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7

Es dauerte viele Jahre, bis Johannes ohne quälende Schmerzen in der Stadt zu sein vermochte. Und das für Gina Unverständlichste war, daß er selbst in den großen Ferien des ersten Jahres gebeten hatte, sie möchte ihm ein stilles Unterkommen in der Stadt besorgen, er wolle nicht täglich mit der Bahn hin- und zurückfahren. Behutsam nach den Gründen befragt, hatte er erwidert, daß er es nicht ertrage, jeden Tag zweimal mit »ihm« im gleichen Abteil zu sitzen und am Morgen noch den »andern« sich gegenüber zu haben. Theodor war seit Ostern Eleve auf dem Postamt der Stadt und kam erst am Abend in die Siedlung zurück.

Dies war nicht die ganze Wahrheit, aber es war die Wahrheit. Das Kind, scheu, fremdartig, zum Betrachten herausfordernd, saß in seine Ecke gedrückt, wie in einem Käfig, der mit Raubtieren gefüllt war, gegenüber die »Beiden«, um sich fast stets die gleichen mißmutigen, gefalteten, erwachsenen Gesichter, die freudeleer in ihren staubigen Dienst fuhren. Es roch nach schlechten Morgenzigarren, nach ungelüfteten Schlafzimmern und ungepflegten Körpern, ein säuerlicher, dumpfer und müder Geruch, den Johannes den »Beamtengeruch« nannte. Das Gespräch schleppte sich mit träger Gereiztheit um Gehälter, Vorgesetzte, Beförderungen, die Familie, gleich einem kreischenden Göpelwerk, im gleichen Kreise, mit den gleichen Tönen, mit denen Eisen an Eisen schrie, mit der gleichen Schwerfälligkeit und der gleichen Erbarmungslosigkeit.

»Das ist also Ihr Jüngster, Zerrgiebel?« hörte Johannes am ersten Morgen.

Zerrgiebel seufzte. »Tja … das ist er …«

»Komisch«, sagte eine dicke Frau am andern Fenster.

Darauf war eine lange Pause, und Johannes fühlte alle Augen sein Gesicht abtasten. Sie fraßen an ihm wie Kühe an einem Blumenstrauß.

»Er hat zwei verschiedene Augen«, erklärte Zerrgiebel bekümmert. »Zeig mal deine Augen, Johannes.«

Johannes sah aus dem Fenster.

»Sehr artig scheint er nicht zu sein«, meinte die dicke Frau.

»Rohrstock! Rohrstock!« erklärte eine fette Stimme mit freundlicher Mahnung.

Zerrgiebel lächelte. »Das ist ein besonderes Kind, Herrschaften. Meine Frau hat ihn auf einen Thron gesetzt und ihm eine Krone auf seine edle Stirn gesetzt. Wir beide« – er wies auf Theodor – »sind nicht wert, seine Schuhriemen zu lösen. Er macht sogar Gedichte, in seinen Schulheften. ›Die Sonne weint um meine Seele, und meine Seele sieht ihr zu …‹«

Das Abteil brüllte vor Vergnügen.

»Und Flöte sollen Sie ihn erst spielen hören … lütütü, lütütü …« Er summte eine alberne Melodie, und die dicke Frau verschluckte sich bei ihrem Lachen. »Meine Frau hört zu wie den Engeln im Himmel, und alles ist schrecklich ergreifend.«

»Tja«, sagte die fette Stimme, »Mutterliebe ist was Schönes, aber wen Gott lieb hat, den züchtigt er. Wenn ich denke, was ich für Senge bekommen habe, ach du lieber Gott! Nein, es geht abwärts mit uns, keine Zucht mehr auf der Welt, keine Zucht.«

Johannes sah aus dem Fenster. Sein Gesicht war sehr blaß, und es war ihm, als säße er ohne Kleider in einer rollenden Schule und ein Dutzend Knurrhahns, einander gleichend wie ein Ei dem andern, tasteten mit ihren kalten Steinfingern an seiner Haut herum.

Der kleine Bahnmeistersohn an seiner Seite riß seine angehefteten Augen weit auf und sah entsetzt von einem Gesicht in das andere. Er hatte gewußt, daß es nun noch viel schlimmer werden würde als bei Knurrhahn, aber dort hatte man wenigstens den Weg an der Hecke entlang, und die Felder waren still, und die Sonne stand warm und zuverlässig über dem Walde. Aber dies war schlimmer als der Riemen früher, als Knurrhahns Tröster, als Josephs Drohungen. Und Johannes war so schrecklich still. »Jo … jo … hannes« – in der Erregung stotterte er ein wenig –, »Johannes ist ein Heiliger!« schrie er plötzlich mit geballten Fäusten. Sein großer, trauriger Kopf zitterte, und die Greisenfalten um seinen Mund bebten.

Als das Gelächter zu Ende war, sagte Zerrgiebel freundlich abschließend: »Er macht nämlich jede Nacht ins Bett …«

Dann begann Klaus bitterlich zu weinen, und der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Es wurde noch etwas von den schlechten Nerven der Jugend gesprochen, und dann gingen sie alle hinaus wie aus einem Stall, und für dieses Mal war es zu Ende.

Wenn sie zurückfuhren, versteckten sie sich hinter den Tragkörben der Frauen, die vom Markt kamen, aber es half ihnen nichts. »Seid gegrüßt, ihr Lieben«, sagte Zerrgiebel plötzlich über ihnen. Er war ein Zauberer, der sie einholte, und sein Zauberkreis reichte bis in den fernsten Winkel des Zuges. Schließlich schlossen sie sich auf dem Abort ein, aber Johannes wurde übel, und sie mußten es wieder aufgeben.

Es war die Wahrheit, was Johannes zu seiner Mutter gesagt hatte, aber es war nicht die ganze Wahrheit. Johannes wollte allein sein, Nachmittage, Abende, Nächte. Er wollte nicht gefragt werden, nicht antworten. Er war »nicht fertig«, sein Leben lief gleichsam immer ein Stück voraus, bevor er es verarbeitet hatte, bevor er im Einklang mit ihm war. Sein Leben und er waren zweierlei Dinge, und er fühlte, daß es nur eines sein dürfe. Sein Leben war ein Zug, und er lief hinterher, die Hand am Türgriff, er wurde abgeschleudert, griff wieder zu, lief wieder hinterher. Er wollte in seinem Leben sein und fahren, und die Wälder, die am Zuge vorüberflogen, sollten auch an ihm vorüberfliegen. Und dazu mußte man stille sein, ganz für sich allein. Man mußte die Hände falten und vor sich hinsehen, mußte auf der Flöte spielen, mußte lesen, viel lesen oder langsam aus den steinernen Straßen in den nahen Wald gehen. Und abends mußte man mit offenen Augen in dem schmalen Bett liegen und den Tag fertigmachen, einordnen, austrinken. Was Klaus am Morgen und in den Pausen gesagt hatte, was die Lehrer gesprochen und verschwiegen hatten, was in den Büchern stand, in den Augen und Händen der Menschen, in den Wolken, in der Stimme des Windes, im unaufhörlichen Sprechen tief im eignen Blute. Und dann mußte man auf die Träume warten, sie leise herankommen sehen aus der weißlichen Dämmerung des Zimmers und fühlen, wie sie einen einhüllten, forttrugen und so seltsam veränderten. Und in allem diesem war das Schweigen so schön, das tiefe, leise Rauschen, in dem es immer sang und tönte wie in einer Muschel oder in den Kronen eines Waldes.

