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10

Es begann mit der Bahnfahrt am nächsten Morgen und mit dem Weg zur Schule. Klaus war dabei, und er hob seinen großen Kopf gewaltsam auf, als fordere er dazu heraus, die Last auf ihn zu werfen. Aber er war nur gleich dem Schächer am Kreuz, und die Kriegsknechte würfelten um Johannes' Kleid.

Lärm und Johlen der Klasse verstummten, als höbe eine eiserne Wand sich auf und verberge Gebärde, Ton und jegliches Dasein. In der Totenstille, die unnatürlich und lastend war wie die einer Maschinenhalle oder eines Meeres, stand Percy auf und gab ihnen die Hand, und der Werkmeistersohn nickte ihnen sorgenvoll zu. Dies war alles, und weiter geschah nichts, als daß Joseph sich auf eine seltsame, tückische, dreiste Art räusperte.

Bis zum Klingelzeichen fiel kein Wort. Die Klasse starrte in ihre Bücher oder aus dem Fenster, und die Hintensitzenden reckten sich unauffällig, um den ›Raubmörder‹ zu betrachten. Joseph, der den ganzen Weg von der Bahn zur Schule gelaufen war, um Sensationen zu berichten, hatte den Weishauptschen Ausdruck wieder aufgenommen und angedeutet, es »stehe zu vermuten«, daß im Keller der »Bande« noch mehrere – er betonte nach einer Schulmode jener Zeit das Wort auf der zweiten Silbe – noch mehrere Leichen zu »erwarten« seien. Johannes sei als das geistige Haupt anzusehen, und man lasse ihn nur in Freiheit, um ihn beobachten zu können und den Rest des Geheimnisses aufzuklären.

Durch die geöffnete Tür fiel der Morgenlärm der Anstalt wie in ein Grab, und die Stille hatte etwas so Schauerliches, daß Doktor Balla, der die Aufsicht auf dem Korridor führte, durch die Türspalte spähte, bevor er auf der Schwelle erschien. »Wie gesagt«, begann er mit seiner stehenden Redewendung, »das ist ja, wie gesagt, eine äußerst bemerkenswerte …« Dann fiel sein Blick auf Johannes, blieb einen Augenblick auf ihm haften, schoß ratlos von Wand zu Wand und kehrte entsetzt zu dem blassen Gesicht zurück. »Wie gesagt …«, murmelte er hilflos. Dann trat er rückwärts auf den Korridor hinaus und war mit einer plötzlichen Wendung aus dem Gesichtsfeld der Klasse verschwunden.

Das Klingelzeichen fiel als eine Erlösung in das Schauerliche des Schweigens, und dann betrat der Doktor Weishaupt mit straffen Schritten den Raum. Es folgte wie üblich ein Gebet von militärischer Kürze. Aufschlagen des Klassenbuches. »Gieseke … fehlt?«

»Niemand, Herr Doktor!« Eilfertig, atemlos, gleichsam noch von Donner und Blitz umgeben, schoß die Antwort wie eine Kugel über die Erstarrung der Köpfe auf die Spitze des Federhalters in der Hand des Ordinarius.

Kaum angedeutetes Heben der Augenbrauen. »Fehlt??« Eine kaum merkliche Verschärfung des Tones.

»Niemand, Herr Doktor.« Die Antwort kam leise, und ein gekränkter Schmerz schien sie zu durchzittern.

»Niemand … komisch, Gieseke, wie?« Und eine lange Weile sahen Ordinarius und Primus einander an. Von einer der Kastanien des Schulhofes schmetterte ein Buchfink das Lied seiner Lebensfreude in den Frühlingsmorgen, daß es gleich einer kleinen, schimmernden Lanze in die Wand des Schweigens schoß und nachzitternd sich in ihr verfing. Und dieser Ruf des ungebundenen Lebens war von einer solchen Gewalt, daß niemand sich ihm widersetzen konnte und daß ein leises aber nicht zu überhörendes Stöhnen aus der Bedrückung der Stunde aufstieg und andeutete, daß es nun Zeit sei, wenn etwas geschehen solle.

Johannes erwartete den Blick, der plötzlich, ohne jeden Übergang, von Giesekes ergebenen Augen abfiel und sich in sein Gesicht schleuderte. »Zerrgiebel?« fragte Weishaupt verblüfft und behielt den Mund vor künstlichem Befremden ein wenig geöffnet. »Zerr … giebel?? Ja, darf man fragen, was man hier wünscht?«

Schweigen.

»Darf man fragen, was für eine Rolle man hier zu spielen gedenkt?«

Schweigen.

»Darf man fragen, ob man dieser bis dahin immerhin makellosen Anstalt weiterhin zum Ruhme zu gereichen denkt?«

»Ich möchte gerne wissen«, sagte Johannes leise aber deutlich, »wonach Sie mich fragen.«

Ein leises Zucken der Augenlider hinter den Kneifergläsern. »Möchte man? Möchte man wirklich? Nun, auch die … äh … Anstalt möchte etwas. Sie möchte nämlich, das heißt der Herr Direktor und einige nicht ganz unerhebliche Instanzen möchten, daß Herr Zerrgiebel, Schüler der Obersekunda, und nicht gerade einer ihrer mustergültigsten, in diesem Augenblick seine Bücher packt und bis auf weiteres in die … äh … etwas verödeten Gefilde seiner Heimat zurückkehrt, bis die Konferenz das Weitere beschlossen haben wird. Weil es nämlich die Pflicht der … äh … Anstalt ist, ihre Schüler vor dem Einfluß gewisser Elemente zu bewahren, die die Sauberkeit ihrer Weste immerhin noch ein wenig zu beweisen haben werden. Ich hoffe, daß man nun verstanden hat, wie?« Der böse Glanz des Triumphes war nun aus seinem Gesicht nicht mehr zu verscheuchen, und die Hände, die immer noch den Federhalter hielten, zitterten ein wenig, als gehe es im geheimen um größere Dinge als die, die er eben in wohlgesetzte Worte gekleidet hatte.

