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Des Rätsels Lösung und ein gutes Ende

Sie war nicht so erstaunt, wie er erwartet hatte; als sie aber endlich das Wort ergriff, wurde ihm klar, warum. »Wo ist dann Eric?« fragte sie. »War es Eric, den er heute früh erschossen hatte?«

Pete begann zu bezweifeln, ob es klug von ihm war, Camilla reinen Wein einzuschenken, aber für einen Rückzug war es zu spät. »Nach Hopkins Ansicht«, sagte er, »ist Eric tatsächlich erschossen oder sonstwie ermordet worden, aber nicht heute früh und nicht hier. Vielleicht im Zug. Auf alle Fälle war es Emil, den wir abholten und mit dem wir frühstückten und den wir mit herausschleppten, um die arme Lucretia zu identifizieren, ohne ihm Zeit zum Umziehen zu lassen.«

Camilla starrte ihn ungläubig an, und als er verstummte, sagte sie dasselbe, was er zu Hopkins gesagt hatte: »Du bist verrückt!«

»Das habe ich auch zuerst gedacht«, gab er zu, »bis ich Hopkins zu verstehen schließlich begann. Der Inspektor behauptet nicht, alles zu wissen, aber er sagt, er kenne drei unerschütterliche Tatsachen, und das ist sicher eine davon.«

»Aber es ist doch ganz ausgeschlossen, daß wir uns so hätten täuschen lassen können«, widersprach Camilla. »Wie oft haben wir in den letzten zwei Tagen festgestellt, wie unerhört ähnlich irgend etwas, was er gerade gesagt oder getan hatte, dem früheren Eric war – und wie wenig er sich verändert hätte! Er machte doch sogar dieselben Witze, die er früher über Großvater gemacht hatte. Pete! Er erinnerte sich sogar an die Ansichtspostkarte, die er mir aus Norwegen geschickt hatte: an die mit der Ziege auf dem Dach.«

»Wenn Emil ihn damals begleitet hat, mußte er sich ebenso gut daran erinnern können«, entgegnete Murray, dem überhaupt ein Licht aufzugehen begann. »Paß auf, Camilla! Setze voraus, daß die Geschichte, die er uns vorgestern abend beim Essen erzählt hat, in allen Punkten der Wahrheit entsprach. Ich meine – die Begegnung in der Untergrundbahn, das Gespräch im Café, die Reise nach Norwegen und der Winter in Paris, und so weiter. Denke dir, daß alles stimmte, nur daß Emil uns die Dinge eben vom Standpunkt Erics aus erzählte. Er entgleiste allerdings ein oder zweimal, wenn ich mir die Sache richtig überlege, und stellte dieses und jenes vom eigenen Gesichtspunkte aus dar. Erinnerst du dich noch daran, wie er ausdrücklich betonte, daß Emil sich nicht für die Verwandtschaft interessierte, und daran, wie vorsichtig er zu Werke gegangen war, um Eric nicht stutzig zu machen? Und daran, wie er sagte, daß Eric sicherlich abgelehnt hätte, wenn er, Emil, ihm vorgeschlagen hätte, nach Norwegen mitzufahren? Das war schon reine Eitelkeit, Camilla! Er konnte es sich nicht verkneifen, uns zu zeigen, wie gerissen er gewesen war. Auch das Porträt, das er von Eric entworfen hat, war ganz echt und vor allem treffender als irgendeine Beschreibung, die Eric von sich selbst hätte geben können.«

Camilla war nur halb überzeugt. »Emil konnte doch kein Englisch«, wandte sie ein. »In zwei Jahren hätte er es nicht so gut sprechen lernen können. Oder hatte er vielleicht nur behauptet, nicht Englisch zu können? Aber welchen Sinn hätte das gehabt?«

»Sehr viel Sinn sogar!« entgegnete Murray. »Das wäre das Klügste gewesen, was er hätte tun können; nichts anderes hätte Eric so sorglos gemacht. Er hätte seine Briefe und Geschäftspapiere herumliegen lassen, er hätte in Emils Beisein Dinge auf Englisch gesagt, die er nie gesagt haben würde, wenn er geglaubt hätte, daß sein Begleiter oder Diener sie verstehen könnte. Denke dich in diese Situation richtig hinein, Camilla! Bedenke, welch eine einzigartige Chance Emil gerade dadurch in die Hand bekam, daß er vorgab, kein Englisch zu verstehen! Wahrhaftig, Camilla, wenn wir etwas klüger gewesen wären, hätten wir erraten müssen, daß es nur eine Maskerade war, und sei es nur deshalb schon, weil sie so gut ausfiel.«

