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Und doch hatte der Bruder kein Wort, nicht einmal einen Gruß bringen können. »Empfiehl mich dem Herrn Baron und deiner Schwester!« das war das Ganze. Warum nicht lieber: »Empfiehl mich der gnädigen Frau?« Das wäre noch eisiger, noch passender gewesen. Eugenie war an den Schreibtisch getreten, und ihr Auge irrte über die Worte des Schriftstückes hin. Auch dort klang alles so kalt, so förmlich, und doch wurde damit der Stab gebrochen über die Zukunft zweier Menschen. Aber Arthur hatte es ja nicht anders gewollt. Er war es, der zuerst das Wort der Trennung aussprach, er, der sich zuerst und rückhaltslos in die Beschleunigung fügte, und als sie zu ihm gekommen war und sich bereit erklärte, noch zu bleiben, da hatte er sich abgewandt und sie gehen heißen. Das Blut stieg wieder heiß empor zu den Schläfen der jungen Frau, und ihre Hand griff nach der Feder. Sie war denn doch Weib genug, um zu wissen, wie ihn diese Unterschrift traf, wenn er auch darauf gefaßt sein mußte; sie verstand es denn doch, auch Blicke zu deuten und unbewachte Momente, in denen er sich verraten hatte; aber daß er Herr über diese Schwäche geblieben war bis zum letzten Augenblick, daß er den Wink nicht verstehen wollte, mit dem sie ihm die Möglichkeit einer Versöhnung gezeigt, daß er Stolz gegen Stolz, Schroffheit gegen Schroffheit setzte, das sollte er büßen und wenn sie selbst zehnfach mitbüßte. – Lieber zwei Menschen unglücklich machen, als bekennen, daß man einmal unrecht gehabt.

Der Dämon des Stolzes bäumte sich wieder in ihr empor mit seiner ganzen verderblichen Macht. Wie oft schon hatte er allen besseren Regungen zum Trotz das Feld behauptet, wenn auch nicht immer zum Segen für sie und andre. Aber heute mischte sich seine Stimme doch mit einer andern. »Arthur wehrt sich wie ein Mann gegen das Unglück, das von allen Seiten auf ihn einstürmt, aber er wird ihm doch zuletzt unterliegen!« Und wenn er unterlag, so erlag er allein, allein wie er in dem ganzen Kampfe gestanden; er hatte keinen Freund, keinen Vertrauten, nicht einen einzigen. Wie sehr ihm auch die Beamten ergeben sein mochten, wie sehr die Fremden ihn jetzt bewunderten, nahe stand ihm keiner; ein Herz hatte keiner für ihn, und die Gattin, deren Platz jetzt an seiner Seite war, sie unterschrieb in diesem Augenblicke das Blatt, in dem sie in möglichster Eile nun auch die Trennung von dem Manne verlangte, den sie bereits verlassen hatte, und der jetzt Tag für Tag mit dem Untergange rang.

Eugenie ließ die Feder fallen und trat vom Schreibtische zurück. Was war denn am Ende Arthurs Schuld gewesen? Er hatte sich gleichgültig, nachlässig gegen eine Frau gezeigt, von der er geglaubt, daß nur die Aussicht auf seinen Reichtum sie zu dieser Konvenienzehe verlockte, und als diese Frau ihn aus seinem Irrtum riß, da trat sie ihm auch zugleich mit einer Verachtung entgegen, die kein Mann erträgt, wenn noch ein Funken von Ehre in ihm ist. Er büßte auch hier die Sünden seines Vaters und hatte sie reichlich gebüßt in dieser kurzen Ehe. Seit jener Unterredung war ihr nichts weiter geschehen, als daß ihr Gatte sich fremd und kalt von ihr zurückzog, aber ihm? Eugenie kannte am besten den wahren Inhalt dieser drei Monate, die ihrer Umgebung nur die ruhige Oberfläche der Gleichgültigkeit gezeigt und die doch Stacheln in sich bargen, genug, um einen Mann bis aufs äußerste zu treiben; man kann mit jedem Blicke, mit jedem Atemzuge beleidigen, und das war hier geschehen. Mit dem ganzen Hochmut ihrer Geburt und ihres Standes hatte sie immer wieder versucht, ihn in die Nichtigkeit und Erbärmlichkeit herabzudrücken, wohin er ihrer Meinung nach gehörte. Tag für Tag hatte sie ihre Waffen gebraucht, und nur um so schonungsloser gebraucht, als sie erst sah, daß er verwundbar war, hatte ihm sein Haus zu einer Folter, seine Ehe zu einem Fluche gemacht, um sich an ihm dafür zu rächen, daß sein Vater gewissenlos an ihrer Familie gehandelt. Sie hatte ihn mit vollster Absichtlichkeit dahin getrieben, daß er zuletzt selbst die Trennung verlangte, weil er das Leben an ihrer Seite nicht mehr ertragen konnte – wenn er sich nun endlich aufbäumte und die Hand von sich stieß, die ihn so oft gequält und gepeinigt, wer war da im Unrecht?

