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Martha trat rasch zurück, ihre roten Lippen warfen sich jetzt auch trotzig auf und der feuchte Schimmer in ihrem Auge war wohl mehr eine Thräne des Zornes als der Kränkung bei diesem unfreundlichen Bescheide. Ulrich bemerkte das nicht oder achtete nicht darauf, wie er sich denn überhaupt nicht viel um sie zu kümmern schien. Ohne ein Wort weiter zu verlieren, wandte ihm das Mädchen den Rücken und ging hinüber nach der andern Seite. Die Augen des jungen Bergmannes, der vorhin bei der Fahne hatte helfen wollen, folgten ihr unverwandt, er hätte augenscheinlich viel darum gegeben, wenn die Aufforderung an ihn gerichtet gewesen wäre, er hätte sie sicher nicht so gleichgültig zurückgewiesen.

Der Schichtmeister war inzwischen wieder herunter gekommen und betrachtete eben mit großer Befriedigung sein Werk, als vom Hügel drüben der erste Böllerschuß krachte, dem in kurzen Zwischenräumen ein zweiter und ein dritter folgte. Dies Zeichen von der endlichen Ankunft der Erwarteten rief begreiflicherweise einige Aufregung hervor. Die Herren drüben gerieten in lebhafte Bewegung. Der Direktor musterte in der Eile noch einmal sämtliche Empfangsanstalten, der Oberingenieur und Herr Schäffer knöpften ihre Handschuhe zu, und Wilberg eilte zu Martha hinüber, um sie vielleicht zum zwanzigstenmal zu fragen, ob sie seiner Verse auch sicher sei und nicht etwa durch unzeitige Befangenheit seinen ganzen Dichtertriumph aufs Spiel setze. Selbst die Bergleute verrieten einiges Interesse, die, wie es hieß, junge und schöne Frau ihres künftigen Herrn kennen zu lernen. Mehr als einer zog den Ledergurt fester und drückte den Hut tiefer in die Stirn. Ulrich allein stand völlig unberührt da, ebenso starr, ebenso verächtlich wie vorhin, und warf auch nicht einmal einen Blick nach jener Seite.

Aber der mit so vieler Mühe und Sorgfalt vorbereitete Empfang sollte ganz anders ausfallen, als man erwartet und gehofft hatte. Ein Schreckensruf des Schichtmeisters, der jetzt außerhalb der Ehrenpforte stand, lenkte aller Blicke dorthin, und was sie sahen, war allerdings entsetzlich genug.

Die Höhe herab, über die der Weg vom Dorfe hieher führte, kam oder flog vielmehr ein Wagen, dessen Pferde vermutlich im Durchgehen begriffen waren. Vermutlich durch die Böllerschüsse scheu gemacht, stürmten sie in rasendem Laufe dahin, so daß der Wagen, auf dem unebenen Wege hin und her geschleudert, in größter Gefahr schwebte, entweder den jähen Abhang rechts hinabzustürzen, oder an den mächtigen Bäumen links zu zerschellen. Der Kutscher schien alle Geistesgegenwart verloren zu haben, er hatte die Zügel fahren lassen und klammerte sich in Todesangst an seinen Sitz an, und vom Hügel drüben, wo man der Baume wegen das Unglück, das man angerichtet, nicht wahrnehmen konnte, krachte noch immer Schuß auf Schuß und spornte die entsetzten Tiere zu immer wilderem Jagen an. Das schreckliche Ende dieser rasenden Fahrt lag nur zu deutlich vor Augen; bei der Brücke unten kam unausbleiblich die Katastrophe.

Die am Hause Versammelten thaten, was eine größere Versammlung bei solcher Gelegenheit meist zu thun pflegt. Man schrie laut auf vor Schrecken, man lief ratlos und hilflos durcheinander; die so notwendige Hilfe wirklich zu bringen, fiel niemand ein. Selbst von den Grubenarbeitern hatte im Moment, auf den doch hier alles ankam, keiner den Mut oder die Geistesgegenwart, rasch einzuschreiten. Keiner außer einem, der allein seine Besonnenheit nicht verlor. Die Gefahr in ihrer ganzen Größe mit einem Blicke überschauend, den Vater und die Kameraden zur Seite schleudern und hinausstürzen, war für Ulrich das Werk einer Minute. In drei Sprüngen hatte er die Brücke erreicht, ein Angstschrei Marthas hallte ihm nach – zu spät, er hatte sich den Pferden bereits entgegengeworfen und fiel ihnen in die Zügel. Hoch auf bäumten sich die erschreckten Tiere, aber anstatt innezuhalten, setzten sie zu neuem Laufe an und wollten ihn mit sich fortreißen. Jeder andre wäre von ihnen geschleift und zertreten worden, aber Ulrichs Riesenkraft gelang es, sie zu bändigen. Ein furchtbarer Ruck am Zügel, den er nicht losgelassen, zwang das eine der Rosse zum Sturze, es fiel und riß im Fallen auch das andre mit sich nieder – der Wagen stand.

