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»Ein Unfall!« sagte Wilberg atemlos. »Unten im Fahrschacht – Ihr Herr Vater ist schwer verletzt, sehr schwer – der Direktor schickt mich!«

Er kam nicht weiter in seinem Berichte, denn Arthur war bereits an ihm vorüber zur Thür hinausgeeilt. Der junge Beamte stand im Begriff, ihm zu folgen, als er sich draußen im Korridor von dem Baron zurückgehalten sah.

»Haben Sie dem Sohne die volle Wahrheit gesagt?« fragte dieser ernst. »Mir brauchen Sie nichts zu verschweigen. Ist Herr Berkow tot?«

»Ja!« stieß Wilberg hervor. »Er fuhr mit dem Steiger Hartmann zu Tage – die Seile sind gerissen – Hartmann rettete sich durch einen Sprung auf die vorletzte Bühne. Herr Berkow stürzte in die Tiefe. Kein Mensch weiß, wie das Unglück eigentlich geschehen ist, aber verheimlichen läßt es sich nicht. Bereiten Sie die gnädige Frau vor, Herr Baron! Ich muß fort!«

Er eilte Arthur nach, während Windeg in den Salon zurückkehrte, wo seine Tochter ihm bereits in heftiger Erregung entgegenkam.

»Was hast du erfahren, Papa? Das Gesicht des Unglücksboten sprach von mehr als einer bloßen Verletzung! Was ist geschehen?«

»Das Schlimmste!« sagte der Baron erschüttert. »Wir haben den Mann eben noch so bitter angeklagt, Eugenie; jetzt ist es zu Ende mit dem Haß und der Feindschaft zwischen uns und ihm – der Tod hat sie geschlichtet!« Die erste Woche mit ihrer düsteren Feierlichkeit war vorüber, aber der dumpfe Druck, der auf jedem Trauerhause liegt, war nicht gewichen und gab sich nur schwerer kund jetzt, wo die Unruhe all dieser Unordnungen, Beileidsbezeigungen und Besuche vorüber war. An Zeichen äußerer Teilnahme hatte es nicht gefehlt. Berkows Stellung, seine Bekanntschaft und Verbindungen in den verschiedenen Kreisen machten seinen Tod zu einem Ereignis. Das Gefolge, dem sich natürlich die sämtlichen Beamten und Arbeiter der Werke anschlossen, war ein endloses gewesen. Karten und Briefe bedeckten in unendlicher Anzahl den Schreibtisch des jungen Erben, dessen Gemahlin die Besuche der ganzen Umgebung empfing. Man bewies beiden alle möglichen Rücksichten, und dies um so mehr, als man ihnen gegenüber keine »Vorurteile« zu überwinden hatte, wie Baron Windeg es diplomatisch nannte. Zu Herzen ging dieser Verlust wohl keinem, vielleicht nicht einmal dem einzigen Sohne des Verstorbenen, für den er doch so viel gethan; denn es ist schwer da zu lieben, wo auch nicht eine Spur von Achtung vorhanden ist. Uebrigens ließ es sich schwer entscheiden, ob Arthur Berkow durch den Tod seines Vaters wirklich tief oder nur oberflächlich berührt wurde. Wer die Fassung sah, die er andern gegenüber zeigte, mußte wohl das letztere glauben, und doch war er furchtbar ernst geworden seit jener Katastrophe und fast unzugänglich für jeden, mit dem er nicht notgedrungen verkehren mußte. Eugeniens Ruhe konnte niemand befremden, der die nähern Verhältnisse kannte. Für sie, wie für ihren Vater hörte mit dem Tod des alten Berkow allerdings der Haß gegen ihn auf; von einer andern Regung war hier nie die Rede gewesen – und dieser Standpunkt wurde leider von vielen geteilt; denn nur zu viele hatten Grund dazu. Die Beamten waren zu oft durch das brutale, hochmütige Wesen des Emporkömmlings verletzt worden, der ihre Kenntnisse und Fähigkeiten nur als eine Ware betrachtete, die ihm gegen Bezahlung des Gehaltes zur unbedingten Verfügung stand, um einen Chef zu betrauern, bei dem weder Charakter, noch Persönlichkeit, noch Tüchtigkeit galt, sondern nur die möglichst vorteilbringende Verwendbarkeit in der betreffenden Stellung. Noch Schlimmeres aber gab sich bei den Arbeitern kund, eine vollständige Fühllosigkeit, die keine Regung des Mitleids, der Teilnahme aufkommen ließ. Berkow war, was man ihm auch sonst vorwerfen mochte, doch unleugbar ein industrielles Genie ersten Ranges gewesen. Er hatte sich aus Armut und Niedrigkeit zu einer bedeutenden Höhe emporgeschwungen, hatte Schöpfungen ins Leben gerufen, die, was die Großartigkeit betraf, sich den ersten des Landes an die Seite stellen durften; er hatte eine Stellung errungen, in der er Tausenden hätte zum Segen werden können. Er war es ihnen nicht geworden, hatte es nicht werden wollen. Da mußte denn wohl sein Andenken die Verurteilung über sich ergehen lassen, die in diesem Aufatmen nach seinem plötzlichen Tode lag, das durch seine ganze Umgebung, durch all seine Schöpfungen ging, in diesem unausgesprochenen und doch von allen gefühlten »Gott sei Dank!«

Ob die Erbschaft eines solchen Lebens und dessen, was es seit Jahrzehnten gefaßt, wirklich so beneidenswert war, als es den äußeren Anschein hatte, mochte dahingestellt bleiben. Jedenfalls wälzte schon diese Erbschaft an sich eine Last von Geschäften auf die Schultern des jungen Erben, der er nach dem allgemeinen Urteil am wenigsten gewachsen war. Er hatte freilich Beamte aller Fächer, Vertreter und Bevollmächtigte genug; aber je mehr sein Vater es verstanden hatte, sie sämtlich in Abhängigkeit von sich zu erhalten und an seine unbedingte Oberleitung zu gewöhnen, desto mehr fehlte ihnen jetzt die Hand und das Auge des Herrn, fehlte dieser Herr selber. Jetzt sollte der Sohn die Zügel in die Hand nehmen, und noch ehe dies geschehen war, mußte auch er das Urteil oder vielmehr die Verurteilung über sich ergehen lassen, die in dem Achselzucken seiner sämtlichen Untergebenen lag. Sie waren bereits einig darüber, daß auf ihn so gut wie gar nicht zu rechnen sei.

