Louis Weinert-Wilton
Der Drudenfuß
Louis Weinert-Wilton

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10

Mr. Bayford war spät zu Bett gegangen und hatte sehr unruhig geschlafen, aber als er sich gegen elf Uhr an den Frühstückstisch setzte, war ihm die schlechte Nacht nicht anzusehen.

Die kleine Etagenwohnung, die er bewohnte, war recht zweckmäßig, denn sie besaß außer dem Haupteingang noch eine Tür auf einen kleinen Hof, der mit einem Haus in der gegenüberliegenden Quergasse in Verbindung stand, und sogar noch einen dritten nach dem Nachbargebäude, aber er vermied es, je einen anderen Eingang zu benützen als seine eigene Haustür. Nur Besucher kamen bei Tag zuweilen von gegenüber, aber auch das geschah nur dann, wenn der Herr mit dem Monokel hie und da einmal ganz besondere Dinge vorhatte.

Diesmal war es der ›verliebte Lord‹, wie er in seinem Freundeskreis genannt wurde, der mit sichtlicher Vertrautheit durch die Höfe schlenderte und die schmale Hintertreppe zu Mr. Bayford eilig hinaufstieg.

»Hier haben Sie mich – ich stehe ganz zu Ihren Diensten«, sagte er erwartungsvoll, als er dem Hausherrn am Frühstückstisch gegenübersaß, aber Bayford ließ sich Zeit. Er besah sich zunächst den etwas blaß und müde aussehenden jungen Mann mit kritischen Blicken und erst, als er festgestellt hatte, daß dessen Schuhwerk, die Krawatte und sogar die Wäsche mit der unterstrichenen Eleganz nicht ganz harmonieren wollten, glaubte er die heikle Sache vorsichtig anschneiden zu dürfen.

»Es scheint Ihnen nicht besonders gut zu gehen«, meinte er offen und mit einer gewissen Anteilnahme, und der andere schüttelte mit einem krampfhaften Grinsen den blonden Kopf.

»Nicht gut ist zu euphemistisch, lieber Mr. Bayford. Sagen Sie miserabel. Seit der dummen Geschichte kann ich auf keinen grünen Zweig mehr kommen.«

Bayford nickte nachdenklich und strich mit den Fingerspitzen über den dichten rötlichen Schnurrbart.

»Soviel ich mich erinnere, waren es vier Frauen, die behaupteten, daß Sie sich mit ihnen verlobt hätten, und es handelte sich um einige tausend Pfund.«

»Ich bitte Sie – verlobt!« brauste er ärgerlich auf. »Sehe ich so spießerhaft aus, daß ich mich gleich verloben würde? Und noch dazu viermal? – Es waren ganz gewöhnliche Bekanntschaften.«

»Und seither gehen die Geschäfte schlecht?« erkundigte sich Bayford.

Tyler schwieg und schnippte nervös an seiner Zigarette, und Bayford überließ ihn eine Weile seinen unangenehmen Gedanken.

»Ich möchte Ihnen gerne wieder auf die Beine helfen«, sagte er dann bedächtig, »und deshalb habe ich Sie gerufen. Aber ich gestehe Ihnen offen, daß mir die Sache nicht gefällt. Wenn ich mit dem Mann nicht in anderweitiger Geschäftsverbindung stünde, hätte ich sogar die Vermittlung abgelehnt. Und wenn Sie nein sagen, so kann ich es verstehen . . .«

»In meiner Lage sagt man nicht nein«, erklärte Tyler grinsend. »Wenn die Geschichte halbwegs lohnend ist . . .«

»Sehr lohnend sogar. Und in gewisser Beziehung nichts Neues für Sie.«

Mr. Bayford brach seine vorsichtigen Andeutungen vorläufig ab, aber der junge Mann, der ihnen gespannt gefolgt war, bedurfte keiner weiteren Erklärung.