Der junge Bergmann war an den Schlag getreten, in der sicheren Voraussetzung, die Insassen, zum mindesten die Dame, in Ohnmacht zu finden. Seiner Auffassung nach war dies der gewöhnliche Zustand der Vornehmen, wenn ihnen irgend eine Gefahr nahe trat, aber nichts von alledem hier, wo, wenn irgendwo im Leben, doch wirklich einmal die Berechtigung zur Ohnmacht vorhanden war. Die junge Frau stand aufrecht im Wagen, sich mit beiden Händen krampfhaft an der Rücklehne festhaltend, ihre starren, weit geöffneten Augen waren noch auf den Abhang gerichtet, in dessen Tiefe die Fahrt wahrscheinlich in der nächsten Minute ein schreckliches Ende gefunden hätte; aber kein Laut, kein Angstschrei war über ihre festgeschlossenen Lippen gekommen. Bereit, wenn es zum äußersten kam, einen Sprung zu wagen, der ihr hier freilich unausbleiblichen Tod gebracht hätte, hatte sie dem Tode stumm und fest ins Antlitz gesehen, und ihr Gesicht zeigte, daß sie es mit vollem Bewußtsein gethan.

Ulrich hatte sie rasch umfaßt und herausgehoben, denn die am Boden sich wild aufbäumenden und schlagenden Tiere brachten den Wagen immer noch in einige Gefahr. Es waren nur wenige Sekunden, während er sie über die Brücke trug, aber während dieser Sekunden hefteten sich die dunklen Augen fest auf den Mann, der sich mit solcher Todesverachtung fast unter die Hufe ihrer Pferde geworfen, und sein Blick streifte das schöne blasse Antlitz, das der Gefahr so mutig standgehalten – vielleicht war es dem jungen Bergmanne gar zu ungewohnt, auf einmal ein weiches schillerndes Seidengewand im Arme, und sich von dem weißen luftigen Schleier umweht zu fühlen, der über seiner Schulter flatterte, ein Ausdruck der Verwirrung glitt über seine Züge, und hastig, beinahe ungestüm, setzte er die Dame drüben nieder.

Eugenie zitterte noch leise, als ihre Lippen sich zu einem tiefen freien Atemzug öffneten, das war aber auch das einzige Zeichen der überstandenen Angst.

»Ich – ich danke Ihnen! Sehen Sie nach Herrn Berkow!«

Ulrich, der bereits im Begriffe stand, dies zu thun, hielt befremdet inne. ›Sehen Sie nach Herrn Berkow‹, sagte die junge Frau in einem Moment, wo jede angstvoll den Namen ihres Mannes gerufen hätte, und sie sagte es sehr kühl, sehr ruhig; eine Ahnung von dem, was die Herren an der Terrasse vorhin so ausführlich besprochen, dämmerte in dem jungen Bergmann auf, er wandte sich um und ging nach ›Herrn Berkow‹ zu sehen.

Dieser bedurfte indessen seines Beistandes nicht mehr; er war bereits allein ausgestiegen und herüber gekommen. Arthur Berkow hatte auch bei dieser Katastrophe seine passiv gleichgültige Natur nicht verleugnet. Als die Gefahr so unvermutet hereinbrach und seine junge Gattin Miene machte, aus dem Wagen zu springen, hatte er nur die Hand auf ihren Arm gelegt und leise gesagt: »Bleib sitzen, Eugenie! Du bist verloren, wenn du den Sprung wagst!« Dann war kein Wort, keine Silbe weiter zwischen ihnen gewechselt worden, aber während Eugenie aufrecht im Wagen stand, nach Hilfe ausblickend und entschlossen, im letzten Moment dennoch das Aeußerste zu wagen, verharrte Arthur unbeweglich auf seinem Platze; nur als man sich der Brücke näherte, hatte er einen Augenblick lang die Hand über die Augen gelegt, und hätte sich wahrscheinlich mit dem Gefährt zerschellen lassen, wäre nicht gerade im entscheidenden Moment die Hilfe gekommen.

Gegenwärtig stand er am Geländer der Brücke, vielleicht um einen Schein bleicher als gewöhnlich, aber ohne Zittern, ohne jede äußere Spur der Erregung; ob er sie überhaupt nicht empfunden hatte, ob er sie bereits beherrschte. – Ulrich mußte sich gestehen, daß in dieser Apathie zum mindesten etwas Ungewöhnliches liege. Der junge Erbe hatte eben noch dem Tode ins Auge gesehen und jetzt sah er ihn an, als sei ihm dieser energische Retter aus der Todesgefahr eine unfaßbare Merkwürdigkeit.

Die jetzt ziemlich überflüssige Hilfe kam nun von allen Seiten herbei. Zwanzig Hände regten sich auf einmal, die gestürzten Pferde wieder aufzurichten und dem vor Schreck noch immer halb besinnungslosen Kutscher herabzuhelfen. Der ganze Schwall der Beamten drängte sich herbei und umgab das junge Ehepaar mit Bedauern-, Teilnahme- und Beileidsbezeigungen aller Art. Man erschöpfte sich in Fragen und Hilfsleistungen, man konnte gar nicht begreifen, wie das Unglück hatte geschehen können, und maß den Schüssen, dem Kutscher und den Pferden abwechselnd die Schuld bei. Arthur ließ das einige Minuten lang völlig passiv über sich ergehen, dann machte er eine abwehrende Bewegung.

»Nicht doch, meine Herren, ich bitte Sie! Sie sehen ja, daß wir beide unverletzt sind. Lassen Sie uns nur vor allen Dingen nach dem Hause gelangen.«

Er wollte seiner Gattin den Arm reichen, um sie dorthin zu führen, Eugenie aber blieb stehen und blickte umher.