Johannes hatte bereits seine Tasche geschlossen und stand auf. »Es war nicht schön, was Sie eben gesagt haben«, sagte er ganz ruhig, »und es gereicht Ihnen nicht zur Ehre. Ich glaube auch nicht, daß der Kaiser will, daß ein Offizier einen Wehrlosen mißhandelt. Auch nicht ein Reserveoffizier. Aber ich werde nun mein Recht suchen und dann zurückkommen. Weil mein Großvater gesagt hat, daß man eine Furche gerade pflügen muß.«

Er trat aus der Bank.

»Sie … Sie haben gewagt …?«

Johannes lächelt. Der stumpfsinnigste der Schüler sieht, daß es ein Lächeln der Verachtung ist. Seine Augen glänzen auf eine sonderbare Weise, und mit einer Bewegung der linken Hand umfaßt er den ganzen Raum, Weishaupt, die Schüler, den Hof, die Anstalt, die Stadt. »Ist hier etwas zu wagen?« fragt er langsam. Einen Augenblick wartet er auf Antwort. Dann macht er eine Verbeugung und geht zur Tür.

»Augenblick, Johannes.« Es ist Percys kühle und nachlässige Stimme. Er schiebt sich aus seiner Bank, wobei er verächtlich das Buch in die Ledertasche stopft. »Ich werde warten, bis die Furche gerade ist«, sagt er im Vorbeigehen zu Weishaupt.

Und dann verlassen sie beide die Klasse.

Drei Tage später begannen die Osterferien. In ihnen wurden zwei Reisen von Bedeutung unternommen. Luther fuhr zur Behörde, wo ein neuer Schulrat von dort unerhörter Menschlichkeit eben eingezogen war. Sie hatten eine dienstliche Besprechung, erkannten beide durch die amtliche Hülle hindurch Werte, die der Alltag nicht mit vollen Händen ausstreute, und saßen abends in einer Weinstube mit den leuchtenden Augen derer, die unvermutet und unverhofft in einer Wüste auf einen Menschen treffen.

Einige Tage später schlug der »Löwe« in seinem Amtszimmer mit der Faust auf das dienstliche Schreiben, das die Verfügung enthielt, der Unterprimaner Johannes Zerrgiebel habe bis auf weiteres auf der Anstalt zu verbleiben, und die Behörde sei weder in diesem noch in ähnlichen Fällen der Meinung, daß es angemessen sei, die Sünden der Väter an den Kindern zu rächen. Das Kollegium sei dementsprechend zu belehren.

Die zweite Reise unternahm Dietrich Karsten. Er fuhr in die Reichshauptstadt, wo er bescheiden, ernst und unerschütterlich bis zum Ministerium des Innern vordrang. Er arbeitete sich von Raum zu Raum, leise zitternd in dem Ungeheuren dieser papiernen Macht, aber mit der nicht zu entmutigenden Zähigkeit des Geschlechtes, das Meer und Heide, Sumpf und Urwald unter seine Faust gezwungen hatte.

Und in einem dieser Räume, wo ein Beamter mit höflicher Zerstreutheit sich seine Sache vortragen ließ, die Abteilungen schnell durchfliegend, wohin er ihn schieben könnte, geschah es, daß ein Ministerialrat das Zimmer betrat, um sich einen Aktenband reichen zu lassen, den er im Vorübergehen brauchte. Er hörte Karstens letzte Worte, sah sein stilles und von vielen Geschlechtern geformtes Gesicht, den unbestechlichen Blick eines Mannes, der zwischen Saat und Ernte auf und ab schreitet, und fragte nach seinem Begehren. Von dem Beamten unterrichtet, lächelte er ein wenig über die Abteilungsvorschläge, die dieser schnell zur Hand hatte, und bat Karsten kurzerhand in sein Zimmer. Hier saß er still und aufmerksam, die Ellbogen auf die Lehnen seines Schreibsessels gestützt, die Hände spielend gefaltet, und ließ seine klugen und wachsamen Augen nicht von Karstens Gesicht.

»Es wird gehen«, sagte er, als der Bauer geendet hatte. »Ich verspreche Ihnen, daß ich selbst alles tun werde, was ich kann. Machen Sie eine Eingabe an den Landrat und warten Sie ein paar Wochen.«

»Die Tochter«, sagte Karsten, »das würde gehen. Die Karstentöchter haben kein Glück. Aber das Kind soll keine Kette tragen, es ist zu schade dazu.«

Der Ministerialrat nickte und sah aus dem Fenster. »Sehen Sie, das Leben …, Herr Karsten …«, sagte er noch. »Es ist ein wenig zuviel Papier in diesen Räumen, und wenn ich Sie nicht gesehen hätte, wären auch Sie Papier geblieben. Es ist schön, wieder einmal das Leben zu sehen. So wie Sie sprechen, spricht kein Mensch in diesem Hause und kein Mensch in dieser Stadt. Und manchmal denke ich, daß das nicht gut ist …«

»Es ist ein bißchen viel Kunstdünger im Lande«, meint Karsten sorgenvoll.