Johannes war nicht ohne Leid in diesem frühen Einsamsein. Die Mutter war nicht da und der Schwarzbart nicht, die Kammer und der Ofenwinkel. Es würde besser sein, man könnte ohne dieses Leid leben, aber dann würde das Leben sich wieder spalten und man nicht fertig werden. Er fand, daß die Menschen auch so ihm soviel fortnahmen, Zeit vor allem, daß sie ihre Worte und Meinungen und Wissenschaften unaufhörlich in ihn hineingossen wie in ein wehrloses Gefäß und daß sie niemals danach fragten, ob er nach einem andern Inhalt begehre. Er war ein Glas in einem braunen, nüchternen Regal, und um ihn herum standen hundert andre Gläser, sauber ausgerichtet, und jedes trug auf einem weißen Schild Namen, Alter, Herkunft und Inhalt. Und in diesem Objektsein lag etwas Furchtbares und Entwürdigendes. Und eines Tages, wenn es ihnen gefiele, konnten sie das Glas fallen lassen, die Scherben fortwischen und ein neues aufstellen mit einem neuen Namenschild. Denn was sie hineingossen, war unerschöpflich, war immer da, war immer fertig. Religion auf Quarta: sie zogen ein Schubfach auf, sie öffneten ein Buch, und die Religion war da, die Dosis, die man brauchte, genau zusammengesetzt und abgewogen, wöchentlich drei Pulver vor dem Mittagessen. Und so war es mit allem andern. Man wollte etwas von Alexander dem Großen wissen. Nein, nach zwei Jahren, wenn es »herankomme«. Man wollte wissen, weshalb die Katholiken das Falsche glaubten und die Evangelischen das Richtige. Dazu sei man zu dumm. Nach drei Jahren. Oder ob man sich vielleicht lustig machen und drei Stunden Arrest bekommen wolle? Und alles dieses mußte man selbst bedenken, erfahren, aufsuchen, von allem Lebendigen ganz zu schweigen, das auf allen Seiten aufstand, fragte, drohte, forderte. Und dazu brauchte man Zeit, Stille, Schweigen.

Es blieb Gina nicht verborgen, daß hinter der Wahrheit, die er ihr sagte, viele ungesagte Wahrheiten standen. Daß er allein sein wollte, daß er in dem sein wollte, was »seines Vaters« war, und sie erinnerte sich, daß sie bei seiner Geburt gesagt hatte, daß Gott sein Vater sei. Sie hatte nur nicht gedacht, daß es so bald sein würde. Aber es kam ihr nicht in den Sinn, zu fragen oder gar Widerstand zu leisten. Gott hatte etwas vor mit dem Kinde, und es stand ihr nicht zu, ihm in den Arm zu fallen. Nichts stand ihr zu als zu warten.

Und so wohnte Johannes vom Sommer ab in einem kleinen Haus am See bei Frau Pinnow. Die Stadt war hier schon zu Ende, sie zerbröckelte und löste sich in kleine Anwesen auf. Geruch und Lärm des steinernen Lebens brandeten in leisen Stößen bis an diesen stillen Strand, aber das große Schweigen der Felder und des Wassers hob sich hier schon auf, zersetzte das andere, überwältigte es, bis es wieder zurückwich vor einer neuen Welle und jenen Zwiespalt des Raumes erzeugte, der allen Rändern eigen ist, allen Grenzen, allen Übergängen.

Johannes hätte eigentlich bei Herrn Pinnow wohnen müssen, denn Herr Pinnow war auch da, leibhaftig und wirklich, und war sogar Eigentümer der Gärtnerei, die sich hinter dem kleinen Hause erstreckte. Aber es wäre lächerlich gewesen zu sagen, daß man bei Herrn Pinnow wohne oder daß ihm die Gärtnerei gehöre. Denn Herr Pinnow war ein kleines Männlein, kümmerlich und mit gebeugten Schultern. Seine Bewegungen waren so bescheiden, daß Johannes glaubte, er könne sich ohne Mühe durch eine Türspalte oder durch ein Schlüsselloch winden, und außerdem war er Baptist. Er trug ein Käppchen über einer hohen und zergrübelten Stirn und eine Brille mit Stahlbügeln vor seinen großen, leise leuchtenden Augen. Das übrige seines Gesichtes war wesenlos neben diesen Dingen, so wesenlos, daß Johannes sich nie erinnern konnte, es gesehen zu haben. Und doch war Herr Pinnow nicht ohne Würde, ja nicht ohne einen ganz leisen Hochmut. Die Auserwähltheit des Sektierers umgab ihn wie ein heimliches Gewand, und wenn er die Brille auf die Stirne schob und vom »Herrn Pfarrer« zu sprechen begann, schien eine Lanze in seiner kleinen Faust zu wachsen und der Schein einer Verwandlung um seine Stirn zu strahlen. »Junger Herr«, sagte er zu Johannes, »was Sie in der Schule lernen« – er sagte vom ersten Tage ab »Sie« zu Johannes, »ist sozusagen Kompost, und alle die Herren Abiturienten, die so schrecklich stolz sind und bei mir ihre ersten Rosen für ihre jungen Damen kaufen, sind sozusagen nichts als Komposthaufen auf zwei Füßen. Ein Komposthaufen kann warm sein und duften, aber von selbst wächst nichts in ihm. Und was die Schule ist und die Kirche, sie denken das Samenkorn Gottes hineinzulegen, aber es sind nur falsche Propheten, von denen die Heilige Schrift schon sagt. Wissen Sie, junger Herr, daß ich vierzig Jahre ein Komposthaufen war? Bis Gott mich erweckte und ich mich taufen ließ. Und nun wächst das Korn Gottes, aber es ist schon spät im Jahr und gibt eine knappe Ernte. Man sät zu spät bei uns Menschen, junger Herr, und wir werden nicht fertig …«

»Ferdinand!« rief Frau Pinnows weithin hallende Stimme.

Herr Pinnow zuckte ein wenig zusammen wie unter dem Pfeil eines Blasrohres. »Sehen Sie, junger Herr«, sagte er, seine Brille auf die Nase zurückgleiten lassend, »so werden Sie niemals rufen. Das sind die Sieger des Lebens …« Und nach diesem geheimnisvollen Ausspruch wand er sich wie ein grauer Regenwurm zwischen den Stachelbeeren durch, um Befehle in Empfang zu nehmen.

Frau Pinnow hatte einen Schnurrbart und rauchte in Mußestunden mitunter eine kurze Pfeife. Sie hatte ein rundes, glänzendes Gesicht, eine »Stimme mit Echo«, wie Johannes sagte, scharfe Augen und eine rasche Hand, aber sie war weit davon entfernt, ein Drache zu sein. »Das Leben, Johanneschen«, sagte sie, »ist ein Karussell. Die Menschen möchten alle bloß reiten und Musik hören. Aber einer muß auch da sein, der dreht und der Musik macht. Und dazu, siehst du, bin ich da. Er reitet auf seinem Pferdchen mit dem Engelskopf, und die Lehrlinge möchten sich wenigstens am Schwanz festhalten. Aber hier muß gearbeitet werden und verdient werden und Augen und Ohren aufgehalten werden, und essen muß der Mensch und einen warmen Ofen für den Winter haben und ganze Strümpfe für seine Füße. Und nun hab man keine Angst, auch wenn ich meine Pfeife rauche. Hier darf dir keiner was tun, und für deine Mutter laß ich mich totschlagen.«

Johannes hatte keine Angst. Seine Stube lag über dem Laden, und ihr Fenster ging auf die Gärtnerei hinaus. Das Leuchten der Beete beglückte ihn, wiewohl es auch mit einer leisen Trauer erfüllte, und der Duft der blühenden Erde stand Tag und Nacht wie eine Mauer des Schutzes um sein Leben. Es wechselte von Monat zu Monat, von dem ersten in Reihen geordneten Glanz der Stiefmütterchen bis zur betäubenden Wirrnis der Dahlienblüte, aber es endete nicht vor dem ersten Schnee. Hinter der weißen Keuschheit der Obstblüte folgte der bläuliche Rausch des Flieders, folgte die rote Glut der Rosen, die Ekstase der Nelken, die kühle, fast duftlose Beherrschtheit des Herbstflieders, die letzte verzehrende Leidenschaft der Dahlien. Und alles dieses, Farben und Düfte, wechselte nicht und löste einander nicht ab, sondern griff ineinander über, überschnitt und überleuchtete sich und war wie ein farbiger Springbrunnen Gottes, wo der fallende Tropfen sich wiedergebar und zur Sonne stieg, bis mit dem Fortschritt der Jahreszeit die Säule sank und stiller ward und schließlich in den stillen Nächten die schweren Früchte auf den Boden klopften und die Erde leise in sich hineinzog, was sie im frohen Spiel zur Sonne gehoben hatte.