»Und unser Retter? Hoffentlich ist auch ihm nichts geschehen?«

»Ja so, das hätten wir beinahe vergessen!« sagte der Direktor etwas beschämt. »Es war ja Hartmann, der die Pferde aufhielt! Hartmann, wo sind Sie?«

Der Gerufene antwortete nicht, aber Wilberg, der in seiner Bewunderung für die romantische That ganz seinen vorherigen Groll gegen den Thäter vergaß, rief eifrig: »Dort drüben steht er!« und eilte hinüber zu dem jungen Bergmann, der sofort zurückgetreten war, als die Herren sich herbeidrängten, und jetzt an einem Baume seitwärts lehnte.

»Hartmann, Sie sollen – mein Himmel, was ist Ihnen denn! Sie sind ja totenblaß, und wo kommt denn das Blut her?«

Ulrich kämpfte augenscheinlich mit einem Anfalle von Bewußtlosigkeit, aber dennoch flog ein zorniges Aufleuchten über seine Züge, als der junge Beamte eine Bewegung machte, ihn zu stützen. Empört, daß man ihm so etwas wie eine Ohnmacht zutrauen könne, richtete er sich hastig auf und preßte die geballte Hand fester auf die blutende Stirn.

»Es ist gar nichts! Eine bloße Schramme! Wenn ich nur ein Tuch hätte.«

Wilberg war im Begriff das seinige hervorzuziehen, als plötzlich ein seidenes Gewand dicht neben ihm rauschte. Die junge Frau Berkow stand an seiner Seite und reichte, ohne ein Wort zu sprechen, ihr eigenes, mit kostbaren Spitzen besetztes Taschentuch hin.

Baroneß Windeg mochte wohl noch niemals in die Lage gekommen sein, bei Verwundungen praktische Hilfe zu leisten, sonst hätte sie sagen müssen, daß dies winzige, reich gestickte Batisttuch wenig geeignet war, das Blut zu stillen, das, bisher noch durch das dichte blonde Haar etwas zurückgehalten, jetzt mit voller Macht hervorbrach, und Ulrich mußte das besser als sie wissen, dennoch griff er wie unwillkürlich nach dem Dargebotenen.

»Danke, gnädige Frau, aber das nützt uns nicht viel,« sagte der Schichtmeister, der bereits neben seinem Sohne stand und den Arm um dessen Schulter legte. »Halt still, Ulrich!« damit zog er sein eigenes Taschentuch von derbem Leinen hervor und drückte es auf die dem Anschein nach ziemlich tiefe Kopfwunde.

»Ist es denn gefährlich?« fragte Arthur Berkow, der in Begleitung der übrigen Herren jetzt auch herbeikam, in schleppendem Tone.

Mit einem Rucke hatte sich Ulrich von seinem Vater losgemacht und in die Höhe gerichtet, die blauen Augen blickten finsterer als je, als er herb entgegnete: »Ganz und gar nicht! Es braucht sich niemand darum zu kümmern, ich helfe mir schon allein.«

Die Worte klangen ziemlich unehrerbietig; indessen der eben geleistete Dienst war doch zu groß, als daß man sie hätte rügen können. Uebrigens schien Herr Berkow froh zu sein, daß die Antwort ihn der Mühe überhob, sich noch weiter um die ganze Angelegenheit zu kümmern.

»Ich werde Ihnen den Arzt senden,« sagte er in seiner matten, gleichgültigen Weise, »und den Dank behalten wir uns noch vor. Für den Augenblick ist ja Hilfe genug da – darf ich bitten, Eugenie?«

Die junge Frau nahm den dargebotenen Arm, aber sie wandte den Kopf noch einmal zurück, wie um sich zu überzeugen, ob die nötige Hilfe auch wirklich da sei. Es schien fast, als ob die Art, wie ihr Gemahl die Sache behandelte, nicht ihren Beifall habe.

»Unser ganzer Empfang ist verunglückt!« sagte Wilberg, als er sich einige Minuten später den Herren anschloß, die den Sohn ihres Chefs und dessen Gattin nach Hause begleiteten, ganz niedergeschlagen zu dem Oberingenieur.

»Und Ihr Gedicht dazu!« spöttelte dieser. »Wer denkt jetzt noch an Verse und Blumen? Uebrigens, für jemand, der an Vorbedeutungen glaubt, war dieser erste Empfang in der neuen Heimat gerade nicht glückverheißend. Todesgefahr, Verwundung, Blut – aber das ist ja gerade eine Romantik in Ihrem Stile, Wilberg. Sie können eine Ballade darüber dichten, nur müssen Sie diesmal notgedrungen den Hartmann zum Helden nehmen.«

»Und er ist und bleibt dennoch ein Bär!« rief Wilberg etwas gereizt. »Konnte er der gnädigen Frau nicht ein Wort des Dankes sagen, als sie ihm ihr eigenes Taschentuch anbot? und wie ungezogen war seine Antwort Herrn Berkow gegenüber! Aber eine Riesennatur hat dieser Mensch! Als ich ihn frage, weshalb um Gottes willen er sich denn nicht eher verbunden hat, gibt er mir lakonisch zur Antwort, er hätte die Wunde anfangs gar nicht bemerkt. Ich bitte Sie! Empfängt da einen Schlag am Kopfe, der jeden von uns ohnmächtig hingestreckt hätte, und der bändigt erst noch die Pferde, trägt die gnädige Frau aus dem Wagen und merkt es nicht eher, daß er verwundet ist, als bis ihm das Blut stromweise herabstürzt; das sollte ein andrer aushalten!« Die sämtlichen Grubenarbeiter waren inzwischen bei ihrem Kameraden zurückgeblieben; die Art, wie der künftige Chef sich mit diesem und seinem Danke an ihn abgefunden, für den Augenblick wenigstens, schien sie arg verletzt zu haben. Man sah viele finstere Blicke, hörte manche bittere, schneidende Bemerkung, selbst der Schichtmeister zog die Stirn kraus und hatte heute ausnahmsweise kein Wort der Verteidigung für den jungen Herrn. Er war noch immer bemüht, das Blut zu stillen, wobei ihm Martha thätige Hilfe leistete. Die Züge des Mädchens trugen einen Ausdruck so unverkennbarer Angst, daß er selbst Ulrich hätte auffallen müssen, wären seine Augen nicht nach einer ganz andern Richtung hingewendet gewesen. Es war ein seltsamer langer und finsterer Blick, mit dem er den Davonschreitenden nachschaute; er dachte augenscheinlich an etwas ganz andres, als an den Schmerz seiner Wunde.

