Louis Weinert-Wilton
Der Drudenfuß
Louis Weinert-Wilton

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9

»Wenn ich Ihnen sage, Inspektor, daß es Mr. Flack war, so können Sie mir's glauben.« Der wohlgenährte Wachtmeister zog den Rock über dem vorquellenden Bäuchlein stramm, denn er kam sich in diesem Augenblick ungeheuer wichtig vor, da man ihn aus seinem Bezirk nach Scotland Yard zitiert hatte. »Ich sehe weder Gespenster, noch trinke ich, und ich habe Mr. Flack sehr gut gekannt.«

Inspektor Miles rückte auf seinem knarrenden Rohrstuhl unruhig hin und her und war so interessiert, daß er seine Glatze unausgesetzt statt mit dem stumpfen mit dem gespitzten Ende des Tintenstiftes kraute.

»Wie war das also?« flüsterte er gespannt. »Und wo und wann?«

»Etwa fünfunddreißig Minuten nach ein Uhr. Ich hatte die Runde, und pünktlich um halb zwei war ich bei den Gaswerken gewesen. Dann ging ich die Straße hinunter und bog bei der Bar ›Tausendundeine Nacht‹ um die Ecke. Nach etwa vierzig Schritten höre ich plötzlich ein eiliges Getrampel, und im selben Augenblick schießt auch schon eine Gestalt, die sich dicht an den Häusern hielt, an mir vorüber. Der Mann keuchte furchtbar, aber bevor ich mich umsehen kann, springt schon ein zweiter von der anderen Seite der Gasse herüber und dem ersten nach. – Und dieser zweite war Mr. Flack, Sir, darauf kann ich jeden Eid ablegen. Wenn einer so ein Gestell hat, ist er nicht zu verkennen. Und dann der Bart! Wie eine Fahne hat er in die Luft gestanden . . .«

»Wie weit war er hinter dem andern?« wollte Miles begierig wissen.

»Kaum zehn Schritte. Und bei seinen langen Beinen und seinem Tempo müßte er ihn eigentlich erreicht haben . . .«

». . . müßte er ihn eigentlich erreicht haben«, wiederholte der Inspektor gedankenvoll, indem er eine große Spirale auf seinen Schädel malte. »Sehen Sie, das ist es! Aber wir haben keine Meldung – gar nichts.« Er zog noch eine Linie vom Scheitelbein bis zur Stirn, dann neigte er wehmütig die tätowierte Glatze und knackte mit den Fingern.

»Sie können gehen, Wachtmeister«, sagte er, aber dieser hatte ein leichtes, respektvolles Lächeln im Gesicht.

»Sie haben den ganzen Kopf blau gemalt«, glaubte er den Vorgesetzten aufmerksam machen zu müssen.

Mr. Miles winkte gleichgültig ab. »Wir werden, fürchte ich, bei der Geschichte noch grün und gelb werden«, murmelte er ergeben, und der schlichte Wachtmeister, der ihn nicht verstand, bemerkte eifrig: »Sehr wohl, Sir.«

Ein nächtlicher Messerstich, mit dem ein ziemlich übel beleumdeter Ausländer um die Ecke gebracht wurde, war für Scotland Yard gerade kein besonders aufregender Fall, aber die Meldung des Wachtmeisters, der Mr. Flack in der Nähe des Tatorts gesehen haben wollte, hatte das Victoria Embankment nervös gemacht.

Steve Flack war ein Name, den man hier mit sehr gemischten Gefühlen hörte, denn er bedeutete immer eine Fülle von Arbeit, von der man letzten Endes nichts hatte. Alle die großen Fälle der letzten Zeit hatten so wie diesmal begonnen. Eines Tages war Mr. Flack hier und dort gesehen worden, und dann war es Schlag auf Schlag losgegangen. Lauter geheimnisvolle Geschichten, mit denen man nichts Rechtes anzufangen wußte, bis plötzlich eine Anordnung aus dem Ministerium auf den Tisch flatterte und die Verhaftungen einander nur so jagten. Die Polizei brauchte bloß die fetten Fische herausklauben, die ein anderer ins Netz gejagt hatte, und dieser andere war zwar nicht Steve Flack, aber unbedingt hatte dieser dabei die Hände mit im Spiel. Deshalb war man auf Mr. Flack trotz aller Beziehungen sehr übel zu sprechen.

Der Rotbart aber scherte sich den Teufel darum. Er saß eben in einem äußerst vornehmen Arbeitszimmer in der Kensington Park Road und schluckte, während er sprach, mit Wohlbehagen den Rauch einer dicken kohlschwarzen Zigarre. Wann und wo der Rauch, den er geräuschvoll in dicken Schwaden aufnahm, aus Steve Flack wieder herauskam, blieb ein Rätsel. Jedenfalls hinderte er ihn nicht am Sprechen.