»Ist es für den ›Padischah‹?« fragte er nach einer Pause mit gedämpfter Stimme.

Die verständnislose Miene Bayfords war zu echt, um gemacht zu sein. »Den ›Padischah‹? Wer soll das sein?«

»Der Mann, für den der Argentinier gearbeitet hat, der heute nacht erstochen wurde. – Haben Sie nicht davon gelesen?«

»Nur ganz flüchtig«, erklärte der Herr mit dem Monokel leichthin, um sofort wieder auf seine frühere Frage zurückzukommen.

»Wer ist der ›Padischah‹?«

»Man nennt ihn so. Wie er in Wirklichkeit heißt und wer er ist, weiß wohl niemand. Aber er ist der einzige Mann in London, der dieses Geschäft im großen betreibt, und der Argentinier war sein tüchtigster ›Schlepper‹.«

»Möglich, daß es der ›Padischah‹ ist«, meinte Bayford, der plötzlich sehr nachdenklich geworden war. »Ich bin in solchen Dingen nicht indiskret, denn ich liebe es auch nicht, wenn man sich um mich und meine Geschäfte kümmert. – Was mich interessiert, ist nur Ihre Antwort. Wenn sie ›ja‹ lauten sollte, werden Sie wahrscheinlich das weitere noch heute hören.«

»Natürlich lautet sie ›ja‹«, gab der junge Mann entschieden zurück, indem er sich unternehmend aufrichtete. »Man wird gleich ein anderer Mensch, wenn man solch eine Aufgabe vor sich hat, und ich glaube, Ihr Auftraggeber wird mit mir zufrieden sein.«

Auch Bayford war zufrieden. Er hatte einen Mann gewonnen, der für seine Zwecke ganz hervorragend geeignet war, und außerdem hatte er zum erstenmal von dem ›Padischah‹ gehört, mit dem er vielleicht rechnen mußte.

Kurz nach Mittag schickte sich der Herr mit dem Monokel an, noch einen Weg zu machen, aber in der offenen Wohnungstür hielt er mit einem jähen Ruck und einem halblauten Fluch inne. Der Anblick des verwünschten Drudenfußes war ihm zwar seit gestern nichts Neues mehr, aber es verursachte ihm doch großes Unbehagen, als er ihn plötzlich dicht vor seiner Schwelle sah. Einen Augenblick dachte Bayford daran, doch einmal einen anderen Ausgang zu wählen, aber dann schritt er entschlossen die Treppe hinab und trat auf die Gasse.

Unter den wenigen Menschen, die er erblickte, war jedoch auch nicht eine verdächtige Figur; trotzdem verbrachte er erst mehr als eine Stunde in einem kleinen Restaurant mit dem Lunch, bevor er das Lokal unauffällig verließ und auf dem Umweg über Chelsea nach Kensington fuhr.

Mrs. Estrella Melendez bewohnte dort eine Villa, die durch einen ausgedehnten Garten von der Außenwelt vornehm Distanz hielt. Vornehm und geschult war auch das Personal, und das ganze Haus zeigte luxuriösen Reichtum, der sich allerdings nicht gerade geschmackvoll breitmachte.

Die Besitzerin dieses mit kostbaren Teppichen ausgelegten und mit Kunstschätzen aller Art wahllos vollgestopften Heims war eine große Frau von etwa vierzig Jahren mit Doppelkinn und müden schwarzen Augen, die von bläulichen Schatten untermalt waren. Mrs. Melendez behauptete, spanischer Abkunft zu sein, aber dafür war ihr Teint etwas dunkel und die Halbmonde ihrer Fingernägel etwas zu irisierend. Sie verlebte einige Monate des Jahres in London, hatte aber in Argentinien große Besitzungen. Mr. Bayford wurde in einem prunkvollen Raum empfangen. Mrs. Melendez hatte einen Stoß von Papieren vor sich, schob ihn aber hastig beiseite und begrüßte den Mann mit dem Monokel mit lebhafter Herzlichkeit.