Im Begriffe, einen vorläufigen Verband um die noch immer blutende Stirn zu legen, bemerkte der Schichtmeister, daß sein Sohn das Spitzentaschentuch noch in der Hand hielt.

»Das Spinngewebe,« die Stimme des Alten klang ungewöhnlich bitter, »das gestickte Spinngewebe hätte uns auch was Rechtes genützt! Gib es der Martha, Ulrich, sie kann es der gnädigen Frau wieder zurückbringen.«

Ulrich blickte auf das Tuch nieder, das weich und duftig wie ein Hauch zwischen seinen Fingern lag; als aber Martha die Hand danach ausstreckte, hob er es rasch empor und preßte es auf die Wunde, die zarten Spitzen färbten sich blutrot.

»Aber was machst du denn?« rief der Vater halb erstaunt, halb ärgerlich. »Willst du etwa mit dem Dinge da das zolltiefe Loch im Kopfe verbinden? Ich dächte, wir hätten Tücher genug.«

»Ja so, ich dachte nicht daran!« entgegnete Ulrich kurz. »Laß nur, Martha, es ist ja nun doch einmal verdorben,« damit schob er es ohne weiteres in seine Bluse.

Die Hände des Mädchens, die sich eben noch so flink gerührt, sanken auf einmal nieder und unthätig sah sie zu, wie der Schichtmeister einen notdürftigen Verband anlegte und das Tuch festband. Dabei hefteten sich ihre Augen fest auf Ulrichs Gesicht. Weshalb beeilte er sich so, das kostbare Tuch unbrauchbar zu machen, wollte er es vielleicht nicht zurückgeben?

Der junge Bergmann schien überhaupt wenig Talent für die Krankenrolle zu haben. Er hatte sich schon sehr ungeduldig gezeigt bei all den reichlich angebotenen Hilfsleistungen, und es bedurfte der ganzen Autorität des Vaters, um ihn zu vermögen, daß er sie sich überhaupt gefallen ließ; jetzt aber stand er auf und erklärte entschieden, nun sei es genug, man möge ihn endlich einmal in Ruhe lassen.

»Laßt ihn, den Starrkopf!« sagte der Schichtmeister. »Ihr wißt ja, es ist nichts mit ihm anzufangen; wir wollen hören, was der Doktor sagt. – Du bist mir der rechte Held, Ulrich! Bei der Ehrenpforte helfen, die für die neue Herrschaft gebaut wird, das geht beileibe nicht, das ist ›entwürdigend‹, aber sich vor die Pferde werfen, die mit derselben Herrschaft durchgehen, und sich gar nicht darum kümmern, daß noch ein alter Vater da ist, der nur den einen Jungen hat auf der ganzen Welt, das kannst du. Konsequenz nennt man das ja wohl in eurer neumodischen Sprache. Nun, ihr andern, da ihr doch einmal eurem Herrn und Meister in allen Stücken folgt – es kann wirklich nicht schaden, wenn ihr euch auch diesmal ein Beispiel an ihm nehmt.«

Und mit diesen Worten, denen man trotz ihres erkünstelten Grolles nur zu deutlich den Stolz auf den Sohn und die Zärtlichkeit für ihn anhörte, ergriff er Ulrichs Arm und zog ihn mit sich fort. Es war gegen Abend. Die Festlichkeiten auf den Berkowschen Gütern hatten, wenigstens soweit es die Teilnahme der Herrschaft daran betraf, ihr Ende erreicht. Man hatte, nachdem die gefährliche Katastrophe, welche beinahe das ganze Fest in Frage stellte, glücklich überwunden war, das ursprüngliche Programm gewissenhaft innegehalten. Jetzt endlich befand sich das junge Ehepaar, das den ganzen Nachmittag über von allen Seiten in Anspruch genommen worden war, allein in seiner Wohnung. Soeben hatte sich Herr Schäffer verabschiedet, der morgen nach der Residenz zu dem älteren Herrn Berkow zurückkehrte, und jetzt verließ auch der Diener, nachdem er den Theetisch in Ordnung gebracht, das Gemach.

Die auf dem Tische brennende Lampe warf ihr klares, mildes Licht auf die hellblauen Damasttapeten und die kostbar gearbeiteten Möbel des kleinen Salons, der, wie überhaupt sämtliche Räume des Hauses, zum Empfange der jungen Frau ganz neu und höchst prachtvoll eingerichtet, zu den Zimmern der letzteren gehörte. Die seidenen Vorhänge, dicht zugezogen, schienen das Gemach von der Außenwelt völlig abzuschließen; in den Vasen und Marmorschalen dufteten die Blumen, und auf dem Tische vor dem kleinen Ecksofa stand das silberne Theeservice bereit, es war in all der Pracht doch ein Bild traulicher harmonischer Häuslichkeit.

