Louis Weinert-Wilton
Der Drudenfuß
Louis Weinert-Wilton

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5

In einer Loge gegenüber jener von Mrs. Smith saß seit einer Viertelstunde ein Herr und blickte durch den winzigen Spalt in der Gardine in den Barraum.

Es kamen immer wieder Leute, die nicht gesehen werden oder ungestört bleiben wollten, und das geschulte Personal hatte strenge Weisung, derartigen Wünschen in jeder Hinsicht Rechnung zu tragen.

Als der Kellner die bestellten Platten mit Sandwiches und Konfekt sowie eine Flasche serviert hatte, traf er daher Anstalten, sich sofort wieder diskret zurückzuziehen, aber ein kurzer Wink hielt ihn zurück.

»Glauben Sie«, sagte der große Herr, indem er zwei Finger in die Westentasche schob, »daß die Dame in Rot einer Einladung Folge leisten würde? Und würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, ihr diese zu überbringen? – Ich möchte aber nicht, daß die Sache irgendwelches Aufsehen erregt.«

Der Kellner verbeugte sich devot, um den Geldschein in Empfang zu nehmen.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, denn zunächst tanzte die Rote ununterbrochen, und dann nahm sie wieder der Herr mit dem glänzenden Scheitel in Beschlag. Er schien nach seiner dunklen Hautfarbe, vor allem aber nach seiner Aussprache ein Ausländer zu sein, und in seinem ganzen Gehaben lag eine aufdringliche Süßlichkeit.

»Wollen wir nicht doch einmal das Lokal wechseln?« fragte er lebhaft, indem er etwas ungeduldig nach der Uhr blickte. »Wenigstens für heute. Es ist erst kurz nach Mitternacht, und wir können uns noch verschiedenes ansehen«, fuhr er drängend fort, aber das Mädchen schüttelte mit einem herausfordernden Lächeln energisch den Kopf.

»Mir gefällt es hier sehr gut, und ich bleibe«, erklärte sie entschieden, »aber Sie brauchen sich deshalb nicht abhalten zu lassen. Wenn Sie sich woanders besser amüsieren . . .«

Er machte eine rasche, unwillige Kopfbewegung, und in seinen Augen blitzte es ärgerlich auf, aber dann bekam sein Gesicht sofort wieder seinen schwermütigen, schmachtenden Ausdruck.

»Wie können Sie so etwas denken?« flüsterte er vorwurfsvoll, und sein starrer Blick schien das Mädchen hypnotisieren zu wollen. »Wo Sie doch wissen, daß für mich jede Minute, die ich in Ihrer Nähe sein darf, kostbar ist. – Wie oft habe ich Ihnen das schon gesagt!«

»Gesagt haben Sie es mir schon«, gab die Schöne lachend zurück, »aber ich fliege nicht auf solche Redensarten.«

»Was soll ich denn noch tun, damit ich Sie von meinen ehrlichen Absichten überzeuge?« seufzte er verzweifelt. »Leider habe ich meine Papiere nicht bei der Hand, sonst wäre alles in vierundzwanzig Stunden erledigt. – Aber ich werde Ihnen einen Vorschlag machen«, fuhr er überlegend fort, »gegen den Sie hoffentlich nichts einzuwenden haben werden. Ich selbst muß wegen der wichtigen großen Geschäfte, von denen ich Ihnen bereits sprach, leider noch einige Wochen in Europa bleiben, meine Schwester jedoch tritt bereits in der nächsten Zeit die Rückreise nach Argentinien an. Ich erwarte stündlich eine Nachricht von ihr aus Paris. – Wenn Sie wirklich etwas für mich übrig haben und meine Frau werden wollen«, fuhr er eindringlich fort, »werde ich Sie ihrer Obhut anvertrauen. Sie wird Sie in Ihre neue Heimat bringen und Ihnen bei den Vorbereitungen für unsere Hochzeit und bei der Einrichtung unseres Hausstandes an die Hand gehen. Sie haben ja, wie Sie mir sagten, auf niemand Rücksicht zu nehmen, und es wäre mir eine große Beruhigung, Sie in meiner Familie geborgen zu wissen. Ich selbst könnte mich Ihnen ohnehin hier in den kommenden Wochen nicht so widmen, wie ich es möchte. – Was sagen Sie dazu?«

»Gut«, sagte sie endlich bedächtig, »darüber können wir sprechen, aber Sie müssen mir alles genau auseinandersetzen, denn so ohne weiteres geht man doch nicht in die Fremde. – Ich bin bisher noch nicht einmal aus London herausgekommen.«

»Gewiß«, stimmte er eifrig und sichtlich erleichtert zu, indem er sich mit dem bunten Seidentuch über die Stirn fuhr. »Sobald meine Schwester eintrifft, werde ich Sie mit ihr bekannt machen, und ich bin überzeugt, daß Sie aneinander Gefallen finden werden.« Er sah wieder einmal nervös auf die Uhr und nagte dann unschlüssig an den etwas vollen Lippen.