In dem Konferenzzimmer war das ganze Beamtenpersonal versammelt, um den nunmehrigen Chef zu erwarten, der sie für diese Stunde herbeschieden hatte. Aber wer die ratlosen, verstörten und zum Teil selbst angstvollen Gesichter der Herren sah, der mußte wohl auf die Idee geraten, daß hier mehr verhandelt werden sollte, als eine bloß formelle Begrüßung und Vorstellung, jetzt, nachdem die ersten Tage der Trauer vorüber waren.

»Das war ein Schlag!« sagte der Direktor eben zu Herrn Schaffer, der gleichfalls aus der Residenz eingetroffen war. »Der schlimmste, der uns überhaupt treffen konnte! Wir wußten ja längst, was sie untereinander verabredeten und planten, und das geschieht ja auch überall in den benachbarten Werken. Man sah es kommen; man hätte seine Maßregeln danach genommen, aber jetzt schon, gerade in diesem Augenblick! Das liefert uns auf Gnade und Ungnade in ihre Hände.«

»Hartmann hat seine Zeit gut gewählt!« fiel der Oberingenieur bitter ein. »Er weiß sehr wohl, was er thut, wenn er allein vorgeht, ohne die andern Werke. Der Chef tot, sämtliche Geschäfte in Stockung und Verwirrung, der Erbe unfähig zu jedem energischen Eingreifen – da kommt er mit seinen Forderungen! Ich habe es Ihnen immer gesagt, dieser Hartmann ist uns ein Pfahl im Fleische. Die Leute sind gut und man kann es ihnen nicht verdenken, wenn sie endlich einmal Sicherung ihres Lebens in den Schachten und das Notwendige für dieses Leben verlangen. Sie haben lange genug unter drückenden Umständen ausgehalten, wie keine der andern, und sie hätten auch vernünftige Forderungen gestellt, die man bewilligen könnte. Was sie uns aber unter diesem Führer zudiktieren, das übersteigt ja alle Begriffe, das ist ja eine offene Empörung gegen alles Bestehende!«

»Was wird nur der junge Herr thun?« fragte Wilberg, der unter all den Ratlosen und Aengstlichen der Ratloseste und Aengstlichste war, ziemlich kleinlaut.

»Was er unter den augenblicklichen Umständen thun muß,« entgegnete Herr Schaffer, ernst, »die Forderungen bewilligen.«

»Erlauben Sie, das kann er nicht!« fuhr der Oberingenieur auf. »Das zerreißt alle Disziplin und macht ihn in Jahr und Tag zu einem ruinierten Mann. Ich wenigstens bleibe nicht auf den Werken, wo das durchgeht.«

Schaffer zuckte die Achseln. »Und doch wird ihm kaum etwas andres übrigbleiben. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß die Dinge bei uns keineswegs so glänzend stehen, als es den Anschein hat. Wir haben Verluste in der letzten Zeit gehabt, sehr bedeutende Verluste; wir haben nach allen Seiten hin Ausfälle decken, Opfer bringen müssen; dann war noch so manche andre Verpflichtung – genug, wir sind einzig auf den augenblicklichen Ertrag der Werke angewiesen. Feiern uns die einige Monate und können wir die für dies Jahr abgeschlossenen Kontrakte nicht zur Ausführung bringen, dann sind wir – am Ende.«

»Die Leute müssen irgend etwas davon in Erfahrung gebracht haben,« meinte der Oberingenieur finster, »sonst würden sie es gar nicht wagen, so aufzutreten; aber sie wissen nur zu gut, daß das einmal Bewilligte nicht wieder zurückgenommen werden kann. Hartmann wird alles aufbieten, es durchzusetzen, und wenn er es unter dem zwingenden Druck der Verhältnisse wirklich durchsetzt – was sagte denn Herr Arthur, als Sie ihm von diesem Stande seiner Angelegenheiten Mitteilung machten?«

Es war eigentümlich, daß die sämtlichen Beamten nie von »Herrn Berkow« oder ihrem Chef sprachen, als sei es ihnen unmöglich, die Person des jungen Herrn mit diesen Bezeichnungen in Verbindung zu bringen; sie nannten ihn noch immer »Herr Arthur« oder »der junge Herr«, wie sie ihn stets genannt hatten. Bei der letzten Frage richteten sich aller Augen auf Schäffer.

»Gar nichts hat er gesagt,« erwiderte dieser. »›Ich danke Ihnen, Schäffer!‹ Das war alles. Er hat nur die Papiere dabehalten, die ich zur besseren Orientierung für ihn mitgenommen hatte, und sich eingeschlossen. Seitdem habe ich ihn nicht wieder gesprochen.«

»Ich sprach ihn gestern abend, als ich ihm die Forderungen unsrer Bergleute vorlegte,« sagte der Direktor. »Er wurde freilich totenblaß, als die Hiobspost zum Vorschein kam; dann aber hörte er stumm zu, ohne auch nur eine Silbe zu erwidern, und als ich einige Ratschläge und Tröstungen laut werden ließ, in der sicheren Voraussetzung, daß es nun zu einer Besprechung kommen würde, schickte er mich fort. Er wollte das erst allein überlegen! Heute morgen erhielt ich denn die Weisung, Sie sämtlich zur Konferenz herzuberufen.«