Soweit es eben den Salon betraf – die Neuvermählten schienen vorläufig den Zauber der Häuslichkeit noch nicht zu empfinden. Die junge Frau stand, noch im vollen Gesellschaftsanzuge, auf dem Teppich inmitten des Zimmers und hielt das Bouquet in der Hand, das Wilberg an Stelle Marthas nun selbst zu überreichen das Glück gehabt hatte. Der Duft der Orangenblüten fesselte sie sehr, so sehr, daß sie nicht die mindeste Aufmerksamkeit für ihren Gatten übrig behielt, der eine solche Aufmerksamkeit auch in der That nicht beanspruchte, denn kaum hatte sich die Thür hinter dem Diener geschlossen, so sank er mit dem Ausdruck der Erschöpfung in einen Fauteuil.

»Dieses ewige Repräsentierenmüssen ist wirklich tötend! Findest du nicht, Eugenie? Seit gestern mittag hat man uns kaum eine Minute Erholung gegönnt! Erst die Trauung, dann das Diner, dann die höchst anstrengende Eisenbahn- und Extrapostfahrt, die ganze Nacht und den ganzen Vormittag hindurch, dann noch den tragischen Zwischenfall, hier wieder Empfang, Beamtenvorstellung, Diner – mein Papa scheint, als er das Programm dieser Festlichkeit entwarf, gar nicht daran gedacht zu haben, daß wir so etwas wie Nerven besitzen. Die meinigen sind, ich gestehe es, völlig hin.«

Die junge Frau wendete den Kopf und ein sehr geringschätzender Blick glitt über den Mann hin, der bei diesem ersten traulichen Beisammensein ihr von seinen »Nerven« sprach. Eugenie schien nun allerdings diesen Uebelstand nicht zu kennen; ihr schönes Gesicht verriet auch nicht die leiseste Spur von Ermüdung. »Hast du Nachricht erhalten, ob die Wunde des jungen Hartmann gefährlich ist?« fragte sie statt aller Antwort.

Arthur schien etwas befremdet, daß man von der ungewöhnlich langen Rede, zu der er sich ausnahmsweise einmal hatte fortreißen lassen, so gar keine Notiz nahm. »Schäffer sagt, es sei nicht von Bedeutung,« entgegnete er gleichgültig. »Er hat, glaube ich, den Arzt gesprochen. Dabei fällt mir ein, man wird doch auf irgend eine Anerkennung für den jungen Menschen denken müssen. Ich werde den Direktor damit beauftragen.«

»Solltest du die Sache nicht lieber persönlich in die Hand nehmen?«

»Ich? Nein, damit verschone mich! Wie ich nachträglich höre, ist es nicht einmal ein gewöhnlicher Arbeiter, der Sohn des Schichtmeisters, selbst Steiger oder so etwas; wie kann ich da wissen, ob hier Geld oder ein Geschenk oder sonst etwas am Platze ist! Der Direktor wird das ganz ausgezeichnet arrangieren!«

Er ließ den Kopf noch tiefer in die Polster zurücksinken. Eugenie erwiderte nichts; sie ließ sich auf das Sofa nieder und stützte das Haupt in die Hand. Nach einer Pause von etwa einer Minute schien es Herrn Arthur denn doch einzufallen, daß er seiner jungen Frau einige Aufmerksamkeit schuldig sei, und daß er füglich nicht während der ganzen Theestunde so stumm in seinem Fauteuil vergraben bleiben könne; es kostete ihn allerdings einige Anstrengung, aber er brachte das Opfer und erhob sich wirklich. An der Seite seiner Gattin Platz nehmend, erlaubte er sich, ihre Hand zu ergreifen, und ging sogar so weit, daß er versuchte, den Arm um ihre Schulter zu legen; aber es blieb bei dem Versuche. Mit einer raschen Bewegung zog Eugenie ihre Hand aus der seinigen und rückte seitwärts. Dabei traf auch ihn wieder jener Blick, der seinem Vater gestern in der Kirche die erste Umarmung der Schwiegertochter so gründlich verleidet hatte. Es war derselbe Ausdruck eisig stolzer Abwehr, der besser als Worte sagte: »Ich bin unnahbar für dich und deinesgleichen!«

Es schien nun freilich leichter, dem Vater mit dieser vornehmen Art zu imponieren als dem Sohne, vielleicht weil dieser sich überhaupt durch nichts mehr imponieren ließ. Er sah denn auch weder bestürzt noch eingeschüchtert aus bei dieser Bewegung eines nur zu deutlich kundgegebenen Widerwillens; nur etwas erstaunt schaute er auf. »Ist dir das unangenehm, Eugenie?«

»Mich hat niemand gezwungen!« unterbrach ihn Eugenie fest. (S. 35.)

»Ungewohnt zum mindesten! Du pflegtest mich bisher damit zu verschonen.«

Der junge Mann war viel zu apathisch, um die tiefe Herbheit dieser Worte zu verstehen; er schien sie als eine Art Vorwurf zu nehmen.

