erwachte von einer Stimme, die gerufen hatte, und saß aufrecht in seinem Bett. Das Mondlicht stand weiß und scharf im Zimmer, und er sah, daß es um Mitternacht sein mußte. Er lauschte, aber die Stimme schwieg. Sie hatte gerufen, dringend und unaufschiebbar. Es war nicht im Hause gewesen, auch nicht auf der Straße. Es war weit gewesen, und es war so, als sei sie durch einen großen Wald zu ihm gekommen. Sie hatte noch etwas vom Dunkel an sich getragen, von atmenden Bäumen, von Blättern, deren Knospen leise sprangen.

Er öffnete das Fenster und sah hinaus. Niemand stand dort. Die Beete lagen wie helle Gräber, und die Stiefmütterchen leuchteten. »Wer wohnt hinter dem Walde?« fragte er, noch tief eingesponnen in das verwirrende Licht. »Wer wohnt denn dort?« Die Glieder waren ihm schwer, aber ganz tief in seinem Körper war etwas Drängendes, wie eine Kugel auf einer geneigten Ebene, die unmerklich zu rollen begann. Er schloß die Augen und wartete. Aber vor den geschlossenen Augen blieb das Bild des Gartens, der Mond, ein Wald, ein dunkler Weg … etwas war in der Stimme gewesen, das er kannte, gehört hatte, das nur einmal war, traurig und süß wie der Sprosser in der Juninacht.

Und dann, ohne Übergang, sah er die Augen, den dunklen Scheitel, die Hand, die nach seinen Augenbrauen suchte: die Mutter hatte gerufen! Die Treppe knarrte leise … daß er es nicht gedacht hatte! Allein in dem bösen Haus mit der Verruchtheit des Kellers unter den Dielen … die Glocke schlug nicht an … und er hatte geschlafen, in Dunkel und Frieden …

Die Straße war weiß und totenstill. Er trat in das Licht wie in schimmernde Seide. Die Füße taten weh, als ob er auf Lebendiges träte. ›Es ist so still, damit ich sie hören konnte‹, dachte er. ›Aber es ist noch Zeit … viel Zeit … wie seltsam das alles ist …‹

Die Stadt blieb hinter ihm wie ein schlafendes Gesicht, häßlich und ganz fremd anzusehen. Saatfelder, schimmernd wie gebürsteter Samt. Eine Holzbrücke über dem Fließ. Aufblitzen des rieselnden Wassers und ein leises Seufzen zwischen Steinen und Schilf. Und dann der Wald. Silberfall des Lichtes von Zweig zu Zweig, Vertropfen im Moos, Verbergen im Geäst. Hohe Sterne über dem grünen Atem, glühender Fluß der Straße zwischen Wand und Wand. Lichtungen, gleißend in der Vergeudung des Lichts, Schluchten, von geballtem Dunkel zum Brechen erfüllt. Schritt auf Schritt im mahlenden Sand, geräuschlos und weich und doch hart und dröhnend im Heiligtum. Lautheit des Körpers auf dem schweigenden Weg der Seele. Aber kein Müdesein, keine Schmerzen, kein Atem, keine Zeit. Der Stimme entgegen, die diesen Weg geflogen war, zwischen den ernsten Bäumen hindurch, ein Silbervogel mit lautlosem Flug.

Der Wegweiser: ein weißes Kreuz, und eine beglänzte Gestalt, an seinen Stamm gelehnt. Zögern des Fußes, einen Herzschlag lang … ›Der Bote … der Bote, der die Stimme trug, den halben Weg, damit sie nicht irre …‹ Wie seltsam die Nacht … Und dann steht es auf und streckt ihm die Arme entgegen, Mondlicht auf dem dunklen Scheitel, in den Augen, um den stillen Mund.

Und dann ist es die Mutter, und die Stimme schweigt.