Die junge Frau sprang auf von dem Sessel, auf den sie sich geworfen, und schritt in furchtbarer Erregung auf und nieder, wie um ihren eigenen Gedanken zu entfliehen. Sie wußte nur zu gut, was sie von ihr wollten, wohin sie sie drängten; es gab nur eins, was hier helfen und retten konnte aber das war ja unmöglich, das konnte ja nicht sein. Und wenn sie das ungeheure Opfer ihres ganzen Stolzes brachte, und es wurde nicht so voll und ganz genommen, wie sie es gab: konnte sie sich nicht getäuscht, nicht falsch gelesen haben in diesen Augen, die sich ihr immer nur auf Augenblicke, und auch dann nur widerstrebend entschleierten? Wenn er ihr nun wieder entgegentrat mit jenem Eisesblick, der nach ihrer Berechtigung fragte da, wo jede andre Frau nur ihre Pflicht erfüllte, wenn er ihr aufs neue sagte, daß er allein stehen und fallen wolle, wenn er sie zum zweitenmal gehen hieß – nun und nimmermehr! Eher die Trennung, eher ein ganzes Leben voll Qual und Elend auf sich nehmen, als die Möglichkeit einer solchen Demütigung!

Eugenie ließ die Feder fallen und trat vom Schreibtische zurück. (S. 262.)

Die Abendsonne, die die Wipfel der Bäume drüben vergoldete, war längst gesunken; die Dämmerung senkte sich herab, freilich ohne den heißen, menschenvollen Straßen Stille und Kühlung zu bringen. Da draußen in der schwülen Abendluft summte und wogte es noch immer; unaufhörlich flutete die Menge auf und nieder und Stimmengeräusch und Wagengerassel drang noch immer in wirrem Durcheinander hinauf zu den Fenstern. Aber durch das alles hindurch tönte jetzt etwas andres, erst nur fern, undeutlich, dann immer näher, immer lauter. War es von den grünen Waldbergen hergeflogen und hatte sich seinen Weg gebahnt mitten durch das Brausen der großen, ewig bewegten Residenzwoge bis hin zu der jungen Frau? Was es war, wußte sie nicht, aber es klang wie das Wehen der Tannenzweige, wie das Waldesrauschen mit seinen geheimnisvollen Accorden, und damit erstand in ihr auch wieder das ganze Frühlingsahnen, das ganze schmerzlich-süße Weh jener Minuten. Der Nebel wallte wieder, und der Sturm brauste, und die Bäche rauschten, und aus den grauen Schleiern hervor trat klar und deutlich nur die eine Gestalt, die seitdem nicht wieder von ihr gewichen war im Wachen und Träumen, und schaute sie so ernst und vorwurfsvoll an mit den großen braunen Augen. Wer nur einmal den Kampf durchgekämpft hat, wo sich alle Seelenkräfte entspannen im Ringen eines werdenden Entschlusses, der kennt auch solche Erinnerungen, die auf einmal kommen und da sind, ohne irgend eine äußere Beziehung oder Anregung, aber mit einer Allmacht, der nichts widersteht. Auch Eugenie fühlte sich jetzt umweht von ihnen, fühlte, wie ihr eine Waffe nach der andern aus der Hand, ein Stachel nach dem andern aus dem Herzen gewunden wurde, bis zuletzt nichts mehr zurückblieb, nichts als die Macht jener Stunde, in der sie zum erstenmal empfunden, daß der Haß zu Ende war und an seiner Stelle etwas Neues auflebte, gegen das sie gestritten hatte auf Leben und Tod, und dem sie jetzt dennoch erlag. Es war ein kurzer letzter Kampf zwischen dem alten Dämon, dem herben Stolz, der die einmal empfangene Abweisung nicht verzeihen konnte, und dem Herzen einer Frau, die sich trotz alledem geliebt wußte; aber die Waldesstimme hatte diesmal nicht umsonst gesprochen; sie behielt doch zuletzt den Sieg. Das Blatt, das zwei Menschen trennen sollte, die geschworen hatten, einander auf ewig anzugehören, lag zerrissen am Boden, und die junge Frau lag auf den Knieen, das von heißen Thränen überströmte Antlitz emporgerichtet.

»Ich kann nicht! Ich kann ihm und mir das nicht anthun; es trifft uns beide – komme was da will, Arthur, ich bleibe bei dir!« – – –

»Wo ist Eugenie?« fragte der Baron, als er eine Stunde darauf in den erleuchteten Salon trat, wo sich seine Söhne bereits befanden. »Hat man der gnädigen Frau nicht gemeldet, daß wir sie erwarten?« fuhr er, zum Diener gewendet, fort, der soeben den Theetisch in Bereitschaft gesetzt hatte und jetzt im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen.

Kurt kam der Antwort zuvor. »Eugenie ist nicht zu Hause, Papa,« sagte er, indem er dem Bedienten winkte, sich zu entfernen.

»Nicht zu Hause?« wiederholte der Baron erstaunt. »So spät noch ausgefahren und wohin?«

Kurt zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Ich war unmittelbar, nachdem ich vom Pferde gestiegen, in ihren Zimmern, fand sie aber nicht mehr dort; dagegen fand ich das auf dem Fußboden.«

Er zog ein Blatt hervor, und um die Lippen des jungen Offiziers zuckte es ganz eigentümlich, während er sich anscheinend mit dem größten Ernste bemühte, die beiden Hälften möglichst genau zusammengepaßt vor den Vater hinzulegen, der darauf niedersah, ohne irgend etwas zu begreifen.

