Louis Weinert-Wilton
Der Drudenfuß
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

21

Die vermummte Gestalt, die sich an der Hofmauer des verlassenen Hauses in Lambeth eine Weile zu schaffen gemacht hatte, war kaum verschwunden, als auch schon eine andere an ihre Stelle trat, die das Dunkel ausgespien zu haben schien.

Patrick hob vorsichtig die Enden des Drahtes auf, den er mit Hilfe einer Bambusstange von dem silbergrauen Boot heraufgelegt hatte, und begann an den beiden Kontakten herumzubasteln. Er war zwar augenblicklich bloß ein schmieriger Heizer auf einem unscheinbaren Kahn, aber das nur, weil es dem gestrengen Bruder seiner seligen Mutter so beliebte. Sonst war er ein sehr geschickter Monteur des Elektrizitätswerkes in Dean.

Patrick verband seinen Draht so kunstgerecht mit den Kontakten, daß die andere Leitung nicht gestört wurde, und kroch dann wieder in seinen versteckten Winkel, um sein Kabel verschwinden zu lassen, wenn es an der Zeit war.

Das silbergraue Boot lag mit gelöschten Lichtern stromabwärts, dicht an der brüchigen Ufermauer, die es fast völlig in ihrem tiefen Schatten barg.

Oberst Passmore saß in seiner Kajüte vor einem kleinen Kästchen, aber vorläufig beschäftigte er sich mit dem Steuermann, der ausgehbereit vor ihm stand.

»Nochmals, Flack, Sie dürfen nur Augen für das Mädchen haben«, schärfte er ihm ein. »Was auch sonst in der Bar geschehen mag, es geht Sie nichts an. Und wenn Sie zufällig dem Mann begegnen sollten, von dem Sie mir das Messer gebracht haben, so tun Sie nichts dergleichen. Diese Geschichte hat Zeit. – Vergessen Sie auch nicht, was ich Ihnen wegen des Pfeiles gesagt habe. Steckt das Mädchen einen solchen an, so gehen Sie zum Eingang, wo Sie links einen Herrn mit einer gleichen Nadel im Knopfloch treffen werden und machen Sie ihn darauf aufmerksam. Er weiß, was er zu tun hat und wo ich zu finden bin.« Der Oberst machte eine leichte verabschiedende Handbewegung. »Das wäre alles. Gute Unterhaltung.«

Es war eine Viertelstunde vor Mitternacht, als Oberst Passmore sich an dem Kästchen zu schaffen machte, aber er mußte eine Weile warten, bevor Leben in die Leitung kam.

Endlich klangen klar und deutlich Worte an sein Ohr, und Patrick hatte seine Sache so gut gemacht, daß er die Stimme im Telefon und jene, die sich des Lautsprechers bediente, genau zu unterscheiden vermochte.

Passmore horchte gespannt auf, und seine Rechte mit dem Bleistift lag auf dem Schreibblock bereit. Es waren jedoch vorläufig nicht allzu bedeutsame Dinge, die er zu hören bekam.

Nummer Eins, der dicke kleine Mann von gestern, meldete sich mit dem Losungswort, und der ›Padischah‹ gab ihm die Parole für den nächsten Tag und fügte dann einige hastige geschäftliche Weisungen hinzu, die den Oberst veranlaßten, hie und da ein Wort zu Papier zu bringen. Es war hauptsächlich von den einzelnen Leuten die Rede, und zweimal fiel der Name Greenhithe und einmal der Ausdruck ›die dicke Zigarre‹. Der Mann sprach abgehackt und zuweilen wie gehetzt und schien sich überhaupt in großer Erregung zu befinden.

Der Oberst vernahm noch die Worte: »Fertigen Sie jetzt die Leute ab. Das Geld befindet sich links unter der Schwelle. Wenn Sie mich brauchen, drücken Sie auf den Knopf. Sonst rufe ich in einer Stunde nochmals. Bis dahin muß die Luft rein sein, denn es ist etwas sehr Dringendes«, dann wurde es in der Leitung mit einemmal still.