Nein, Johannes hatte keine Angst an seinem Fenster, von dem er hinter den blühenden Beeten und der schützenden Tannenhecke den See sich ausbreiten sah und dahinter geneigte Felder bis an den immer dunklen Wald. In den windgefüllten Herbstnächten tasteten die Ranken des wilden Weines wohl mit einer seltsamen Sprache an seinem Fenster, aber Frau Pinnow saß wohl noch am Fuß der Treppe, flocht Kränze und rauchte ihre kurze Pfeife und bewahrte ihn vor den Menschen. Und Herr Pinnow saß wohl über der Bibel, eine kleine Lanze in der Faust, und bewahrte ihn vor den Geistern der Finsternis. Und inzwischen konnte Johannes ruhig mit dem Tage »fertig« werden, mit seinen Menschen, Dingen und Geheimnissen, bis die Leiter der Träume sich schimmernd aufbaute und er hinauf- und hinabsteigen konnte, wo die goldnen Kugeln leise rollten und Raum und Zeit, Namen und Wirklichkeiten schweigend zurücktraten bis ins Grenzenlose. Johannes hatte keine Angst, bis Frau Pinnow in der Frühe sich über ihn beugte und mit einer für sie unwahrscheinlich leisen Stimme sagte: »Johanneschen, es ist Zeit.« Dann schlug er die Augen auf, und in ihre feuchte, noch traumbefangene und gleichsam nackte Tiefe stürzte sich das eisige Bewußtsein des Tages, die Stadt mit allen ihren Straßen und Häusern, die Schule mit Lehrern, Schülern, Stunden, Aufgaben, die Gerüche und Klänge, die Drohungen und Gefahren, das Brausen des Rades, das ihn in seine Speichen verflocht, und der Schrei der Treiber, die »das Vieh mit dem Stecken trieben«. Dann griff er einen Augenblick nach Frau Pinnows fester und kühler Hand wie nach dem Geländer einer Brücke, und seine Augen sahen vor sich hin wie auf das schwindelnde Brausen eines abgründigen Stromes. »Die Zukunft ist wieder da, Frau Pinnow«, sagte er dann leise, und dann stand er auf und griff nach seinen Kleidern wie nach einer Rüstung.

Die Stadt, in der Johannes in die Zukunft wuchs, war ein grauer und nüchterner Steinhaufen, mit einem Landratsamt, einem Amtsgericht, an dem Zerrgiebel die Sünden der Zeitgenossen rächte, einem Postamt, hinter dessen Schaltern Theodor ab und zu Briefmarken verkaufte, und einem Gymnasium, dessen roter Ziegelbau ehrfurchtgebietend aus dem Grau des bürgerlichen Lebens emporwuchs. Sie hatte eine Reihe von Läden, neben deren Türen bei schönem Wetter Mäntel und Joppen hingen und die meistens jüdischen Inhabern zugehörten, mit tönenden und etwas auffälligen Namen, eine Zeitungsdruckerei, einen Schützenverein, einen dramatischen Lesezirkel und eine lange Reihe von Stammtischen verschiedener Zusammensetzung. Der Atem der Felder reichte, auch in Besitz und Tätigkeit, bis in die Steinhäuser hinein, nur ein wenig verdumpft und gleichsam aus zweiter Hand; am Abend saßen viele Familien auf den Treppen vor ihren Häusern, am Morgen sah man zuerst nach dem Wetter und am Abend in die Zeitung; Hochzeiten und Begräbnisse waren nicht Sache der Betroffenen, sondern gleichsam kommunale Ereignisse; jedermann war der Nächste und wurde leicht bei sich absondernder Lebensführung zum Fernsten in der Liebe; »unerhört« war ein geläufiges Wort, und Staat und Obrigkeit, Kirche und Bildung, Anständigkeit und Moral waren unerschütterliche Säulen, die das Dach der Welt trugen und an deren Füßen die öffentliche Meinung eine unbestechliche und furchtlose Wache hielt.

Es gab Worte, die Johannes, als er sie zum erstenmal hörte, mit einem leisen Grauen erfüllten, die Worte »Magistrat«, »Behörde«, »Stadtwohl«, »Bürgerschaft«. Sie fügten sich keinem konkreten Denken, sie waren Mollusken, die im Keller des »Rathauses« verborgen liegen mußten und ihre unsichtbaren Fangarme durch enge Höfe und Gärten auf die Straßen streckten, wo man ahnungslos in ihr Verderben lief. Die Welt war anders als beim Großvater, beim Schwarzbart, sie forderte, drohte, lauerte. Das Geschriebene hatte Macht in ihr, das »Beschlossene«, die Vorschrift. Da saß kein Bauer zu oberst am Tisch, sondern eine Vielheit, namenlos, mit wechselnden Gesichtern. Das Leben war in Räume gesperrt, an deren Türen Gedrucktes stand, und von hier aus sandte es seinen Atem durch Boten, Briefe, Zeitungen in einen wesenlosen Raum. Das Wasser floß aus blanken Hähnen, Drähte spannten sich unheimlich über die Dächer, die Leute nahmen schweigend den Hut ab und gingen mit feierlichen, leise schmerzenden Gesichtern aneinander vorüber. Menschen kamen, die man nicht kannte, Tiere, die traurig und scheu umherblickten, alle Dinge waren hinter Stein und Glas, »Verboten« stand an Türen und Wegen, und man wußte nie, wozu dies alles war; ob ein Jahrmarkt, ein Tempel, eine Mördergrube. »Muß dies so sein, Herr Pinnow?« fragte er. Pinnow sah den Stachelbeergang entlang, ob Gefahr drohe, schob die Brille auf die Stirn und leuchtete mit den Augen. »Es ist Sodom, junger Herr«, sagte er leise. »Wie lebte Johannes der Täufer, und wie leben diese? Sie haben ein goldnes Kalb aufgestellt und das nennen sie den Staat, aber Gott ist mir im Traume erschienen und hat mich gefragt, wieviel Gerechte hier wohnen. Und ich habe gesagt: ›Johannes wohnt bei mir, und die übrigen verderbe, o Herr!‹ Und er wird Feuer und Schwefel regnen lassen, und ein Rauch wird ausgehen, wie von einem glühenden Ofen. Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, junger Herr, aber nicht die auf den Thronen sitzen, werden es verkünden, sondern die im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen.« Und er richtete seine kümmerliche Gestalt auf, seine rechte Hand hielt die Baumschere wie ein Schwert, und Johannes dachte einen Augenblick lang an den Engel, den Jehova im Alten Testament auszusenden pflegte, wenn er drohende oder heilende Botschaft zu verkünden hatte. Und bei solchen Gesprächen offenbarte sich ihm zum erstenmal der Gedanke, ob es nicht der Geist sei, der den Menschen mächtig mache. Er brauchte lange Zeit, um es durchzudenken, er hatte niemanden, den er fragen konnte, nur in der Schule sah er noch einmal die Lehrer einen nach dem andern an, ob der Geist es sei, der sie mächtig mache, oder die harte Hand, oder die Vielheit, oder der Strahlenkranz über ihrem Amte. Aber es war nicht der Geist, ihre Augen leuchteten nicht, sie waren schläfrig oder lauerten oder funkelten höchstens. Aber der Geist war es nicht, und Johannes war froh, als er es erkannte.