Um Herrn Schäffers Mund legte sich wieder der alte, sarkastische Zug. »Ich fürchte, ich kann Ihnen das Resultat der Konferenz vorher sagen: Bewilligen Sie alles, meine Herren, geben Sie unbedingt nach, machen Sie, was Sie wollen, nur sichern Sie mir für den Augenblick den Betrieb der Werke! Und dann wird er Ihnen ankündigen, daß er mit der gnädigen Frau nach der Residenz zurückkehrt und die Sachen hier gehen läßt, wie es dem Himmel und Ihrem Hartmann gefällt.«

»Es trifft ihn aber auch jetzt Schlag auf Schlag!« mischte sich Wilberg ein, der in ritterlicher Aufwallung für den Abwesenden Partei nahm; »da könnte ein Stärkerer unterliegen.«

»Ja, Sie haben immer Sympathie für Schwäche!« spottete der Oberingenieur. »Nur in den letzten Wochen hatten Sie entschieden Sympathie für das Gegenteil. Herr Hartmann erfreute sich ja Ihrer ganz besonderen Freundschaft. Schwärmen Sie etwa noch für ihn?«

»Um Gottes willen, nein!« rief Wilberg mit einem fast entsetzten Ausdruck. »Ich habe ein Grauen vor dem Manne seit – seit der Todesstunde des Herrn Berkow!«

»Ich auch!« sagte der Oberingenieur kurz, »und ich glaube, wir alle. Es ist furchtbar, daß wir gerade mit ihm unterhandeln müssen, aber freilich, wo keine Beweise sind, thut man am besten, zu schweigen.«

»Glauben Sie denn wirklich an. die Möglichkeit eines Verbrechens?« fragte Schäffer die Stimme senkend. Der Direktor zuckte die Achseln. »Die Untersuchung hat nur die Thatsache ergeben, daß die Seile gerissen sind. Sie können von selber gerissen sein, ob das wirklich geschehen ist, kann allein Hartmann wissen. Wie gesagt, die Untersuchung fördert da nichts zu Tage, und bei jeder andern Begleitung wäre der Verdacht auch ausgeschlossen. Der ist zu allem fähig!«

»Aber bedenken Sie doch, er brachte sich ja selbst in die größte Lebensgefahr dadurch. Der Sprung, mit dem er sich rettete, war ein tollkühnes Wagestück, das der zehnte nicht unternommen hätte, und das dem zehnten nicht geglückt wäre. Er mußte gewärtig sein, mit in die Tiefe hinabzustürzen und sich zu zerschmettern.«

Der Oberingenieur schüttelte den Kopf. »Sie kennen Ulrich Hartmann schlecht, wenn Sie glauben, er besänne sich auch nur einen Augenblick, sein Leben in die Schanze zu schlagen, wenn er irgend etwas unternehmen will, wobei dieses Leben in Frage kommt. Sie waren ja dabei, als er sich den Pferden in den Weg warf. Damals hatte er gerade die Laune, retten zu wollen; wenn er verderben will, kümmert er sich wenig darum, ob auch sein eigenes Verderben droht. Das ist ja eben das Gefährliche an diesem Manne, daß er keine Rücksichten kennt gegen sich und andre, daß er sich im Notfall selbst opfern würde, wenn –«

Er verstummte plötzlich, da in diesem Augenblick der junge Chef eintrat. Arthur war sehr verändert, die tiefe Trauerkleidung ließ sein ohnehin schon bleiches Gesicht noch bleicher erscheinen, und Stirn und Augen trugen ein Gepräge, als hätten sie während der letzten Nächte nicht den Schlaf gekannt; dennoch erwiderte er ruhig den Gruß der Beamten und trat in ihre Mitte.

»Ich habe Sie herrufen lassen, meine Herren, um mit Ihnen Rücksprache über die Angelegenheiten zu nehmen, die nach dem Tode meines Vaters in meine Hände übergegangen sind. Es ist da vieles zu ordnen und zu ändern, mehr vielleicht, als wir anfangs glaubten. Ich habe, wie Sie wissen, diesem ganzen Geschäftskreise bisher ferngestanden und werde mich nicht sofort darin orientieren können, obgleich ich es in den letzten Tagen versucht habe. Ich rechne daher in vollstem Maße auf Ihren guten Willen und Ihre Bereitwilligkeit, mich zu unterstützen. Ich werde beides sehr in Anspruch nehmen müssen, und versichere Sie im voraus meines Dankes.«

Die Herren verneigten sich, und die Mehrzahl zeigte etwas verwunderte Gesichter, während der Oberingenieur dem Direktor einen Blick zuwarf, der zu sagen schien: »Das war ja soweit ganz vernünftig!«

»Die übrigen Angelegenheiten,« fuhr Arthur fort, »müssen vorläufig zurücktreten vor der augenblicklichen Kalamität, vor der Gefahr, mit der uns die Forderung der Bergleute und die Einstellung ihrer Arbeit im Falle der Nichtbewilligung bedrohen. Es kann hier freilich nur von einer Entscheidung die Rede sein.«

Diesmal war es Herr Schäffer, der dem Oberingenieur einen Blick zuwarf, der ebenso deutlich sprach, wie vorhin der seinige: »Sagte ich es nicht, er gibt unbedingt nach! Jetzt wird er Ihnen die Abreise ankündigen.«

Der junge Chef schien jedoch damit keine Eile zu haben; er meinte im Gegenteil: »Vor allen Dingen ist es nötig, sich darüber zu unterrichten, wie die Leute organisiert sind und wer sie leitet.«

Es trat ein sekundenlanges Schweigen ein, jeder von den Beamten scheute sich, einen Namen auszusprechen, den sie eben noch in so furchtbare Verbindung mit dem geschehenen Unglück gebracht hatten, endlich sagte der Oberingenieur:

»Hartmann leitet sie, und es ist daher kein Zweifel, daß sie gut geleitet sind und daß die Organisation nichts zu wünschen übrig läßt.«

Arthur blickte nachdenkend vor sich hin. »Das fürchte ich auch, und dann wird es einen Kampf geben, denn von einer vollständigen Bewilligung kann natürlich nicht die Rede sein.«

»Kann natürlich nicht die Rede sein!« wiederholte der Oberingenieur triumphierend, und gab damit das Signal zu einer höchst lebhaften Debatte, in der er mit vollster Entschiedenheit seine vorhin geäußerten Ansichten verfocht. Herr Schäffer, der das Gegenteil vertrat, war nicht minder lebhaft bemüht, mit allerlei Winken und Andeutungen, die der junge Chef nur zu gut verstand, ihm die Notwendigkeit des Nachgebens klar zu machen. Der Direktor hielt sich dagegen mehr neutral, riet zum Abwarten, zum Unterhandeln. Die übrigen Beamten endlich ließen ihre Vorgesetzten sprechen und wagten sich nur hin und wieder mit einer eingestreuten Bemerkung oder unmaßgeblichen Ansicht hervor.

