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4

Es ist Frühling, und der kleine Johannes geht mit Ledo in den Wald. Es gibt einen Tagwald und einen Nachtwald. Der Tagwald ist ohne Angst, nur eine ganz leise Mahnung steht ganz hinten zwischen den Stämmen oder beugt sich aus den Wipfeln, wenn die heilige Hand darüberfährt. Sie kann nur zur Drohung werden, wenn man nicht leise ist, wenn man Äste knickt oder Ledo bellt. Dann ruft es hinter den Schonungen, die Bäume schließen sich zu, und der Schwarzspecht lacht gellend, bis die schlafenden Götter aufwachen. Dann ist der Wald wie Glas, und wenn der Wind kommt, können die Bäume brechen und den Störer begraben, daß er schweige für ewig.

Aber wenn man leise ist und fromme Füße hat, wie Johannes sagt, ist es gut im Wald. Bevor sie hineingehen, nimmt er die Mütze ab, wischt die Schuhe im Grase rein und tut mit Ledos Füßen das gleiche. Dann klopft er leise an einen Baum, und dann treten sie ein. Sie tun es nie auf der Straße, wo die lauten Wagen fahren, sondern seitab, wo die vertrauten Türen sind. Man neigt eine junge Fichte zur Seite oder hebt das Haar einer Birke auf, und dann sieht man in das fremde Gesicht, das überall ist, oben, unten und auf allen Seiten, wie in tausend grünen Spiegeln. Nichts kann man im Walde tun, ohne daß es zusieht, und deshalb darf man nur das Gute tun. Man ist ein Gast in einer heiligen Welt, und am Abend, wenn man hinauskommt, gehen die Heiligen mit, und die »Beiden« sind ganz fern, ganz ohnmächtig. Sie sind nie im Walde.

Der kleine Johannes hat eine Botanisierkapsel um die Schultern, mit Brot, Äpfeln, Hanfsamen und Weizenkörnern. Er hat eine kleine Pistole in der Tasche mit roten Zündplättchen, die er nie abschießt, aber die für die »großen Gefahren« da ist. Und in den Händen hat er die Flöte. Er steckt die Mütze in die Tasche und wandert mitten in das Heer der Stämme hinein. Er ist nicht traurig und hat nicht Angst. Eine kühle Hand liegt ganz leise auf seinem Herzen wie die Hand eines großen Fremden. Sein Herz ist ganz aufgeschlossen, und er fühlt, daß er in etwas Großes hineingeht. Aber er hat nicht Angst. Nur eine süße Mattigkeit ist in ihm wie vor einem Zauber und das leise Beben der Hingabe an etwas außer ihm Seiendes.

Und dann strömt er langsam in das Wunder ein, wie ein Strom in den anderen strömt, und dann sind sie beide eins, und er ist zu Hause. Ledo geht neben ihm, und obwohl sie die Nase hinter jeden Busch steckt, ist zu erkennen, daß Johannes die Hauptsache ist. Wenn es tief im Walde ruft, hinter tausend Türen, klagend und ganz unbekannt, bleiben sie beide stehen. Ledo spitzt die klugen Ohren, und Johannes hält den scheuen Atem an. »Das war Welarun«, flüstert er. »Sie haben ihm wehgetan.« Es sind die Herren und Frauen des Waldes, für die er Namen gefunden hat, Unterirdische und über den Wipfeln Schwebende, manche wie Menschen, aber mit Tiergeweihen, manche wie Tiere, aber mit Menschengesichtern. Frauen leben in den Schonungen und zwischen dem Birkenwald, Kinder weinen in den Espenhängen, ein Menschtier hebt das traurige Haupt aus dem Schilf der Moore, aber der Größte ist Welarun, der Herr der Tannenwälder. Moos trägt er statt der Augenbrauen, ein Eichhorn sitzt auf seiner Schulter, der Schwarzspecht fliegt ihm voran, sein Antlitz ist grau und traurig wie ein Stein, der tief im Walde schläft, und sein Ruf geht über alle Wälder, wenn ein Tier im Wundbett liegt oder sie die Bäume schlagen, durch die blutende Wurzel in das Leben hinein.

Dann verhallt der Ruf, und ihre Füße klopfen wieder leise in das Schweigen hinein. Sie gehen zu den Nestern des vorigen Sommers, aber sie liegen noch leer im Gebüsch, wie Hände, aus denen man das Wasser getrunken hat. Die Tauben rufen schon, und sie stehen beide unbeweglich vor den Bäumen, in deren Löchern sie brüten werden. Und dann suchen sie den großen Ameisenbau auf und sehen zu. Ledo ist unvorsichtig, wird gebissen und führt verrenkte Tänze auf, um die Feinde abzuschütteln. Johannes lächelt ganz still vor sich hin, aber dann hilft er ihr, und dann gehen sie beide weiter.

Auf einer Lichtung liegt eine graue Steinplatte, auf der zu sehen ist, daß Vögel dagewesen sind. »Sie haben es gefunden, Ledo«, sagt Johannes, »und alles aufgegessen.« Und er schüttet von dem Hanfsamen und den Weizenkörnern auf den feuchten Stein, und dann lagern sie in einer Nische der jungen Fichtenwand und essen. Wenn es ein gesegneter Tag ist, kommt ein Buchfink zur Steinplatte, noch während sie daliegen. Aber es bedarf dieses Segens nicht. Die Sonne hüllt sie ein, ein leiser Wind geht über die Lichtung, und die hohen Gräser schwanken mit allen Käfern und Spinnen, die dort auf Reise oder Arbeit sind. Es gibt keine Wolken zwischen ihnen und Gott, keinen Fußboden zwischen ihnen und der Erde. Eidechsen laufen über ihre Füße, Marienkäfer kriechen auf ihrer Haut. Sie sind kein Blatt auf einem Strom, kein Stein auf seinem Grund. Sie sind Welle im Fließenden, Wurzel im Wachsenden, Atem im Atmenden. Nur wenn es raschelt, im welken Farn oder Brombeergerank, heben sie die Köpfe, und dann sind es zwei Fremde, die sich umsehen im fremden Haus. Aber wenn es nur der Dachs ist, der über die Lichtung trollt und nach Würmern sticht, sind sie wieder zu Hause, und ihr Atem geht wieder sanft in die stille Stunde.