»Sie haben sich lange nicht sehen lassen«, stieß sie etwas kurzatmig hervor, »aber ich habe gehört, daß Sie in Genf waren. – Sie sehen, man erfährt alles. – Nun?«

In ihrer Frage lag eine sehr dringliche Wißbegierde, aber Bayford begnügte sich mit einem feinen Lächeln.

»Sie hatten ja selbst zwei äußerst gewandte und verständige Leute dort, Mrs. Melendez, und ich werde Ihnen kaum Neues berichten können. Es war auch gar nicht aufregend.«

»Das hat man mir auch gesagt«, erklärte sie, indem sie befriedigt die qualmende Zigarre aufnahm und zwischen die dicken Lippen schob. »Einige kleine Scherereien mag es ja vielleicht in der nächsten Zeit geben, aber solche Dinge muß man mit in Kauf nehmen. Sie sind sehr tüchtig, Mr. Bayford, Mrs. Lee ist eine sehr wertvolle Bekanntschaft, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich auf dem laufenden hielten. – Schließlich sind wir ja Verbündete.«

Bayford fand, daß die so schwerfällig aussehende Frau zumindest ebenso tüchtig war wie er, und ihr so eingehendes Wissen um seine Angelegenheiten berührte ihn nicht gerade angenehm. Aber er lächelte verbindlich und dachte, daß dies der richtige Augenblick war, die wichtige Frage anzubringen, die ihn hergeführt hatte.

»Was wissen Sie vom ›Padischah‹, Mrs. Melendez?«

»Glauben Sie«, fragte sie vorsichtig ausweichend, »daß aus der Geschichte von heute nacht Unannehmlichkeiten entstehen werden? – Haben Sie etwas gehört?«

»Nein«, gab Bayford zurück. »Ich interessiere mich nur persönlich für den Mann, weil« – er ließ das Monokel fallen und fing es mit einem geschickten Griff wieder auf – »man seine Konkurrenten doch eigentlich kennen muß . . .«

»Er ist nicht Ihr Konkurrent«, meinte sie leichthin. »Er arbeitet nur hier und kommt Ihnen also nicht ins Gehege.«

»Aber ich ihm«, erklärte Bayford mit Nachdruck. »Wenigstens habe ich die Absicht, wenn Sie mich dabei unterstützen wollen.«

»Geschäft ist Geschäft«, sagte sie gleichmütig. »Jedenfalls würde ich lieber mit Ihnen arbeiten als mit dem ›Padischah‹, denn der Mann gefällt mir nicht. Zu unserem Geschäft gehört ein gewisses Vertrauen, und dazu muß man einander kennen. Der Bursche spielt Verstecken. Und wenn die Sache mit ihm nicht so glatt ginge . . .«

Sie biß mit ihren starken Zähnen eine frische Zigarre ab, und Bayford beeilte sich, ihr Feuer zu reichen.

»Glauben Sie, daß es sich lohnen würde?« wollte er wissen.

»Unbedingt. Es gibt hier eine Unmenge wertvoller Ware, und ich habe Transportmöglichkeiten, die fast ohne jedes Risiko sind. Dabei haben wir augenblicklich eine Konjunktur wie noch nie.«

Mrs. Melendez sprach mit der Nüchternheit eines gewiegten Geschäftsmannes und paffte dabei ununterbrochen. »Der Genfer Rummel hat die Leute drüben weit nervöser gemacht als uns hier, und jeder möchte sich schleunigst eindecken. Was ich nicht für mich selbst brauche, wird mir förmlich aus den Händen gerissen.« Sie begann unter ihren Papieren zu kramen und raffte ein dickes Bündel zusammen, das sie dem aufmerksamen, hageren Herrn unter die Augen hielt. »Da sehen Sie: alles Aufträge, die noch laufen. Ich könnte zehnmal soviel brauchen, als mir zur Verfügung steht.«