»Das ist ja der Entwurf des Scheidungsantrages von der Hand des Justizrates, das Blatt, das ich Eugenie zur Unterschrift übergab; sie fehlt aber noch immer, wie ich sehe.«

»Nein, unterschrieben ist das Ding nicht,« meinte Kurt mit der unschuldigsten Miene von der Welt, »aber mitten durchgerissen. Merkwürdig! Sieh nur her, Papa!«

»Was soll das heißen?« fragte Windeg im höchsten Grade befremdet. »Wo kann Eugenie sein? Ich werde die Diener fragen; wenn sie wirklich ausgefahren ist, so müssen sie doch wissen, wohin der Wagen beordert wurde.«

Er wollte die Hand an die Klingel legen, aber schnell ergriff sein Sohn das Wort. »Ich glaube, Papa, sie ist zu ihrem Manne gegangen!« sagte er sehr ruhig.

»Bist du von Sinnen, Kurt?« fuhr der Baron auf. »Eugenie zu ihrem Manne?«

»Nun, ich vermute das nur so, und wir werden wohl auch bald Gewißheit darüber erhalten, denn auf ihrem Schreibtische lag dieses Billet, an dich adressiert. Ich habe es mit herübergenommen; es enthält jedenfalls eine Benachrichtigung.«

Windeg riß das Couvert ab und bemerkte in seiner Hast gar nicht, wie Kurt die Etikette so weit verletzte, daß er sich erlaubte, hinter ihn zu treten und über seine Schulter weg mitzulesen. Die Züge des jungen Offiziers zeigten aber dabei einen so unverkennbaren Triumph, daß seine beiden jüngeren Brüder, die nichts von der Szene verstanden, erschreckt und fragend bald auf ihn, bald auf den Vater blickten.

Das Billet enthielt nur wenige Zeilen: »Ich gehe zu meinem Manne! Verzeih, Papa, daß ich so plötzlich, so heimlich abreise, aber ich will keine Stunde verlieren und ich will nicht erst deinen Widerstand herausfordern, den ich doch brechen müßte; denn mein Entschluß steht fest. Thue keinen Schritt weiter in der Scheidungsangelegenheit, widerrufe die schon geschehenen! Ich versage meine Einwilligung dazu, ich verlasse Arthur nicht! Eugenie.«

»Ist so etwas je erhört worden?« brach der Baron jetzt aus, indem er den Brief sinken ließ. »Ein Widerruf, eine förmliche Flucht aus meinem Hause, und das wagt meine Tochter mir zu bieten! So entreißt sie sich meinem Schutze, all meinen Plänen und Zukunftshoffnungen für sie und kehrt zu diesem Berkow zurück, jetzt, wo er nahe am Ruine steht, geht zu ihm, mitten unter die empörten Arbeiter, unter die Anarchie auf seinen Gütern; das grenzt ja nahezu an Wahnsinn! Was ist da vorgefallen? Ich muß es wissen, aber zuerst muß dieser unsinnige Entschluß vereitelt werden, so lange es noch Zeit ist. Ich werde augenblicklich –«

»Der Eilzug nach M. ist schon seit einer halben Stunde fort, Papa,« unterbrach ihn Kurt. »Und eben scheint auch der Wagen vom Bahnhof zurückzukommen. Es ist jedenfalls zu spät.«

In der That hörte man soeben den Wagen, dessen sich die junge Frau ohne Zweifel bedient hatte, unten in das Portal einfahren. Der Baron sah jetzt auch ein, daß es zu spät war, und nun wendete sich sein ganzer Zorn gegen seinen Sohn. Er warf ihm vor, allein an allem schuld zu sein; er habe durch seine thörichte Bewunderung für den Schwager, durch seine übertriebenen Berichte von dessen Lage Eugenies Gewissen aufgestachelt, bis ein falsches Pflichtgefühl sie antrieb, an die Seite ihres Gatten zu eilen, nur weil sie ihn unglücklich glaubte, und war sie erst dort, wer konnte da wissen, ob es nicht am Ende zu einer vollständigen Aussöhnung kam, wenn Berkow egoistisch genug war, das ihm gebotene Opfer anzunehmen. Aber Windeg vermaß sich hoch und teuer, die Scheidung trotz alledem doch durchzusetzen. Die Sache war einmal eingeleitet; der Justizrat hatte sie bereits in Händen, und Eugenie sollte und mußte zur Vernunft zurückkehren. Er, der Baron, wollte doch einmal sehen, ob er seine väterliche Autorität nicht mehr geltend machen könne, wenn auch zwei seiner Kinder – hier traf ein niederschmetternder Blick den armen Kurt, der augenblicklich allein zur Stelle war – sie so gänzlich zu mißachten schienen.

Kurt ließ den ganzen Sturm über sich ergehen, ohne sich mit einer Silbe zu verteidigen: er wußte aus Erfahrung, daß dies das beste Mittel sei. Mit tiefgesenktem Kopfe und niedergeschlagenem Blicke schien er in der That außerordentliche Reue zu empfinden über seinen Leichtsinn und über das Unheil, das er damit angerichtet. Als aber der Baron, noch immer ganz außer sich, den Salon verließ, um in seinen eigenen Zimmern über die unerhörte Geschichte weiter zu grollen, schnellte der junge Offizier plötzlich in die Höhe, und der übermütige Ausdruck seines hübschen Gesichtes, die lachenden Augen gaben leider den Beweis, wie wenig ihm der väterliche Zorn zu Herzen gegangen war.