Dann zieht Johannes den Kopf des Hundes an seine Brust und spricht zu ihm. Er spricht gern zu ihm, weil die Worte in seine guten Augen hineinfallen wie Samenkörner in eine stille Erde. Bei den Menschen ist es so, als ob man sie in eine Maschine würfe und die Räder begännen sich zu drehen, immer schneller, und sie hören erst auf, bis jedes Wort zermahlen ist, zu Bösem oder zu Staub. Aber der Hund legt jedes Wort in eine dunkle Kammer, wo es kein lautes Echo gibt und keine schlagenden Türen. Zu einem Hund kann man sprechen wie zu Gott, und es tut nicht weh.

»Das war der Dachs, Ledo«, sagt Johannes. »Die Menschen nennen ihn Grimbart, aber wir nennen ihn Rulle, und er sieht aus wie eine Leberwurst. Er ist immer ein wenig traurig, weil er unter der Erde lebt, nicht nur im Winter, sondern auch im Sommer. Er hat einen Makel, ich weiß nicht welchen. Vielleicht hat er zu kurze Beine, und die anderen verspotten ihn. Er ist ein Wandrer in der Dämmerung, wie der zweite Lehrer bei uns. Er hat schöne Gedanken, aber nur für sich allein. Er wird Cello spielen, unten in seinem Haus, und wenn er liest, wird er eine Pfeife rauchen, eine halblange wie der Briefträger. Die kurzen Pfeifen sind für die Lauten und Dreisten und die langen für die Alten und Schläfrigen. Aber die halblangen sind halb froh und halb traurig …«

»So ist es«, sagt Ledo.

»Seine Kinder essen kleine Engerlinge und bekommen dann Lebertran. Sie haben viel Schnupfen. Die Frau trägt einen geblümten Unterrock, und abends beten sie alle. Sie sitzen aufrecht und falten die Vorderpfoten. Und dann singen sie einen Psalm. Es ist ein Geschlecht der Gebeugten, weißt du, und sie beten: ›Welarun, behüte uns vor den Theodoren!‹ Aber es riecht ein wenig ungelüftet bei ihnen. Sie dürfen die Fenster nicht aufmachen, und sie horchen immer, ob es irgendwo klopft.«

»So ist es«, sagt Ledo.

Dann verschwindet Rulle unter den Eichen, und Johannes spielt auf seiner Flöte zu Welarun, dem Herrn der Wälder. »Traurige Bäume«, sagt die Flöte, »wie liebe ich euch. Dunkel ist der Schmerz um euer Haupt. An eurer Wange flötet die Amsel und fliegt weiter von Baum zu Baum. Aber eure Wurzeln lassen euch nicht, und eure gefangenen Augen sehen ihr nach … Traurige Tiere, wie liebe ich euch. Allein ist jedes in seinem Haus. Voller Gedichte seid ihr und könnt sie nicht sagen. Wer spricht zu euch, wenn der Schlaf euch greift oder der Tod? Traurige Blumen, wie liebe ich euch. Kinder im Wald, wo ist eure Mutter? Wer kniet vor euch und spricht zu euch: ›Mein Leben … du mein Leben?‹ Bienen kommen und trinken euch aus. Am Duft eurer Seele brennt ihr aus … Welarun, Vater der Armen, Johannes geht in deinem Schatten und spielt die Flöte für deine stummen Gräber …«

Dann schweigt die Flöte, und die große Stille geht durch den Wald. Die Gräser schwanken nicht mehr, die Äste erstarren, das Harz hört auf zu tropfen, die Fliegen stehen still in der Luft, die Steine schweigen. Kreis um Kreis läuft wie auf einem dunklen Wasser in die Ferne hinaus, von wortlosem Zauber getränkt, rührt die Bäume an, die Tiere, das Gras, umschlingt die Schonungen, die Hänge, die Wege, Nester und Höhlen. Die Sonne steht still, die Stunde ruht, die Schatten wandern nicht. Und Johannes kniet, die Flöte an sein Herz gedrückt, und sieht hinaus in die angehaltene Welt und lauscht, daß Welarun ihm Antwort sage. Sein Herz schlägt schwer, und die Linie um seinen Mund ist tief wie in der Nacht. Und dann ist es da. Weit, hinter den tiefen Wäldern her, ruft es über die Welt, ein gefangener Ruf, durch Gitter hindurch, in Klage, Wildheit und Stolz. Vielleicht ist es ein Tier, vielleicht ein Mensch, vielleicht ein Menschenhaupt über verzaubertem Leib. Es klingt und vergeht, die Waldränder werfen es einander zu, flechten es durcheinander, lösen es wieder auf. Wie ein Speer schießt es auf, über die Wipfel hinweg, waagerecht schwebend im Sonnenglanz, und taucht wieder hinein, durch rauschendes Geäst, in der Erde Grund, wo es nachbebend erstirbt. Der Zauber ist gelöst, die Sonne tönt, die Stunde rollt. Die Gräser schwanken, Brausen läuft durch Wipfel und Geäst, die Schatten wandern, der Tag geht über den Wald.

»Er hat es gehört«, flüstert Johannes. »Nun können wir gehen.«

Sie bleiben eine Weile vor dem Dachsbau, und während Ledo den halben Körper in jede Röhre zwängt, sitzt Johannes vor dem Haupteingang und spielt für die »Gebeugten« sein fröhlichstes Lied.

Und dann gehen sie weiter. Unendlich ist der Wald, unendlich der Tag. Da sind Frauen, die nach Morcheln suchen, mit roten Kopftüchern und Gesichtern wie aus Kiefernrinde. Man weiß nicht, wo sie ihr Haus haben und ob ihre Kinder nicht Schwänze tragen, die sie über das Moos hinter sich herziehen. Man geht ihnen leise aus dem Wege und spricht einen kleinen Zauber aus.

Da sind alte Männer, die nach Baumschwämmen suchen. Sie haben kleine, rote Augen, und wenn sie stehen bleiben, sieht es aus, als ob ein Baum dort stehe. Der Häher lärmt über ihnen, und eine Wolke von Tabaksrauch schwebt mit ihnen durch das Waldeshaus. Johannes glaubt, daß sie in hohlen Eichen wohnen und die jungen Eier aus den Nestern trinken und daß ihre kleinen Augen in der Dunkelheit leuchten. Auch ihnen geht man leise aus dem Wege.