»Ich habe heute«, erwiderte Camilla, »offenbar nicht den nötigen Scharfsinn, um deiner Beweisführung folgen zu können. Bequeme dich zu einfacheren Gedankengängen, wenn du Wert darauf legst, daß ich dich verstehe.«

»Erinnerst du dich noch daran, was du in der Leichenhalle zu Hopkins gesagt hast, während wir darauf warteten, daß Eric oder Emil Lucretia identifizieren sollte? Hopkins fragte dich, ob sich dein Bruder natürlich und ungezwungen benommen hätte, und du erwidertest, daß alles, was er geäußert und getan hätte, dich daran denken ließ, wie sehr es dem früheren Eric ähnlich wäre. Nun, das hätte jeden Menschen mit Verstand auf den Verdacht einer Maskerade gebracht; vielleicht war es auch für Hopkins der Anlaß zu seinen weiteren Maßnahmen.«

»Du meinst also«, sagte Camilla, »daß Emil von Anfang an geplant hatte, bei der ersten besten Gelegenheit die Rolle Erics zu spielen, und daß er das Jahr, das er in seiner nächsten Nähe verbrachte, damit ausfüllte, wie ein Schauspieler alle seine Eigentümlichkeiten einzustudieren und sogar seine Witze auswendig zu lernen?«

Murray nickte, aber bereits ein wenig skeptisch. »Ich verstehe nur eins nicht recht«, sagte er dann, »selbst unter dieser Voraussetzung hätte er sich, sollte man meinen, doch irgendwo einmal verraten müssen.«

»Das hat er ja auch getan!« erklärte Camilla plötzlich. »Weißt du noch, wie seltsam er sich nach der Beerdigung benahm, als alte Bekannte – die Cunnighams und die Bells – auf ihn zutraten und mit ihm sprechen wollten. Wie er kaum ein Wort sagte, nachdem wir ihn daran erinnert hatten, wer sie waren, und wie er ganz abwesend zu sein schien? Da man bei einer Beerdigung immer mehr oder weniger mit einem solchen Benehmen rechnet, fiel es uns damals nicht weiter auf. – Und dann, weißt du noch, was Sonntags geschah? Er hatte nicht vergessen, daß gerade Sonntag war, Pete. Er hatte die Sonntagszeitung in der Hand. Eric haßte die Sonntagsmahlzeiten und erhob stets ein ganz lächerliches Geschrei deshalb. Er aber mußte warten, bis ich ihm sagte, um welche Zeit am Sonntag gegessen wurde. Pete, ich hoffe, es ist wahr, daß er gar nicht Eric ist. Nach dem zweiten Kuß, den er mir auf dem Bahnsteig gegeben hatte – beim ersten war alles in Ordnung – begann ich ihn so zu hassen, daß es mich fast krank machte. Am meisten stieß er mich ab, wenn er versuchte, nett zu mir zu sein. Das einzige, was mir an ihm gefallen hat, war die Art, in der er den Nelsons gegenübertrat, nachdem Ruth und ihre Mutter ihm damals diese Szene gemacht hatten, weißt du. Warum war er bloß so nett zu ihnen, was meinst du? Warum wurde er nicht damals schon so wütend wie später, als ich ihn nach Lucretia fragte?«

»Sicher hat er vorausgesehen, daß sie ihn erkennen würden«, überlegte Murray, »und wollte, weil wir ja dabei waren, uns zeigen, wie ruhig er es hinnahm. Wahrscheinlich hatte er sogar absichtlich eine Mütze aufgesetzt und es so eingerichtet, daß die kleine Ruth ihn zum erstenmal erblickte, als er sie über einen Busch anstarrte – er wollte ihr wohl jeden Zweifel nehmen.«

Als ihr die tiefere Bedeutung seiner Worte aufging, wurde sie blaß, aber sie versuchte nicht, sich den Folgerungen zu entziehen. »Er ist also der Mann, der an jenem Abend hergekommen war, um Lucretia zu ermorden. Pete, wie lange hat er schon die Rolle Erics gespielt? War es Emil, dessen Frau Lucretia wurde? Oder hat er sie in jener Nacht, in der er sie ermordete, zum erstenmal gesehen?«

Pete schüttelte den Kopf und gab zu, daß sein Scharfsinn nicht ausreichte, um diese Fragen zu beantworten. »Ich glaube aber nicht, daß die Maskerade schon sehr lange gedauert hat. Hopkins erzählte uns vor dem Essen am Sonnabendabend, es stünde fest, daß Eric in Los Angeles in den Zug eingestiegen wäre und in der Stunde, in der sein Großvater ermordet wurde, in seinem Abteil gesessen hätte. Ich weiß nicht, ob er das auch jetzt noch behaupten würde. Wenn er es aber immer noch behauptet, so bedeutet es, daß man Eric im Zuge ermordet hat.«

Ein seltsamer Ausdruck trat in Camillas Gesicht, ein schmerzliches Zucken durchlief ihre Züge.