»Morgen früh ist Eugenie bei ihrem Manne!« sagte er zu seinen beiden Brüdern, die jetzt mit Fragen und Vorwürfen auf ihn einstürmten. »Und da soll Papa es einmal versuchen, mit seiner väterlichen Autorität und seinem Rechtsanwalt dazwischen zu kommen! Arthur wird sich seine Frau schon sichern, wenn er nur erst weiß, daß sie ihm gehört; bisher wußte er das noch nicht. Wir freilich,« – hier warf Kurt einen etwas bedenklichen Blick auf die Thür, hinter der sein Vater verschwunden war – »wir werden wohl noch acht Tage lang Sturm haben, und der allerärgste kommt noch, wenn Papa erst merkt, wie es eigentlich zwischen den beiden steht, und daß da von etwas ganz andrem die Rede ist als bloß von Gewissen und Pflichtgefühl; aber dafür bekommt Arthur jetzt vollen Sonnenschein, und damit und mit Eugenie an der Seite wird er sich schon durchschlagen. Den Scheidungsprozeß sind wir nun Gott sei Dank los, inklusive Gerichte und Justizräte – und wer von euch mir jetzt noch ein einziges Wort gegen meinen Schwager sagt, dem werde ich darauf antworten!«

Es war in den ersten Vormittagsstunden des nächsten Tages, als der Wagen, der soeben den Weg von M. nach den Berkowschen Besitzungen zurückgelegt hatte, am Eingange des Thales Halt machte, in dem die Werke lagen, deren erste Häuser man bereits in unmittelbarer Entfernung vor sich sah.

»Thun Sie das nicht, gnädige Frau!« sagte der Kutscher, in das Innere des Wagens hineinsprechend. »Kehren Sie lieber um mit mir, wie ich Sie schon auf der letzten Station bat. Schon dort habe ich's gehört, und der Bauer, der uns soeben begegnete, sagte es auch. Es gibt heute Mord und Totschlag da drüben auf den Werken; von den Arbeiterdörfern sind sie heute schon in aller Frühe hinübergezogen, und nun geht es drunter und drüber. Ich kann Sie beim besten Willen nicht nach dem Hause fahren; ich riskiere Pferde und Wagen dabei. Wenn die drüben einmal im Revoltieren sind, dann schonen sie nicht Freund, nicht Feind. Sie werden doch nicht just heute hinüber müssen; warten Sie doch bis morgen!«

Die junge Dame, welche ganz allein im Wagen saß, öffnete statt aller Antwort den Schlag und stieg aus.

»Ich kann nicht warten,« sagte sie ernst; »aber ich will Sie und Ihr Fuhrwerk auch nicht in Gefahr bringen. Die Viertelstunde werde ich wohl zu Fuß zurücklegen können. Kehren Sie um!«

Der Kutscher erschöpfte sich noch einmal in Warnungen und Vorstellungen; er fand es gar zu seltsam, daß die fremde, vornehm aussehende Dame, die ihn mit einem überreichlichen Trinkgelde zu möglichst schneller Fahrt bewogen hatte, sich so ganz allein in den Tumult wagen wollte; aber er erreichte nichts damit, als einen ungeduldigen Abschiedswink, und mußte sich endlich achselzuckend zur Umkehr entschließen.

Eugenie hatte einen Fußpfad betreten, der, ohne die Werke selbst zu berühren, über die Wiesen nach dem Ausgange des Parkes führte und der voraussichtlich noch sicher war. Im schlimmsten Falle fand sie in den nach jener Richtung hin gelegenen Beamtenwohnungen Schutz und Begleitung. Wie notwendig hier beides war, hatte sie freilich nicht gewußt, als sie, nur der Eingebung des Augenblickes folgend, ganz allein die Reise und die Fahrt hierher unternahm, und auch jetzt kannte sie noch nicht den ganzen Umfang der Gefahr, der sie sich mit diesem Gange aussetzte. Die Möglichkeit einer Gefahr war es nicht, die ihren Wangen diese erhöhte Farbe, ihren Augen dieses unruhige Leuchten gab und ihre Brust so heftig pochen machte, daß sie bisweilen stehen bleiben mußte, um Atem zu schöpfen; es war die Furcht vor der Entscheidung. Der schwere Traum, der sich auf sie niedergesenkt, als sie das Haus ihres Gatten verließ, er hatte nicht weichen wollen wahrend der ganzen Zeit der Trennung. Nicht die Heimat und die Liebe der Ihrigen, nicht all die Stimmen eines neuen Lebens und Glückes hatten sie daraus erwecken können; der Traum war geblieben mit seinem dumpfen Schmerz und seinem dunklen Sehnen. Jetzt endlich sollte das Erwachen kommen, und alle Empfindungen, alle Gedanken der jungen Frau drängten sich zusammen in der einen Frage: »Wie wird er dich empfangen?«

Sie hatte soeben ein kleines einzelnstehendes Haus erreicht, das gleichsam den äußersten Vorposten der Werke bildete, als ihr von dort her eilig ein Mann entgegenkam, der bei ihrem Anblick mit dem Ausdrucke sichtbaren Schreckens zurückfuhr.

»Gnädige Frau! Um Gottes willen, wie kommen Sie hierher, und das gerade heute?«

»Ah, Schichtmeister Hartmann, Sie sind es!« sagte Eugenie ihm entgegentretend. »Gott sei Dank, daß ich gerade Ihnen begegne! Es sind Unruhen auf den Werken ausgebrochen, wie ich höre. Ich habe meinen Wagen dort drüben gelassen; der Kutscher wagte nicht weiterzufahren. Ich will jetzt zu Fuß hinüber nach dem Hause.«

Der Schichtmeister machte eine heftig abwehrende Bewegung.