Dann fährt ein Wagen ferne durch den Wald, und der Kutscher singt ein trauriges Lied. »Was mag er fahren, Ledo?« fragt Johannes. »Vielleicht fährt er Kinder in Säcken zu den Brunnen, wo die ›Beiden‹ warten. Und er singt, damit er ihr Weinen nicht hört?« Sie spähen um einen Fichtenhorst, aber es ist nur trockenes Reisig, das er fährt. ›Aber darunter kann vieles verborgen sein‹, denkt Johannes. ›Und die Pferde sehen so seltsam aus.‹ Sie warten, bis Lied und Rädergeroll verstummen, und das Herz ist ihnen schwer vor der Unendlichkeit des Geschehens.

Sie treffen viele Tiere und grüßen sie, und die Tiere blicken ihnen nach, als wollten sie etwas sagen. Aber sie sagen es doch nicht. Langsam wird Johannes traurig, und dann ist es Zeit, zum Schwarzbart zu gehen. Er weiß, wann sie kommen und auf welchem Wege. Er sitzt irgendwo am Feldrand, von ein paar Büschen verborgen, und aus den Büschen ruft ein Vogel, eine Ringeltaube, ein Häher oder nur eine Blaumeise. Er kann alle Vogelstimmen. Aber dazu raucht er seine halblange Pfeife, und der Rauch steht über den Büschen wie über einem kleinen Kohlenmeiler. Daran erkennen sie ihn.

Zuerst tun sie, als wüßten sie es nicht und folgen leise und versteckt dem Ruf des Vogels. Es ist ein tiefes Gefühl für Höflichkeit, das Johannes dazu treibt. Er liebt keine Verstellungen, aber er will nicht enttäuschen. Es ist ein Spiel für ihn, und er will nicht sagen, daß er nicht spielen wolle. Erst wenn sie ganz in der Nähe sind, glaubt er, genug getan zu haben. »Komm hervor, Waldschratt!« ruft er feierlich. Da bricht der Meiler zusammen, und über die Büsche hebt sich der Schwarzbart. Ledo springt ihm an den Hals, und Johannes wartet, bis es vorüber ist. »Diesmal habt ihr es erst ganz zuletzt erkannt, was?« fragt der Schwarzbart. Johannes gibt ihm die Hand. »Es raucht wie aus einem kleinen Hause«, erwidert er. »Aber es war so, daß wir es lange nicht wußten.«

Dann gehen sie über das Feld nach der Försterei. Der Schwarzbart hat keine Kinder, und Johannes findet das gut. Sie würden eine Elle hoch sein, gekrümmte Beine und schwarze Bärte haben, und es würde ein wenig unheimlich sein. Aber er fragt nach allem Getier, dem er Namen gegeben hat, und bekommt gute Antwort. Ob er wieder geschossen habe mit seinem Todesrohr? Ja, er habe eine Schnepfe geschossen. »Du riechst nach Tod«, sagt Johannes still. »Na?« meint der Schwarzbart verblüfft. »Komische Sachen redest du wieder.« Aber er ist nicht böse. Wie es im Walde gewesen sei? Schön, erwidert Johannes. Und er erzählt von den Tieren und wie weit die Bäume und Blumen seien. Aber von den Frauen und Männern erzählt er nichts, auch nicht von dem Wagen mit der traurigen Last oder dem großen Schweigen, und gar nichts von Welarun. Alles dieses würde zerfallen, wenn er es erzählte, und sie müßten dann durch den Wald gehen wie die übrigen, als sei er eine Straße oder ein Feld oder ein Fußboden.

Aber dieses Alleinwissen ist auch wie eine Last, süß, aber schwer. Vorsicht ist in seinem Gehen und Sprechen, denn wenn man ihn anstieße, könnte er zerbrechen wie ein zartes Gefäß, oder ertönen wie eine Geige. Und alle würden es wissen, würden lächeln oder den Kopf schütteln und vielleicht mit kalten Händen nach den goldnen Kugeln greifen, die aus seinen Kammern fallen und über das Moos rollen würden. Er schweigt, und über seinen Augen liegt schon frühe der Schleier, mit dem die Einsamen die Brunnen ihrer Tiefe bedecken.

Die Frau des Schwarzbarts ist rund und sehr weiß. Johannes sieht sie immer aufmerksam an, und er glaubt, daß auch ihre Worte und Gedanken rund und weiß seien, wie kleine Klöße, die sich in ihrem Inneren unaufhörlich zubereiten. Er sieht sie niemals Fleisch essen, und er hat die sonderbare Vorstellung, daß sie einen »frommen Magen« habe. Sie weint leicht, und Johannes ist oft in der leisen Versuchung, zu sagen: »Bitte, weine ein wenig, Tante Malla.« Tränen sind ihm seltsam erregend, aber er sagt es doch nicht. Er liebt sie, und da er immer nach Bildern sucht, die besser sind als die trockenen Buchstaben, aus denen die Worte bestehen, sagt er zu sich, daß er sie liebe wie einen Ofen. Sie ist rund und spricht wenig, und es ist warm bei ihr.

Wenn der Schwarzbart in der Stube ist und die Mütze abnimmt, ist er für Johannes ein ganz andres Wesen. Draußen, mit Gewehr und Stock, den Adler über der Stirn, ist er ein Herr der Wälder. Wenn er schießt, schreit Welarun zornig über die Bäume, aber der Schwarzbart fürchtet sich nicht. Johannes glaubt, daß sie in mancher Nacht miteinander kämpfen. In der Stube aber ist er wie ein Dachs im Bau. Er poltert und knurrt, aber seine Stirn unter dem schwarzen Schopf ist wie eine Kinderstirn unter einem Helm, und Johannes meint, daß er gut einen Kindersäbel tragen könnte. »Geliebte«, sagt er, »mein Magen ist wie ein Keller, ich werde einstürzen, und nur meine Beine werden hier herumgehen.« Johannes findet den Vergleich großartig und meint, daß Rauch über den Trümmern stehen werde, von der Pfeife, die auch versinken müsse. Und er werde seinen Suppenteller hineinschütten. Der Schwarzbart macht ein drohendes Gesicht, und Tante Malla bereitet sich zu ein paar Tränen. Aber dann sieht sie, daß er mit den Augen zwinkert. »Jetzt bebt er, Tante Malla«, sagt Johannes. »Gleich fliegt er in die Luft.« Und dann lacht der Schwarzbart, daß die Gläser klirren. »Wie du lachen kannst!« sagt Johannes, und sein Gesicht ist ohne Übergang tieftraurig. »Du lachst wie ein ganzes Haus … und ich bin nur wie ein Nagel in den Dielen.« Nun weint Tante Malla wirklich, und der Schwarzbart sieht bekümmert auf das Kind. »Du wirst ein Dichter werden, Johannes«, sagt er sorgenvoll. »Ich kannte einen, der ging ohne Hut durch den Wald, und dann standen seine Verse in der Zeitung. Er sah immer … ja, etwas weidwund sah er aus, weißt du. Es war komisch, aber sein Weg war wie eine Schweißfährte. Sehr traurige Verse, schrecklich traurig. Ich mußte immer ordentlich rauchen dazu … Ich habe auch ein paarmal die Mütze abgenommen, aber mir fiel nichts ein … und du gehst auch immer ohne Mütze …«

Johannes sieht aus dem Fenster. »Jetzt bin ich müde«, sagt er leise.