Murray rief bestürzt: »Verzeih, es war eine Roheit von mir, das zu sagen!«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht«, beruhigte sie ihn. »Ich scheine überhaupt keine Gefühle mehr zu haben. Genauer gesagt, mein Gefühlsleben war wohl nie ganz in Ordnung. – Wie lange ist es her, Pete, daß wir zusammen in deiner Wohnung gefrühstückt haben, nach einer Nacht im Freien, weißt du?«

»Das war Donnerstag«, rechnete er aus. »Heute ist Montag. Vier Tage! Mein Gott!«

»Weißt du noch, was ich sagte, als du mir erzähltest, daß Eric nach Hause kommen wollte? Ich sagte, mit dir wäre mein Bedarf an Verwandten vollauf gedeckt. Nun, jetzt habe ich nur noch dich auf der Welt, und dabei bist du noch nicht einmal mein Verwandter.«

In diesem Augenblick vernahmen sie das Knattern eines Autos auf dem Fahrweg, das anfuhr und davonbrauste. Ihre Muskeln strafften sich bei dem Geräusch und entspannten sich dann langsam wieder. Jetzt hatten sie ja nichts mehr zu befürchten.

»Das ist vermutlich Mister Hopkins, der Eric – Emil, will ich sagen – ins Gefängnis bringt«, meinte Camilla. »Damit ist also alles zu Ende. Du wirst jetzt wahrscheinlich auch wegfahren – zurück in dein Büro. Es ist noch nicht zu spät, ein Tagewerk zu beginnen, nicht wahr? Erst kurz nach neun?«

Vielleicht wollte sie ihn nur necken, aber ihr Gesicht mit den großen tieftraurigen Augen sah nicht danach aus.

»Ich bleibe noch eine Weile in Oak Ridge«, erwiderte er. »Ich habe hier noch eine Angelegenheit ins reine zu bringen.«

Es war aber nicht Hopkins, der weggefahren war. Auf einmal stand er in der Eßzimmertür und guckte in die Frühstücksnische hinein, in der sie saßen. Camillas Augen verloren sofort den traurigen Ausdruck, und das frische Rot erschien wieder auf ihren Wangen. »Treten Sie näher!« rief sie ihm zu. »Sie sehen müde und hungrig aus. Haben Sie heute überhaupt schon gefrühstückt?«

»Ich erinnere mich, irgendwann seit dem Hellwerden bereits eine Tasse Kaffee im Stehen getrunken zu haben«, erwiderte er, kam aber bereitwillig herein und widersprach nicht, als Camilla für ihn eine Portion Schinken und Eier bestellte. Er mochte müde sein, aber er strahlte über das ganze Gesicht.

»Ich wünschte, es gäbe etwas Gleichwertiges, was ich für Sie tun könnte«, sagte er zu Camilla. »Ich würde Ihnen, um Ihnen meine Anerkennung für das zu beweisen, was Sie in diesem Fall geleistet haben, mindestens eine besondere goldene Medaille verleihen. Aber wahrscheinlich wird es Ihnen beiden am liebsten sein, wenn ich Ihren Anteil an meinem Erfolg überhaupt verschweige und den ganzen Ruhm selbst einstecke, wie?«

Mit anderen Worten: Sie haben bereits das Geständnis, das Ihnen noch gefehlt hat?« mutmaßte Murray.