Als er mit seiner Mutter zum erstenmal vor dem Schulgebäude gestanden hatte, hatte er die schwere Tür gesehen, die Fensterreihen und die Fahnenstange auf dem Dach. Unverrückbar stand es da, eine Macht ohne Grenzen, durch Mörtel gefügt, von Schweigen erfüllt, und die Porzellanschilder mit den feierlichen Aufschriften strahlten eine kalte Warnung aus, daß die Majestät dort drinnen herrsche, das Göttliche, der Tod.

Die einzige Erleichterung war, daß der Schuldiener Kulicke hieß und eine rote Nase in einem ganz viereckigen Gesicht trug. Er schob die Brille nicht auf die Stirn, sondern neigte den Kopf so tief auf die Brust, daß er über die Gläser hinwegsehen konnte. Dadurch wurden seine Augen unten ganz weiß, und er erschien Johannes wie ein geneigtes Glas, unter dessen erschreckend horizontaler Flüssigkeit der Boden hervorkommt. »Der soll also zu uns?« sagte er wohlwollend und richtete den Kopf wieder auf. »Werden wir schon machen, Madamchen. Sieht proper aus, der kleine Mann, und wer bei der Garde gestanden hat wie Kulicke, versteht sich auf das Propre. So, und nun ein bißchen laut gesprochen beim Herrn Direktor. Er hört ein bißchen schwer, und manchmal will er auch nicht hören, und dann steht gleich das ganze Bataillon schief. So, und nun noch ein bißchen vom Heiligen Geist, und dann kann's losgehen.« Er lächelte zutraulich, nahm aus einer Birkenholzdose eine umfangreiche Prise, stäubte sich sauber mit einem geblümten Taschentuch ab, nahm die Mütze ab und klopfte in einer gebeugten, gleichsam frommen Haltung an die braune Tür mit der einsam-majestätischen Aufschrift: »Direktor.« Der leise Donner eines »Herein« grollte aus unsichtbarer Ferne. »Schnell!« flüsterte Kulicke nicht ohne Nervosität, und dann stand Johannes an den Stufen seiner Zukunft.

Die Schule, nach den Vorschriften jener Zeit dazu bestimmt, ein sorgfältig bemessenes und ausgewähltes Maß von allgemeiner Bildung zu vermitteln und die Ideale des Christentums und der Vaterlandsliebe in die jungen Seelen zu pflanzen, unterschied sich in nichts von den vielen hundert ähnlichen Anstalten als durch die leise Dumpfheit der Kleinstadt, die durch unsichtbare Ritzen bis in ihre fernsten Winkel drang, und durch das überall einmalige Profil, das die besondere Zusammensetzung des »Lehrkörpers« ihr verlieh. Johannes, verwirrt zunächst von der Vielheit der Götter, die auf dem Podium der Aula ihm gegenübersaßen und wie einander ablösende Herrscher den Thron des Katheders in seiner Klasse bestiegen, fand doch bald bei seiner Neigung zur Erkenntnis und Bezeichnung des Typischen aller Erscheinungen eine Art von Ordnung und System, um diese neue Welt in seine betäubte Seele einzuordnen. Eine Zeitlang schien es ihm so lustig wie zweckmäßig, die Formenlehre der Botanik auf seine Beherrscher anzuwenden und zunächst die Unterordnung unter Phanerogamen und Kryptogamen, unter Samen- und Sporenpflanzen vorzunehmen. Da waren diejenigen, die ihr Wissen, ihre Methode, ihr Amt wie einen Becher handhabten, den sie über die Köpfe der »Barbaren« ausstülpten, und solche, die alles dies wie ein Schwert oder eine Peitsche handhabten und an deren Absätzen seine Phantasie riesige mexikanische Sporen sah. Dies waren die Gefährlichen, aber die andren waren die Widerlichen, die öligen, die »Schleimer«.

Und in diesen beiden großen Abteilungen konnte man nun die »Familien« unterbringen. Da waren Dickblattgewächse, die Doktor Balla vertrat, mit riesigen Händen und Plattfüßen und einer Stimme, die Johannes »sumpfig« nannte. Da waren Faulbaumgewächse, die der Oberlehrer Faltin vertrat, der sehr schlecht aus seinem Munde roch und mit dem Baldriangewächs des Doktor Rauter und dem Zichoriengewächs des Vorschullehrers Erdmann einen engeren Kreis bildete. Da waren Himmelschlüsselgewächse und Lippenblütler, deren Worte wie Honig träufelten, und auch einen Vertreter der Lebermoose gab es. Auf der andern Seite standen die wehrhaften Familien der Hahnenfüße und Storchschnäbel, der Steinbrechgewächse und Rachenblütler, der Wolfsmilch-, Nessel- und Knabenkrautgewächse, und über ihnen der Ordinarius des kleinen Johannes, Doktor Weishaupt, der die Sonnentaugewächse vertrat, die fleischfressenden, und dessen Person, Stimme, Urteil und Methode wie ein Rasiermesser über die gebeugten Köpfe schnitt.

Und nachdem Johannes auf diese Weise mit seinen Gewaltigen »fertig« geworden war und sie in sauberen farbigen Zeichnungen in sein »Buch des Lebens« eingetragen hatte, wo sie zwischen Versen, Tiergeschichten und Waldbildern ein seltsames Dasein führten, ging er, noch mit einer leisen Unruhe des Unvollendeten erfüllt, dazu über, eine neue Systematik über sie zu breiten und die Figuren in ein neues Licht zu schieben, in das der Zoologie. Da wanderten sie nun gehorsam und auf ganz natürliche Weise in das Reich der Halbaffen und der Nagetiere, der Schwanzlurche und Rochen, der Bandasseln und Afterskorpione, der Kiemenschnecken und Saugwürmer, der Seewalzen, Polypen und Schwämme. Und der kleine Johannes, mit der Welt der feindlichen Erscheinungen ringend, fand das frühe und ganz haßlose Glück des Schöpfers in der Bildhaftigkeit dieser Dinge, in der Vereinigung der beiden Systeme, ihrer Überschneidung und Abgrenzung, ihrer farbigen Ausgestaltung und dem Versuch, in das Antlitz einer Pflanze oder eines Tieres menschliche Züge hineinzuträufeln.

In einer aufgeschlossenen Stunde zeigte er das alles seiner Mutter, und Gina wurde blaß über dem, was sie sah. »Johannes«, sagte sie flüsternd, »weshalb tust du das?« Er schloß mit einem leisen Lächeln das Buch. »Es ist mir dann alles leichter«, erwiderte er. »Man nimmt ihnen den Panzer fort, und dann sind sie nicht mehr so gefährlich.« – »Sind sie denn gefährlich?« – »Ja, sehr … sie beten jeden Morgen, aber ich denke, sie möchten dazu am liebsten immer einen von uns zum Opfer schlachten.«

Je älter Johannes wurde, desto mehr ging das System seiner Einteilungen über die äußeren Ähnlichkeiten und auffälligsten Erscheinungsformen hinaus. Er erkannte, daß der ganze Lehrkörper beispielsweise in Reserveoffiziere und Zivilisten zerfiel, in eine Gruppe von Menschen, die alles, was sie taten und äußerten, selbst ihre Anschauungen über die Religion, mit einer gewissen Präzision, Knappheit und spartanischen Härte taten und äußerten. Selbst die Propheten schienen in Gruppenkolonnen in ihrem Geiste zu marschieren, und mit der Dreieinigkeit waren sie nie ganz einverstanden, weil die Zahl 3 eine unmilitärische Zahl war. Sie legten Wert auf Haltung, laute, scharfe Antworten, waren schneidig in allen Lebenslagen und machten kein Hehl aus ihrer Verachtung des Zivils. Dieses hingegen war milder, weiträumiger in Anschauung, Kleidung, Methode. Die Bügelfalten ihrer Beinkleider wie ihres Geistes waren schlaffer, ihr Lachen behaglicher, ihr Scherz weniger klirrend, und man konnte sich vorstellen, daß sie mit einer langen Pfeife schlafen gingen statt mit einem umgeschnallten Säbel, was von Doktor Weishaupt erzählt wurde.