»Das können Sie nicht, gnädige Frau; das geht jetzt nicht. Vielleicht morgen, vielleicht gegen Abend, nur jetzt nicht.«

»Weshalb nicht?« fuhr Eugenie erbleichend auf. »Ist unser Haus bedroht? Mein Gatte –«

»Nein, nein, Herrn Berkow gilt es heute nicht; der ist im Hause mit den Beamten. Diesmal ist's unter uns selber losgebrochen. Ein Teil der Knappschaft hat heute morgen die Arbeit wieder aufnehmen wollen; mein Sohn« – hier zuckte es schmerzlich über das Gesicht des alten Mannes – »nun, Sie werden ja am Ende auch wissen, wie er zu der Geschichte steht – Ulrich wütet darüber. Er und sein Anhang haben die Leute mit Gewalt zuürckgetrieben und halten nun die Schachte besetzt. Die andern wollen sich das nicht gefallen lassen und rotten sich nun auch zusammen; die ganzen Werke sind in Aufruhr, ein Kamerad ist gegen den andern! O du barmherziger Gott, was wird das noch geben!«

Der Schichtmeister rang die Hände. Die junge Frau vernahm jetzt von drüben her wüstes Lärmen und Toben, das trotz der Entfernung deutlich zu ihr herüberdrang.

»Ich beabsichtige auch die Werke zu vermeiden,« entgegnete Eugenie. »Ich wollte über die Wiesen nach dem Parke zu gelangen suchen und von dort –«

»Ums Himmels willen, nur da nicht!« fiel der Alte ein. »Da ist Ulrich mit seiner ganzen Partei; sie halten Rat auf der Wiese, ich wollte eben hinüber und ihn noch einmal bitten, doch endlich Vernunft anzunehmen und wenigstens die Schachte freizugeben; es geht ja jetzt gegen unser eigenes Fleisch und Blut; aber er hört und sieht nichts mehr in seiner Wildheit. Nur den Weg nicht, gnädige Frau! Der ist der schlimmste.«

»Nach dem Hause muß ich,« erklärte Eugenie entschlossen, »koste es, was es wolle! Gehen Sie mit mir, Hartmann, nur bis zu den Beamtenwohnungen! Im schlimmsten Falle bleibe ich dort, bis der Weg wieder frei ist, und an Ihrer Seite werde ich doch wohl vor thätlichen Angriffen sicher sein.«

Der alte Mann schüttelte mit bekümmerter Miene den Kopf. »Ich kann Ihnen da nicht helfen, gnädige Frau. Heute, wo einer gegen den andern steht, bin ich kaum selbst meines Lebens sicher in all dem Toben, und wenn Sie nun gar erkannt werden, dann nutzt es wenig, wenn ich an Ihrer Seite bin. Jetzt gibt es nur einen, der sich allenfalls noch Respekt verschaffen kann, dem sie zur Not noch gehorchen, meinen Ulrich, und der haßt Herrn Berkow bis aufs Blut und haßt Sie, weil Sie seine Frau sind. – Gerechter Gott, da kommt er!« unterbrach er sich auf einmal. »Es hat wieder etwas Arges gegeben; ich sehe es an seinem Gesichte. Gehen Sie ihm aus den Augen, nur jetzt, ich bitte Sie!«

Er drängte die junge Frau in die halboffene Flur des Häuschens, und in der That ließen sich auch schon in unmittelbarer Nähe Schritte und laute heftige Stimmen vernehmen. Von Lorenz und einigen andern Bergleuten begleitet, kam Ulrich heran, ohne den Vater zu bemerken. Sein Gesicht war flammend gerötet; auf seiner Stirn lag wieder die Wetterwolke, die jeden Augenblick loszubrechen drohte, und seine Stimme klang in wildester Erregung.

»Und wenn es unsre Kameraden, und wenn es unsre Brüder sind – nieder mit ihnen, sobald sie zu Verrätern an uns werden! Wir haben uns das Wort gegeben, zusammenzustehen einer für den andern, und jetzt kriechen sie feig zum Kreuze und geben uns und die ganze Sache Preis! Das soll ihnen vergolten werden. Habt ihr die Schachte besetzt?«

»Ja, aber –«

»Kein Aber!« herrschte der junge Führer dem Bergmanne zu, der sich den Einwand erlaubt hatte. »Das fehlte noch, Verrat in unsern Reihen, jetzt, wo wir nahe dem Siege stehen! Sie werden mit Gewalt zurückgetrieben, sage ich euch, sobald sie es noch einmal versuchen, anzufahren. Sie sollen begreifen, wo jetzt ihr Platz und ihre Pflicht ist, und müßten sie es auch mit blutigen Köpfen lernen!«

»Es sind aber ihrer zweihundert,« sagte Lorenz ernst. »Morgen werden es vierhundert sein, und wenn sich der Herr erst einmischt und zu ihnen redet – du weißt doch, wie das wirkt. Wir haben es oft genug erfahren in der letzten Zeit.«

»Und wären es vierhundert,« brauste Ulrich auf, »und wäre es die Hälfte der ganzen Knappschaft, wir zwingen sie mit der andern Hälfte. Ich will doch sehen, ob ich mir nicht mehr Gehorsam schaffen kann; aber jetzt vorwärts! Karl, du mußt nach den Werken hinüber; bringe mir Nachricht, ob Berkow sich nicht etwa einmischt, ob er mit seiner verdammten Art zu reden uns nicht wieder Hunderte abtrünnig macht. Ihr andern zurück nach den Schachten! Seht zu, ob sie hinreichend abgesperrt sind, und laßt keinen heran, der nicht zu uns gehört; ich komme gleich selbst nach – fort!«

Der Befehl wurde augenblicklich ausgeführt. Die Bergleute eilten in den angewiesenen Richtungen davon, und Ulrich, der jetzt erst seines Vaters ansichtig ward, ging hastig auf denselben zu.

