Louis Weinert-Wilton
Der Drudenfuß
Louis Weinert-Wilton

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14

Mr. Tyler nahm es mit seinem neuen Beruf sehr ernst und hielt sich auch an jene seiner Instruktionen, die etwas zeitraubend und nicht gerade unterhaltend waren.

»Wenn es soweit ist, setzen Sie sich mit der Leiterin des Mädchenheims in Greenhithe in Verbindung . . .«, lautete eine dieser Weisungen, und da der ›verliebte Lord‹ bereits soweit zu sein glaubte, unternahm er um die Mittagsstunde diese umständliche Fahrt.

Das Heim lag ungefähr eine Meile abseits des Ortes, und für die Außenwelt war davon nicht viel mehr zu sehen als eine hohe, brüchige Gartenmauer, die mit ihrer rückwärtigen Front bis dicht an die Themse reichte. Das langgestreckte, einstöckige Wohnhaus lag in der Mitte des Gartens, und Mr. Tyler mußte eine geraume Weile in dem unfreundlichen Novemberwetter ausharren, bevor sich das Pförtchen in dem Zufahrtstor auftat.

Dann schritt er durch ein ungepflegtes, mit Obstbäumen und Rasen bestandenes Gartenstück dem Hause zu, das mit seiner fensterlosen Schmalseite gegen den Weg stand.

»Sie sind mir bereits angekündigt worden, Mr. Manchester«, empfing ihn Mrs. Deborah Owen mit der ganzen Würde ihrer steifen Persönlichkeit, indem sie ihn unbefangen bei jenem Namen nannte, den er als Einführungswort aufgekritzelt hatte.

»Allerdings hatte ich Sie nicht so bald erwartet«, fügte sie mit einem erwartungsvollen Blick hinzu und sah dann auf das stattliche Kreuz nieder, das an goldener Kette auf ihrer hageren Brust baumelte.

»Ja«, meinte der junge Mann offenherzig und selbstbewußt, »es ist ziemlich schnell gegangen. – Ich hoffe Ihnen schon in den allernächsten Tagen zwei Damen bringen zu können.«

Die würdige Leiterin des Mädchenheims faltete die dürren Hände und neigte zustimmend den Kopf mit dem glatt zurückgestrichenen grauen Haar.

»Ausgezeichnet. – Meine neuen Gäste pflegen um diese Jahreszeit zwischen acht und zehn Uhr abends einzutreffen«, erklärte sie, »und finden immer alles vorbereitet. – Wollen Sie mir, bitte, nun sagen, für welchen Beruf die Damen bestimmt sind.«

»Für eine Tanzgruppe, die nach Südamerika geht.«

Mr. Tyler glaubte seinen Worten besonderen Nachdruck geben zu müssen, aber Mrs. Owen hob leicht die Hand und lächelte dünn.

»Also Gruppe A«, sagte sie verständnisvoll. »Das ist wichtig, denn jeder Gast soll hier sofort den passenden Anschluß und die entsprechende Beschäftigung finden. Das heimelt an und beugt unangenehmen Zwischenfällen vor. Es sind bei mir die Artistinnen völlig unter sich, in einer zweiten Abteilung die Erzieherinnen und sonstigen Anwärterinnen auf Intelligenzberufe, und die dritte Gruppe bilden jene Mädchen, die eine niedrigere dienende Stellung anstreben. Diese Einteilung hat sich sehr bewährt, und es geht alles seinen geregelten Gang.«

»Die Damen werden wohl nicht lange hierbleiben?« erkundigte sich Tyler für alle Fälle, und Mrs. Owen gab ihm bereitwilligst Auskunft.

»Das nächste Schiff geht genau heute in einer Woche. Wenn Sie sich beeilen, treffen Sie es also besonders günstig. – Ich muß Sie nur noch bitten, mir den Tag durch einen kurzen Anruf bekanntzugeben, damit ich alles vorbereiten kann. Mit Einbruch der Dunkelheit lassen wir nämlich im Garten unsere Hunde los«, fügte sie mit gedämpfter Stimme hinzu, indem sie wieder einmal nach ihrem Kreuz blickte. »Es sind sehr bösartige Tiere, aber sie sind leider notwendig, da das Heim so vereinsamt liegt und keinen männlichen Schutz hat . . .«

Mr. Tyler empfand ein leichtes Frösteln im Rücken und empfahl sich etwas hastig, worauf Mrs. Owen wieder an die Beschäftigung ging, in der sie sein Besuch unterbrochen hatte.

Sie nahm von einem ganz ansehnlichen Päckchen Brief um Brief, schnitt den Umschlag auf und las sie sorgfältig.

Diese Lektüre war sehr wichtig, denn sie unterrichtete die tüchtige Leiterin des Mädchenheims über die Verhältnisse, die Wesensart und die Gedanken ihrer Pensionärinnen. Deshalb liebte es Mrs. Owen, wenn die jungen Damen vor ihrer Ausreise in die weite Welt Verwandten und Bekannten gegenüber noch recht mitteilsam wurden. Irgendwelche Unannehmlichkeiten konnten aus dieser Korrespondenz nicht erwachsen, denn sie wanderte aus den Händen der würdigen Frau auf dem kürzesten Weg in den Kamin, das Portogeld aber in ihre Tasche.

Es war dies eine von den bescheidenen Nebeneinnahmen, die sich Mrs. Owen zu schaffen wußte, denn sie ehrte jeden Penny, obwohl sie von der ›dicken Zigarre‹, wie Mrs. Melendez in den eingeweihten Kreisen genannt wurde, für die musterhafte Leitung des Heimes eine ganz nette Summe bezog.

Nach einer langjährigen Irrfahrt von Gefängnis zu Gefängnis hätte sich die würdige Dame keinen beschaulicheren Hafen wünschen können als das einsame Haus in Greenhithe, in dem alle ihre menschenfreundlichen Triebe auf ihre Rechnung kamen.


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