Oder er zerfiel in die Hungrigen und die Satten. Jene strebten nach Beförderungen, und wenn der Provinzialschulrat einmal im Jahre erschien, sah Johannes, daß sie sich fast umbrachten vor Eifer. Oder sie schrieben lange und tiefgründige Aufsätze in der Zeitung der Stadt und beleuchteten »Kommunalfragen« nach allen Seiten, um einen Sitz im Stadtrat zu erhalten. Oder sie strebten nach der Gunst einer Frau, nach Popularität oder nach Präsidentenposten in irgendeinem der zahlreichen Vereine. Und da in dem engen Raum dieser aneinanderklebenden Häuser und Menschen nichts verborgen bleiben konnte, so blieb weder die Liebe noch der Haß verborgen, weder der Ehrgeiz noch die Trägheit, und Johannes mit seinem stummen, suchenden Blick, immer darauf aus, hinter die Spiegel zu sehen, sah alles dieses viel zu früh, viel zu scharf und zu nackt, und wenn er in die Zukunft sah, auf die Sekundaner, die noch wie Affen die Zähne zu fletschen schienen, auf die Primaner, die wie nicht ganz gar gebackene Herren sich mit Spazierstock und Zigarre dröhnend gebärdeten, auf die Lehrer, deren Gesichter er in das Buch des Lebens eintrug, graute es ihn leise, wenn er sich vorstellen wollte, wie er selbst aussehen, was er anziehen, sprechen, tun würde.

Die Hungrigen waren nicht gut, und die Satten waren es ebensowenig. Sie hatten Frauen, die wie Kühe aussahen, und Kinder, die in Kinderwagen geschoben oder an der Hand gehalten werden mußten, weil sie immer etwas ausrissen, zerbrachen, beschmutzten. Sie hatten Flecken auf ihren Rockaufschlägen und immer sich wiederholende Redensarten und Späße, die Johannes nach abgestandenem Fett schmeckten. Sie liebten keine Zwischenfragen, keine Zweifel, keinen Unglauben. Es sah aus, als bereite der Kragen ihnen Pein, den sie trugen, die Manschetten, der Schlips, als trachteten sie nicht nach dem Glücke oder nach dem Werke, sondern nach dem Mittagessen, dem Bett, einem Achtel Bier. Johannes glaubte, daß sie sich nicht den Mund spülten, und er hielt den Atem an, wenn eine uhrkettenüberspannte Weste wie ein Gebirge vor ihm auftauchte.

Oder der Lehrkörper zerfiel in die Donnerer und die Säusler, in die Stampfer und die Schleicher, oder in ein Dutzend andrer Gruppen, die Johannes Jahr für Jahr erweiterte. Er sah ihnen zu, ihren Bewegungen, Worten, Meinungen, ihrer Lustigkeit und ihrem Zorn, wie er der Dreschmaschine auf dem Karstenhof zusah. Sie heulte, knirschte und fraß, und es war nicht gut, ihren Schwungrädern zu nahe zu kommen. Stroh und Spreu und Weizen floß aus ihrem Rachen, aber es hatte Johannes immer geschienen, als stoße sie den Weizen widerwillig aus und als berausche sie sich nur an ihrer Macht und ihrem Dröhnen, während die Saat auf den Feldern inzwischen schweigend wuchs und sich lautlos zur Ernte bereitete.

Und ebenso war es mit seinen Mitschülern. Da waren die Söhne der Bürger, und sie sahen aus wie junge Hunde, die man aus einem Korb schüttet. Da waren die Söhne der jüdischen Kaufleute, mit seltsamen Körpern und scharfen, eiligen Geistern. Sie waren Freiwild bei Lehrern und Schülern, und nur die beiden Unehelichen und der Sohn eines sozialdemokratischen Werkmeisters lebten unter derselben Schande. Da waren die Söhne der Bauern aus der Umgegend, die nach Pferdestall rochen, die mit schweren Schädeln sich über die Wissenschaft machten wie über ein steiniges Feld und nur in den Naturkundestunden eine frühe und mitunter grinsende Weisheit offenbarten. Und dann waren da die Söhne der adligen Großgrundbesitzer, die sich mit lauterer oder leiserer Betonung abseits vom »Pack« hielten, die gemessene Antworten gaben und vorsichtig behandelt wurden und die mitunter bei feierlichen oder verächtlichen Gelegenheiten, der Sedanfeier oder der Züchtigung eines Judenjungen, ein Einglas ins Auge klemmten, das sie erst auf mehrfache bittende Ermahnung nachlässig in der Westentasche verschwinden ließen. Und in den Pausen stand Johannes mit Klaus auf dem Hof, sah nachdenklich in das schreiende Gewimmel, durch das brötchenkauend die Gestalt des aufsichtführenden Lehrers schritt, und blickte nach den Fenstern der umliegenden Häuser, ob sich kein Tiefseegesicht an ihnen zeige.

Sie hatten keine Freunde. Johannes galt als »hops«, Klaus als »doof«. Diese Einordnung entkleidete sie des Problematischen, gab ihnen das zukommende Namensschild, erledigte sie. Joseph, im erweiterten Spielraum des Gymnasiums, wuchs an Sicherheit und Ansehen und begann sich mit vornehmer Überlegenheit zurückzuhalten.

Über allem aber, wolkenhoch und sternenweit, Hoherpriester und Tyrann, thronte Er, der Direktor, mit weißem Bart, blauer Brille und zwei bitteren Falten um den Mund, den Johannes den »Löwen« nannte. Johannes hatte noch niemals jemanden mit einer blauen Brille gesehen, die die Seele verdeckte, und lange Zeit war er im Zweifel, ob hinter diesen drohenden Gläsern sich ein Augenpaar bewege oder nicht vielmehr ein Paar von Metallspiegeln, dunkel geschliffen und mit unfaßbaren Zauberkräften begabt. Der Löwe saß in seiner Höhle, und Johannes glaubte, daß er dort an Menschenknochen nage. Und wenn er umzugehen begann, dröhnten das Haus, die Treppen, der Hof. Kulicke schoß in ungardemäßiger Haltung durch die Korridore, die Schüler zerstoben, und selbst die Gewaltigen des Lehrkörpers, selbst die Schneidigsten, die nach Johannes' Vorstellungen mit einer kleinen Kanone zu Bett gingen, machten unvermittelt schnelle Wendungen um die Korridorwinkel, bestiegen dunkle Treppen, revidierten die Aborte. Der Löwe lachte nie, auch nicht, wenn er mordete. Er machte nie einen Scherz, er wich nicht um Haaresbreite vom Pensum ab, der Schulordnung, der Dienstanweisung. Er ging zum Dienst wie ein Schnitter mit der Sense. Korn, Disteln und Blumen galten ihm gleich, waren »Material«, Widerstand, Horde, das Urböse. In einem Zeitalter der Autorität und Disziplin war er Inkarnation des Gesetzes. Erziehung war ihm Beugung, Bildung Gehorsam. Zweifel ein Aufruhr, Freiheit ein Gift. Er hatte einen Kanon auswendigzulernender Gedichte herausgegeben, an dem er nicht unbeträchtlich verdiente, der einhundertzwanzig Seiten umfaßte und dessen Beherrschung ohne Pausen und Stocken er von jedermann verlangte, gleichviel ob Lehrer oder Schüler. Das Register seiner Strafen war ungeheuer, und das System seiner körperlichen Züchtigungen schritt streng geordnet aufwärts, vom Siegelring seiner kleinen aber eisernen Hand bis zum Rohrstockgericht »vor versammelter Mannschaft« durch Kulickes Profossenfaust. Er hatte drei Frauen unter die Erde regiert, und die Stadt wußte, daß er nicht einmal an den Tagen ihrer Beerdigung Urlaub genommen hatte. Nun lebte er mit einer alten Schwester, die klein und breit aber nicht dick war, was ihr etwas Unheimliches und Gefährliches verlieh. Im Lehrkörper und bei den Schülern hieß sie die »Wanze«, aber Johannes nannte sie den »Handfeger« und sagte nachdenklich zu Klaus, man müßte ihr einen Stiel in den Kopf schrauben, dann sei sie gebrauchsfertig.