Die Giebelstube steht bereitet für ihn. Tante Malla deckt ihn zu, bringt ihm Eingemachtes und kleine Kuchen und geht dann mit feuchten Augen hinaus. Johannes hört den Wald rauschen und den fernen Bussardschrei, und sein Herz ist traurig und froh. ›Ich werde ein Flötenförster werden‹, denkt er, ›ohne ein Gewehr, und Blut wird in meine Fußspuren tropfen, und ich werde die traurigen Verse von den Ästen streifen und sie abends heimtragen …‹

Er erwacht, als Gina sich über ihn beugt, und das erste, was er denkt, ist, daß Welarun solche Augen haben müsse, das blaue für die Tränen seiner Tiere, das braune für ihr Schweigen. Es erschüttert ihn sehr, und ihm ist, als sei er mit dieser Erkenntnis geheimnisvoll verwoben in alle Wunder, die der Tag ihm geschenkt. »Ich weiß, wer dein Vater ist«, sagt er, mit seinen Blicken um ihr Antlitz sinnend. Sie begreift nicht, aber seine Liebe zu ihr ist so groß, weil ihr Nichtbegreifen nie mehr als eine stille Frage ist. »Er wohnt in den Wäldern, aber man darf ihn nicht nennen.« – »Und der Großvater?« fragt sie nachdenklich. »Er ist dein Großvater, aber seine Augen sind Menschenaugen. Dein Vater wohnt im Wald, und ich höre ihn jedesmal. Man muß die Flöte spielen, dann ruft er traurig und laut.«

Gina erzittert unter seinem Geheimnis und der Erkenntnis, daß sie dies Kind geboren habe. Sie bewahrt seine Worte in ihrem Herzen, aber sie streichelt nur seine Stirn zwischen den Augenbrauen, eine alte, immer noch leise beschwörende Gewohnheit. »Jetzt wollen wir aufstehen, kleiner Johannes«, sagt sie fröhlich. »Der Schwarzbart schreit nach Kaffee.« – »Er wird doch noch einmal einstürzen«, meint Johannes lächelnd, »und wir werden ihn aus seinem Magen ausgraben müssen.«

Sie sitzen in der »Kohlenmeilerstube«, die erfüllt ist von blauem Rauch, auf dem der schwarze Bart zu schwimmen scheint. Im Ofen brennt noch ein Feuer, und Johannes sagt, daß es »dicht an Weihnachten« sei. Tante Malla fängt beinahe zu weinen an, weil er bittet, von den Waffeln nicht essen zu brauchen. Sie seien wie gebratene Herzen. Der Schwarzbart nimmt die Pfeife aus dem Mund und sagt, kein Mensch könne so schrecklich seltsame Sachen sagen wie dieser Waldläufer. Man könnte sie drucken lassen und er sehe sorgenvoll in die Zukunft. Aber dann dringen sie nicht weiter in ihn, sie haben eine schöne Stunde, und in ihre Worte ruft die Drossel vom Waldrand.

Sie gehen noch ein wenig dorthin. Die Sonne steht schon tief, und rote Balken liegen schräg im Geäst. Zwischen den Stämmen hebt es sich kühl aus der Erde, die blauen Blumen schließen sich zu, aber über den Feldern ist noch ein warmer Hauch, und der gelockerte Acker atmet tief unter dem blauen Dach. Der Schwarzbart ist noch zu seinen Pflanzgärten gegangen, die beiden Frauen sitzen auf der Böschung des Grenzgrabens, die Hände im Schoß, und Johannes steht unweit, an eine Birke gelehnt und sieht auf das Moor hinaus, das von der Ecke des Feldes weit in den Wald läuft. Kraniche rufen am hinteren Rand, es flüstert im trocknen Gras, und es weht ein wenig unheimlich und ist wie eine Wunde im Wald. Johannes denkt, daß die ›Beiden‹ hier gut gehen könnten, daß viele Brunnen dort stehen könnten, wo der Nebel sich leise hebt und daß man zur Nacht hier sein müßte, unter dem halben Mond, um die Stimmen der Unterirdischen zu hören und die blauen Lichter zu sehen vor ihrem versunkenen Haus.

Er spielt nicht mehr und spricht nicht zu Ledo, die nach Mäusen sucht. Die Schatten sind kalt, und die Herren und Frauen des Waldes heben ihr Haupt und scheuchen das Fremde aus ihrem Revier. Die Bäume schließen sich zu, aus Dickung und Höhlen tritt das Verborgene heraus, späht durch den Wald, geht leise um. Der Tagwald versinkt, der Nachtwald kündet sich an. Es fröstelt im Gras, und Johannes hat Angst.

Dann gehen sie heim. Es dunkelt schon leise, und Johannes hält der Mutter Hand. Seine Kammern sind schwer von Samen und Frucht, und er tritt leise auf, als trage er einen Mantel von Glas. Der Schwarzbart erzählt, von Baum und Tier, und am Waldrand nimmt er den Rucksack ab, bindet ihn umständlich auf und zieht den Holzkäfig vor mit dem Eichhorn darin. Johannes sieht auf das gebeugte Tier, lächelt mühsam, hört zu, was der Schwarzbart von der Wartung sagt, bedankt sich leise und trägt den Käfig in das Haus.

In seiner Kammer sitzt er bis zum Schlafengehen davor, den Kopf in beide Hände gestützt, und sieht das stille Tier an. Er schiebt ein paar Nüsse hinein, Brot und ein wenig Gebäck, aber das graue Geschöpf – es trägt noch sein Winterkleid – bleibt reglos und stumm, in die Ecke gedrückt, freudlos, allein. »Freust du dich?« fragt Gina. »Nein«, sagt er leise. »Sieh, wie sein Herz schlägt … sie werden es holen kommen in der Nacht …« – »Wer denn, Johannes?« – »Die vom Fichtenwald.« – »Aber es gehört doch keinem?« – »Alles gehört«, sagt Johannes still.