Der Lauscher auf dem Boot nahm trotz der langen Zeit, die demnach verstreichen konnte, den Hörer nicht ab, denn vielleicht brauchte der dicke, kleine Mann bei der Abfertigung der bestellten ›Schlepper‹ die geheimnisvolle Stimme wirklich, und eine solche Auseinandersetzung konnte manche weitere wichtige Aufklärung bringen.

Aber die Sache schien glatt gegangen zu sein, und es währte tatsächlich eine volle Stunde, bis der Lautsprecher sich wieder meldete.

»Alles in Ordnung?«

»Jawohl«, gab der Mann am Telefon zurück. »Nummer Fünf hat zwar gemault, aber ich habe ihm gehörig die Meinung gesagt.«

Der Oberst hob jäh den Kopf, und alle seine Sinne schienen sich aufs äußerste anzuspannen.

»Nummer Eins«, hörte er den geheimnisvollen ›Padischah‹ hastig hervorstoßen, »Bayford und Ferguson müssen aus dem Wege. Verstehen Sie mich? Machen Sie es, wie Sie wollen, aber gemacht muß es werden. Schließlich haben Sie ja Erfahrung darin. – Und dann ist noch ein Dritter. Ein Mann mit einem roten Bart, der sich jeden Abend in der Bar ›Tausendundeine Nacht‹ herumtreibt. Lassen Sie alles andere und kümmern Sie sich nur um diese Sache. Vor allem um den Rotbärtigen; der ist mir am wichtigsten. Mehr als ein paar Tage kann ich aber auch bei den beiden anderen nicht warten. Dafür werden Sie für jeden von den dreien, um den ich mich nicht mehr zu sorgen brauche, fünfzig Pfund unter dem Telefon finden. Sie wissen, ich halte Wort – auch bezüglich der paar Zeilen, die ich mit dem bewußten Fläschchen an Scotland Yard schicken würde, wenn Ihnen das lieber sein sollte . . .«

Die Drohung in den letzten Worten war nicht zu überhören, und der Mann am Telefon beantwortete sie mit einem wütenden »Hol Sie der Teufel!« Dann schien er Atem zu schöpfen, denn es vergingen einige Sekunden, bevor er heiser weitersprach: »Meinetwegen. – Aber jedesmal fünfzig Pfund haben Sie gesagt. Und das Fläschchen muß ich auch haben. Es ist etwas Besonderes, das es nicht wieder gibt und das sicher arbeitet.«

»Ganz sicher?« fragte der Lautsprecher dringlich.

»Das muß ich doch wissen«, erklärte der andere ungeduldig. »Und, was die Hauptsache ist, es ist nichts nachzuweisen.«

»Sie werden das Fläschchen morgen nacht im Kamin finden«, kam es nach einer Pause zurück. »Also, zuerst der Mann mit dem roten Bart, dann unsere Konkurrenz. Und noch in dieser Woche. – Schluß.«

Oberst Passmore nahm mit einem eisernen Gesicht den Hörer ab, und nur um seine Mundwinkel ging ein leichtes Zucken. Als nach einer Viertelstunde Patrick mit seinem Draht und seiner Stange erwartungsvoll auf dem Boot erschien, bekam er wortlos ein Papier in die Hand gedrückt, das seine empfindlichen Finger sofort als eine Pfundnote erkannten und schleunigst irgendwohin verstauten.

»Wenn Flack zurückkommt«, sagte der Oberst eine kurze Weile später, indem er sich von Deck behende auf die Ufermauer schwang, »so bestellen Sie ihm, daß ich ihn um zehn Uhr in meiner Wohnung zu sprechen wünsche.«

In einem unscheinbaren Hause nächst dem Home Office schlug eine Klingel gedämpft und kurz zweimal hintereinander an, und einer der schweigsamen Männer, die sich in bequemen Stühlen räkelten, eilte zu der dick gepolsterten Tür zur Rechten. Auch die übrigen – in ihrem Äußeren eine recht bunt zusammengewürfelte Gesellschaft – machten sich bereit, da nun jeden Augenblick die Reihe an sie kommen konnte. Wenn Oberst Passmore zu so später Nachtstunde erschien, gab es immer Hochbetrieb.