Der Ministerialrat sieht ihn nachdenklich an, lächelt und sagt: »Ich habe einiges gelernt in dieser Stunde, Herr Karsten.« Und dann bringt er ihn bis an das riesige Treppenhaus und verabschiedet sich herzlich von ihm.

Vier Wochen später ist es entschieden, daß Gina und Johannes den Namen Karsten führen dürfen. Johannes trägt das Schreiben selbst in das Amtszimmer des »Löwen«.

Im Sommer findet die Verhandlung vor dem Schwurgericht statt. Johannes muß als Zeuge erscheinen und wiederholt seine Aussage. Zerrgiebel und die deutsche Eiche erhalten drei Jahre Zuchthaus, Theodor zwei Jahre Gefängnis. Die anderen kommen mit milderen Strafen davon.

Johannes fühlt keine Schande, keine Gemeinschaft des Blutes. Aber als er am späten Abend in die Stadt zurückkehrt, geht er zuerst durch den Seiteneingang in die Gärtnerei, dorthin, wo seine Badestelle ist, legt die Kleider ab und steht lange unter dem rauschenden Wasser. Dann, beim Abendbrot, erzählt er den Ausgang, und nach einer Weile sagt er: »In zwei Jahren muß ich weit fort sein …« Und dann ist der Name Zerrgiebel wie in einen Brunnen gestürzt und unter Steinen begraben.

Aber der Nachklang des Sturzes hallt noch für eine Weile zwischen den engen Wänden des Schachtes und trifft das Ohr desjenigen, der sich leise schauernd darüber beugt. Auf eine geheimnisvolle Weise ist es Zerrgiebel gelungen, Briefe zu schreiben und sie in die Welt zu befördern. Die Mauern des Untersuchungsgefängnisses sind nicht stark genug gewesen für die fressende Kraft seines Geistes.

Zwei Tage nach dem Urteil sind die Briefe in der Stadt. Sie sind ordnungsmäßig frankiert, und der Postbote trägt sie ahnungslos aus. Sie beginnen alle mit der gleichen Einleitung, die wie Geheimnis und Drohung über der ersten Seite steht: »In drei Jahren.« Und dahinter folgt ein Satz von gleichsam unpersönlicher Harmlosigkeit. Etwa: »Vielleicht wird es Öffentlichkeit und Behörde gleichermaßen interessieren zu erfahren, wo und in welcher Gesellschaft Frau Justizrat Albinus den schönen Monat Mai seit drei Jahren zu verbringen pflegt.« Dieser Brief war an den Landrat und an die erwähnte Dame gerichtet und, wie alle übrigen, ohne Unterschrift.

Oder: »In drei Jahren … Vielleicht wird es der hochwohllöblichen Öffentlichkeit dieser Stadt nicht ohne einiges Interesse sein zu erfahren, daß der Unterprimaner Alwin Ziegenspeck seit Jahren das Frühstücksbrot seiner Mitschüler zu stehlen pflegt und auf einem verwandten Gebiete ein paar Seitenwege gegangen ist, die im Strafgesetzbuch namentlich verzeichnet sind.« Dieser Brief war an den Amtsrichter gerichtet.

Oder: »In drei Jahren … Vielleicht wird es für den lokalen Teil der dortseitigen Zeitung von einiger Wichtigkeit sein oder werden, eine Liste derjenigen Frauen und Töchter zu erhalten, die in den letzten Jahren außerehelichen Umgang bzw. vorehelichen intimen Verkehr gepflogen haben. Photographische Momentaufnahmen könnten das Interesse an diesen Dingen erhöhen.«

Dieser Brief war an eine erschreckende Zahl von Herren, Damen und jungen Damen gerichtet. Auch der Lehrkörper war betroffen, auch Doktor Weishaupt.

Die Briefe schlugen wie ein Feuerstrahl in das Dunkel des Geheimnisses und der Sicherheit. Sie hingen nicht wie eine Wolke über der Stadt gleich den Ereignissen des letzten Winters, sondern sie rissen und saugten gleichsam die Luft aus Straßen, Gärten und Häusern, daß die Augen und Hände der Menschen wie die von Erstickenden waren, die in Krämpfen nach Atem rangen. Es war natürlich, daß die von einem Schlage Betroffenen zueinanderstürzten, aber darüber hinaus sickerte die Kunde von den Briefen und ihrer dunklen Drohung leise über die Schwellen der Häuser wie Wasser durch die Erdmauer eines Dammes. Niemand sah mehr als einen kleinen Kreis der Gefahr, aber an einigen Stellen stießen die Kreise zusammen, und ein leise knisternder Funke sprang von Leben zu Leben.

Es war mehr als eine Brunnenvergiftung, eine Ausschleuderung von Cholerabazillen. Es war die leise, aber unaufhörliche Ermordung des Schlafes, des Lächelns, der Sicherheit, des Lebens. Ein schweigendes Durchfeilen seelischer Gitter, ein Fressen an den Wurzeln, ein lautloses Tasten furchtbarer Fangarme, von denen man nicht wußte, wer sie sah. Wer wußte etwas? Wieviel wußte er? Wann würde er mehr wissen?

Und über allem schwebte der furchtbare Satz: »In drei Jahren …« Jedermann wußte, wer die Briefe geschrieben hatte. Jedermann wußte, daß er unerreichbar und unnahbar hinter Zuchthausmauern saß, daß kein Gesetz ihn hindern konnte, kein Flehen, vielleicht Bestechung oder Erkaufung, aber mit Sicherheit nur der Tod.