»Bisher? Ja, die Etikette in deinem Vaterhaus wurde etwas streng gehandhabt. Während unsres zweimonatlichen Brautstandes hatte ich nicht ein einziges Mal das Glück, dich allein zu sehen, und die stete Gegenwart deines Vaters oder deiner Brüder legte uns doch einen Zwang auf, der bei diesem ersten ungestörten Alleinsein ja wohl fallen darf.«

Eugenie wich noch weiter zurück. »Nun denn, so erkläre ich dir bei diesem ersten Alleinsein, daß ich Zärtlichkeiten, mit denen man der Konvenienz genügt, ohne daß das Herz Anteil daran hat, durchaus nicht liebe. Ich entbinde dich ein für allemal von der Verpflichtung dazu.«

Das Erstaunen von vorhin prägte sich diesmal lebhafter in Arthurs Zügen aus; bis zu einer wirklichen Erregung kam er immer noch nicht.

»Du scheinst heute in einer eigentümlichen Laune zu sein! Konvenienz! Herz! Wirklich, Eugenie, ich glaubte bei dir gerade am wenigsten romantische Illusionen befürchten zu müssen.«

Ein Ausdruck tiefer Bitterkeit überflog die Züge der jungen Frau. »Ich habe mit meinen Illusionen vom Leben in dem Moment abgeschlossen, wo ich dir meine Hand zusagte. Du und dein Vater, ihr wolltet ja nun einmal um jeden Preis euren Namen mit dem alten edeln der Windegs verbinden, wolltet euch damit den Eingang zu Kreisen und Ehren erzwingen, die man euch bisher immer noch verschlossen hielt. Nun wohl, ihr habt euern Zweck erreicht – ich heiße Eugenie Berkow!«

Sie legte einen unendlich verächtlichen Nachdruck auf das letzte Wort. Arthur war aufgestanden; er schien jetzt endlich zu begreifen, daß es sich hier um mehr handelte, als um eine bloße Laune der jungen Frau, vielleicht durch seine Vernachlässigung während der Reise hervorgerufen.

»Du scheinst diesen Namen allerdings nicht sehr zu lieben! Ich glaubte bisher nicht, daß bei seiner Annahme ein Zwang von seiten deiner Familie vorgewaltet hätte; jetzt aber scheint es mir doch –« »Mich hat niemand gezwungen!« unterbrach ihn Eugenie fest. »Niemand auch nur überredet! Was ich that, geschah freiwillig, mit dem vollen Bewußtsein dessen, was ich auf mich nahm. Die Meinigen tragen es schwer genug, daß ich das Opfer für sie wurde!«

Arthur zuckte die Achseln; man sah es seinem Gesichte an, daß das Gespräch bereits anfing, ihn zu langweilen.

»Ich begreife nicht, wie du eine einfache Familienübereinkunft so tragisch nehmen kannst! Wenn mein Vater dabei anderweitige Pläne verfolgte, so waren die Beweggründe des Barons wohl auch nicht romantischer Natur, nur daß die seinigen vermutlich noch dringender zum Abschluß einer Verbindung mahnten, bei der er jedenfalls nicht der verlierende Teil war.«

Eugenie fuhr auf, ihre Augen flammten und eine heftige Bewegung ihres Armes warf das duftende Bouquet vom Tische auf den Fußboden nieder.

»Und das wagst du mir zu sagen? Nach dem, was deiner Bewerbung vorherging? Ich glaubte doch wenigstens, daß du darüber erröten müßtest, wenn du dessen überhaupt noch fähig bist!«

Die müden, halb verschleierten Augen des jungen Mannes öffneten sich plötzlich groß und weit; es glimmte darin etwas wie ein Funken unter der Asche, aber seine Stimme behielt ihren matten gleichgültigen Ton.

»Ich muß dich vor allen Dingen bitten, deutlicher zu sein, ich fühle mich außer stande, diese völlig rätselhaften Worte zu verstehen.«

Eugenie kreuzte mit einer energischen Bewegung die Arme; ihre Brust hob und senkte sich stürmisch.

»Du weißt es so gut wie ich, daß wir am Ruin standen! Wer ihn verschuldet, darüber kann und mag ich nicht rechten. Es ist leicht, den Stein auf den zu werfen, der mit dem Untergange ringt. Wenn man die Familiengüter überschuldet und überlastet ererbt, wenn man den Glanz eines alten Namens, eine Stellung in der Welt zu wahren, die Zukunft seiner Kinder zu sichern hat, da kann man nicht Geld auf Geld häufen, wie ihr in eurem bürgerlichen Erwerbe. Du hast das Gold von jeher mit vollen Händen weggeworfen, hast jeden Wunsch dir erfüllt, jede Laune dir gestattet; ich habe das ganze Elend eines Lebens durchgekostet, das der Welt gegenüber Glanz heuchelt, heucheln muß, während jeder Tag, jede Stunde es dem unabwendbaren Ruin näher bringt. Vielleicht wären wir ihm dennoch entronnen, wären wir nicht gerade in die Netze Berkows gefallen, der uns anfangs seine Hilfe förmlich aufdrang, so lange aufdrang, bis er alles in Händen hatte, bis wir, gehetzt, umgarnt, verzweifelt, keinen Ausweg mehr wußten. Da kam er und forderte meine Hand für seinen Sohn, als einzigen Preis der Rettung. Mein Vater hätte eher das Aeußerste ertragen, als mich geopfert, aber ich wollte ihn nicht geopfert, seiner Laufbahn entrissen sehen, ich wollte die Zukunft meiner Brüder nicht vernichtet, unsern Namen nicht entehrt wissen; so gab ich denn mein Jawort. Was es mich kostete, hat keiner von den Meinen je erfahren, aber wenn ich mich verkaufte, so kann ich es verantworten vor Gott und vor mir selber; du, der sich zum Werkzeuge der niedrigen Pläne seines Vaters hergab, du hast kein Recht, es mir vorzuwerfen; meine Beweggründe waren zum mindesten edler als die deinigen!«

Sie schwieg, überwältigt von der Erregung. Ihr Gatte stand noch immer unbeweglich vor ihr, sein Antlitz zeigte wieder jene leichte Blässe, die es heute mittag gehabt, als er soeben der Gefahr entgangen war, aber die Augen waren bereits wieder verschleiert.