Sie erinnerte sich plötzlich an etwas und wurde noch eifriger. »Sagen Sie Ferguson, daß er seine Lieferungen beschleunigen soll. Er ist ein etwas langweiliger Patron, das ist sein einziger Fehler. Sonst versteht er etwas von der Sache – aber trotzdem würde ich lieber mit Ihnen allein zu tun haben.«

»Wir würden uns gewiß ausgezeichnet verstehen«, versicherte er nachdrücklich. »Im übrigen geht das hiesige Geschäft zum größten Teil auf meine Rechnung, und ich werde es daher selbst leiten. – Kann ich also mit Ihnen rechnen, wenn es soweit ist?«

Sie legte die Zigarre beiseite und reichte ihm die große, fleischige Rechte. »Selbstverständlich. Legen Sie sich nur ordentlich ins Zeug, denn je rascher wir arbeiten, desto besser. Um den ›Padischah‹ kümmern Sie sich vorläufig nicht, wenn er Ihnen aber Schwierigkeiten bereiten sollte, so lassen Sie es mich wissen. Schließlich hängt der Mann doch von mir ab, und ich werde ihn schon zu finden wissen. – Vergessen Sie aber dafür nicht Mrs. Lee.«

Bayford vergaß sie nicht, sondern fuhr sogar direkt von Kensington zum Berkeley Square.

Er hatte sich bereits am Vormittag telefonisch angesagt, fand aber die stattliche Witwe ungemein beschäftigt.

Wie Mrs. Melendez empfing ihn Mrs. Lee hinter einem Stoß von Papieren, und wenn sie dabei auch nicht Zigarren rauchte, so entwickelte sie doch dieselbe Betriebsamkeit.

»Ich freue mich, daß Sie so bald Wort gehalten haben«, flötete sie mit schmachtendem Ausdruck in den farblosen Augen. »Es kommt mir erst jetzt zum Bewußtsein, wie schön die letzten Wochen waren . . .«

Sie brach mit einem Seufzer ab und senkte verschämt den Blick, um ihn dann vielsagend wieder zu heben und in neckischer Befangenheit fortzufahren.

»Und mit solchen Dingen im Kopf soll man arbeiten – und wie arbeiten. Wir haben bereits heute vormittag das Komitee gebildet, und da man mir die Ehre erwies, mich zur Präsidentin zu wählen, mußte ich sofort mit den in Betracht kommenden Behörden in Fühlung treten. Ich war im Ministerium des Innern und bei Scotland Yard . . .«

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen dabei nicht irgendwie dienlich sein konnte«, sagte der Herr mit dem Monokel mit ehrlichem Bedauern, und sie belohnte ihn dafür mit einem dankbaren Lächeln.

»Mir auch«, versicherte sie lebhaft, und in ihrem zufriedenen Gesicht malte sich ein leichter Unmut. »Ich habe nämlich wieder einmal die Erfahrung machen müssen, daß man uns Frauen in solchen Dingen nicht genügend ernst nimmt. Man hat mir zu verstehen gegeben, daß Maßnahmen gegen den Mädchenhandel höchstens für die Dominions und die Kolonien in Betracht kämen, da wir im Lande selbst von diesem Treiben völlig verschont seien. – Das ist ja möglich, aber dann wird unser Komitee seine segensreiche Wirksamkeit eben auf die bedauernswerten Dominions und Kolonien erstrecken . . .«

Mr. Bayford hörte sehr aufmerksam zu, und auch in der folgenden Stunde, in der sie ihm mehr persönliche Dinge anvertraute, konnte Mrs. Lee klopfenden Herzens feststellen, daß dieser elegante, bestrickende Mann von feinfühligem Verständnis war. Den verbissenen Fluch, den er ausstieß, als er an der Schwelle des vornehmen Hauses abermals fast über einen Drudenfuß stolperte, konnte Mrs. Lee natürlich nicht hören.


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