Es war eine unerhörte Rache, und der Rächer saß wie ein Gott auf einem unsichtbaren Stuhl, und jeder Brief, jedes Klingeln der Wohnungsglocke, jeder Besuch, ja jeder Blick eines anderen Menschen konnte eine neue Botschaft, konnte Tod, Ende, Zerschmetterung bedeuten.

So stürzte der Name Zerrgiebel unter die Steine der Tiefe, aber die Steine waren lebendig, und eine furchtbare Stimme schrie unter ihnen hervor, von der man nicht wußte, ob einer sie hörte oder die ganze Stadt.

Der erste, der auf eine ganz unerwartete Weise die Änderung der Luft in ihren Ausstrahlungen verspürte, war Johannes. Er hatte die Schwere des Weges zu kosten bekommen, den er gewählt hatte. Daß er nach Ostern unbehindert die Schule besuchen durfte, daß er einen andern Namen trug, war etwas, das ihn mit einem »Schein des Rechts« umgab, wie Joseph festgestellt hatte, das eine Zone der Unverletzlichkeit um ihn schuf, an die weder Lehrer noch Schüler zu tasten wagten. Aber man konnte mehr tun als dieses: man konnte behaupten, ja beweisen, daß er nicht da war. Man konnte gleichsam seine Materie leugnen, sein Vorhandensein, sein Geborensein. Man stand auf, wenn er in die Bank trat, aber man stand auf, um zu seinem Hintermann zu sprechen, und man hatte das Gespräch beendet, wenn er seinen Platz erreicht hatte. Oder Weishaupt hatte für irgendeine Schulstatistik eine Reihe von Spalten in einem Formular auszufüllen. »Donewang …« Und es folgten die verlangten Auskünfte. »Brettnacher …?« Eine Reihe von Antworten. Dann war Johannes an der Reihe, aber es erfolgte keine Frage, und ein bleiernes Schweigen schob sich zwischen die Mechanik des Vorgangs. Weishaupt starrte den nächsten an, der verlegen vor sich hingrinste, und Johannes lächelte. Endlich Weishaupt, zu Gieseke gewandt: »Ist ein gewisser Zerrgiebel … äh … Karsten da?« »Gewiß, ja, ich glaube, Herr Doktor.« Die Haifischaugen flimmerten auf einen Punkt über dem ausgelassenen Platz. »Name?« »Ein gewisser Karsten.« Der Federhalter riß über das Papier, aber es erfolgte nichts. Und dann, wenn es fertig war, mit beherrschter Stimme: »So … also Donewang … Brettnacher … der nächste, bitte … Klein, ja …«

Es war nicht zu leugnen, daß es Schüler gab, die das nicht wollten, auch von Percy, Klaus und dem Werkmeistersohn abgesehen. Die das Böse, Ungerechte und Unwürdige aller dieser Vorgänge fühlten. Aber die Tyrannei der Masse lähmte sie, Drohungen der Eltern, ein schräger Blick des Ordinarius, eine spöttische Frage der Mädchen, mit denen sie Tennis spielten, ruderten, spazieren gingen. Johannes ertrug es, ertrug es mit guter Haltung, die Schule, jeden Gang durch die Stadt, jedes Betreten eines Ladens, jeden tastenden und schnell fliehenden Blick eines Menschen. Aber es fraß seine Kraft, es höhlte ihn gleichsam aus, weil er sein Leben verbrauchte, um die Maske unverändert zu erhalten: die Unbewegtheit des Gesichtes, die nachdenkliche Sicherheit seines Blickes, die Einsamkeit und Abgeschlossenheit seiner Gebärden.

Was in ihm während dieser Monate wuchs, war nicht so sehr Bitterkeit, Verachtung oder Haß. Es war vielmehr ein leidenschaftlich sich steigernder Hunger nach Gerechtigkeit, der zunächst nur um die Achse des eigenen Lebens kreiste, nach Rechtfertigung, Verständnis, Teilnahme schrie, bis er darüber hinaus, von Luther unmerklich geleitet, um die Gerechtigkeit an sich zu kreisen begann, um den Begriff, die Idee, und so aus der Mißhandlung der eigenen Seele vorwärtsschritt und sich erhob zur Erkenntnis, Einordnung und Entäußerung.

Und nun, ohne Einleitung, verwandelte sich das Gesicht der Welt. Der starre Mund begann zu lächeln, die blinden Augen begannen zu sehen. Es war, als sei er selbst plötzlich aus dem Nebel getreten, nun erst für die andern sichtbar, und Teilnahme und Frage drängten sich um seine Verschollenheit. Brettnacher fragte ihn nach einer mathematischen Aufgabe, Donewang wollte wissen, ob Pinnow weiße Nelken habe, Ziegenspeck lud ihn zu einer Bootfahrt ein. Es war ein Zustand völliger Verwirrung für alle Beteiligten und einer noch größeren für die Unbeteiligten. Es mußte etwas geschehen sein, aber niemand wußte es, selbst nicht diejenigen, die den Bann durchbrochen hatten und die zu Hause von Vater, Mutter oder Schwester den strengen Befehl erhalten hatten, freundlich zu dem jungen Karsten zu sein und ein absolutes, ehrenwörtliches Stillschweigen darüber zu bewahren. Und da dieser Befehl von einer Vergünstigung nicht unerheblichen Ausmaßes begleitet, ja gewissermaßen gekauft wurde, so wurde ihm Gehorsam erwiesen, ohne daß man sich allzuviele Gedanken darüber machte.