Arthur hörte das alles schweigend und scheinbar aufmerksam mit an, ohne sich der einen oder der andern Partei zuzuneigen; als aber Schäffer eine längere Rede mit einem unumwundenen »wir müssen« schloß, hob er plötzlich das Haupt mit einer solchen Entschiedenheit, daß all die Meinungen um ihn her verstummten.

»Wir müssen nicht, Herr Schäffer! Es gibt hier denn doch noch eine andre Rücksicht als bloß den Geldpunkt, die Rücksicht auf meine Stellung den Leuten gegenüber, die für immer erschüttert wäre, wenn ich mich ihnen so auf Gnade und Ungnade ergäbe. Wie wenig ich auch noch mit diesen Dingen vertraut bin, so sehe ich doch, daß diese Forderungen über das Maß des Möglichen hinausgehen, und sie geben mir das alle einstimmig zu. Es mögen sich Mißstände eingeschlichen, die Arbeiter mögen Grund zur Klage haben –«

»Das haben sie, Herr Berkow!« unterbrach ihn der Oberingenieur fest. »Sie haben recht, wenn sie eine Untersuchung und Verbesserung der Schachte, wenn sie eine Erhöhung des Arbeitslohnes verlangen, und über gewisse Erleichterungen und Einteilungen der Schichten wird sich auch reden lassen. Das weitere ist eine übermütige Herausforderung, die einzig und allein ihr Führer Hartmann veranlaßt hat. Er ist die Seele des Ganzen.«

»Dann wollen wir ihn zuerst selbst hören! Ich habe ihn bereits benachrichtigen lassen, daß seine und der übrigen Abgesandten Anwesenheit wohl hier notwendig sein dürfte; sie sind jedenfalls schon da. Herr Wilberg, wollen Sie sie rufen!«

Herr Wilberg entfernte sich, aber mit offenem Munde und einer Miene, die in ihrem Ausdrucke grenzenloser Verwunderung fast dumm erschien. Herr Schäffer zog die Augenbrauen in die Höhe und sah den Direktor an; dieser nahm eine Prise und sah die übrigen Herren an, und dann blickten sie alle zusammen wieder auf ihren jungen Chef, der auf einmal Anordnungen traf und Befehle erteilte und dabei einen Ton entwickelte, in den sie sich nicht finden konnten, vielleicht mit alleiniger Ausnahme des Oberingenieurs, der seinen Kollegen den Rücken gewendet und sich an Arthurs Seite gestellt hatte, als wisse er nun, wohin er eigentlich gehöre.

Indessen kehrte Wilberg zurück, und unmittelbar hinter ihm traten Ulrich Hartmann, Lorenz und noch einer der Bergleute ein, aber die beiden letzteren blieben, als ob sich das von selbst verstände, einige Schritte zurück und ließen den jungen Steiger allein vortreten.

»Glück auf!« grüßte dieser, und »Glück auf!« auch seine beiden Kameraden, aber der Ton des alten frohen Bergmannsgrußes schien hier seinem Inhalte zu widersprechen. In dem Wesen Ulrichs hatte freilich von jeher etwas Herrisches, Trotziges gelegen, aber es hatte sich nie so herausfordernd, so geradezu verletzend kundgegeben, wie heute, wo er zum erstenmal dem Chef und dem Beamtenkreise in dieser Weise gegenübertrat, nicht mehr als ein Untergebener, der Weisungen und Befehle zu empfangen hatte, sondern als ein Abgesandter, der ihnen seine Forderungen nicht vorlegte, nein, der sie ihnen diktierte. Freilich war es kein gemeiner Hochmut, der aus dieser Haltung sprach, aber doch die trotzige Ueberhebung, die in dem Bewußtsein eigener Kraft und fremder Schwäche wurzelt. Er ließ die finsteren blauen Augen langsam durch den ganzen Kreis schweifen, bis sie zuletzt auf dem jungen Chef haften blieben, und seine Lippen warfen sich wieder verächtlich auf, während er schweigend die Anrede erwartete.

Arthur hatte sich während der ganzen vorhergehenden Verhandlungen nicht gesetzt; er war auch jetzt stehen geblieben und stand ernst dem Manne gegenüber, der, wie man von allen Seiten behauptete, die Hauptschuld an dem Schlage trug, welcher ihm jetzt drohte. Von der viel schwereren Schuld, mit der man die letzten Augenblicke seines Vaters in Verbindung brachte, hatte der Sohn zum Glück keine Ahnung, denn er trat mit vollkommenster Ruhe in die Verhandlungen ein.

»Untersteiger Hartmann, Sie haben mir gestern durch den Herrn Direktor die Forderungen der sämtlichen Bergleute meiner Werke vorlegen lassen, und im Falle der Nichtbewilligung mit allgemeiner Niederlegung der Arbeit gedroht.«

»So ist's, Herr Berkow!« lautete die kurze, sehr entschieden klingende Antwort.

Arthur stützte die Hand auf den Tisch, aber sein Ton war kühl, geschäftsmäßig; er verriet nicht die mindeste Erregung.