Langsam gehen sie Ginas Weg zurück, Hand in Hand, und sie fühlen die große Ruhe ihres Blutes. Sie hat gerufen und er ist gekommen. Sie haben seine Seele nicht entwendet. Sie haben ihren Anteil nicht genommen. Das andre ist wie ein zerbrochenes Geschirr, Lärm und Scherben. Aber dies ist das Leben, das Blut, die Seligkeit. Sie haben keinen Schaden genommen, sie sind nicht aus ihrer Liebe gefallen. Die Hand in der ihren zögert nicht, sie widerstrebt nicht, ist nicht fremd, nicht kalt, nicht eines anderen Menschen. Das Blut hat Macht gehabt, über leere Räume hinaus, in der Stunde der Not und des Dunkels. Das Blut lügt nicht, es ist eine Verheißung, für alle Zeit, bis an den Tod.

Sie sitzen oben in ihrer Kammer, und unter ihnen ist das Gähnen des verlassenen Hauses. Die Wände sind anders geworden, erstarrte Wände, die brechen können wie Glas, wenn man sie berührte. Und der Keller ist wie eine Mordstätte, mit trocknendem Blut, dessen Geruch leise aufsteigt und wieder verschwindet.

Gina macht noch etwas Feuer im Ofen, daß das Licht nicht so weiß und nackt im Zimmer steht. Und dann sitzen sie davor, und Gina erzählt es, ganz kurz und wie eine fremde Geschichte. Der Alte sei ganz still gewesen, aber Zerrgiebel habe gedroht, daß die Stadt noch etwas erleben werde. Er habe Material für drei Jahre. Ziegenspeck habe auch sie mitnehmen wollen, aber die Leute von der Siedlung hätten gesagt, sie würden ihn eher totschlagen als zusehen, daß ihr ein Haar gekrümmt werde. Zuerst habe Lemke seinen Säbel ziehen müssen, aber dann habe er gesagt, es sei ein Unrecht, und dann seien sie alle fortgefahren.

»Und dann hast du gerufen?«

Ja, dann habe sie gerufen und sei gleich hinter ihrer Stimme hergegangen.

»Und wie wird es nun sein, Mutter?«

»Ich werde auf den Karstenhof gehen, Johannes, fort von hier, und du wirst auf eine andere Schule gehen.«

Johannes schüttelt den Kopf. »Ich bin heute durch die Straßen gegangen«, sagt er, »und meine Füße taten mir weh. Ich werde auch durch das andre gehen … Das erste Mal, als der Professor bei mir war, hat er sich in der Tür umgedreht und gesagt: ›Ihr seid teuer erkauft. Werdet nicht der Menschen Knechte!‹ Und ich denke, es ist nun so, daß ich es zeigen muß.«

»Kleiner Johannes«, sagt sie kummervoll, »sie werden dich kreuzigen.«

Aber er lächelt in das Feuer hinein, ein stilles, wissendes Lächeln nach diesem Tag der Qualen. »Heute, als ich aus dem Gericht kam«, sagt er leise, »bin ich ihn schon gegangen, den schwersten Weg …«

»Haben sie … sagten sie etwas gegen dich, Johannes?«

»Nein. Aber sie traten zur Seite, und sie hörten auf zu sprechen … und ich denke, Mutter, das ist der schwerste Weg …«

»Weshalb willst du es nicht etwas leichter haben?« fragt Gina.

»Ich habe ein Buch gelesen«, erwidert er nachdenklich, »in dem war gesagt, daß etwas nur deshalb gut sei, weil anderes böse sei. Und ich habe gedacht, daß viele Menschen es nur deshalb schwer haben, weil andere es leichter haben. Und wenn ich mein Leichtes ausstreiche, streiche ich auch ein anderes Schweres aus.«

»Johannes, Johannes«, sagt Gina schmerzlich, »was hast du für Gedanken?«

Als es dunkel und still ist, hebt er noch einmal den Kopf von seinem Kissen. »Der Professor sagt, wenn der Gedanke an den andern Menschen – er sagte so, an den andern Menschen – zum erstenmal in der Seele aufsteht, dann werde man zum zweitenmal geboren … Das erste Mal von der Kreatur, das zweite Mal von Gott. So sagte er.«

Gina denkt, ob Gott sie geboren habe, als sie bei Zerrgiebel an ›den andern Menschen‹ gedacht hatte, und sie weiß nicht mehr, ob die Gnade in die Strafe geknüpft sei wie die Liebe in den Schmerz.

Und dann schlafen sie zum letztenmal in dem leeren Haus.


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