Johannes trat nicht in Berührung mit dem Löwen, aber er wich ihm auch nicht aus. Es war ihm, als habe er auf die Stunde zu warten, in der das Schicksal sie zusammenführen werde, und inzwischen trug er ihn in das Buch des Lebens ein. Er errichtete ihm ein Denkmal auf dem Schulhof, wo er die rechte Pranke drohend erhob, indes unter der linken der Leichnam eines nackten Kindes kraftlos vom Sockel niederhing.

Dies war die Welt, in der der kleine Johannes in das Reich des Geistes aufwuchs. Es wiederholte sich, was im grauen Dorf zu Knurrhahns Füßen geschehen war: er fiel auf, er paßte nicht in die Norm. Er war gehorsam, bescheiden, fleißig, ohne Widersetzlichkeit. Aber seine Antworten, so leise und zurückhaltend sie gesprochen wurden, waren nicht zu überhören, waren seltsam, verwirrend, aufregend, waren Antworten, die eben nicht vorgesehen, nicht üblich, nicht möglich, unerhört waren. In das träge und gleichmäßig rollende Rad der Stunde flogen sie wie ein Stein, klirrend gegen blanke Speichen, dröhnend wie ein Wecker in das Heiligtum des Schlafes. Die Phanerogamen lächelten milde und ein wenig dumm, die Kryptogamen runzelten zunächst die Brauen und traten langsam in erhöhte Alarmbereitschaft. Die Schüler, wie allerorten auf der Erde, grinsten. Doktor Weishaupt, der Ordinarius, vom Geschlecht der Rochen, trat als erster in Abwehrstellung. »Im Keim zu ersticken!« hieß der Leitsatz seiner Methode, und ganz wie Knurrhahn hatte er ein instinktives Gefühl für Gefahr. »Mein lieber Freund«, sagte er gütig, mit schmalen, gekräuselten Lippen, »wer wie du mit deinen Augen von der Mutter Natur für ein Abnormitätenkabinett bestimmt ist – das Löwenweib, die Dame ohne Unterleib und so –, hat allen Grund, in seinen übrigen Dienstobliegenheiten sich aller Abnormitäten zu enthalten! Kapiert?« Die Klasse grinste. »Albino«, sagte eine Stimme aus dem Hintergrund vernehmlich. »Ruhe!« lächelte Weishaupt, den Tadel für unberechtigtes Schwatzen und das Lob für das Witzige des Zwischenrufes sorgfältig abmessend. Johannes wurde blaß, weil er das Niedrige des Vorgangs fühlte. »Meine Augen sind von meiner Mutter und von Gott, Herr Doktor«, sagte er leise und furchtlos. »Und Gott läßt sich nicht spotten«, setzte er nach einer Weile hinzu. Schweigen, in dem nur der kleine Wirtulla leise stöhnte. »Was heulst du?« brüllte Weishaupt, ebenso blaß geworden, »hinaus, du Wasserkopf!« Und mit zwei Ohrfeigen belastet, verschwand das traurige Haupt mit den Greisenfalten hinter der Tür. »Wir sprechen uns noch, mein Freundchen«, erklang es dann in gefährlicher Beherrschtheit. »Solche Bürschchen kriegen wir schon klein. Setzen! Fortfahren!«

Die Katastrophe erfolgte vor Weihnachten. Johannes stand an der Tafel und rechnete eine Aufgabe. Er rechnete sie richtig, was Weishaupt mißfiel. »Was macht man denn da für komische Sechsen?« fragte er plötzlich. »Und die Acht? Ist man ein wenig betrunken?«

Johannes schrieb die Zahlen, die seine Mutter ihn gelehrt hatte und die im Geschlecht der Karstens nie anders geschrieben worden waren. Ein Strich und ein lateinisches »s« herumgeschlungen: das war die Acht. Ein Strich und der Bogen von links nach rechts angefügt, mit einem bestimmten Absatz, statt ohne Absatz von rechts nach links gezogen: das war die Sechs. Er sah seinen Ordinarius an. »Alle Karstens schreiben so«, sagte er bescheiden.

»So? Alle Karstens? Die Herren von Karsten? Die Grafen Karsten, ja? Ich habe nichts dagegen, daß die Grafen von und zu Karsten ihre Mistfuhren mit solchen Zahlen notieren, aber ich bitte mir aus, daß hier geschrieben wird, wie jedermann schreibt und wie ich es befehle, kapiert?«

»Graf Pfeil schreibt ebenso«, erwiderte Johannes leise.

Graf Pfeil war im Herbst auf die Klasse gekommen und weder vom Lehrkörper noch von den Schülern bisher »eingeordnet« worden.

»Ist man Graf Pfeil?« fragte Weishaupt klirrend. »Graf Pfeil wird schreiben, wie alle schreiben. Schluß! Fortfahren!«

Und es geschah das Unerhörte, daß Johannes drei Reihen tiefer die Sechs der Karstens noch einmal schrieb, langsam, sorgfältig, mit Bewußtsein. Weishaupt erstarrte. Es war, als hebe aus einer Kompaniefront, Kommando »Stillgestanden!«, ein Mann das Gewehr und ziele auf seine Stirn. ›Haltung!‹ dachte es reflexartig in ihm. »Gieseke!« Gieseke, Amtsbotensohn, Primus, Zwischenträger, »Assel«, flog zum Klassenschrank und überreichte Weishaupt mit einem subalternen Diener den Rohrstock. Er triefte vor Eifer, Glück und Dienstwilligkeit, warf einen vorwurfsvoll tadelnden Blick auf Johannes und kehrte lautlos auf seinen Platz zurück.

»Die Hand!«

Johannes legte die Kreide fort, säuberte die Hand am Schwamm und hielt sie hin.

Der erste Schlag riß einen roten, anschwellenden Streifen über die weiße Haut. »Wirst du schreiben?«

Johannes schüttelte den Kopf. »Ich muß schreiben, wie mein Großvater schreibt. So stehen die Zahlen in unsrer Bibel.«

Der zweite Schlag fiel, und die Falten um des kleinen Johannes Mund wurden plötzlich tief und scharf. Aber er weinte nicht.

Der dritte Schlag. »Wirst du?«

Kopfschütteln.