Johannes empfing diesen Anprall allgemeiner Menschenliebe mit einem mühsam verhüllten Erschrecken. Und als Weishaupt einen seiner klirrenden Scherze geradezu an ihn richtete, ausdrücklich unter Nennung seines Namens, stieg ein leises Grauen aus den dunklen Kammern eher seines Instinktes als seiner Erkenntnis, stieg bis in die scharfen Linien um seinen Mund, bis in seine Augen, und blieb dort, bebender vor der Güte der Menschen als vor ihrer Feindschaft.

Er besprach es am Nachmittag mit Luther, mit Percy, mit Frau Pinnow. Es war die schwerste Last, die man auf ihn geworfen hatte, und er wand sich unter ihr in einem tödlichen Erschrecken. Aber sie fanden nichts, und was sie zu finden vermeinten, reichte zur Erklärung nicht aus. »Es ist eine Schweinerei, Jungchen«, sagte Frau Pinnow, »da verlaß dich drauf!«

Johannes wurde auf der Straße gegrüßt, angesprochen, auf die Schulter geklopft. Er wurde eingeladen, zu Ausflügen, zu Geburtstagsfeiern, zu kleinen Abendessen. Luther drang darauf, daß er hinging, und er gehorchte. Aber auf jeder dieser Festlichkeiten widerfuhr ihm das seltsame Gleiche, daß es ein Mitglied der Familie war, das ihn mit betäubender Herzlichkeit umschloß, während die andern eine eisige Befremdung zu verbergen sich gar nicht die Mühe machten. Und dieselbe Zwiespältigkeit schnitt durch die übrigen Teilnehmer. Er suchte ein System und fand keines. Alle Unterschiede des Geschlechtes, des Alters, der Ehe oder Ehelosigkeit versagten. Es war eine Hand, die ihn emporgehoben hatte, aber er sah sie nicht. Scheinwerfer brachen auf ihn nieder, aber er wußte nicht, was sie an ihm suchten. Nur Gefahr war da, grelle, erbarmungslose Gefahr.

Und dann ging er nicht mehr hin. Er bedankte sich für jede Freundlichkeit und lehnte sie mit höflicher Bestimmtheit ab. Er ertrug es nicht mehr. Er hatte Nächte ohne Schlaf, und er begann sich wieder plötzlich umzusehen wie in den Jahren seiner Kindheit, als Theodor schweigend durch seine Träume gekrochen war.

Er erfuhr es erst kurz vor dem Beginn der Herbstferien. Er hatte eine Schnittwunde an der Hand, die nicht gut aussah, und Frau Pinnow bat ihn inständig, zum Arzt zu gehen. Er läutete bei Dr. Moldehnke, und seine Frau öffnete ihm. Sie lächelte freundlich und führte ihn wortlos in ihr Zimmer. »Mein Mann ist über Land gefahren«, sagte sie, »und kommt erst gegen Abend zurück. Aber ich wollte mit Ihnen sprechen, Johannes … ich habe eine große Bitte an Sie.«

Sie saß ihm gegenüber in einem tiefen Sessel, die Beine übereinandergeschlagen und die rechte Schläfe in ihre Hand gestützt. Sie galt für die schönste und eleganteste Frau der Stadt, und Johannes wußte, daß zahlreiche Gerüchte geheimnisvoll um sie kreisten. Er war ein wenig verwirrt in dem zärtlichen Schweigen des Raumes, in dem leisen Duft, der ihn erfüllte, vor der ungezwungenen Schönheit einer fremden Frau, aber er sah aufmerksam und höflich in ihr Gesicht und wartete.

»Sie haben das Gesicht eines Edelmannes, Johannes«, sagte sie endlich, ohne ihre Stellung zu verändern, nur ihre Augen waren nun voll zu ihm aufgeschlagen. »Und ich glaube, daß Sie auch die Seele eines Edelmannes haben … nein, widersprechen Sie nicht, Ihre Augen können nicht lügen. Wenn Sie sehen, daß eine Frau, eine wehrlose und schutzlose Frau, in Not ist, würden Sie ihr helfen?«

»Gewiß«, erwiderte Johannes.

Sie sah ihn lange an, mit einem Blick, den er nicht verstand, und plötzlich fiel vor seinen Augen die Maske ihres Gesichtes, fiel ins Unsichtbare, und darunter erschien das Gesicht einer namenlosen Qual, von Furchen der Angst, der Verzweiflung zerrissen. »Johannes«, flüsterte sie, als ob die dunklen Ecken des Raumes lebendig wären, »Johannes, ich habe einen Brief bekommen … von ihm, verstehen Sie? Von Ihrem … Vater, hören Sie? Einen furchtbaren Brief. Ich habe etwas getan, etwas … Gedankenloses, und er schreibt: ›In drei Jahren …‹ Er muß es wissen, irgendwie. Er schreibt von Photographien, die er besitzt, aus dem Hinterhalt angefertigt vielleicht … Wissen Sie, was Schande ist, Johannes? Sie glauben es zu wissen, ja, vergeben Sie auch mir. Aber Sie wissen nicht, was die Schande einer Frau ist. Der Tod ist leichter, und vielleicht werde ich mich töten müssen … Johannes, lieber Johannes, Sie müssen hinfahren zu ihm. Sie sind sein Kind. Sie müssen ihn bitten, beschwören, daß er es nicht tut. Ich will ihm Geld geben, aber er muß es Ihnen schwören, auf das Evangelium. Drei Jahre, Johannes, verstehen Sie die Qual von drei Jahren?«