»Du hier, Vater? Du solltest doch lieber –« Er hielt plötzlich inne. Der Fuß wurzelte am Boden; das eben noch so heiß gerötete Gesicht wurde weiß, als sei jeder Blutstropfen daraus gewichen, und die Augen öffneten sich so weit und starr, als sehe er ein Gespenst vor sich. Eugenie war aus der Hausflur hervorgetreten und stand ihm gerade gegenüber.

In dem Kopfe der jungen Frau war ein Gedanke aufgeblitzt, der auch in demselben Moment schon ausgeführt wurde. Sie dachte nicht an die Kühnheit, ja an die Gefahr ihres Wagnisses; sie wollte zu ihrem Gatten um jeden Preis, und da galt es, das Grauen zu überwinden, das sie vor jenem Manne dort empfand, seit sie wußte, worauf sich ihre Macht über ihn gründete; da galt es, einzig diese Macht zu gebrauchen, deren Wirkung sie so oft schon erprobt hatte.

»Ich bin es, Hartmann,« sagte sie, ein unwillkürliches Beben bemeisternd und anscheinend mit vollkommener Ruhe. »Ihr Vater warnte mich soeben, den Weg allein fortzusetzen, und doch muß ich vorwärts.« Erst bei dem Klange ihrer Stimme schien Ulrich zu begreifen, daß es wirklich Eugenie Berkow war, die da vor ihm stand, und nicht bloß ein Gebilde seiner erhitzten Phantasie. Er that stürmisch einige Schritte gegen sie; aber Eugenies Ton und Blick übten doch noch die alte Gewalt über ihn aus; es legte sich wie ein Schimmer von Ruhe und Milde über seine Züge.

»Was wollen Sie hier, gnädige Frau?« fragte er unruhig; aber der eben noch so herrisch rauhe Ton war verändert. Er hatte fast einen Anflug von Weichheit. »Es geht heute schlimm zu bei uns; das ist nichts für Frauen, am wenigsten für Sie. Sie dürfen hier nicht bleiben.«

»Ich will zu meinem Manne!« sagte Eugenie rasch.

»Zu – Ihrem Manne?« wiederholte Ulrich. »So?«

Es war das erste Mal, daß die junge Frau diese Bezeichnung gebrauchte; sie hatte sonst immer nur von Herrn Berkow oder ihrem Gemahl gesprochen, und Ulrich schien zu ahnen, was in diesem einen Worte lag. In der ersten Ueberraschung hatte er wohl nicht daran gedacht, wie sie so plötzlich hierher kam und weshalb es möglicherweise geschehe; jetzt warf er einen schnellen Blick auf ihre Reisekleidung und einen zweiten umher, wie um den Wagen oder die Begleitung zu suchen.

»Ich bin allein,« erklärte Eugenie, die diesen Blick auffing, »und eben das verbietet mir die Fortsetzung des Weges. Ich fürchte nicht die Gefahren, wohl aber die Beleidigungen, denen ich ausgesetzt sein könnte. Sie haben mir einst Ihren Schutz und Ihre Begleitung angeboten, Hartmann, wo ich dessen nicht bedurfte; jetzt nehme ich beides in Anspruch. Führen Sie mich sicher nach dem Hause gegenüber! Sie können es.«

Der Schichtmeister hatte bisher angstvoll beiseite gestanden; er erwartete jeden Augenblick einen Angriff seines Sohnes gegen die Gemahlin des so sehr gehaßten Chefs und war bereit, sich im Notfalle dazwischen zu werfen. Er konnte die Ruhe und Sicherheit der jungen Frau einem Manne gegenüber nicht begreifen, den sie doch so gut wie alle Welt als den eigentlichen Anstifter des ganzen Aufruhrs kannte; als sie aber gar nun dies Verlangen an ihn stellte, sich seinem Schutze anvertrauen wollte, da verließ den alten Mann die Fassungskraft; er schaute förmlich entsetzt auf sie hin.

Aber auch Ulrich war furchtbar gereizt durch diese Zumutung. Der flüchtige Schimmer von Milde und Nachgiebigkeit war bereits wieder verschwunden und der alte herrische Trotz zurückgekommen.

»Ich soll Sie hinüberführen?« fragte er mit dumpfer Stimme. »Und von mir verlangen Sie das, gnädige Frau, von mir?«

»Von Ihnen!« Eugenie ließ das Auge nicht von seinem Gesichte. Sie wußte, daß darin ihre ganze Macht lag; aber hier schien sie denn doch an der Grenze derselben zu stehen. Ulrich fuhr auf wie ein Rasender.

»Nun und nimmermehr! Eher lasse ich das Haus stürmen, lasse alles in Grund und Boden reißen, ehe ich Sie hinüberbringe. Er da drüben soll wohl Mut bekommen zum äußersten Widerstande, wenn er Sie erst an der Seite hat? Er soll wohl triumphieren, wenn er sieht, daß Sie ganz allein aus der Residenz herreisen und mitten durch den Aufruhr zu ihm wollen, nur um ihn nicht allein zu lassen! Aber dazu suchen Sie sich doch einen andern Führer, und fände sich der andre,« – hier streifte ein drohender Seitenblick den Vater – »er käme nicht weit mit Ihnen, dafür sorge ich.«

»Ulrich, um Gottes willen, bezähme dich, es ist eine Frau!« rief der Schichtmeister, in Todesangst dazwischen tretend. Er sah in dieser Szene natürlich nur den Ausbruch einer schonungslosen Feindseligkeit, die sein Sohn schon lange gegen die ganze Berkowsche Familie genährt, und deshalb stellte er sich wie zum Schutze vor die junge Frau, die ihn leise, aber entschieden zurückdrängte.