Und dann brach Klaus schreiend aus seiner Bank hervor und stürzte zum Katheder, beide Hände ausgestreckt. »Jo … johannes nicht!« stotterte er. »Mich … mich!«

Weishaupt, auf Haltung trainiert, hatte sich bereits in der Hand, und der Zwischenfall war weit davon entfernt, ihn zu verwirren. »Nach Belieben!« Seine Stimme schnitt wie ein Rasiermesser, und der erhobene Stock, wie eine nach allen Seiten funkelnde Klinge, schoß pfeifend auf die Opferhand nieder.

Aber in diesem Augenblick geschah das Unerwartete, dem keine trainierte Haltung gewachsen war. Graf Pfeil, um Haupteslänge seine Mitschüler überragend, stand auf, schlank, schmal, adlig, sagte laut vernehmlich: »Das ist ekelhaft« und ging, die Augen in seinem Gesicht zusammenziehend, aus der Klasse. Ging aus ihr wie aus einem beliebigen Zimmer, aus einer Nebenstraße, aus einem Stoppelfeld. Schloß die Tür hinter sich, nicht besonders vorsichtig, und war verschwunden.

Weishaupt, blaß bis an die Lippen, sagte nichts. Die Klasse sagte nichts. Es läutete. Weishaupt zuckte zusammen und sah auf das Schlachtfeld. »Fünfhundert Sechsen, fünfhundert Achten zu morgen aufschreiben. Hinausgehen! Graf Pfeil zu mir ins Konferenzzimmer!«

Über die Unterredung verlautete nichts. Der Vater des Grafen Pfeil war Bezirkshauptmann in der nächsten Garnison. Weishaupt war Leutnant der Reserve und wollte Oberleutnant werden. Es war möglich, daß er das überlegte. Jedenfalls geschah nichts. Nach der Pause saß der junge Graf auf seinem Platz, hochmütig, unnahbar. Niemand fragte ihn. In der letzten Pause ging er an Johannes und Klaus vorbei: »Er ist ein Lump«, sagte er erbarmungslos. Dann ging er weiter.

»Jungchen«, sagte Frau Pinnow beim Mittagessen, »was ist mit deiner Hand? Zeig' mal her.«

Johannes gehorchte. Frau Pinnow ließ den Löffel in ihren Teller fallen, daß der kleine Baptistenhäuptling sich erschreckt zurückbeugte. »Diese Schweine«, sagte Frau Pinnow langsam und deutlich, »ach, diese Schweine!« Sie hatte mitunter starke Ausdrücke und war ohne Furcht vor Gott und Menschen. »Erzähle, Johannes!« »Muß ich?« »Ja, du mußt. Deine Mutter hat dich mir auf die Seele gebunden, und das ist für mich kein Spaß.«

Johannes erzählte. Er berichtete es harmlos und ohne Leidenschaft, aber er konnte doch nicht umhin, hinzuzusetzen: »Selbst Knurrhahn hat es nie getan … aber dies ist ja auch ein Gymnasium.« Das vom Grafen Pfeil erzählte er scheu, mit niedergeschlagenen Augen, als müsse er etwas Kostbares seiner Hülle entkleiden.

Herr Pinnow war begeistert. Er vergaß alles übrige über dieser Tat. »Und ein Graf, junger Herr!« sagte er mit leuchtenden Augen. »Ein Gefäß des Teufels an und für sich, die Fronvögte der Menschheit … und steht auf und sagt so etwas, mitten ins Gesicht des Staates, mitten hinein, wie mit einer Zuchtrute! Es ist großartig!«

»Schwatz nicht, Pinnow«, sagte seine Frau, »du kannst nie die Hauptsachen sehen. Eßt zu Ende, denn ich muß zu diesem Herrn Doktor Weishaupt gehen, diesem Herodes, und ihn mir etwas ansehen.«

»Lassen Sie es lieber sein«, bat Johannes. »Er hat lauter Säbel in seiner Wohnung, und er spricht wie ein Messer.«

»Wie ein Messer!« höhnte Frau Pinnow. »Sein Vater war Schulmeister und kam zu uns schnorren, mal ein Fuder Stroh, mal Kohlpflanzen, mal Bruteier, mal eine Rauchwurst. Und er lief hinterher, mit dem Tropfen an der Nase. Das werden dann die feinsten Herren … ein Taschenmesser, das kann sein, aber eins vom Jahrmarkt, Stück einen Groschen. Nein, Jungchen, vor Säbeln hat Frau Pinnow keine Angst.« Und sie schob den Teller zurück und ging in das Schlafzimmer, um ihr Staatskleid anzulegen.

»Da geht sie nun hin«, sagte Herr Pinnow kopfschüttelnd. »Sehen Sie, junger Herr, das sind die, denen Gott das Schwert gegeben hat. Können Sie sich vorstellen, daß Pinnow zu Herrn Oberlehrer Doktor Weishaupt geht? Pinnow setzt sich seinen Zylinder auf und geht die Treppe hinauf. Die Treppenstufen grinsen, das Geländer grinst. Kennen Sie das, junger Herr? Pinnow kennt das. Pinnow klingelt. ›Wen darf ich melden?‹ sagt Frieda. Frieda ist eine Gans, denn sie kauft ihre Goldlacktöpfe bei mir und erkennt mich in der dunkelsten Nacht. Aber sie ist bei Herrn Weishaupt im Dienst und muß so fragen. Bei Herrschaften wird immer so gefragt. ›Herr Pinnow möchte Herrn Doktor sprechen.‹ Pinnow nimmt draußen den Zylinder ab und zupft seinen Schlips zurecht. ›Pinnow? Wer ist Pinnow? Kenn' ich nich!‹ Die Scheiben klirren, junger Herr. ›Gärtnereibesitzer? Meinetwegen kann er 'n Leichenschauhaus besitzen. Bedarf an Kohlköppen gedeckt!‹ – ›Es ist wegen dem kleinen Zerrgiebel, Herr Doktor, wo dort in Pension ist.‹ – ›Zerrgiebel? Wahnsinnig geworden? Is hier 'ne Poliklinik? Weiß wohl nich, wo Gymnasium liegt? Rausschmeißen! Tür zu!‹ Pinnow ist schon unten und geht nach Hause wie von einem Begräbnis … Aber sie, junger Herr? Zieht sich ihr Schwarzseidenes an und mitten hinein in den Tempel der Baalspriester. Und sie kommt 'rein, junger Herr, da verlassen Sie sich drauf! Wir beide nicht, aber sie kommt 'rein.«

Johannes nickt, und dann gehen sie etwas bedrückten Herzens beide an ihre Arbeit, Herr Pinnow in sein Gewächshaus, dessen Erwärmung ihm Sorge macht, und Johannes an die Anfertigung seiner tausend Zahlen.

Frau Pinnow kam hinein, ohne die geringsten Schwierigkeiten, gleichzeitig mit Frieda. »Nanu?« sagte Weishaupt. Er trug eine Offizierslitewka, sehr eng und kurz, und rotlederne Hausschuhe. Aber dann errötete er ein wenig, weil er sich seiner Jugendzeit erinnerte. Und dann ergrimmte er, zunächst über Frieda.

»Lassen Sie man sein, Herr Doktor«, sagte Frau Pinnow und setzte sich neben den Schreibtisch. »Wir kennen uns ja aus knappen Zeiten. Geh raus, Frieda … So, Herr Doktor, und nun wollen wir mal Rechnung machen.«

Weishaupt erholte sich. ›Strenge‹, dachte er instinktmäßig. ›Unnahbarkeit, Betonung der Sphäre! Ein Glück, daß ich die Litewka anhabe …‹

»Erlauben Sie …«, begann er mit gemessener Befremdung.

Aber Frau Pinnow lächelte. Sie hatte eine Art zu lächeln, als ob sie einem jungen Hunde zusähe, der mit einer Garnrolle spielte. Ein verwirrendes und höchst unangenehmes Lächeln.