Sie kniet vor ihm, ihre nackten Arme drängen sich um seinen Körper, und ihr aufgelöstes, gleichsam entkleidetes Antlitz hebt sich flehend zu ihm auf. ›Welch ein Wunder‹, denkt er erschüttert, ohne an den Brief mehr als an ein dumpfes Grauen zu denken. ›Welch ein Wunder: ihre Arme, die Böses getan haben, aber ein süßes Böses wahrscheinlich … diese Augen … dieses alles … was für ein Wunder …‹ Er hört nicht mehr, was sie spricht. Er sieht das Sichöffnen ihrer Lippen, den feuchten Schimmer, den matten Glanz ihres Haares, die Offenbarung einer andern Welt, aus Ahnung und Träumen schrecklich nah vor seine Seele gestellt. Er fühlt, daß in ihm etwas zusammenstürzt, hörbar fast, Wände, Mauern, zu Trümmern zerbröckelnd, eine schreckliche Leere, ein riesenhafter Raum, in den das Neue hineinbricht wie durch geöffnete Schleusen, betäubend, schwindelnd, mit tanzenden Sternen, und ein süßer, lähmender Schmerz rieselt zwischen seinen Schulterblättern hernieder und greift in den Schlag seines Herzens, daß er die kalte Hand in seinem Blute fühlt.

›So ist das also‹, denkt er, ›was in den Büchern steht, den Gedichten, den Bildern, der Musik … was die Gesichter der Menschen so seltsam macht, am Abend, wenn sie in den Haustüren stehen oder aus den Feldern heimkommen und der Mond scheint in ihre Augen … so also ist es … so schrecklich und so süß …‹

Johannes ist nicht unwissend. Niemand in seiner Klasse ist es. Aber er ist auf eine wunderbare Weise davor behütet worden, ein Geheimnis aus einer trüben, selbst schmutzigen Quelle haben aufheben zu müssen, es aus schmutzigem Papier zu wickeln, auf finsteren Hintertreppen nach ihm sich hinzuschleichen. Er hat nicht umsonst in einem leeren Raum gestanden, und seine wenigen Gefährten wußten, daß vor ihm die Worte zu wägen waren. Er hat sein Wissen auf eine gleichsam kalte und unpersönliche Weise erhalten, aus den Büchern der Wissenschaft, fast auf steinernen Tafeln. Alle Gefühle waren hier jenseits des Filters geblieben, alle Leidenschaften und Schmerzen. Die Natur wurde enthüllt, und das Aufspringen einer Knospe war in diesen Büchern so heilig und notwendig wie jede andere Äußerung des dunklen Triebes, der die Zweiheit in die Einheit schmolz.

Er hatte niemals das Gefühl, etwas Verbotenes zu lesen. Es gab nichts Verbotenes in Luthers Räumen. Aber er hatte das Gefühl, etwas Gefährliches zu lesen, um eine Gefahr zu kreisen, die so unerkennbar war wie Theodors verborgene Hand. Es war ein Strudel, der unaufhörlich mahlte und von dem man die Oberfläche sah. Niemand wußte, in welche Tiefe er sich fraß, ob er wiedergab, was er verschlang, ob er zerschmetterte, berauschte, vergöttlichte. Aber eine dumpfe Ahnung war in ihm, daß man aufhören würde, man selbst zu sein, wenn man sich ihm näherte. Daß eine Blume aufhören würde, eine Blume zu sein, etwas, das man nur betrachten und an dem man sich freuen konnte. Und so würde es mit einem Buch sein, mit einem Gedicht, den Ferien, dem Leben, mit allem, was in dem still beschlossenen Kreise des eigenen Körpers und der eigenen Seele umlief, atmete und war.

Er fragte nicht, er grub es gleichsam unter und trat die Erde fest. Aber das Gras bebte leise über der Stelle, und es war wie ein Hügel über einem lebendig Begrabenen.

Und nun war die Erde beiseite geschleudert worden, und das Begrabene war aufgestanden. Es hatte Form angenommen im Dunkel der Verborgenheit. Die steinernen Tafeln waren lebendig geworden, das kalte Wissen war Fleisch und Blut geworden, atmete, sprach, weinte, streckte die Arme aus, geheimnisvoll schimmernde Arme. Der Strudel tat sich vor seinen Augen auf, und langsam, ganz langsam begann sein Körper am äußersten Rande zu kreisen, schneller und schneller, ob er auch seinen Widerstand verstärkte und fortstrebte in die Ruhe der unbewegten Flut.

»Sie hören mich ja nicht, Johannes«, begann die Stimme von neuem, so fern, als rufe sie vom Grunde des Strudels herauf und als werde jedes ihrer Worte hundertfach herumgeschleudert, bevor es zu seiner Seele kam. »Werden Sie es tun?«

»Ja, ich werde es tun«, erwiderte er, und seine Stimme war schwer wie Füße im Traum.