»Sie wollen mich also nicht begleiten, Hartmann?«

»Nein, und zehnmal nein!«

»Nun denn, so gehe ich allein!«

Sie wandte sich nach der Richtung des Parkes hin; aber mit zwei Schritten hatte Ulrich sie erreicht und stellte sich ihr in den Weg.

»Zurück, gnädige Frau! Sie kommen nicht durch, sage ich Ihnen, am wenigsten da, wo meine Kameraden sind. Ob Frau oder nicht, das gilt ihnen jetzt gleich. Sie heißen Berkow und das genügt ihnen. Sobald Sie erkannt werden, stürzt sich alles gegen Sie. Hinüber können Sie jetzt nicht und hinüber sollen Sie auch nicht. Sie bleiben hier!«

Es war ein drohender Befehl, den er ihr mit den letzten Worten zuschleuderte, aber Eugenie war nicht gewohnt, sich befehlen zu lassen, und die fast wahnsinnige Heftigkeit, mit der er sich bemühte, sie von Arthur fernzuhalten, rief eine namenlose Angst in ihr wach, es könnte schlimmer um ihn stehen, als man sie erraten ließ.

»Ich will zu meinem Manne!« wiederholte sie mit voller Energie. »Ich will doch sehen, ob man mir mit Gewalt den Weg zu ihm versperrt. Lassen Sie Ihre Kameraden sich an einer Frau vergreifen! Geben Sie selbst das Zeichen zum Angriff, wenn Sie die Heldenthat auf sich nehmen wollen! Ich gehe!«

Und sie ging wirklich; sie eilte an ihm vorüber und betrat den Wiesenpfad. Hartmann stand da und sah ihr mit glühenden Augen nach, ohne auf die Bitten und Vorstellungen seines Vaters zu hören; er wußte besser als dieser, was die junge Frau mit diesem Wagnis beabsichtigte, wozu sie ihn damit zwingen wollte, aber er wollte diesmal dem Zwange nicht weichen. Und wenn sie zu Grunde ging an der Schwelle ihres Hauses, im Angesichte ihres Gatten, ehe er sie selbst in die Arme des Gehaßten führte, ehe – da erschien drüben eine Schar von Bergleuten, die lärmend und tobend ihrem Führer nachzogen. Die Vordersten waren nur noch einige hundert Schritt weit entfernt; schon fiel die einzelne Frauengestalt ihnen auf; in der nächsten Minute mußte sie erkannt werden, und er selbst hatte die Leute noch vor einer halben Stunde bis zur blinden Wut aufgestachelt gegen alles, was den Namen Berkow trug. Eugenie ging vorwärts, gerade der Gefahr entgegen, ohne auch nur das Gesicht zu verbergen – wie außer sich stampfte Ulrich mit dem Fuße; dann auf einmal riß er sich los vom Vater und war im nächsten Augenblicke an ihrer Seite.

»Lassen Sie den Schleier herunter!« gebot er, und dabei legte sich seine Hand mit eisernem Druck um die ihrige.

Eugenie gehorchte tief aufatmend; jetzt war sie sicher. Sie wußte, daß er die Hand nicht wieder loslassen werde, und wenn die ganze Knappschaft der Werke jetzt gegen sie anstürmte. Mit vollem Bewußtsein war sie der Gefahr entgegengegangen, aber auch in der vollen Ueberzeugung, daß nur diese augenscheinliche Gefahr, in die sie sich begab, ihr den versagten Schutz erzwingen konnte. Sie hatte gesiegt, aber es war auch die höchste Zeit gewesen.

Sie erreichten jetzt die Schar, die sofort Miene machte, ihren Führer zu umringen und in die Mitte zu nehmen; aber ein kurzer, doch mit vollem Nachdruck gegebener Befehl desselben hieß sie Platz machen und wies sie gleichfalls nach den Schachten hinüber. Wie vorhin ihre Kameraden, gehorchten auch sie sofort, und Ulrich, der nicht einen Augenblick Halt gemacht hatte, zog seine Begleiterin mit sich fort, die jetzt erst sah, wie unmöglich es gewesen wäre, hier allein durchzukommen, oder auch nur mit einem andern Schutze als dem, den sie an der Seite hatte.