»Ich bedaure, daß du mir diese Eröffnungen nicht vor unsrer Trauung gemacht hast,« sagte er langsam.

»Weshalb?«

»Weil du dann nicht der – Erniedrigung teilhaftig geworden wärest, Eugenie Berkow zu heißen.«

Die junge Frau schwieg.

»Ich hatte in der That keine Ahnung von diesen – Manipulationen meines Vaters,« fuhr Arthur fort, »wie ich denn seinem ganzen Geschäftskreise überhaupt fernzubleiben pflege. Er sagte mir eines Tages, daß, wenn ich bei dem Baron Windeg um die Hand seiner Tochter werben wolle, mein Antrag angenommen werden würde. Ich fügte mich dem Plan, und darauf fand die Förmlichkeit meiner Vorstellung statt, der in wenig Tagen die Verlobung folgte. Das ist mein Anteil bei der Sache.«

Eugenie wandte sich zur Hälfte ab. »Ich hätte ein offenes Geständnis deiner Mitwissenschaft diesem Märchen vorgezogen,« erwiderte sie kalt.

Wieder öffneten sich die Augen des jungen Mannes und wieder glimmte der seltsame Funke darin, der aufsprühen zu wollen schien und den die Asche doch erstickte.

»Also so hoch stehe ich in der Achtung meiner Gemahlin, daß meine Worte nicht einmal Glauben bei ihr finden?« sagte er, diesmal doch mit einem entschiedenen Anflug von Bitterkeit.

Das schöne Antlitz Eugeniens, welches sich ihrem Gemahl jetzt wieder zuwandte, trug in der That den Ausdruck herbster Verachtung, und der gleiche Ausdruck lag auch in ihrer Stimme, als sie entgegnete:

»Du mußt es mir schon verzeihen, Arthur, wenn ich dir kein allzu großes Vertrauen entgegenbringe. Bis zu dem Tage, wo du zum erstenmal unser Haus betratest, zu einem Zwecke, den ich nur zu wohl kannte, bis dahin habe ich dich nur aus den Gesprächen der Residenz gekannt, und diese –«

»Malten mein Bild in nicht eben schmeichelhafter Weise! Ich kann es mir denken! Willst du nicht die Güte haben, mir zu sagen, was es der Residenz eigentlich beliebte, über mich zu sprechen?«

Die junge Frau richtete das große Auge fest und finster auf das Antlitz ihres Gatten. »Man sagte, Arthur Berkow triebe nur deshalb einen so fürstlichen Aufwand, würfe nur deshalb Tausende und aber Tausende hin, um sich damit den Umgang und die Freundschaft der jungen Adeligen zu erkaufen und dadurch seine eigene bürgerliche Geburt vergessen zu machen. Man sagte, er sei in dem wilden zügellosen Treiben gewisser Kreise der Wildeste und Zügelloseste von allen – was man ihm sonst noch nachsagte, entzieht sich meiner Frauenbeurteilung.«

Arthurs Hand lag noch immer auf der Lehne des Fauteuils, auf den er sich stützte, sie hatte wahrend der letzten Sekunden sich unwillkürlich tiefer in die seidenen Polster vergraben.

»Und du hältst es natürlich nicht der Mühe wert, auch nur den Versuch zur Besserung eines solchen ›Verlorenen‹ zu machen, über den die öffentliche Meinung bereits den Stab gebrochen hat?«

»Nein!«

Es klang eisig kalt, dieses Nein. Ein leichtes Zucken flog über die Züge des jungen Mannes, als er sich rasch emporrichtete.

»Du bist mehr als aufrichtig! Gleichviel, es ist immer ein Vorteil, zu wissen, wie man miteinander steht, und miteinander müssen wir fürs erste doch nun einmal bleiben. Der gestern gethane Schritt kann nicht zurückgethan werden, wenigstens nicht sofort, ohne uns beide der Lächerlichkeit preiszugeben. Wenn du übrigens diese Szene hervorriefest um mir zu zeigen, daß ich, trotz jener bürgerlichen Anmaßung, die deine Hand erzwang, mich der Baroneß Windeg möglichst fernzuhalten habe – und ich fürchte, es geschah allein in dieser Absicht – so hast du deinen Zweck erreicht, aber« – hier fiel Arthur wieder völlig in den alten Ton gelangweilter Blasiertheit zurück – » aber ich bitte dich, laß es dann auch die erste und letzte dieser Art zwischen uns gewesen sein. Ich verabscheue nun einmal alles, was Szenen heißt; meine Nerven ertragen das durchaus nicht und das Leben läßt sich ja auch völlig regeln, ohne dergleichen unnötige Echauffements. Für jetzt glaube ich deinen Wünschen zuvorzukommen, wenn ich dich allein lasse. Du entschuldigst, daß ich mich zurückziehe.«

Er nahm den auf einem Seitentische stehenden silbernen Armleuchter und verließ das Gemach, draußen aber blieb er noch einen Moment lang stehen und wendete das Haupt zurück. Der Funke glimmte jetzt nicht mehr bloß in dem Auge des jungen Mannes, es sprühte hell auf, freilich nur eine Sekunde lang, dann war alles dort wieder leer und tot, aber die Kerzen flackerten unruhig auf und nieder, als er durch das Vorzimmer schritt – ob von dem Luftzuge oder weil die Hand, die sie trug, bebte?