»Was haben Sie über Nummer Eins in Erfahrung gebracht?« fragte dieser eben, und der Mann, den er zu sich beordert hatte, zog einen vorbereiteten Zettel zu Rate, um ja nichts zu vergessen.

»Er heißt Fred Slater und besaß früher eine Kneipe, hat sie aber durch seine Trunksucht heruntergewirtschaftet. Was er augenblicklich treibt, ist unbekannt, doch wird behauptet, daß er viel Geld verdienen soll. Er hat einen sehr schlechten Ruf, und die Leute, die ihn länger kennen, fürchten sich geradezu vor ihm. Er hat nämlich bei den Matrosen-Fällen eine Rolle gespielt und war damals auch in Untersuchung. Aber man hat ihm nichts beweisen können.«

Passmore dachte einen Augenblick nach. »Bei den Matrosen-Fällen?«

»Vor ungefähr vier Jahren, Sir«, erinnerte der andere. »Damals sind kurz hintereinander Leute – ich glaube, es waren sieben oder acht –, die nach langer Fahrt abgeheuert hatten, in ganz verschiedenen Hafenschenken plötzlich erkrankt und in wenigen Minuten gestorben. Die Todesursache konnte zwar nie zuverlässig festgestellt werden, aber es war verdächtig, daß bei keinem von ihnen ein Penny gefunden wurde, obwohl sie kurz vorher mit vollen Taschen an Land gegangen waren. Schließlich hat man dann Slater festgenommen, weil sich herausstellte, daß er der letzte gewesen war, der mit allen gezecht hatte.«

»Also das . . .«, sagte Passmore kurz und dem Mann völlig unverständlich. »Bitte, schicken Sie mir Kenny.«

Kenny war der Zeitungsjunge, der es seit dem Tag, an dem er Mr. Bayford bei dessen Rückkehr nach London bis auf den Wagentritt nachgeklettert war, zu einer solchen Vollendung im Zeichnen von Drudenfüßen gebracht hatte. Er war ein sehr aufgeweckter Bursche und mochte vielleicht etwas älter sein, als er aussah.

Der Oberst hatte eine der für ihn hinterlegten Meldungen in der Hand und überflog sie mit sichtlichem Interesse.

»Hat Bayford diese Besuche unmittelbar hintereinander gemacht?« fragte er.

»Jawohl, Sir. Er fuhr von seiner Wohnung zu Ferguson, von dort zu Mrs. Lee, dann zu Rosary und schließlich zu Grubb. – In Stratford kannte ich mich nicht recht aus und dachte zuerst, daß er hinter dem Mädchen her war, aber –«

»Hinter welchem Mädchen?« entfuhr es Passmore überrascht und hastig, und Kenny gab ihm erschöpfende Auskunft.

»Hinter dem Mädchen, das ihm eine Ohrfeige gegeben hat. Ich habe es gesehen und gehört«, fügte er mit sichtlicher Befriedigung hinzu, »und da das Mädchen in das Haus gelaufen war, in dem Rosary wohnt, so wußte ich nicht, woran ich war. Aber dann habe ich mich überzeugt, daß er zu dem Antiquitätenhändler ging.«

Oberst Passmore hatte plötzlich eine scharfe Falte zwischen den Brauen und schien nicht mehr ganz bei der Sache zu sein. Selbst dann nicht, als der dritte Mann ihm weit wichtigere Dinge berichtete.

»Die Anlage in dem neuen Lüster funktionierte tadellos, Sir. Wir haben sie am Nachmittag spielen lassen, während Bayford bei Ferguson weilte, und es sind nicht nur sehr scharfe Bilder geworden, sondern es ist auch jedes Wort deutlich zu verstehen; sogar wie Bayford den neuen Lüster erwähnt und Ferguson ihm von dem wunderbaren Gelegenheitskauf Mitteilung macht.« Der Mann gestattete sich ein befriedigtes Schmunzeln.


 << zurück weiter >>