Dann bedeckt er den Käfig mit seinem Rock, der nach den Wäldern riecht, und Gina liegt lange wach und lauscht seinem schweren Schlaf. Das Tier sitzt still, wie gestorben.

In der Nacht klirrt es leise in ihren Schlaf wie vom Fensterriegel oder dem Schloß einer Tür. Das Band des Mondes gleitet über die Wand, als werde der Vorhang am Fenster bewegt. »Johannes!« ruft sie in Angst. Seine bloßen Füße kehren zu seinem Bett zurück. »Sie haben es geholt«, sagt er aus befreiter Brust. »Nun kann uns niemand etwas tun.« Gleich darauf atmet er tief und still.

Sie steht nicht auf, aber ihre Gedanken kreisen um sein Gesicht, und sie fragt Gott, was er mit ihr vorhabe, daß er ihr dies Kind gegeben zur Angst und zum Glück. Aber Gott schweigt, und der Mondlichtstreif wandert über ihre Wand wie ein Zeiger der Ewigkeit.

Von dem Eichhorn ist nicht mehr die Rede. Gina spricht mit dem Schwarzbart, und der Schwarzbart schüttelt den Kopf. Aber er schweigt. Bis Johannes einmal sagt: »Sie haben es wiedergeholt.« Da nickt er nur und meint: »Komische Sachen gibt es im Wald …« Und damit ist es aus.

Es ist Sommer, und der kleine Johannes geht mit Ledo an den See. Der See liegt im Arm der Wälder und blickt mit dem anderen Ufer weit in das Land hinein. Roggen weht über die Hügel, über Dörfern steht blauer Rauch, und ein Kirchturm hebt sich als Weiser in die weite Welt. Dort baut das Tor des Lebens sich auf. Unendlichkeit der Wälder flieht zurück, Stimme Welaruns erstirbt. Man weiß nicht, was hinter jenen Feldern sich verhüllt. Groß ist die Welt, und der ahnende Blick hängt am fremden Gesicht. Dort wird die Mutter nicht mehr sein und die ›Beiden‹ nicht, der Schwarzbart versinkt, und Ledo jammert aus dem leeren Wald. Dort wird ›das andere‹ sein, vielleicht die Brunnen, vielleicht die Keller, vielleicht der Tod.

Im See liegt eine Insel und auf der Insel eine Rohrhütte unter hohen Eichen. Und darin wohnt der ›Wassermann‹. Der Wassermann ist ein Fischer, sechzig Jahre alt, und er ist des kleinen Johannes Freund. Johannes hat seltsame Freunde. Ab und zu erscheint er in der Siedlung, mit einem kleinen Wagen und einem Pferd davor, das Johannes wie ein vergrößerter Käfer erscheint, dem man die Flügel ausgerissen. Die Sielen sind schadhaft und mit Bindfaden geflickt, die Hinterräder auf eine traurige Weise nach außen geneigt. Dann verkauft der Wassermann Fische. Er ruft mit einer schwermütig-getragenen Stimme, als ob er über die Wasser riefe, leise, aber weithin hallend. Alle andern Stimmen bleiben vor der Tür, aber diese dringt bis zu Johannes. Das erstemal war es nur eine ›andre‹ Stimme, und er glaubte, daß sie aus dem Walde käme. Er sah auf die Straße hinunter, leise erschreckt, als habe sie ihm allein etwas zu sagen, und sah Wagen und Pferd und Mensch. Alles war ihm seltsam gleich der Erinnerung an einen Traum. ›Man hat ihn geschickt‹, dachte er. ›So etwas gibt es also, daß Fremde um mich wissen.‹ Da sah der Wassermann hinauf, und seine Stimme brach mitten im Rufen ab. ›Er erkennt mich‹, dachte Johannes. Er blieb in dem fremden Blick, in demselben süßen Grauen, das ihn erfüllte, wenn die Flöte schwieg und der Wald erstarrte und er auf Welaruns Antwort wartete. »Man ruft«, sagte er zur Mutter und ging hinaus. Und so begann ihre Freundschaft.

Der Wassermann trägt eine Lederkappe, und sie gibt ihm das Aussehen eines Menschen, der über alle Meere der Welt gefahren ist. Seine Haut ist wie die Rinde eines Baumes, aber die Formen darunter sind so klar wie die Formen eines Steines. Weite liegt in ihnen wie Weite eines Berges und die Klarheit der Luft, die nur über dem Wasser ist. Wahrscheinlich hat er nichts gelesen außer der Bibel und wenig in den Händen gehabt außer seinen Netzen. Aber dies ganz Einfache seines Daseins hat unaufhörlich geformt an ihm. Er hat nicht die kleinen Linien der Zeitungsleser und nicht die Sorgenfalten eines Berufes, nicht die Zerknitterungen einer Stadt oder die graue Furchung des Geldzählers. Er hat etwas von der Größe einer Uferlinie, eines Bergprofils, einer fernen Waldsilhouette. Vielleicht kann er nicht schreiben, aber seine Hände sind auf irgendeine Art weise Hände, wie die Hände alter Frauen oder kranker Kinder. Und seine Augen sind von dem hellen Blau, das traurig macht, weil es zu hell für diese Erde ist.

Johannes weiß, daß er zu ihm gekommen ist. Er weiß nicht, daß der Fischer auf schreckliche Weise sein Kind verloren hat und daß Johannes ihn an das tote Gesicht erinnert. Das Kind ist ertrunken, am Abend, bei schwerem Wind, und der Fischer hat es mit der Stange aus dem Kahn geschleudert, als er nach einem treibenden Netz greifen wollte. Er ist nachgesprungen, bis auf den Grund, und hat es nicht gefunden. Er ist etwas wunderlich seither, und der Stimmen, die über den Wassern sind, werden immer mehr für ihn.

Sie sehen einander an, und das Seltsame ist, daß der Wassermann auf Johannes blickt wie ein Kind auf einen Schatz hinter einem Fenster und daß Johannes auf den Alten blickt wie ein alter Mensch auf ein Kind, das man ihm zur Botschaft gesendet. Er fragt Gina, ob das heilige Kind – so sagt er – etwas mit ihm fahren dürfe. Er spricht eine kleine Zeit mit ihr, und Gina, deren seltsame Augen durch die Rinde gehen können, willigt ein. Für Johannes ist es gar kein Zweifel, daß er mitfahren muß.