»Vor allen Dingen möchte ich wissen, was Sie eigentlich mit diesem Vorgehen beabsichtigen. Das sind keine Forderungen, das ist eine Kriegserklärung! Sie werden sich selber sagen, daß ich dergleichen nicht bewilligen kann und nicht bewilligen werde.«

»Ob Sie es bewilligen können, weiß ich nicht, Herr Berkow,« sagte Ulrich kalt, »ich glaube aber, Sie werden es bewilligen, denn wir sind entschlossen, die Werke so lange feiern zu lassen, bis Sie unsern Forderungen nachkommen, und einen Ersatz finden Sie nicht in der ganzen Provinz.«

Das Argument war so schlagend, daß sich nicht viel dagegen einwenden ließ, aber der Ton, in dem es hervorgehoben wurde, zugleich so hohnvoll, daß Arthur die Stirn runzelte.

»Es ist keineswegs meine Absicht, Ihnen alles zu verweigern,« erklärte er fest. »Es sind unter diesen Forderungen einzelne, deren Gerechtigkeit ich anerkenne und denen ich also auch nachkommen werde. Die Untersuchung und Aenderung der Schachte, die Sie verlangen, wird geschehen; der Arbeitslohn wird, wenigstens teilweise, erhöht werden. Ich werde schwere Opfer deswegen bringen müssen, mehr vielleicht, als ich gerade jetzt in geschäftlicher Hinsicht verantworten kann, aber es wird geschehen. Dagegen müssen die andern Punkte fallen, die einzig und allein darauf abzielen, mir und meinen Beamten die Herrschaft aus den Händen zu winden und die Disziplin zu lockern, die für ein Unternehmen wie das unsrige eine Lebensfrage ist.«

Der verächtliche Zug um Ulrichs Lippen verschwand und machte einem Ausdrucke der Befremdung und des Argwohns Platz, mit dem er erst die Beamten und dann den jungen Chef anblickte, als habe er diesen im Verdacht, er sage, etwas ihm Eingelerntes her. »Es thut mir leid, Herr Berkow, aber die Punkte fallen nicht!« entgegnete er trotzig.

»Ich glaube wohl, daß sie gerade Ihnen eine Hauptsache sind,« sagte Arthur, den Blick fest auf Ulrich gerichtet, »dennoch wiederhole ich Ihnen, daß sie fallen müssen. Ich werde in meinen Bewilligungen bis an die Grenze des Möglichen gehen; da aber bleibe ich stehen und thue keinen Schritt darüber hinaus. Was ich gewähre, soll und wird jeden befriedigen, der ehrliche, lohnende Arbeit sucht. Wen es nicht befriedigt, der sucht eben etwas andres, und mit dem ist keine Einigung zu hoffen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß das Notwendige zur Sicherung der Arbeiter in den Schachten und zur Erhöhung ihres Verdienstes geschehen soll und fordere nun auch meinerseits von Ihnen das Vertrauen in meine Worte. Ehe wir aber diese Angelegenheit besprechen, müssen Sie auf den zweiten Teil Ihrer Forderungen verzichten. Die Erfüllung ist unmöglich, und ich gehe unter keiner Bedingung darauf ein.«

Er hatte noch immer den ruhigen geschäftsmäßigen Ton beibehalten, aber dennoch wich die ganze Rede viel zu sehr ab von der sonstigen Art und Weise des jungen Erben, als daß sie Ulrich nicht hätte auffallen sollen. Dieser traute seinen eigenen Ohren nicht, aber je unerwarteter ihm der Widerstand kam an einer Stelle, wo er mit Sicherheit auf scheues, zaghaftes Ausweichen gerechnet hatte, das die Brücke zur unbedingten Ergebung schlagen sollte, desto mehr reizte ihn dieser Widerstand, und seine unbändige Natur brach nur zu bald die ungewohnten Schranken.

»Sie sollten das lieber nicht so von sich weisen, Herr Berkow,« sagte er drohend. »Wir sind unser zweitausend und die Werke so gut wie in unsrer Hand. Die Zeit ist vorbei, wo wir uns knechten und treten ließen, wie es Ihnen gerade gefiel. Wir fordern jetzt unser Recht, und wenn es uns im Guten nicht wird, dann nehmen wir es mit Gewalt!«

Eine halb zornige, halb angstvolle Bewegung ging durch den Kreis der Beamten. Sie sahen eine Szene herankommen, die bei der bekannten Wildheit Hartmanns mit Gewaltthätigkeiten endigen konnte. Arthur war dunkelrot geworden; er that einige Schritte vorwärts und stand dicht vor Ulrich.

»Vor allen Dingen ändern Sie den Ton, Hartmann, in dem Sie mit Ihrem Chef sprechen! Wenn Sie hier als Abgesandter empfangen sein wollen und als solcher eine Art von Gleichstellung beanspruchen, so benehmen Sie sich auch, wie es bei solchen Verhandlungen Sitte ist, und schleudern Sie uns nicht gleich Drohungen von Gewalt und Empörung ins Antlitz! Sie verlangen Disziplin von Ihren Leuten, und ich verlange sie von Ihnen. Werfen Sie sich draußen bei Ihren Kameraden zum Herrn auf, wenn es Ihnen sonst beliebt! So lange ich vor Ihnen stehe, bin ich der Herr dieser Werke und denke es zu bleiben. Richten Sie sich danach!«