Der Inspektor nickte. »Zwei Geständnisse sogar. Zuerst hat Taylor sein Sprüchlein hergesagt. Er war der Meinung, daß Emil ihn betrogen hatte. Und Emil erzählte in dem Zustand, in dem seine Luftfahrt und ein paar Whiskys ihn versetzt hatten, alles, was er wußte. Er sprach so schnell, daß Samuels, der Stenograph, kaum mitschreiben konnte. Ich glaube, ich weiß jetzt alles. Da ist allerdings noch ein loses Ende«, setzte er, sich an Murray wendend, hinzu, »das ich nur mit Ihrer Hilfe unterbringen kann, aber es handelt sich dabei wirklich nur um eine Formsache. Ich werde also«, fuhr er, sich nunmehr an Camilla wendend, fort, »in ein oder zwei Tagen, wenn sie sich gründlich erholt haben, herkommen und Ihnen die ganze Geschichte erzählen.«

»Aber, aber! Sie sind doch sonst sooo scharfsinnig!« rief sie. »Glauben Sie wirklich, daß ich noch zwei Tage zu warten imstande bin? Nicht einmal zwei Stunden! Können Sie nicht ruhig in diesem Sessel sitzen bleiben, noch etwas mehr Kaffee trinken und uns gleich alles erzählen?«

Der Inspektor schmunzelte. »Auf diesen Wunsch habe ich im stillen gehofft«, gestand er ein. »Gemacht! Ich werde mich so kurz wie möglich fassen.

Der Mann, den Sie heute morgen in Ihrem Flugzeug zu dieser luftigen Fahrt mitgenommen haben, ist ein berüchtigter internationaler Verbrecher, der in seiner Zunft als ›Englischer Ede‹ bekannt ist. Er hat diesen Spitznamen nicht, weil er Engländer ist – denn das ist er gar nicht –, sondern wegen seiner großen Erfolge in Rollen vornehmer oder adliger Engländer. Er hat eine ganze Reihe von falschen Namen, so lang wie Ihr Arm, aber in Wirklichkeit heißt er seltsamerweise tatsächlich Emil Lindstrom. Diesen Anhaltspunkt verschaffte ich mir aus der Familienbibel und bekam ihn gestern abend durch ein Kabeltelegramm bestätigt. Er ist das typische schwarze Schaf einer guten Familie, er ist tatsächlich ein entfernter Vetter von Ihnen, und sein Polizeiregister, hier und in ganz Europa, ist mindestens zehn Jahre alt. Er hat zwei auffallende Schwächen: erstens ist er – wie viele dieser Burschen – ein passionierter Spieler, und zweitens – aber das ist schon bedeutend bemerkenswerter –: er ist feige, und aus diesem Grunde in seinem Beruf nicht so hoch geachtet, wie er es seinen glänzenden und mannigfaltigen Fähigkeiten zufolge eigentlich sein müßte. Er kann auf sehr vielen Gebieten bedeutend mehr als die meisten erfolgreichen Verbrecher. Den Einblick in seine Lebensgeschichte verdanke ich in der Hauptsache Taylor.

Beginnen wir mit seiner Pariser Zeit. Sie können die Geschehnisse, die er uns am Sonnabendabend beim Essen geschildert hat, im großen und ganzen als wahr hinnehmen – mit den nötigen Einschränkungen selbstverständlich. Er war Eric auf die Spur gekommen und hatte gleich erkannt, welche Möglichkeiten zu einem wirklich großen Coup sich für ihn aus ihrer Ähnlichkeit ergaben. Dann war er viele Monate mit Eric zusammen und sah ihm alles ab, was er ihm absehen konnte, lernte seine Handschrift schreiben und prägte sich jede Einzelheit seines Wesens genau ein. Ich weiß nicht, was er ursprünglich für einen Plan hatte. Es ist auch unwichtig, denn er fand damals keine Gelegenheit, ihn auszuführen. Auf irgendeine Weise kam ihm Erics Heirat mit Lucréce Pasteur in die Quere.

Sie war selbst eine Art Kosmopolitin, hatte eine englische Mutter und einen französischen Vater und schlug sich in Paris so gut es ging durch, bis es ihr gelang, Eric zu angeln. Sie war nicht eigentlich eine Verbrecherin, zumindest nicht von Emils Standpunkt, aber sie war ziemlich ausgekocht und ergriff einige Vorsichtsmaßregeln, die Emil einen Strich durch die Rechnung machten. Sie hörten wohl voneinander, aber sie trafen sich nie. Emil sah sie zwar einmal, hatte aber dafür gesorgt, daß sie ihn nicht zu Gesicht bekam, denn zu dieser Zeit begann er bereits einen neuen Plan auszuarbeiten.