»Verzeihen Sie, aber in der Hoffnung, daß Sie mich begleiten würden, habe ich leider eine sehr wichtige Besprechung mit einem Geschäftsfreund vereinbart. Die Angelegenheit wird mich jedoch nicht länger als ungefähr eine Stunde in Anspruch nehmen. Versprechen Sie mir wenigstens, hier auf mich zu warten . . .«

»Eine Stunde?« fragte sie leichthin. »Warum nicht. Die Sache kommt ja hier jetzt erst in Schwung.«

Der Kellner aus dem Logengang wartete noch einige Minuten, bevor er sich seines Auftrages entledigte. Er tat dies unauffällig, aber auch ohne sonderliche Umstände.

»Ein Gast in der letzten Loge rechts würde sich sehr freuen, wenn Sie ihm Gesellschaft leisten würden«, flüsterte er, indem er sich an ihrem Tisch zu schaffen machte. »Es ist ein wirklich vornehmer Herr . . . Darf ich bestellen, daß Sie kommen?«

Die Rote überlegte einen Augenblick, dann neigte sie leicht den Kopf, und der Kellner tat einen letzten ordnenden Griff an dem Tischtuch.

»Ich werde Sie oben erwarten«, hauchte er, »damit Sie nicht fehlgehen. Der Herr wünscht kein Aufsehen.«

Fünf Minuten später schlüpfte das Mädchen geschmeidig durch die Portiere, blieb aber abwartend stehen. Der Raum war so winzig, daß er mit dem Tischchen und den beiden Sesseln gerade nur für zwei Personen Platz bot, und die magische Beleuchtung von oben war mehr stimmungsvoll als praktisch. Sie vermochte nur die Umrisse einer hohen Männergestalt wahrzunehmen und die Konturen eines energisch geschnittenen Gesichtes. Der Mann war in einem einfachen dunklen Straßenanzug, aber in seiner Erscheinung lag etwas, das sie sofort empfinden ließ, daß er nicht zu den Kreisen gehörte, die in der Bar ein- und ausgingen.

Das überraschte sie und machte sie so unsicher, daß sie unwillkürlich nach dem schweren Vorhang im Rücken tastete, um schleunigst wieder zu entwischen, aber in derselben Sekunde schob sich der Mann mit einer raschen Bewegung zwischen sie und den Ausgang.

Eine gedämpfte Stimme sagte mit kühler Höflichkeit: »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Wollen Sie bitte Platz nehmen und mir ein Viertelstündchen schenken. Da ich Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten möchte, wird es vielleicht am besten sein, wenn wir die Loge geschlossen lassen.« Er sprach etwas von oben herab und mit einer Bestimmtheit, die jeden Widerspruch ausschloß, und das Mädchen gehorchte in ihrer Befangenheit völlig willenlos. Erst als sie saß und er ihr artig die Platten zuschob und ein Glas Sekt eingoß, fand sie sich wieder und suchte nun den Eindruck ihrer früheren Verschüchterung durch ausgesprochene Derbheit zu verwischen.

»Was wünscht der Herr von mir?« fragte sie in einem geradezu schauderhaften Dialekt und legte dabei ihre silberne Handtasche so nachdrücklich auf den Tisch, daß es einen dumpfen Klang gab. Sie schien darüber zu erschrecken und nahm die Tasche rasch wieder auf, während der Herr sich ihr gegenüber setzte.

»Nichts, was Sie irgendwie besorgt machen müßte«, erklärte er gelassen. »Ich möchte nur ein Weilchen mit Ihnen plaudern.«

»Wenn Sie sonst keine Wünsche haben, das kann gemacht werden«, lachte sie und nippte an dem Glase, »aber Sie müssen losschießen, damit ich weiß, auf welche Art von Unterhaltung Sie hinauswollen.«

»Schön, darüber werden Sie sofort im klaren sein. – Sie sind mir empfohlen worden . . .«

Die Rote machte eine so hastige Bewegung, daß das Tischchen ins Wanken geriet, und ihre Überraschung war so groß, daß sie einige Augenblicke kein Wort hervorbrachte.

»Empfohlen . . .? Ich – Ihnen . . .?« murmelte sie endlich verständnislos. »Sie wollen mich wohl zum besten halten?«

»Weder das eine noch das andere«, erhielt sie zur Antwort.