Wäre der Blitz in das Konferenzzimmer niedergefahren, er hätte keine größere Wirkung hervorbringen können, als diese mit vollster Energie und gebieterischem Stolze herausgeschleuderten Worte. Die Beamten wichen erst zurück und machten dann Miene, wie Zum Schütze, einen Kreis um ihren jungen Chef zu schließen, der sie mit einer ruhigen Handbewegung zurückwies. Die beiden Bergleute blickten wie betäubt auf ihn Hin, aber keinen traf dies jähe Aufflammen so furchtbar, wie Ulrich. Er war leichenblaß geworden. Weit vorgebeugt stand er da, mit bebenden Lippen und weit offenen, starren Augen, als könne und wolle er nicht begreifen, was er doch sah und hörte. Dann auf einmal schien ihm sein verhängnisvoller Irrtum über den klar zu werden, von dem er noch vor wenigen Tagen mit verächtlichem Achselzucken behauptet, er zähle überhaupt nicht, und nun blitzte es furchtbar auf in seinen Zügen. Wie ein gereizter Löwe war er im Begriff, sich vorwärts zu stürzen. Aber wie diesen zwang ihn ein furchtloser Blick, der klar, fest und ruhig dem seinigen begegnete. Arthur war unbeweglich stehen geblieben, nur das Auge hatte er groß und voll aufgeschlagen und mit diesem Auge wies er die hervorbrechende Wildheit gebieterisch in ihre Schranken zurück. Nur einige Sekunden lang dauerte dieses Anschauen der beiden; dann war es entschieden zwischen ihnen. Langsam löste sich die geballte Rechte Ulrichs; langsam wich die milde Drohung aus seinen Zügen, und der Blick sank zu Boden. Er hatte in dem jungen Chef das ihm Ebenbürtige, vielleicht das ihm Ueberlegene erkannt, und – beugte sich ihm.

Arthur trat zurück. Seine Stimme klang wieder kalt und ruhig, als er fortfuhr: »Und nun teilen Sie Ihren Kameraden mit, was ich Ihnen bewilligen kann und was nicht! Fügen Sie hinzu, daß ich kein Wort von dem Gesagten zurücknehmen werde! Damit sind wir für jetzt zu Ende.«

»Wir sind's!« Ulrichs Ton klang dumpf, fast erstickt von innerer Leidenschaft. »So erkläre ich Ihnen denn im Namen der gesamten Knappschaft Ihrer Werke, daß diese Werke von morgen an feiern werden!«

»Es ist gut. Ich war darauf vorbereitet. Und nun warne ich Sie noch einmal, Hartman, vor allen gewaltsamen Schritten. Man sagt, Sie übten eine unbedingte Herrschaft über Ihre Kameraden aus. So sorgen Sie auch, daß Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten bleibt, und hoffen Sie nicht etwa, mich durch lärmende Szenen einzuschüchtern! Ich und meine Beamten werden das Aeußerste thun, um jeden Konflikt zu vermeiden; wird er uns dennoch aufgezwungen, so müssen wir Stellung dagegen nehmen, und im äußersten Falle werde ich mein Hausrecht brauchen. Ersparen Sie das mir und sich selber!«

Ulrich wandte sich zum Gehen; aber in dem Abschiedsblick mischten sich Haß und Wut mit noch etwas anderm, Tieferem, was freilich niemand ahnte, was aber die Brust des wilden, leidenschaftlichen Mannes wie im Krämpfe zusammenzog. Er hatte den »Weichling« so lange verachtet und triumphiert in dem Gedanken, daß er auch – anderswo verachtet werden müsse. Wenn er sich dort jetzt auch so zeigte, wie eben hier, dann war es zu Ende mit der Verachtung und dieses große braune Auge, das ihn gezwungen, konnte wohl noch etwas andres erzwingen, als Haß und Abneigung. Die fahle Blässe, die das Antlitz des jungen Bergmannes seit jener Zurechtweisung bedeckte, war noch tiefer geworden, als er sich abwandte.

»Wir wollen sehen, wer's am längsten aushält! Glück auf!«

Er ging, begleitet von seinen beiden Kameraden, aber man sah es an den Gesichtern der Leute, daß die eben beendigte Szene auf sie ganz anders gewirkt hatte, als auf ihren Führer. Es war ein halb scheuer, halb ehrerbietiger Blick, mit dem sie zu dem jungen Chef zurückblickten, und es lag etwas Zögerndes, Unsicheres in ihrem Wesen, als sie sich entfernten.

Arthur hatte ihnen forschend nachgeblickt und wendete sich nun zu den Beamten. »Da sind schon zwei, die ihm nur mit halbem Herzen folgen! Ich hoffe, die Mehrzahl kommt zur Besinnung, wenn man ihr Zeit läßt; für jetzt, meine Herren, müssen wir uns in die Notwendigkeit ergeben und die Werke feiern lassen. Ich verkenne keineswegs die Gefahr, die uns hier in der Abgeschiedenheit droht von zweitausend aufgeregten Menschen, mit einem Führer wie Hartman an der Spitze; aber ich bin entschlossen, ihr standzuhalten und nicht eher zu weichen, bis alles entschieden ist. Es hängt natürlich von Ihrem freien Willen ab, ob Sie mir hierin folgen werden. Da Sie fast alle gegen meine Entscheidung waren, so werde ich Ihnen die Folgen natürlich nicht aufzwingen und bereitwillig jedem Urlaub erteilen, der jetzt etwa, eine zeitweilige Entfernung von den Werken für notwendig hält.«

Eine allgemeine entrüstete Verneinung beantwortete diesen Vorschlag. Die sämtlichen Beamten drängten sich mit einem fast leidenschaftlichen Eifer um ihren jungen Chef, um ihn zu versichern, daß keiner von ihnen von seinem Platze weichen würde; selbst der schüchterne Herr Wilberg schien auf einmal Löwenmut gewonnen zu haben; so energisch stimmte er ein. Arthur atmete tief auf.

»Ich danke Ihnen, meine Herren! Am Nachmittage wollen wir das weitere besprechen und uns über die zu nehmenden Maßregeln verständigen; für jetzt muß ich Sie verlassen. Herr Schäffer, ich erwarte Sie in einer Stunde drüben in meinem Arbeitszimmer – noch einmal meinen Dank Ihnen allen!«

Erst als er gegangen war und die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte, brachen all die Regungen des Erstaunens, des Beifalls und der Besorgnis hervor, die seine Gegenwart bisher zurückgehalten hatte.