Vor einem Jahr etwa kam er mit einem gefälschten Paß nach den Staaten und tat sich bald darauf mit dem Mann zusammen, den Sie als Gordon Taylor kennengelernt haben. Dieser Taylor ist gleichfalls ein alter Berufsverbrecher. Die beiden arbeiteten erfolgreich Hand in Hand und kamen ausgezeichnet miteinander aus, bis vor ein paar Monaten Emils verbrecherische Neigungen – verbrecherisch vom Standpunkt der Verbrecher – wieder Oberhand gewannen und er mit der ganzen Beute eines glücklichen Fanges einfach ausrückte und Taylor im Stich ließ.

Emil reiste hierher nach Chicago und verlor hier das ganze Geld auf der Rennbahn. Das brachte ihn tatsächlich in eine recht üble Lage, denn zu dieser Zeit hatte Taylor ihn bereits aufgespürt. Vor Taylor persönlich braucht man keine sehr große Angst zu haben, aber er hat einige Beziehungen zu gewissen gefährlichen Verbrecherbanden, und er ließ Emil wissen, daß er ihn, falls er das Geld nicht binnen einer Woche zurückzahlte, um die Ecke bringen lassen würde. Das geschah am letzten Mittwoch.

In seiner Verzweiflung beschloß Emil, hierher zu kommen. Er hatte zwei Chancen. Die beste Chance und die seinen Fähigkeiten angemessenste kam ihm von Eric selber. Wenn Eric zu Hause war, und das nahm er an, so bot sich ihm eine Gelegenheit, sich vorübergehend zu verbergen und den Doppelgänger ausgiebig zu erpressen. Er wußte verschiedene Dinge von Eric, wußte vor allem, daß er sich heimlich verheiratet hatte. Und war Eric nicht zu Hause, ja, dann blieb immer noch der Geldschrank im Herrenzimmer.«

An dieser Stelle der Erzählung des Inspektors stießen Camilla und Murray gleichzeitig einen leisen Schrei aus.

»Ja«, gab Hopkins zu, »das klingt alles recht seltsam, ist aber nicht seltsamer als viele andere Dinge, die fremden Menschen hie und da ausgeplaudert werden. Eric machte sich gern über seinen Großvater lustig und erzählte nicht weniger gern Anekdoten, aus denen das schrullige Wesen des alten Herrn hervorging. Und eine dieser Anekdoten betraf die fünfundzwanzigtausend Dollars – ›das Chicagoer Brandgeld‹ nannte er sie –, die in dem Geldschrank unter der Herrenzimmertreppe brach lagen und auf irgendeine andere Katastrophe – vielleicht auf ein Erdbeben – warteten. Emil war kein Geldschrankknacker – das heißt kein Verbrecher, der Geldschränke aufbohrt und mit Nitroglyzerin sprengt –, aber er war durchaus imstande, sie, besonders wenn sie alt waren, bisweilen nach Schall und Gefühl zu öffnen.

Nun, er kam also an jenem Abend ans Tor und fragte nach Eric, ganz so wie Frau Nelson bei der Beweisaufnahme ausgesagt hat. Dann blieb er in der Nähe und sah, wie sie und ihr Mann fortgingen. Wie Sie wissen, gelang es ihm bald darauf, während die kleine Ruth sich auf der anderen Straßenseite Zuckerstangen kaufte, zu Ihnen einzudringen. Das Haus selbst wollte er eigentlich erst am späten Abend betreten, erst nachdem die Familie sich zurückgezogen hätte, aber das halb offene Fenster im Herrenzimmer und Ihr Anblick beim Abendessen verleiteten ihn, sich zwecks vorläufiger Orientierung schon vorher einzuschleichen. Er fand Erics Telegramm auf dem Schreibtisch und fing an, es zu lesen. Dabei wurde er von Lucretia überrascht.

Sie glaubte natürlich, es sei Eric, und sie rief ihn als Eric an, aber ganz leise. Sie muß gedacht haben, daß er dem Zuge nach Chicago vorausgeflogen wäre. Er aber legte den Finger an die Lippen und gebot ihr Schweigen, und das muß sie auf die Idee gebracht haben, daß er hergekommen wäre, um heimlich mit ihr zu sprechen. Emil wußte zwar weder was für eine Stellung sie im Hause einnahm noch wie sie zu Eric stand, indessen war er geistesgegenwärtig genug, um ihren Irrtum voll auszunützen. Sie führte ihn wortlos durch Lindstroms Zimmer über die Geheimtreppe zu sich. Als sie wieder hinunterging, sagte sie ihm noch, daß es keinen Zweck hätte, ihr Zimmer zu durchsuchen, weil das, was er finden wollte, nicht dort wäre. Das machte ihn stutzig. In Anbetracht dessen, was Emil später herausbekam, ist mir jetzt klar, daß sie auf ihren Trauschein anspielte, der, wie wir wissen, im Geldschrank eingeschlossen war. Emil natürlich durchwühlte dennoch ihr Zimmer, weil er hoffte, einen oder mehrere Briefe von Eric zu finden, die, wie er annahm, ihm einige Tatsachen verraten würden, die er wissen mußte, um die Entlarvung wenigstens für ein paar Stunden hinauszuschieben. Denn es lag ihm doch in erster Linie daran, sich sicher im Hause verborgen zu halten, bis alles zu Bett gegangen war und er an den Geldschrank herankonnte.