»Sir«, sagte er zu Passmore, der mit undurchdringlichem Gesicht ein kurzes Dolchmesser betrachtete, »das war eigentlich eine ganz einfache Sache. Sie hatten mir den dunklen Gentleman, der mit der Roten tanzte, ans Herz gelegt, und als er aufbrach, bin ich ihm nach. Er hat es verdammt vorsichtig angestellt, aber als er in das Haus in Lambeth schlüpfte, war ich keine fünf Schritte hinter ihm. Da er den Wagen warten ließ, konnte die Sache kaum lange dauern, und richtig war er auch schon nach etwa einer halben Stunde wieder da, und ich auf meinem Rad hinter ihm drein.«

»Die Waffe hatte der andere weggeworfen?« fragte der Oberst plötzlich unvermittelt, und der Steuermann des grauen Dampfboots geriet einigermaßen in Verlegenheit. Er strich den roten Bart bis in die Höhe der gewaltigen Nase und ließ ein längeres Räuspern hören.

»Sozusagen, Sir«, erklärte er dann vorsichtig. »Wie ich ihm die Finger um das Gelenk legte, hat er das Messer plötzlich fallen lassen . . .«

»Und Sie wissen bestimmt, daß Sie sich nicht geirrt haben?«

»Nicht in der Person und nicht in allem andern, was ich Ihnen berichtet habe«, versicherte Steve und stieß plötzlich einen Teil des Rauchs aus, den er genießerisch angesammelt hatte. »Es ist der Mann, den ich Ihnen genannt habe. Ich bin heute morgen drei Stunden herumgerannt, um das festzustellen, und was sie miteinander gesprochen haben, stimmt auch aufs Wort. – Jetzt werde ich mich in dem Hause in Lambeth umsehen . . .«

»Jetzt werden Sie sofort diese Botschaft Rosary zustellen lassen«, sagte Passmore mit Nachdruck, indem er ihm einen verschlossenen Umschlag reichte, »und dann aufs Boot zurückkehren. Ich werde heute wahrscheinlich etwas früher kommen und eine Aufgabe für Sie haben, die wichtiger ist als alles andere.«

Oberst Passmore spielte noch einige Minuten nachdenklich mit dem Dolchmesser, das ihm Steve Flack hinterlassen hatte, dann warf er es plötzlich mit einem eigentümlichen Lächeln in eine Lade und machte sich mit etwas anderem zu schaffen.

Er entnahm seiner Mappe eine abgegriffene Spezialkarte und richtete seine Aufmerksamkeit auf eine Stelle, die fünf flüchtig hingeworfene rote Kreuze aufwies. Dann legte er ein Pergamentpapier auf, kopierte die fünf Punkte und verband diese durch ein Pentagramm.

Es fiel etwas unregelmäßig aus, aber am meisten interessierte ihn das mittlere Fünfeck, das er eine Weile durch eine scharfe Lupe betrachtete. Es wurde nach den Schichtenlinien und der Schraffierung von einer steilen, waldbestandenen Mulde durchschritten, und der Oberst zirkelte bedachtsam daran herum. Hierauf suchte er aus einem Stoß anderer Karten ein Blatt heraus, das er eine Weile prüfte und es sodann zunächst mit verschiedenen farbigen Zeichen versah.

Als er damit fertig war, studierte er neuerlich eingehend das Terrain und schob dann, mehrmals prüfend und messend, das Pergamentblatt darüber. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte, denn er zeichnete auf die zweite Karte dieselben fünf roten Kreuze, die die erste aufwies.

Sie ergaben, wie er nochmals feststellte, genau die gleiche Verbindungsfigur, und der Mittelpunkt wies fast die gleiche Terraingestaltung auf, nur war er ungefähr um zweieinhalb Meilen nach Südwesten verschoben.

Der Oberst barg die erste Karte mit dem Pergamentpapier in einem kleinen Tresor in der Täfelung seines Arbeitszimmers, die zweite steckte er zu sich.

Die Angelegenheit mit dem Drudenfuß konnte nun ins Rollen kommen, aber sie beschäftigte ihn bei weitem nicht so, wie die andere Aufgabe, die er vor sich hatte. Die alte Geschichte war ihm eigentlich nur ganz zufällig aufgestoßen, als er unterwegs das Glück gehabt hatte, nach langen Jahren dem Mann mit dem Fuchsgesicht wieder zu begegnen, aber es schien, als ob er dadurch auch noch auf andere, ihm augenblicklich weit wichtigere Spuren gelenkt worden wäre. Schon der erste Tag seiner Beobachtung hatte ihn mit der Entdeckung recht interessanter Verbindungen überrascht, und was ihm eben der tüchtige Flack berichtet hatte, bot die erste wertvolle Handhabe. Nur die Zusammenhänge waren ihm noch nicht ganz klar, aber diese ließen sich nun wohl ohne sonderliche Schwierigkeiten feststellen.

Jedenfalls handelte es sich um ein höchst gefährliches Wespennest, und Oberst Passmore dachte mit großer Besorgnis an das Mädchen, das er für seine Zwecke geworben hatte. Der Pakt tat ihm bereits seit vielen Stunden leid, denn er mußte befürchten, daß er ihm mehr zu schaffen machen würde als alle die rätselhaften Dinge, vor die er sich gestellt sah.


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