»Mir zittern alle Glieder!« sagte Herr Wilberg, indem er sich, ohne an die Gegenwart seiner Vorgesetzten zu denken, auf einen Stuhl niederließ, aber der vorhergehende Auftritt schien alle Etikettenrücksichten aufgehoben zu haben. »Gott im Himmel, war das eine Szene! Ich dachte, der wilde Mensch, der Hartmann, würde sich auf ihn stürzen, aber dieser Blick, diese Art zu reden – wer hätte das in dem Herrn gesucht!«

»Er war zu scharf, viel zu scharf!« tadelte Schäffer, aber selbst in diesem Tadel und in seinem bedenklichen Kopfschütteln lag ein ganz andrer Ausdruck, als der war, mit dem er vorhin von Arthur gesprochen. »Er sprach, als hätte er noch immer über Millionen zu gebieten und als wäre der Betrieb der Werke nicht eine Lebensfrage für ihn. Sein Vater, hätte trotz seines Hochmutes hier unbedingt nachgegeben, denn es wäre geschäftlich seine einzige Rettung gewesen, und Rücksichten auf seine Stellung und Würde kannte er nicht. Der Sohn scheint freilich anders geartet, aber diese Sprache, die noch vor einem Jahre am Platz gewesen wäre, ist es jetzt nicht mehr. Er hätte vorsichtiger, unbestimmter in seinen Ausdrücken sein müssen, damit ihm die Möglichkeit eines Rückzuges offen geblieben wäre, für den Fall, daß–«

»Zum Kuckuck mit Ihren Rücksichten und Bedenklichkeiten!« fiel der Oberingenieur heftig ein. »Entschuldigen Sie, Herr Schaffer, daß ich grob werde, aber man sieht es, daß Ihre Thätigkeit nur in den Bureaux lag, und Sie niemals Arbeitermassen geleitet haben. Gerade das Richtige hat er getroffen, imponiert hat er ihnen, und das ist in solchem Falle alles. Ein gütliches Zureden hätte ihnen für Schwäche, eine vornehme Ruhe für Hochmut gegolten. Ihre eigene Sprache des Entweder – Oder muß man mit ihnen reden, und unser Herr versteht es wie keiner; das haben Sie an Hartmann gesehen,«

»Ich fürchte nur, er unterschätzt trotz alledem den Kampf, der uns bevorsteht,« sagte der Direktor ernst. »Unsre Leute allein hätten sich mit diesen Zugeständnissen zufrieden gegeben, mit diesem Führer an der Spitze thun sie es nicht. Er wird keinen Ausgleich zulassen, und sie folgen ihm blindlings. Aber der Herr hat recht, er ist bis an die Grenze des Möglichen gegangen, weiter gehen hieße: sich selbst, seine Stellung und uns alle preisgeben!«

Sie sprachen jetzt auf einmal alle von »dem Herrn«, als ob sich das von selbst verstände. In einer einzigen Stunde hatte sich Arthur den Titel erobert; jetzt schien gar keine andre Bezeichnung für den jungen Chef zu existieren. Er mußte sich doch wohl als Herr gezeigt haben. –

Die drei Abgesandten hatten das Haus verlassen und schritten nach den Werken hinüber. Ulrich sprach kein Wort, aber Lorenz sagte halblaut:

»Du meintest neulich, wenn uns einer zur rechten Zeit die Zähne wiese und zu rechter Zeit gute Worte gäbe, dann – höre Ulrich, ich glaube da oben versteht's!«

Ulrich antwortete nicht, er warf einen Blick nach den Fenstern hinauf, und es lagerte auf seiner Stirn wie eine Wetterwolke.

» Das also war hinter den Augen, die immer so schläfrig aussahen, als taugten sie zu nichts auf der Welt als zum Schlafen!« murmelte er zwischen den zusammengebissenen Zähnen. »›So lange ich hier stehe, bin ich der Herr dieser Werke!‹ Ich glaube wahrhaftig, er hat das Zeug dazu!«

Sie begegneten jetzt einer Gruppe von Bergleuten, speziell Ulrichs Leuten, die nicht mit angefahren waren und die drei Abgesandten mit stürmischen Fragen umringten.

»Laßt's euch von Ulrich erzählen!« meinte Lorenz trocken. »Ich glaube, wir sind da an den Unrechten gekommen; er denkt nicht an Nachgeben.«

»Nicht?« Die Bergleute schienen sämtlich enttäuscht. Sie hatten wohl auf einen andern Bescheid gerechnet. Es wurden einzelne Rufe und Drohungen gegen den jungen Chef laut, dessen Name dabei mehreremal mit offenbarer Verachtung genannt wurde.

»Schweigt still!« herrschte ihnen Ulrich zu. »Ihr kennt ihn nichts so wie wir ihn eben sahen. Ich glaubte, wir würden leichtes Spiel haben, nun der Vater aus dem Wege ist. In dem Sohne haben wir uns alle geirrt. Der hat etwas, was kein Mensch dem Weichling zugetraut, einen Willen! Ich sage euch, der wird uns noch zu schaffen machen!« Es war noch ziemlich früh am Vormittage, noch dufteten und funkelten Berge und Wälder in der tauigen Frische des Frühlingsmorgens, als Eugenie Berkow allein, ohne jede Begleitung, den Waldweg entlang ritt. Sie war eine vorzügliche Reiterin und liebte dies Vergnügen leidenschaftlich, und dennoch hatte sie sich ihm hier auf dem Lande weit seltener als sonst hingegeben. Anfangs verbot das Wetter jeden Ausflug ins Freie, später fehlte ihr die Lust dazu, der Hauptgrund aber war wohl der, daß ihr schönes Reitpferd ein Geschenk ihres Gemahls noch aus seiner Bräutigamszeit her war, und daß sie nun einmal gewohnt war, ihre Abneigung gegen den Geber auf alles zu übertragen, was von ihm kam. Nur mit Widerwillen hatte sie bei der Trauung die kostbaren Diamanten ihres Brautschmuckes angelegt, die seitdem nicht wieder ihre Etuis verließen; nur halb gezwungen bewegte sie sich in der verschwenderischen Pracht, die sie seit ihrer Vermählung umgab, und auch das herrliche Tier, das eine fabelhafte Summe gekostet hatte, und das, als sie das erste Mal an der Seite ihres Verlobten darauf erschien, die Bewunderung der ganzen Residenz herausforderte, wurde von seiner Herrin auffallend vernachlässigt und gänzlich der Sorge der Dienerschaft überlassen.