Er fand aber keine Briefe und begann zu befürchten, daß Lucretia, die offenbar nicht besonders gut mit Eric stand, ihn verraten würde. Deshalb begab er sich vorsichtshalber ins Zimmer des alten Lindstrom. Von dort aus konnte er, falls Lucretia ihre Leute die Haupttreppe hinaufschicken würde, über die kleine Treppe entfliehen. Während er auf sie wartete, durchsuchte er auch Lindstroms Zimmer – wahrscheinlich aus Prinzip. So stieß er auf Ihre Mauserpistole, Fräulein Camilla, und war froh, sie gefunden zu haben. Außer einem kleinen Totschläger hatte er nie eine Waffe bei sich. Um diese Zeit, behauptete er, hätte er noch nicht die Absicht gehabt, jemand zu erschießen. Er wollte den Revolver nur als Schreckmittel benutzen, um Lucretia in Schach zu halten. Bald darauf hörte er sie allein die Treppe heraufkommen, und einige Augenblicke später vernahm er Ihre, Herr Murray, und Lindstroms Stimmen im Herrenzimmer. Inzwischen hatte er auch das Sprachrohr entdeckt und nun öffnete er schleunigst die kleine Klappe. Das Glück war ihm, so wie er es sah, hold, da er fast unmittelbar darauf Ihr für ihn äußerst wichtiges Gespräch mit dem alten Lindstrom abhören konnte.«

»Diese Unterredung war allerdings recht wichtig«, bestätigte Murray und gab sie mit Rücksicht auf Camilla kurz wieder: »Lindstrom erklärte mir, wie das Geheimfach zu öffnen war, erzählte mir, daß er die Kombinationsformel zu seinem Geldschrank darin aufbewahrte, äußerte den Verdacht, daß Lucretia sich diese Formel gemerkt hätte, mit der Absicht, das Geld zu stehlen, und sagte, daß er sie entlassen würde. Das alles zusammengenommen war tatsächlich ein gefundenes Fressen für diesen Burschen. Aber was hatte denn Lucretia die ganze Zeit getan?«

Sie war, nachdem sie zuerst schnell in ihr Zimmer hineingeblickt und dabei festgestellt hatte, daß er sich aus dem Staub gemacht hatte, ihm natürlich sofort auf die Spur gekommen. Als er sie erblickte, gab er ihr einen Wink, die Tür zu schließen, näherzukommen und mit ihm zu lauschen, und ihre Neugier verleitete sie, lautlos zu gehorchen. Keiner von den beiden rührte sich, bis die Unterhaltung zu Ende war. Er bemerkte jedoch, daß sie ihn ziemlich gespannt musterte, und argwöhnte, daß ihr inzwischen Zweifel an seiner Echtheit gekommen waren. Die weißen Baumwollhandschuhe, die er anhatte, mögen dazu viel beigetragen haben, aber es gibt noch eine andere Möglichkeit, die er einfach nicht beachtet hatte. Wenn er nämlich wirklich Eric gewesen wäre, hätte der Entschluß seines Großvaters, Lucretia zu entlassen, ihn tiefer berührt. Sie werden gleich verstehen, warum. Wie dem aber auch sei, als er sich von dem Sprachrohr aufrichtete und die Klappe immer noch hochhielt, ging seine Jacke auf, und Lucretia erblickte die Pistole. Das genügte, um ihr einen Schrei zu entlocken. Es war freilich nur ein Schrei der Überraschung; sie hatte noch nicht die Absicht, ihn zu verraten, denn gleich darauf erklärte sie ihm kurz und bündig, daß sie nicht daran glaube, daß er Eric sei. Als er es aber fest und steif behauptete, richtete sie ein paar persönliche Fragen an ihn. Diese konnte er nicht beantworten. Er begriff nur, daß sie ihn klar durchschaute. Sie aber verlor ein paar kostbare Minuten, um zu ergründen, was für ein Spiel er eigentlich trieb, und hatte vielleicht die Hoffnung, daß womöglich auch ihr dabei eine Rolle zufallen würde. Dann aber besann sie sich eines anderen und lief auf die Tür zu, die zum oberen Flur führte. Er kam ihr jedoch um einen Sprung zuvor, schloß ab und bedrohte sie, um sie am Schreien zu hindern, mit der Pistole. Er behauptet, nicht daran gedacht zu haben, daß die Waffe geladen war, aber das war sie natürlich und ging plötzlich los – Lucretia mitten ins Gesicht.