Nun steht Johannes mit Ledo am Ufer und sieht dem Kahn entgegen, der auf sie zukommt. Immer denkt er, daß dieser Kahn über ein Meer kommt, mit einer unausweichlichen Botschaft, und daß, wenn er einsteige, er niemals wiederkehren werde. Der Wald steht ganz still und trinkt die Sonne. Ein hoher Ton klingt unaufhörlich zwischen seinen Wipfeln. Welarun schweigt, die Tiere schweigen, unbeweglich steht das Gras. Nur die Ruder klingen, immer näher, immer unerbittlicher. »Da bist du ja«, sagt der Wassermann. »Ja, da bin ich«, sagt Johannes.

Der Fischer hat Kaffee gekocht, den sie aus Bechern trinken. Schon dieses ist seltsam. Dazu gibt es schwarzes Brot. Johannes glaubt nicht, daß es von Menschenhand gebacken werden könnte. Sie sprechen ein wenig vom Fang der letzten Tage, vom Tauchernest im Rohr und vom Fischadler, der hier jagt. Johannes ist aufgeschlossen, aber ernst, wie ein Widerschein des Alters, das vor ihm steht. Dann geht er über die Insel, und der Fischer flickt seine Netze auf der Bank, aber nur mit den Händen, denn die Augen folgen dem Kind.

Es ist mehr als eine Insel im See. Es ist eine Insel im Leben, im Sein. Die Wälder sind fern, ein verlassenes Haus, in dem nun andere wohnen. Man hat keinen Schlüssel mehr, man kann nicht zurück. Die Luft ist anders, es riecht nach einer andern Welt. Vögel rufen, heiser oder klagend, aber es sind Vögel einer anderen Welt, luftlos, schwingenlos fast, einem anderen Elemente zugehörig, und selbst der Reiher, der taumelnd von den Wäldern herkommt, sieht aus, als wolle er in das Wasser stürzen, aus dem sein Spiegelbild ihm ruft.

Gegen Abend legen sie die Netze aus. Das Wasser ist warm und tief, und wenn Johannes sich über den Bootsrand beugt, kann er die wehende Bewegung der Schlinggewächse sehen und das Ertrinken des Lichtes im wesenlosen Grund. Er fürchtet sich wie ein junger Vogel, aber es ist eine süße Furcht, und die Insel ragt wie ein letztes Haus. »Es gibt ein Gewitter zur Nacht«, sagt der Wassermann und sieht über den See hinaus, als habe er keine Ufer. ›Was mag er verloren haben?‹ denkt Johannes. ›Die Menschen sehen von Stube zu Stube und von Haus zu Haus, aber er sieht ohne Wände, wie der Wald sieht.‹

Sie braten Speck zum Abendbrot und sitzen dann vor der Hütte. Die Wetterbank droht über dem Walde, und die Taucher rufen hart und schrill. Ein blauer Schein, aus ganz fernen Fenstern, gleitet einmal über den See. Das Waldgebirge wächst auf und versinkt. Des Wassermanns Hand liegt bläulich auf seinem Knie. Johannes ist geöffnet wie eine Blume, und die Schauer der Stunde rieseln bis auf seinen Grund. Er trinkt wie ein Wald, und lautlos webt sich in seiner Tiefe das Kleid der Zukunft. Leise murrt es hinter der Welt. Ein Tor springt auf und schließt sich zu. Reiter halten auf einem dunklen Hof. Fackel flammt auf über Mauern, Leibern und Stahl, von Faust erstickt, von Fluch bedroht. Fröstelnder Hauch zieht über den See. Flüstern fällt aus den Eichen, aus verstecktem Mund, erstirbt, löscht aus. Drüben erbraust jählings der Wald, um den See herum und weit landein. Aber das Wasser liegt still wie schwarzes Metall und spiegelt das wandernde Licht. »Gott wacht auf«, sagt der Wassermann.

Flammen stürzen sich über die Welt, zerschmettern den Wald, versengen das Schilf. Gewölbe brechen und stürzen in den See, ein Vogel klagt, und im grellen Schein taucht die Welt wie aus einem Ofen empor. Dann rauscht die Wand des Regens vom Wald heran, und sie gehen hinein. Johannes liegt auf raschelndem Schilf, seine Decke riecht nach Sonne. Der Wassermann sitzt bei einem tropfenden Licht, die Bibel auf dem Tisch, und fährt mit dem Finger die Zeilen entlang. »Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan …« Johannes lauscht, die schweren Augen schon voll Schlaf. ›Jonathan‹, denkt er, ›welch ein wunderbares Wort … Lanze aus Gold mit einem Trauerflor … wie seltsam ist diese Nacht …‹ Der Regen braust auf das trockne Dach, die Donner zerfallen hinter dem See, Schatten tasten über die Wand … Jonathan … mein Bruder Jonathan …

Am nächsten Morgen rudert der Fischer ihn zurück. »Komm bald wieder«, sagt er still. ›Jonathan‹, denkt Johannes den ganzen Weg, und sein Herz ist schwer von diesem tönenden Wort.

Es ist Herbst, und der kleine Johannes geht mit Ledo nach dem Karstenhof. Es ist das Land ›Ohneangst‹, und es ist noch angstloser geworden, seit Johannes glaubt, daß der Bauer sein Urgroßvater sei. Schon das Wort ist wie der Schlag einer alten Uhr, seine Augen schimmern wie Sonnen hinter Nebeln, und sein Schweigen ist erfüllt von Gedanken an seinen Sohn, der der Herr der Wälder ist. Wenn Johannes kommt, nimmt der Bauer selbst den Pflug in die Hand. »Was wollen wir tun, Johannes?« – »Wir wollen pflügen.« Es geht so, daß Johannes neben dem Pfluge hergeht, Furche auf und Furche ab. Er liebt das schwere und doch nicht leidvolle Schreiten der Pferde, das Rauschen der Scholle, dieses leise Hineinschreiten in die Ewigkeit, wo jede Furche dem Umwenden eines Blattes in der Bibel gleicht. Diese Bezwingung der scheinbaren Unendlichkeit eines Feldes, Streifen um Streifen, Stunde um Stunde. Das schwere Wissen um die Wirrnis des Lebens wird hier leichter, nicht gewußt, nicht erkannt, aber mit jedem Wachsen des dunklen Ackerteiles wächst der Glaube an das Mögliche, sinkt die Furcht vor dem Unmöglichen. Es gibt so etwas, fühlt Johannes, in ein Riesiges zu gehen, daß das Riesige am Abend nicht größer ist als ein Mensch. Und über alles streicht ein freier Wind, Schatten gehen von Wald zu Wald, freier Raum ist um jeden Schritt. Krähen sind dicht hinter dem Pflug, angstlos wie er selbst. Weit kann man sehen, woher jemand kommt, weit, wohin jemand geht. Alle Türen sind auf, aber kein Schatten ist, der sich verbirgt. Es ist wie die Innenfläche von seiner Mutter Hand: das Unbedingte an Gewißheit, Klarheit, Unverstelltheit. Nicht Winkel noch Schatten, nicht Dickicht noch Höhle. Es ist in Wahrheit das Land Ohneangst.