Um so überraschter war diese daher, als die gnädige Frau heute morgen befahl, Afra zu einem Spazierritte zu satteln, und den Diener, der sich fertig machte, sie wie gewöhnlich zu begleiten, bedeutete, daß sie diesmal allein reiten wolle. Ihrem Befehl wurde natürlich, wenn auch mit einiger Befremdung, Folge geleistet, und sie ritt wirklich ohne alle Begleitung fort. Arthur wußte selbstverständlich nichts davon, sie bekam ihn jetzt womöglich noch seltener als sonst zu Gesichte, da er sich häufig auch bei Tische entschuldigen ließ, und das Leben der beiden Gatten war ja überhaupt ein so getrenntes, daß nur in den seltensten Fällen der eine wußte, was der andre an diesem oder jenem Tage vornahm.

Eugenie ritt in raschem Trabe durch den Wald, ohne irgend einem menschlichen Wesen zu begegnen, es war in der That sehr einsam hier, und diese Einsamkeit, die Frische und Schönheit des Morgens verfehlten keineswegs ihren belebenden Einfluß auf die junge Frau, die mehrere Tage lang nicht über den Umkreis des Parkes hinausgekommen war. Die Werke feierten, und eine unheimliche Ruhe und Stille lag über der ganzen, sonst so rastlos thätigen Kolonie; desto lebhafter ging es dagegen in dem Arbeitszimmer des jungen Chefs zu, das dieser kaum mehr verließ. Die Beamten kamen und gingen; Konferenzen wurden gehalten, Bücher und Papiere geprüft; Schäffer war fortwährend auf dem Wege zwischen der Residenz und den Gütern; dabei flogen Briefe und Depeschen hin und her, aber diese ganze angestrengte Thätigkeit hatte ein so ernstes, so düsteres Gepräge, als schwebe irgend ein Unheil in der Luft, dem man zuvorkommen oder gegen das man sich wenigstens rüsten wollte. Eugenie wußte allerdings, daß eine Differenz mit den Arbeitern bestand, Arthur selbst hatte es ihr mitgeteilt und hinzugefügt, daß die Sache von gar keiner Bedeutung sei und in kurzem beigelegt sein werde. Sehr ruhig, sehr kühl hatte er ihr das gesagt und sie nur gebeten, auf ihren etwaigen Spazierfahrten möglichst die Dörfer zu vermeiden, in denen die Bergleute wohnten, da für den Augenblick doch eine etwas gereizte Stimmung herrsche. Die Beamten mußten jedenfalls Winke erhalten haben, die gnädige Frau nicht zu beunruhigen, denn Eugenies Versuche, von dieser Seite irgend etwas Näheres zu erfahren, scheiterten an höflichem Ausweichen oder beruhigenden Versicherungen. Sie hatten ihr gesagt, daß durchaus nichts zu besorgen, daß die Sache überhaupt von gar keiner Tragweite sei und der Ausgleich jeden Tag zu erwarten stände, – und doch fühlte Eugenie deutlich die geleugnete Gefahr, wie sie die Veränderung fühlte, die seit dem Tode des alten Berkow mit ihrem Gatten vorgegangen war, obgleich er gerade ihr gegenüber sein Benehmen nicht geändert hatte.

Die junge Frau war eine zu furchtlose, zu stolze Natur, um dies Ausschließen, diese sichtbare Schonung nicht als eine Art von Beleidigung zu empfinden. Freilich, sie hatte kein Recht auf Offenheit, auf Teilnahme an den Sorgen und vielleicht Gefahren ihres Mannes; was andre Frauen beanspruchen durften, lag ihr unendlich fern. Wenn das Trennungswort bereits ausgesprochen ist und man nur noch »anstandshalber« einige Monate miteinander aushält, um der Welt möglichst wenig Stoff zum Gerede zu geben, so ist man ja auch den gegenseitigen Interessen fremd. Das sah sie ein, und hätte sie es nicht eingesehen, so würde Arthur es ihr fühlbar gemacht haben, der sich in dem Maße, wie er sich täglich kräftiger aus seiner früheren Trägheit aufraffte und sich energischer in die angestrengteste Thätigkeit warf, immer fremder und kälter von ihr zurückzog; sie dankte es ihm wahrlich, daß er ihr das Peinliche des bevorstehenden Schrittes dadurch zu erleichtern suchte, daß er sie jetzt schon als eine völlig Fremde behandelte. Eugenie verhehlte sich nicht, daß der Tod Bertows ein großes Hindernis ihrer Wünsche aus dem Wege geräumt hatte. Er hätte schwerlich je in die Aufhebung einer Verbindung gewilligt; die sein Ehrgeiz so sehr erstrebt und die er teuer genug erkauft hatte. Sein Sohn dachte anders darin. Ihm war jene Verbindung ebenso gleichgültig, wie die Gemahlin, die er sich in seiner ehemaligen passiven Nachgiebigkeit hatte aufzwingen lassen. Er hatte freiwillig die Trennung zugestanden, noch, ehe sie selbst einen Versuch gemacht, dieselbe von ihm zu erreichen, und ein Schritt, der fast überall so unendlich viel Kämpfe, Thränen und Bitterkeiten kostet, der nicht selten alle Leidenschaften des Menschenherzens in ihrer ganzen Tiefe aufwühlt, vollzog sich hier so ruhig und leidenschaftslos, in einem so vollkommenen gegenseitigen Einverständnis und mit einer solchen Kälte, Höflichkeit und Herzlosigkeit, daß es wirklich ganz bewundernswert war.


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