Ich glaube, einen Augenblick lang wird er die Nerven vollkommen verloren haben, denn er war kein geborener Mörder. Er erzählt, daß der Lärm eines Automotors, der im selben Moment einsetzte, da der Schuß fiel, ihn gewaltig erschreckt hätte. Das werden vermutlich Sie gewesen sein, als Sie mit Frau Smith zum Tor abfuhren, Herr Murray. Jedenfalls stand er wie gelähmt da, bis er Herrn Lindstrom die Geheimtreppe heraufkommen hörte. Nun schoß er auch ihn vom oberen Treppenabsatz nieder. Daraufhin lauschte er ein paar Sekunden: das Auto entfernte sich, das Haus war totenstill.

Was er weiter tat, wissen wir bereits: es ist uns bekannt, daß er die Kombinationsformel aus dem Geheimfach holte, den Geldschrank aufschloß, Herrn Lindstrom die Schlüssel aus der Tasche zog, das innere Fach öffnete, das Geld an sich nahm, den Schrank wieder zumachte, den Revolver nach oben trug und neben Lucretia legte. Dabei vergaß er, ihre Hand gegen den Knauf zu drücken. Das einzige, was wir nicht selber herausfinden konnten, war das, was ihn veranlaßt haben mochte, unmittelbar darauf sein nächstes Verbrechen zu begehen, nämlich Erics Telegramm vom Schreibtisch zu stehlen. Er selbst sagt, daß er es, ohne recht zu wissen warum, einfach eingesteckt und mitgenommen hätte. Dann verließ er das Haus und das Grundstück genau so, wie wir es uns ausgemalt hatten.

Nun, die Geschichte hätte damit eigentlich zu Ende sein können, und das wäre sie auch, wenn nicht eine Kleinigkeit, die er damals als besonderes Pech betrachtete, dazwischen gekommen wäre. Er machte das Tor hinter sich zu und wollte es gerade abschließen, als vor der Tankstelle auf der gegenüberliegenden Seite der Straße plötzlich ein Auto hielt, und zwar so, daß die hellen Scheinwerfer voll auf das Tor gerichtet waren. Er sprang, knapp bevor das grelle Licht ihn erwischen konnte, in einen Schlupfwinkel, der im dunklen Schatten lag, und war dort zwar in Sicherheit, aber regelrecht gefangen, und mußte warten, bis der Wagen getankt hatte und davongefahren war.

Während er dort aber voller Wut über den unfreiwilligen Aufenthalt kauerte, holte Nelson den Rolls-Royce heraus, und lud das Gepäck der Wirtschafterin auf. Und aus dem Gespräch, das dabei geführt wurde, erfuhr der Verbrecher, daß Frau Smith ihren Zug nach Salt Lake City in Oak Park erreichen wollte. Der Gedanke, daß dies auch ein guter Zug für ihn wäre, kam ihm nur, weil er mit ihn am schnellsten so weit wie möglich vom Schauplatz des Verbrechens entrinnen konnte. Die andere Möglichkeit, die diese Reise ihm bot, kam ihm erst später in den Sinn.

Er machte sich also sobald er konnte auf den Weg, ließ sich ein- oder zweimal ein kurzes Stück von einem Fuhrwerk mitnehmen und nahm sich schließlich ein Taxi zum Bahnhof Oak Park. Außer der Beute aus dem Geldschrank hatte er nur sehr wenig Geld, knapp zehn Dollars, bei sich. Und die gestohlenen Banknoten belasteten ihn, nicht nur weil es sich um lauter Hunderter und Fünfziger handelte, sondern auch wegen ihres großen Formats. Es half aber nichts, er mußte einen von den Hundertdollarscheinen am Bahnhof Oak Park wechseln, um eine Fahrkarte bis Omaha zu lösen.