Die ganzen sonst so stillen Wiesenflächen waren heute der Schauplatz eines wogenden Tumultes, obgleich der eigentliche Streit drüben bei den Schachten stattgefunden hatte. Die Bergleute zogen in hellen Haufen umher oder standen dicht geschart bei einander – überall wildbewegte Gruppen, überall zornige Gesichter, drohende Gebärden, überall Geschrei, Toben und Lärmen. Die wilde Aufregung schien nur nach einem Gegenstande zu suchen, um sich sofort in rohen Gewaltthätigkeiten Luft zu machen. Der Fußweg führte zum Glücke am Rande der Wiese entlang, wo der Tumult verhältnismäßig schwächer war, aber auch hier war Ulrich, sobald er sich nur zeigte, sofort Gegenstand und Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller. Doch in die lärmenden Rufe, mit denen man ihn überall begrüßte, mischte sich diesmal ein eigentümliches Befremden. Ein Heer von erstaunten, mißtrauischen, argwöhnischen Blicken richtete sich auf die Frauengestalt an seiner Seite. In dem dunklen Reisemantel und hinter dem dichten Schleier erkannte freilich niemand die Gemahlin des Chefs, und hätte einer auch den Gang oder die Haltung erkannt, die Vermutung wäre mit Hohnlachen zurückgewiesen worden. Es war ja Ulrich Hartmann, der sie schützend führte, und der schützte sicher nichts, was zum Berkowschen Hause gehörte; aber es war doch immer eine Dame, die da neben ihm ging, neben dem schroffen, wilden Sohne des Schichtmeisters, der sich sonst nie um Frauen kümmerte, nicht einmal um Martha Ewers, um die sich doch jeder Ledige auf den Werken zu kümmern pflegte. Ulrich, der die Frauen seiner eigenen Kameraden bei solchen Gelegenheiten, wie die heutige, als eine überflüssige Last betrachtete und behandelte, die man so viel als möglich abschütteln müsse, er geleitete diese Fremde mit einem Ausdruck im Gesichte, als werde er jeden niederschlagen, der ihr auch nur einen Schritt zu nahe komme. Wer war das? und was sollte das heißen?

Der kurze, kaum zehn Minuten dauernde Gang war ein Wagnis selbst für den jungen Führer, aber er zeigte, daß er hier wenigstens noch unumschränkter Herr war und seine Herrschaft zu gebrauchen wußte. Bald sprengte er hier mit einigen gebieterischen Worten eine Gruppe, die ihm im Wege stand, bald warf er dort Befehle oder Anordnungen in einen herandrängenden Haufen, der diesem sofort eine andre Richtung gab; dann wieder herrschte er einzelnen, die ihm mit Fragen oder Berichten nahen wollten, ein »Später« oder »Ich komme wieder« zu und dabei zog er die junge Frau unaufhaltsam und so schnell mit sich fort, daß bei diesem Vorübereilen jede Entdeckung und jeder Aufenthalt ausgeschlossen wurde. Endlich hatten sie den Park erreicht, der hier an seinem Ausgange nur durch eine hölzerne Gitterthür geschlossen war. Ulrich stieß sie auf und trat mit ihr in den Schutz der Bäume.

»Jetzt ist's genug!« sagte er, ihre Hand loslassend. »Der Park ist noch sicher, und in fünf Minuten sind Sie am Hause.«

Eugenie bebte noch leise von der überstandenen Gefahr und ihre Hand schmerzte noch von dem eisernen Drucke der seinigen; langsam schlug sie den Schleier zurück.

»Machen Sie nur schnell, gnädige Frau!« fuhr der junge Bergmann mit bitterem Hohne fort. »Ich habe ja redlich dazu mitgeholfen, daß Sie Ihren Mann wiedersehen. Sie werden ihn doch nicht warten lassen?«

Eugenie sah auf zu ihm. Sein Gesicht verriet, welche Folter sie ihm auferlegt hatte, als sie ihm nur die Wahl ließ, entweder einen Angriff auf sie zu dulden, oder sie selbst ihrem Gatten zuzuführen. Die junge Frau hatte nicht den Mut, zu danken; sie streckte ihm nur wortlos die Hand hin.

Aber Ulrich stieß die Hand zurück. »Sie haben mir viel zugemutet, gnädige Frau, so viel, daß es um ein Haar mißglückt wäre. Jetzt haben Sie Ihren Willen, aber versuchen Sie es nicht, mich noch einmal so zu zwingen wie heute, am wenigsten, wenn er dabei ist – denn – dann – bei Gott, dann gebe ich euch beide preis!« –

Auf der vorderen Terrasse standen die beiden Diener Franz und Anton, mit ängstlichen und doch zugleich neugierigen Gesichtern nach den Werken hinüberschauend, aber sie fuhren nicht weniger erschreckt zurück, wie vorhin der Schichtmeister, als ihre gnädige Frau, die doch in der Residenz sein mußte, urplötzlich vor ihnen stand, ohne daß sie auch nur einen Wagen gehört hatten, oder das Kammermädchen oder sonst jemand in ihrer Begleitung sahen. Durch die Werke konnte die junge Herrin doch unmöglich gekommen sein, noch weniger durch den Park, denn dort hinten auf den Wiesen ging es ja fast noch ärger zu, und doch war sie jetzt hier. Die beiden Leute waren so bestürzt, daß sie kaum auf die ihnen hastig vorgelegte Frage antworten konnten, indes erfuhr Eugenie doch, daß Herr Berkow sich augenblicklich noch im Hause befand, und nun eilte sie rasch die Treppe hinauf. Franz, der ihr gefolgt war, fand noch mehr Gelegenheit, sich über die gnädige Frau zu wundern, denn diese duldete es kaum, daß er ihr oben im Vorzimmer Hut und Mantel abnahm, befahl ihm zu bleiben, als er mit der Meldung ihrer Ankunft nach dem Flügel hinübereilen wollte, den der Herr bewohnte, und erklärte, sie werde selbst sofort ihren Gemahl aufsuchen. Der Diener stand da, den Mantel noch in den Händen, und sah ihr mit offenem Munde nach. Das ging ja alles wie im Sturmwinde, was konnte es denn nur in der Residenz gegeben haben.


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