Weishaupt, auf solche Zwischenfälle nicht vorbereitet, stockte, schwieg.

»Das Jungchen ist nämlich bei mir in Pension«, sagte Frau Pinnow.

»Bitte?«

»Ja … und ich könnte zum Beispiel heute mit ihm zum Sanitätsrat gehen und ihm ein Attest geben lassen. Oder ich könnte zum Werkmeister Balduhn gehen, und er würde ein Artikelchen in seiner Zeitung schreiben. Oder ich könnte an den Herrn Grafen Pfeil schreiben und ihm erzählen, wie es vor zwanzig Jahren war, als Albertchen immer ein Tropfen an der Nase hing. Aber das tut Frau Pinnow nicht. Frau Pinnow meint, daß es schlimm für einen studierten Herrn sein muß, der einen so schönen Rock mit blanken Knöpfen trägt, wenn ein Kind zu ihm sagt: ›So steht es in unsrer Bibel‹, und wenn ein andres Kind aufsteht und sagt: ›Das ist ekelhaft.‹ Daß es sehr schlimm sein muß und daß sie es noch nicht erlebt hat …«

»Erlauben Sie!« sagt Weishaupt. Der Stahl seiner Stimme schärfte sich.

Aber Frau Pinnow lächelte. »Sehen Sie, Herr Doktor, das ist nun alles, was ihr gelernt habt. Unsereins würde sagen: ›Entschuldigen Sie, das war schlecht von mir.‹ Aber ihr habt nichts als ›erlauben Sie!‹ Wenn euch jemand anstößt, wenn euch jemand sagt, daß ihr falsch geht, daß das und das verboten ist. Immer bloß ›erlauben Sie!‹ Und das reicht nicht aus, Herr Doktor. Bei mir nicht.«

»Sie verkennen die Sachlage, liebe Frau, die Disziplin …«

»Ach, lassen Sie doch man, Herr Doktor. Ich kenne Ihre Sachlage nicht und Ihre Disziplin nicht. Aber ich kenne Sie, und ich kenne mein Jungchen. Ich habe Blumen in meiner Gärtnerei, Herr Doktor, und Unkraut. Pinnow is ja 'n bißchen unzuverlässig. Und das Unkraut wächst manchmal höher als die Blumen. Aber meinen Sie, daß es deshalb mehr ist als die Blumen und daß Frau Pinnow die Nase dran hält, um daran zu riechen?«

»Ich verstehe nicht«, sagte Weishaupt mit gerunzelter Stirn.

»Sie verstehen ganz gut, Herr Doktor.« Frau Pinnow stand auf, und ihre Stimme bekam »Echo«: »Ich hab' es gut gemeint und bin zu Ihnen gekommen. Ich hätte auch woanders hingehen können. Aber kommt mir das Jungchen noch einmal so nach Hause, dann hagelt Ihnen das in die Petersilie, und wenn Sie noch einmal soviel Knöpfe an Ihrer Affenjacke haben!«

»Affenjacke!« brüllte Weishaupt.

»Affenjacke!« rief Frau Pinnow schon in der Tür, und noch als sie schon die Straße hinabging und sich auf ihre kurze Pfeife freute, hallte die Schmach dieses Wortes in Herrn Weishaupts Räumen nach, schändend, umstürzend und zerschmetternd gleich der Schändung einer Majestät.

Die Offenbarung St. Johanni, wie Herr Pinnow mit einem kühnen Scherz die tausend Zahlen nannte, flog am nächsten Tage unbesehen in den Papierkorb der Klasse, Johannes schrieb seine Karstenzahlen weiter, und bis zu seiner Reifeprüfung – neun Jahre begleitete Herr Weishaupt ihn – wurde er nicht ein einziges Mal an die Tafel gerufen.

An diesem Erlebnis und der Haltung aller an ihm beteiligten Personen hatte Johannes lange zu denken und zu grübeln. Aus der Welt der Macht, der Bildung und des Geistes war zum erstenmal der Blitz des Bösen auf ihn herniedergefahren, seltsame Berge, Abgründe und Umrisse enthüllend. Er hatte gesehen, wie man ihm begegnen mußte, daß Herrn Pinnows Lanze nicht genügte, so wenig wie sein eignes Recht, daß aber Frau Pinnows Furchtlosigkeit und Stimme mit Echo genügte, und daß das Rad schon hier über ihn hinweggegangen wäre, wenn Frau Pinnow nicht dagewesen wäre und ihn oder vielleicht nur seine Mutter geliebt hätte. Nichts war gewesen als die Schreibung einer Zahl, etwas Belangloses und die Richtigkeit einer Aufgabenlösung gar nicht Berührendes. Ernste, stille Bauern hatten sie geschrieben, jahrhundertelang, wahrscheinlich, hatten ein ernstes Begräbnis gehabt und lagen nun mit gefalteten Händen unter ihren verwitterten Kreuzen. Und nun strahlte von derselben Zahl eine Wirrnis von Zorn, Schmerzen, Tapferkeit und Drohung aus, zerstörte den Schlaf, fiel als unerbittlicher Tropfen in jede Stunde, griff in die Zukunft hinüber, entstellte die Vergangenheit, war eine Macht geworden im Leben so vieler Menschen und würde vielleicht nie aufhören, auf den Stühlen zu sitzen, auf denen die großen Menschen und Dinge seines Lebens feierlich schweigend wie an einer Tempelwand saßen: die Mutter, der Wassermann, Ledo, Welarun, die Flöte, der Schwarzbart und alle die andern. Mitten unter ihnen saß nun die Sechs, die Weishauptsche, die übliche, normale, und lächelte höhnisch wie ein gesättigter Götze auf die andre hernieder, die Karstensche, die unter dem Stuhle lag, mit gebrochenen Gliedern und tropfendem Blute.

Es beschäftigte ihn so, daß er es in den Weihnachtstagen mit denen besprach, deren Urteil ihm galt, aber er gewann aus ihren Worten keine Befreiung. »Du hast recht getan, Johannes«, sagte der Großvater. »Hab nicht Angst vor den Menschen.« Der Schwarzbart raste in seinem Bau wie ein tobender Gott hinter seinen Zauberdämpfen. »Man muß ihm Pulver in den Bauch schütten, Waldläufer«, riet er mit schrecklich gerunzelter Stirn, »und ihn zur Explosion bringen. Oder man muß ihn in einen Ameisenhaufen setzen, gebunden natürlich. Das Skelett kann dann der Schule vermacht werden, für das Naturkabinett, von dem du erzählt hast.«

Das seltsamste Urteil fällte König David. Johannes verstand es nicht, aber der Hirt ließ sich zu keiner Auslegung herbei. Er saß auf der Futterkiste im warmen Viehstall, die Stallaterne neben sich, und ließ sich mit Kreide die Zahlen aufschreiben. Dann saß er lange grübelnd da, die runzligen Hände zwischen den Knien gefaltet. Und dann nahm er die Pfeife aus dem Mund, spuckte aus und sagte langsam: »Dat 's 'n ganz Schlimmen, Hannes … man mot em kastreere.«

Und so behielt Johannes auch diese Dinge als ein Rätsel und eine Drohung in seiner Seele, und es ahnte ihm am Ende dieses Jahres, als seien die Brunnen der Tiefe überall auf der Erde verstreut und als werde es nie an einer Hand mangeln, die ihn über den Abgrund halte, auf einem wüsten Feld, hinter Hecken, die das Schreckliche vor dem Angesicht der Menschen verbargen. Und daß sie alle vielleicht zu früh geboren seien, nicht nur der Bahnmeistersohn, der sich ausgestoßen vorkam aus der Welt der Ordnung und der Gesetze.


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