Eugenie war allein zurückgeblieben und ein tiefer Atemzug hob ihre Brust, als die Portiere hinter ihrem Gatten zufiel: sie hatte erreicht, was sie gewollt. Als sei die freie Luft ihr Bedürfnis nach dieser Szene, trat sie an den Balkon, schob den Vorhang zurück, und das Fenster zur Hälfte öffnend, blickte sie hinaus in den duftigen, mild verschleierten Frühlingsabend. Die Sterne schimmerten nur matt durch das leichte, schleierartige Gewölk, das den ganzen Himmel umzog, wahrend die Umrisse der Landschaft, schon von dichter Dämmerung umwoben, undeutlich und schattenhaft ineinander verschwammen. Von der Terrasse herauf drangen die Blumendüfte, und leise plätscherten dazu die Fontänen. Ueberall tiefe Ruhe und tiefer Friede, nur nicht in dem Herzen der jungen Frau da oben, die heute zum erstenmal die Schwelle ihrer neuen Heimat betreten hatte.

Er war jetzt zu Ende, der stumme qualvolle Kampf der letzten zwei Monate, der sie doch eben durch diese Qual und dieses Kämpfen aufrecht erhalten hatte. Es liegt für heroische Naturen immer etwas Großes in dem Gedanken, so die ganze Zukunft für andre hinzuwerfen, mit dem eigenen Lebensglück die fremde Rettung zu erkaufen und sich dem nun einmal unabwendbaren Geschick als Opfer für das Geliebte zu stellen. Aber jetzt, wo dies Opfer gebracht, die Rettung vollzogen war, wo es nichts mehr zu kämpfen und zu überwinden gab, jetzt verblich jener romantische Schimmer, mit dem die Kindesliebe bisher Eugeniens Entschluß umgeben, und die ganze trostlose Oede und Leere des Lebens, das ihrer wartete, that sich vor ihr auf. In dem leisen Duften und Wehen dieses Frühlingsabends regte sich wieder das lang zurückgehaltene Weh des jungen Weibes, das auch seinen Anteil an Glück und Liebe vom Leben gefordert hatte und das so bitter um diesen Anteil betrogen war. Sie war jung und schön, schöner als so viele andre, aus altem edlen Geschlecht, und die stolze Tochter der Windeg hatte von jeher den Helden ihres Jugendtraumes mit all der glänzenden Ritterlichkeit ihrer Vorfahren geschmückt. Daß er ihr gleich sein müsse an Rang und Namen, galt dabei als selbstverständlich, und nun –? Hatte der ihr aufgedrungene Gatte wenigstens noch Charakter und Energie besessen, die sie nun einmal bei dem Manne am höchsten schätzte, sie hätte ihm vielleicht seine bürgerliche Geburt verziehen, aber dieser Weichling, den sie verachtet hatte, noch ehe sie ihn gekannt! Hatten die Beleidigungen, die sie ihm mit voller Absicht entgegengeschleudert, und die jeden andern Mann außer sich gebracht haben würden, es wohl vermocht, ihn aus seiner apathischen Gleichgültigkeit zu reißen? War er dem herbsten Ausdruck ihrer Verachtung gegenüber auch nur einen Augenblick aus dieser Apathie gewichen. Und als heute mittag die Gefahr über sie beide hereinbrach, hatte er da auch nur die Hand zu seiner oder ihrer Rettung gerührt? Ein andrer, ein Fremder mußte sich den rasenden Tieren entgegenwerfen und sie bändigen, auf die Gefahr hin, von ihnen zertreten zu werden. Vor Eugeniens Augen stieg das Bild des jungen Mannes auf, mit den trotzigen blauen Augen und der blutenden Stirn. Ihr Gatte freilich wußte nicht einmal, ob die Wunde seines Retters gefährlich, ob sie vielleicht tödlich sei, und doch wären er und sie verloren gewesen, ohne jene energische blitzähnliche That.

Die junge Frau sank in einen Sessel und verbarg das Antlitz in beiden Händen, aber alles, was sie seit Monden durchgekämpft und durchgelitten und was in dieser Stunde mit zehnfacher Gewalt auf sie eindrang, das gab sie jetzt kund in dem einen verzweiflungsvollen Aufschrei: »O mein Gott, mein Gott, wie werde ich dies Leben ertragen!« Die sehr umfangreichen Berkowschen Gruben und Bergwerke lagen ziemlich weit von der Residenz, in einer der entfernteren Provinzen. Die Gegend dort bot nicht viel Anziehendes dar. Waldberge und immer nur Waldberge, auf Meilen in der Runde nichts als das einförmige dunkle Grün der Tannen, das gleichmäßig Höhen und Thäler umzog, dazwischen Dörfer und Weiler und hin und wieder einmal ein Pachthof oder ein ländliches Besitztum. Aber der Boden hier oben vermochte nicht viel zu geben; seine Schätze lagen unter der Erde verborgen, und deshalb drängte sich auch alles Leben und alle Thätigkeit der Umgegend auf den Berkowschen Besitzungen zusammen, wo diese Schätze in wahrhaft großartigem Maßstäbe zu Tage gefördert wurden.


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