Sie sprechen nicht viel. Es kommt vor, daß Johannes Steine vom Acker trägt. Niemand sagt es ihm, aber er fühlt, daß es gut ist. Die Klarheit nimmt zu, und der kleine Hügel, den er baut, ist ihm wie das Haus seines Tages, das er aufrichtet über seinem Schlaf. »Sie drücken das Land«, sagt er zum Großvater, und dieser nickt ihm schweigend zu.

Wenn das Frühstück kommt oder nachmittags der Kaffee, sitzen sie beide am Ackerrain und sehen auf ihr Werk. Es riecht nach Pferden und Land, und die Elster schwatzt im kleinen Wald. »Es ist ein stilles Jahr«, sagt Johannes vor sich hin. Der Bauer sieht ihn von der Seite an, aber er nickt nur und ist so tief erschrocken wie Gina vor ihrem Kind. Und dann schaffen sie bis zum Abend und gehen heim. Johannes soll die Leine halten, aber er bittet, es nicht tun zu brauchen. Er fühlt eine schreckliche Verantwortung, die er nicht tragen kann. Er hat Steine gesammelt, aber dies ist zuviel für ihn. Und er braucht es auch nicht.

Dann sitzt er eine Weile vor dem Herdfeuer, und die Ähnlichkeit mit seiner Mutter ist fast erschreckend. Margret verwöhnt ihn, und hier geschieht es zuweilen, daß er mit seiner stillen Trauer spielt. Er möchte etwas haben, und es ist fast eine Unmöglichkeit. Es kann etwas ganz Geringes sein, aber es wächst zu einer Flamme des Wunsches, die ihn fast verzehrt. Dann kann er trostlos in das Feuer sehen, trostloser als er ist. Und dann wird das Unmögliche möglich. Niemand merkt, daß er ein wenig spielt, nur er selbst. Es brennt in ihm, Scham, Reue, Zorn, Verachtung, eine dumpf fressende Glut, und dann wird er wirklich trostlos. Er spricht zu niemandem darüber, aber es ist ihm, als habe er zum erstenmal in einen Spiegel gesehen, und er erschrickt wie ein kleines Tier vor der Gleichheit und Fremdheit des zweiten Gesichts.

Nach dem Essen, in der großen, ernsten Stube, sind sie wie zwei Erwachsene zusammen, der Großvater und das Kind. Johannes sitzt auf der Ofenbank, den Kopf an die Kacheln gelehnt, und der Bauer geht auf und ab, die Pfeife in der Hand, und erzählt. Die Geschichte eines Ackers, eines Pferdes, eines Waldes. Er hat nach innen gelebt, und er braucht nur seine Tore aufzumachen. Da liegt seine Ernte, und er sät sie aus. Er ist kein Erzieher, er wählt nicht, unterscheidet und berechnet nicht. Aber was er erzählt, ist wie eine Pflanze, ein Feld, ein Tier, von Gott gemacht, und er stellt es nur hin und tritt selbst daneben. Johannes lauscht, und es fällt in ihn hinein wie Korn in einen Brunnen, der nie zu füllen sein wird. »Nun von Menschen«, sagt er. »Ja, da war einmal ein Mann«, beginnt der Großvater. Er erfindet nichts, auch hier nicht. Er blättert seine Chronik durch und vergißt kein Blatt. Er schüttet in eine Mühle, und er weiß: die Mühle mahlt. Der Wind stößt leise an die Fenster, und im Garten klopfen die Früchte schwer auf den Boden. Es sind reiche Abende für Johannes.

Die Nächte sind noch warm, und die Herde weidet noch auf den Bruchwiesen am Wald. Johannes hat eine leise Unruhe des Mondes. In den hellen Nächten ist sein Schlaf schwer, und seine Augen sind ganz fremd am Morgen. Das Haus bedrückt ihn, das den Mond aussperrt. Und er bittet, zum Bruch gehen zu dürfen. Gina hat bestimmt, daß man ihn tun lassen solle, worum er bitte. Er habe eine andere Weisheit als sie alle, wahrscheinlich eine höhere. Der Bauer ist in Sorgen, aber der Feldweg führt bis zum Bruch, und er sieht, daß das Kind in tiefer Unruhe ist. Auch ist er leise froh, daß es sich nicht zu fürchten scheint.

So geht der kleine Johannes zum Bruch, einen Stab in der Hand und Ledo zur Seite. Der Mond steht wie ein König über der Nacht. Der gepflügte Acker glänzt, und die Steine schimmern blaß aus dem dunkleren Gras. Schatten zerreißen das leuchtende Land, und jeder Schritt klingt weit hinaus bis an den schwarzen Wald. Alles ist streng und hart, aber nichts ist böse. Menschen sind nicht unterwegs, unter den Stoppeln liegen warm die Wohnungen der Verfolgten und Beleidigten, und Johannes tritt leise auf, weil er auf den Schlaf tritt. Man muß durch den kleinen Wald, und dann sieht man die Nebel über dem Bruch, die den Mond gefangen haben, und das Feuer, das der Hirte zum Abend gemacht. Es brennt rot und ernst, es ist das letzte Zeichen des Menschen am Rand der Wälder und der Nacht, und es ist schön, wie es wächst und ihm entgegenkommt wie ein Licht an einem Meer.