»Sie sind mir als zuverlässig bezeichnet worden, und –«

»Von wem?« fiel sie mit großer Hast ein, erhielt aber nur ein kurzes Kopfschütteln.

»Das tut nichts zur Sache. Jedenfalls gebe ich etwas auf das Urteil der betreffenden Person, denn sonst hätte ich Sie nicht erst bemüht. – Das, worum ich Sie bitten möchte, setzt ein gewisses gegenseitiges Vertrauen voraus. Auf meiner Seite ist es vorhanden – es fragt sich nur noch, wie Sie darüber denken.«

»Worüber?« fragte sie leichthin, indem sie unter halbgeschlossenen Lidern jeden Zug des ernsten Männergesichts forschend prüfte.

»Nun, über eine Art Geschäft.« Er machte eine kleine Pause, und sie war so gespannt, daß sie nicht bemerkte, wie seine Finger flüchtig über ihre silberne Tasche strichen. »Sie hätten mich täglich darüber zu unterrichten, was Sie hier oder in irgendeinem anderen ähnlichen Etablissement, in das ich Sie bitten würde, erleben, aber Sie dürften mir weder Schauergeschichten erzählen noch etwas verschweigen. – Hier fängt unser Geschäft an, Vertrauenssache zu werden.«

»Sie sind von der Polizei . . .«, murmelte sie tonlos, und das dünne Lächeln, das um seinen Mund huschte, benahm ihr fast den Atem.

»Wenn ich von der Polizei wäre, Miss«, erwiderte er bedächtig, »so würde ich von Ihnen wahrscheinlich zunächst eine kleine Aufklärung verlangen: Sie schleppen in Ihrer Tasche einen sehr handlichen Browning – fünf Millimeter Kaliber – herum, und das ist kein alltägliches Requisit für eine Dame . . .«

»Dann sind Sie vermutlich Reporter eines großen Blattes, das sich für eine bestimmte Seite dieses Milieus interessiert«, setzte sie ihm mißtrauisch geworden zu und geriet dabei so in Eifer, daß sie plötzlich ein sehr gewähltes Englisch sprach, das den Mann sekundenlang aufhorchen ließ.

»Auch in dieser Beziehung kann ich Sie beruhigen«, sagte er dann. »Ich habe in meinem Leben noch nie ein Wort geschrieben, das für den Druck bestimmt gewesen wäre, und denke auch nicht daran.«

Diese Antwort machte sie völlig ratlos, war ihr aber auch eine gewisse Beruhigung. Wenn der Fremde weder von der Polizei noch von der Presse war, hatte sie kaum etwas zu befürchten, und wenn sie noch etwas bedrückte, so war es lediglich die seltsame Empfehlung, die er erwähnt hatte. Sie wußte niemand, der über sie Auskunft hätte geben können, außer . . . Über diesen wichtigen Punkt mußte sie Klarheit haben.

»Dann verstehe ich nicht, was Ihnen unser Geschäft nützen könnte«, sagte sie mit einem Achselzucken und wieder ganz in ihrer früheren Art, »aber wenn Sie so darauf versessen sind, sollen Sie Ihren Willen haben. Nur muß ich zuerst erfahren, wer von mir zu Ihnen gesprochen hat – damit ich mir wenigstens so beiläufig denken kann, was hinter der Geschichte steckt – und auch hinter Ihnen«, fügte sie hinzu, indem sie eine Zigarette zwischen die knallroten Lippen schob und mit großer Umständlichkeit anzündete. »Ich springe nicht blind in so etwas hinein.«

Der Herr betrachtete die gepflegten Finger, die das Streichholz hielten, und überlegte so lange, daß die Rote ungeduldig wurde.

»Wenn Sie nicht Farbe bekennen wollen, so kann ich ja gehen, ich bin hier, um zu tanzen und mich zu unterhalten, aber nicht, um mit Ihnen meine Zeit zu vertrödeln.«

Es klang sehr derb und energisch, und sie machte auch tatsächlich Miene, sich zu erheben, aber er hielt sie durch einen leichten Griff zurück.

»Eigentlich haben Sie recht, und vielleicht ist es auch zweckdienlicher, wenn ich Ihre Frage beantworte. Es könnte sein, daß . . .«

Er dachte sekundenlang nach, sprach aber dann nicht weiter, sondern gab ihr kurz und sachlich Auskunft.

»Es war ein Mann namens Rosary, den Sie ja wohl kennen werden.«

»Rosary . . .«, wiederholte sie überrascht und gedehnt und brach dann unvermittelt in ein so übermütiges Kichern aus, daß ihr ganzer geschmeidiger Körper in Bewegung geriet. »Der liebe gute Rosary . . .« Sie beugte sich plötzlich lebhaft über den Tisch, und zum erstenmal hatte der Herr die großen schillernden Augen dicht vor sich. »Ich bitte Sie, was hat er Ihnen von mir erzählt?« drängte sie begierig. »Das müssen Sie mir sagen . . .«

Sie war so in Eifer, daß sie ihre Hand vertraulich auf die seine legte, und er vermied es, sie auch nur durch die leiseste Bewegung darauf aufmerksam zu machen.