Ihre Arme lösten sich von seinem Körper und sanken herab, so daß die Hände sich auf den Teppich stützten, und ihre Stirn lehnte sich gegen seine Knie. »Ich danke Ihnen, Johannes … nein, ich werde Ihnen danken. Wie eine vom Tode Auferstandene werde ich Ihnen danken, hören Sie?«

Er nickte nur und legte seine kalte Hand auf ihren Scheitel. ›Wie wird das sein?‹ dachte er. ›Vom Tode auferstanden … etwas Ungeheures meint sie, und ich darf nicht fragen, niemals darf ich es fragen …‹

Das Zimmer wurde dunkel, und das Fenster trat langsam aus der Schwärze in das Licht. Stimmen der Straße zogen vorüber, Fußschritte, ein langsamer Wagen. Gespenster des Lebens, die aus dem Nebel kamen und in den Nebel gingen. Hier aber war der Atem, der Herzschlag, das Blut. Die Blumen des Teppichs dufteten, die Zweige der Tapete rauschten leise, die Bilder an den Wänden rührten heimlich an ihre Rahmen und bemühten sich, hinabzusteigen in das schweigende Wunder der Stunde. Seine Knie aber waren im Atem einer anderen Welt, der Herzschlag eines anderen Menschen rührte leise und gleichmäßig an das Gebäude seines Lebens, und sein Körper war wie eine Wolke, durchglüht von einer Sonne, die das Auge der Menschen nicht mehr sah, aber die ihn noch verwandelte, weil er erhoben war gleich einem Adler im Raum. Der andere Mensch, das war es, was Luther gesagt hatte. Ein fremdes Blut. Nicht das der Mutter oder des Großvaters, ein unerhört fremdes Blut, das ihn umspülte. Blut, das wie seines sein würde, rot, warm, Augen, die die Farben vernahmen wie seine, Lippen, die sich zum Sprechen öffneten gleich den seinen: und doch das Ganze aus einer ungeheuerlichen Ferne einbrechend in die Einsamkeit seines Lebens.

Eine Uhr schlug mit der feierlichen Strenge eines letzten Gerichtes. Als der letzte Ton verklang, war es, als rausche ein dunkelroter Vorhang über ein Geschehen, das nur für Gott allein sei, als hätten die Menschen sich abzuwenden und in das Ihrige zurückzukehren.

Johannes ging, ohne ein Wort gesagt zu haben. Ein hoher Mond stand über den Dächern, und es roch nach welkendem Laub. Fenster erhellten sich, Vorhänge wurden zugezogen, Ladentüren geschlossen. Alles war wie sonst, und alles war verändert. Denn in jedem dieser erhellten und abgeschlossenen Räume konnte nun leise das Wunder aufstehen, konnte eine Frau knien, ein Lächeln die Wände sanft bestrahlen. Wer in sich geblieben war, konnte es so ruhig betrachten wie er selbst an jedem Abend bisher. Aber wer das Gift empfangen hatte, sah nun ›wie in einem Spiegel‹. Er blieb stehen, an einen der Ahornbäume gelehnt, und versank in Gedanken, weshalb er das eben so genannt hatte, das ›Gift‹. Aber es waren keine Gedanken. Es waren Bilder, Düfte, Klänge. Ein Satz schlang sich wie eine Perlenschnur von Farbe zu Farbe, aber er zerriß, und alle Perlen stürzten lautlos in die dunkle Tiefe hinab.

›Auch das habe ich verloren‹, dachte er ohne Schmerz.

Er ging bis zum Walde und saß dort auf dem Grabenrand. Wildgänse zogen, und die Haselmaus raschelte im Laube. Aber er saß wie in einer gläsernen Welt, und es war ihm, als könnten die Spinnen ruhig kommen und ihre Netze um ihn weben, daß er am Morgen im Tau läge, wie ein Schiff, oder ein Baum, oder ein totes Wild.

›Ich muß ja zu ihm gehen‹, dachte er, ›so schnell ich kann, denn jede Stunde ist eine Qual für sie. Ich muß gleich gehen, die ganze Nacht und noch einen Tag …‹ Das Zuchthaus tauchte vor ihm auf, und plötzlich fiel eine eisige Kälte in das Gespinst seiner Träume. Er hatte nie ein Zuchthaus gesehen, aber es würde ein grauer Würfel sein, ungeheuer in einer toten Ebene, nichts als ein Würfel, erbarmungslos von seinen Kanten begrenzt. Kein Dach, kein Schornstein, kein Tor. Nur drei Linien von Fenstern, kleinen, viereckigen, mit eisernen Gittern davor. Eine furchtbare Parallelität, die sich nicht einmal in der Unendlichkeit schnitt. Wahrscheinlich kann man nur unter der Erde hinein, durch einen langen Gang, mit Türen ohne Drücker. Farbige Lampen flammten auf, und seltsame Klingelzeichen sprangen aus dem Unterirdischen auf, bedeuteten Alarm, Aufruhr, Mord und rauchendes Blut.

Das Bild brauste in seine Träume wie Sturm in einen Herbstwald. Hier war Wirklichkeit, kalt, unnahbar, von Verordnung und Vorschrift feindselig bewacht. Dort, in dem duftenden Raum, konnte das Wunder sein, aber hier brauchte man die Kräfte des Tages, und nur Luther konnte helfen.

Er stand auf und lief zur Stadt zurück. Das Wunder zerbrach nicht, aber es flocht sich auf eine schmerzende Weise in das hinein, was zu tun war. Es wurde wirklicher, aber dafür überstrahlte es die Aufgabe mit einem versöhnenden Schimmer, und es reichte nun nicht mehr aus, das Rieseln des Schmerzes bewegungslos zu fühlen. Es verlangte Entschluß, Tapferkeit und Sieg.