Johannes ist des Hirten Freund. Überall ist er ein Freund der Alten und Schweigsamen, und er braucht nichts dazu zu tun. Johannes sagt, daß der Hirt ein Wassermann der Felder sei, und er hat es gut gesehen. Er weiß nicht, daß er die Elemente liebt und von den Menschen nur die, an denen die Elemente geformt haben, bis sie eingegangen sind in sie. Er weiß auch ihre Namen nicht, er hört sie und vergißt sie. Er benennt nicht das Einmalige, sondern das Ewige. Er nennt den Hirten »David«, und beide sind es zufrieden. Er denkt nicht an Goliath und nicht an Urias, er denkt an die Herden auf dem Felde, an das Einsame, das Schweigen der Räume, die Behütung der Hilflosen. Der Körper des Alten ist gebeugt, seine Hände gekrümmt, sein Kleid zerschlissen und rauh. Aber die Sonne war über ihm ein Leben lang, Regen und Wind, Wolke und Stern. Wenn er auf einem Hügel steht, den Stab in der Hand, Wind im Mantel, Raum um sich, ist er ein König für Johannes, groß und allein, der mit niemand spricht als mit dem Tier und Gott.

Er hat ein Reisigdach gebaut, das den Mond nicht versperrt. Davor brennt das Feuer, und er strickt an einem Strumpf. Man sagt, daß Wölfe in den Wäldern seien dieses Jahr, und die Flamme brennt zur Wärme und zum Schutz. Ledos Mutter und Schwester sind da, die Herde ruht, vom Nebel umhüllt, ein fremder Vogel ruft vom Moor, und gewaltig bäumt sich der Wald vor dem Licht. Johannes muß auf das Moos unter dem Dach, aber er liegt so, daß er in das Feuer sieht, den Kopf auf die Hände gestützt. Hinter der Herde ist der Nebel so weiß, daß jede Bewegung mit Schatten von Riesen über die Wände läuft. Die Hunde sind wach, und wenn es im Walde spricht, stehen sie auf und blicken ernst in das Dunkel hinein. Unheimlich ist die Welt, vom Kommenden erfüllt, aber David strickt, und die Flamme steigt ruhig in die windlose Nacht. »Lütt Hannes is to Hus«, sagt der Hirte unter das Dach, und Johannes lächelt in den Trost hinein.

Die Sterne wandern, und der Tau fällt schwer. »Erzähle, David«, sagt das Kind, »vom Wolf und was im Walde lebt …«

Und David erzählt. »Do was en Buer, de gung um bi de Nacht …« Er erzählt seltsame Geschichten, von Dumpfheit und leisem Grauen erfüllt, Geschichten aus dem Nebel, in den er die Herde treibt, aus dem er sie führt, aus einem Leben an Waldrändern, auf Brüchern, in Regentagen, vor verglimmenden Feuern. Werwölfe gehen durch sie, Unterirdische und Umgänger. Aber Gottes Hand ist in ihnen, und eine schlichte Gerechtigkeit wägt ihren Ausgang. Vielleicht sind die Geschichten nicht gut für Johannes, aber David ist gut für ihn, und auch seine gekrümmten Hände weben am künftigen Kleid.

Der Wolf kommt nicht, und Johannes schläft ein. Der Mond scheint auf sein Gesicht, in das die Falte um den Mund sich schmerzlich gräbt. Er fühlt nicht, daß David sich zu ihm legt, daß der Mond versinkt und die Dämmerung kommt. Ein Wolf schreit durch seinen Traum, aber David strickt, und das Feuer brennt. »Lüttje Hannes is to Hus …«

Es ist Winter, und der kleine Johannes liegt mit Ledo vor der offnen Ofentür in seiner Kammer und drischt den Weizen seines Jahres. Er geht rückwärts, Tag für Tag, bis zum ersten Lerchenruf, und sammelt seine Ernte. Er hat ein paar Blätter vor sich, auf die er Tiere und Bäume und Blumen gezeichnet hat, und andere, auf die er etwas geschrieben hat. Niemand kann es lesen, obwohl es Buchstaben sind, aber er weiß, was es ist. Da ist die Geschichte vom Schwarzspecht, der ein Pfarrer war, und die Geschichte von Rulle, der ein Briefträger war und sich die Beine ablief. Da ist die Geschichte von einem traurigen Vogel und die namenlosen Geschichten. Da ist ein Lied Welaruns und eine Klage Jonathans. Da sind Wurzelmänner, die tote Käfer begraben, und eine Haselmaus, die in ihrem Bettlein liegt, mit gefalteten Händen, während ihr Mann die Fensterladen schließt und eine Kerze auf einem kleinen Tische brennt. Und mitunter nimmt er die Flöte und spielt leise in das Feuer hinein, und die ganze Zeit ist sein Gesicht still und rückgewandt und ein einsamer Friede auf seiner Stirn.

Draußen fällt der Schnee, aber Johannes fürchtet ihn. Er will nicht in den Wald, und er fragt Gina, ob das der Tod sei. Es ist ihm nie warm genug, und er meint, sie hätten unter die Erde ziehen sollen, dort wo die junge Saat die Wurzeln ins Warme senkt. In der Ofenecke liegt sein ganzes Jahr, Früchte, Schwämme, Muscheln, Vogelbeeren, ein Kästchen aus Birkenrinde, eine Häherfeder, der Stall und ungezählte Schätze. Er zieht sie in den Feuerschein des Ofens, er dreht die Zeit, und seine Seele wandert leise und glücklich durch das Vergangene wie durch ein erleuchtetes Haus. Der Schlaf der Elemente ist auch sein Schlaf. Er weiß nicht, daß er unter der Erde lebt, daß er gesammelt hat und nun sich nährt, daß dies das Land Ohneangst ist, das die Natur ihm zugedacht. Er ist ein wenig müde, ein wenig dumpf, ein wenig träge. Er hält oft Ginas Hand und bittet sie, in sein Haar zu atmen. Es sei so allein.

»Bist du krank, kleiner Johannes?« fragt sie besorgt.

Aber er schüttelt den Kopf. »Meine Augen frieren zu«, sagt er nachdenklich.

Der Ring des Jahres ist um ihn gewachsen wie um einen Baum. Nichts fällt aus ihm heraus, nichts mehr fällt in ihn hinein. Und bevor Glück und Schmerz des nächsten beginnen, ist Johannes gleich der Stille zwischen dem Eingang und dem Ausgang des Atems, wo das Blut sich füllt und der Schatten des Todes ungewußt zwischen zwei Herzschläge fällt.


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