»Mr. Rosary darf ich natürlich nicht blamieren«, meinte sie. »Das hat er nicht verdient. Wenn Sie daher glauben, daß ich die Richtige bin, können wir ja die Geschichte probieren.« Sie warf den Kopf zurück, und ihr Gesicht hatte wieder den frechen, etwas spöttischen Ausdruck, den sie meistens zur Schau trug.

»Ich soll Ihnen also täglich haargenau erzählen, was unsereiner hier erlebt und was man zu hören bekommt . . .«

»Gleichgültig von wem«, ergänzte er mit leichtem Nachdruck. »So zum Beispiel auch von dem dunklen Herrn, in dessen Gesellschaft ich Sie vorhin gesehen habe.«

»Haben Sie ihn bemerkt?« fragte sie lebhaft. »Ein fescher Mann, nicht wahr? Und riesig unterhaltend. Dazu will er mich auch noch wirklich heiraten.«

Es war nicht zu entnehmen, ob ihre Begeisterung echt oder ironisch war, und als sie den Blick ihres Gegenübers forschend auf sich ruhen fühlte, streckte sie die feine Nase herausfordernd in die Luft.

»Und Sie?« fragte er nach einer kleinen Pause.

»Ich?« Sie begann plötzlich wieder zu kichern, wurde aber sofort wieder ernst und setzte eine sehr kühle, geschäftsmäßige Miene auf. »Aber so haben wir nicht gewettet. Für nichts und wieder nichts. Erst möchte ich einmal hören, was für mich bei dem Handel herausschaut.«

»Wollen Sie mir, bitte, Ihre Ansprüche nennen«, schlug er zuvorkommend vor, aber die Rote hatte ein Angebot erwartet und geriet in Verlegenheit. Schließlich kam ihr jedoch ein rettender Einfall.

»Von Geschäften verstehe ich nicht viel, und Sie könnten mich übers Ohr hauen. Es wird besser sein, wenn ich erst meinen Freund Rosary frage. Der kennt sich in solchen Dingen besser aus. Aber ich glaube«, fuhr sie lebhaft fort, »wir werden schon einig werden, und deshalb möchte ich wissen, wie Sie sich die Sache eigentlich vorstellen. Wollen Sie jeden Tag hierherkommen, oder wo kann ich Sie sonst finden, wenn es einmal etwas Besonderes gäbe?«

»Das alles werde ich Sie durch Rosary wissen lassen, wenn es Ihnen recht ist«, sagte er, und sie nickte eifrig, denn dieser Vorschlag zerstreute ihre letzten Bedenken.

»Gewiß paßt es mir«, versicherte sie, indem sie sich erhob.

»Aber nun muß ich wieder hinunter, denn mein Anbeter dürfte bald zurückkehren, und er ist schrecklich eifersüchtig.«

»Wie weit sind Sie mit ihm?« fragte der Herr vor ihr, und sie bemerkte erst jetzt, daß sie den Kopf sehr weit zurückneigen mußte, um in sein ernstes Gesicht blicken zu können.

»Wir erwarten die Ankunft seiner Schwester«, erklärte sie wichtig, aber mit einem eigenartigen Unterton. »Er wird mich ihr vorstellen, und dann fahren wir zusammen über den großen Teich.«

Sie legte ihre schmale Rechte in die Hand, die sich ihr entgegenstreckte, und fühlte sich länger festgehalten, als dies gerade notwendig war.

»Ich bin Rosary sehr dankbar, daß er unsere Bekanntschaft vermittelt hat«, sagte der Herr höflich, »und Sie müßten es eigentlich auch sein.«

»Ich?« meinte sie schnippisch. »Wieso?«

»Weil ich vermute, Miss« – die Stimme des Fremden klang plötzlich so seltsam, daß ein leichtes Frösteln über den frischen Mädchenkörper lief –, »daß Sie ein Spiel treiben, dessen Gefahren Sie unterschätzen und bei dem Ihnen mein Beistand vielleicht nützlicher sein wird als Ihre hübsche Pistole . . .«

Die Rote machte sich mit einem Ruck los und huschte schattengleich durch die Portiere, während der einsame Gast durch den winzigen Spalt sinnend nach der erregten Mrs. Smith, dem höflichen Mr. Bayford und dessen einsilbigem Teilhaber hinüberblickte.


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