»Nun, Johannes«, sagte Luther, in seinen Sessel zurückgelehnt, »hast du ein Gesicht gehabt?«

»Ist das zu sehen, Herr Professor?«

»Es ist immer zu sehen, wenn ein Mensch verwandelt ist, Johannes. Zwischen zwei Herzschlägen kann man anfangen zu blühen oder zu welken.«

Johannes schwieg. Die grauen Augen spürten über jede Falte seines Gesichtes, sahen jedes Zittern seiner Augenlider. Und dann seufzte Luther ein wenig und wandte den nachdenklichen Blick zum Fenster, als suche er hinter dem einzelnen das Gesetz.

»Wie alt bist du, Johannes?« fragte er leise.

»In zwei Wochen werde ich siebzehn sein.«

»Früh … aber es ist viel Hunger in deinem Geschlecht gewesen, ungesättigter Hunger … nun erzähle es.«

»Es hat mit mir jemand gesprochen, Herr Professor … eine Dame. Sie hat einen Brief bekommen, von dort, aus dem Zuchthaus. Er hat ihn geschrieben … Sie hat irgend etwas getan, etwas Gedankenloses, sagt sie, und er muß davon wissen. Er schreibt auch von Photographien. Und sie will sich das Leben nehmen …«

»Und du?«

»Ich soll hinfahren und ihn schwören lassen auf das Evangelium, daß er es niemals sagen wird … Sie hat mich … sehr gebeten … und am Anfang steht ›In drei Jahren …‹«

Luther hatte sich vorgebeugt und starrte ihn an. »Was für ein Teufel!« sagte er nach einem tiefen Atemzug. »Ist dir nun alles klar, Johannes?«

»Nein, nichts …«

»Weißt du nun, weshalb sie den Kranz der Liebe um dich flechten? Du bist der Anker, Johannes. Der Anker dieser Stadt. Verstehst du es jetzt?«

»Sie glauben …?«

»Ich glaube nicht, sondern ich weiß. Was für ein Teufel, Johannes! Es können gut drei Dutzend Briefe sein, die er geschrieben hat, vielleicht noch mehr. Denn noch sind nicht alle zu dir gekommen. Und wahrscheinlich weiß er eine Menge. In drei Jahren … das wird eine tragische Sache werden, Johannes.«

»Kann ein Mensch das, Herr Professor?«

»Ein Mensch kann alles, Johannes. Er kann seine Mutter ermorden und sein Kind schlachten, um es zu essen. Er hat nicht umsonst die längste Ahnenreihe, Johannes … So also ist es … und auch Weishaupt, die Säbelkröte, sieh mal an … es wird schlecht geschlafen in dieser Stadt, Johannes …«

»Aber ich muß hin, Herr Professor, ich muß hin, so schnell wie möglich!«

Luther nickte ihm zu, und eine leise Trauer lag in dieser Bewegung. »Natürlich mußt du hin, Johannes. Du wirst auch in den Vesuv hineinspringen … natürlich mußt du hin … du weißt doch, daß es zwecklos ist?«

»Es darf nicht sein, Herr Professor!«

Der unbestechliche Blick in den grauen Augen. »Du weißt doch, daß es zwecklos ist?«

»Ja …«

»Siehst du … aber natürlich mußt du hin … auf dem Instanzenweg dauert es eine Ewigkeit … warte, ich will an den Ministerialrat schreiben, und du nimmst den Brief nachher zur Post … ein paar Tage wird es immerhin dauern … es wird eine schwere Reise, Johannes.«

»Ja …«

»Das übrige … nun, es ist ein Gesetz, Johannes, und es kommt nur darauf an, wie wir vor ihm bestehen. Du wirst dich verlieren … Menschen wie du verlieren sich immer ganz … und wirst dich wiederfinden. Denn wer sich nicht verliert, findet sich auch nicht. Aber sei darauf gefaßt, daß dies eine durch und durch zwecklose Reise wird, hörst du? Durch und durch! Und vergiß nicht, Johannes: nur wer ein Zweck ist, darf sich verlieren. Nicht, wer ein Mittel ist … so, und nun wollen wir den Brief schreiben.«

Als Johannes in der Nacht zwischen den Rosen stand und das rauschende Wasser an seinem Körper niederfiel, schien ihm das Mondlicht zu weiß zu sein, das aufdringlich auf seinen Gliedern lag, und er wandte sich, daß der Mond in seinem Rücken stand. Von neuem fühlte er das Erschauern von seinen Schultern abwärtsrieseln, aber es war nicht das Erschauern der Kälte. Glück und Schmerz waren nicht zu trennen, aber der Boden wankte unter ihm, und die Berge stürzten ein. ›Wie hochmütig war ich‹, dachte er, ›ach, wie hochmütig!‹

Er stieg die Treppe hinauf wie ein gealterter Mensch, und als er sich in seinem Zimmer umsah, war ihm, als sei er lange Zeit fort gewesen. Er sah über den Garten hinaus, bis zum fernen Walde, und selbst dieses war anders geworden. ›Welarun ist tot‹, dachte er. ›Niemals mehr wird er rufen …, und die Tiere werden sich verbergen vor mir wie vor allen andern, denn mein Gesicht ist verwandelt worden … er hat es gleich gesehen. Ich habe das Wort vergessen, das die Berge öffnet, und nun ist alles verstummt und verhüllt …‹

Er legte sich nieder in ein fremdes Bett, zu einem fremden Schlaf, und als er den Mantel auf den Stuhl legte, wußte er, daß er seine Kindheit aus seinem Leben legte.

›Ich war Johannes‹, dachte er, in Schlaf versinkend, und nun bin ich ein Mensch geworden … der Mensch Jedermann …‹


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