Als der Zug einlief, stieg er in einen Wagen, in dem die meisten Reisenden schon schliefen. Aus bloßer müßiger Neugier hatte er auf dem Bahnhof einen Fahrplan mitgenommen. Als er ihn aber im Zug zu studieren anfing, fiel ihm plötzlich ein merkwürdiges Zusammentreffen auf, und er zog, um es nachzuprüfen, Erics Telegramm aus der Tasche. Und da … Nun es wundert mich nicht, daß er es als einen Wink des Schicksals hinnahm. Ich bin nicht abergläubisch, aber ich glaube, ich wäre derselben Fiktion verfallen.

Was er, so unerwartet für sich selber, entdeckt hatte, war: daß sein Zug den Weg des Zuges, in dem Eric reiste, kreuzen würde. Sein Zug, der Kontinentexpreß, mußte Cheyenne in Wyoming in der folgenden Nacht, und zwar um ein Uhr fünfundzwanzig, erreichen. Erics Zug, derselbe Kontinentexpreß, bloß in umgekehrter Richtung nach dem Osten fahrend, würde Cheyenne mitten in derselben Nacht erreichen, knapp drei Stunden später. Und Erics Telegramm, daß Lucretia offenbar anzeigen sollte, wohin sie ihm telegrafieren könnte, enthielt alle wissenswerten Einzelheiten. Diese Chance war natürlich verwirrend, und fast erschreckend, nicht weil sie einen dritten Mord zur Folge haben mußte, sondern weil sie einen offenbar vollkommenen Schutz gegen die Entlarvung wegen der ersten beiden bot.

Er zweifelte nie an seiner Fähigkeit, erfolgreich als Eric aufzutreten, sogar unter kritischeren Umständen, als die zu erwartenden sein würden. Eric fuhr ja zu Leuten, die ihn mehr als acht Jahre nicht mehr gesehen hatten. Wenn nun statt Erics er selber in Chikago aus dem Zuge stieg, würde er in der Lage sein, alle Zweifel, die man an seiner Identität haben könnte, in drei Minuten zu beseitigen – und warum sollte man überhaupt Zweifel haben? Wenn das Glück ihm einigermaßen hold war, und er während einer ziemlich grausigen Viertelstunde seine Nerven fest in der Gewalt behielt, konnte er bis an sein Ende als Millionär leben!

Nun, er verbrachte wohl den Rest der Nacht in tiefem Nachdenken, aber er muß schon nach wenigen Minuten zu seinem Entschluß gekommen sein. Das Glück blieb ihm so konsequent hold, daß es ihn fast beunruhigte. Als der nach dem Osten fahrende Zug in den Rangierbahnhof Cheyenne einlief, blieb der Wagen ›Carborundum‹ beim Rangieren am freien Ende des halben Zuges zurück. Es war kein Kunststück, über die Puffer und die Plattform zu klettern. Emil hatte einen einfachen Dietrich in der Tasche, einen etwas zurechtgebogenen Stiefelknöpfer, aber er brauchte ihn nicht einmal zu benutzen, denn Eric war nicht so vorsichtig gewesen, die Tür seines Luxusabteils zu verschließen. Als Emil die Tür öffnete, schreckte Eric zwar auf, wurde aber nicht wach genug, um aufzuschreien, bevor der Totschläger auf seinen Kopf herabsauste. Dann schloß Emil die Tür ab, zog der Leiche den Pyjama aus und kleidete sie von Grund auf in die schmutzigen und zerdrückten Kleider, die er selbst getragen hatte. Und als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, machte Emil ein paar Kilometer östlich von Cheyenne das Fenster des Abteils weit auf und warf die Leiche auf die freie Strecke. Dann schloß er das Fenster, zog den Pyjama des Toten an und legte sich in sein Bett, um den Morgen zu erwarten. Viel geschlafen hat er, wie er selber zugibt, nicht.

Das alles spielte sich am vorigen Freitag ab, und so hatte er noch den ganzen nächsten Tag, um sich zu sammeln, seinen Schlachtplan zu entwerfen, und was wohl am wichtigsten war, den Inhalt von Erics Handgepäck zu untersuchen. Am liebsten wäre er auch noch in den Gepäckwagen gegangen, um dort in Erics Koffern nachzukramen, aber er hielt es für besser, das nicht zu riskieren. Am meisten beschäftigte ihn im Luxusabteil eine Schatulle, die unter anderem erstens einen Kreditbrief enthielt, der ihn ziemlich genau über Erics Reiseroute im Fernen Osten aufklärte, und zweitens einen Brief von Lucretia, der über den Grund seiner Heimkehr Aufschluß gab.

Diesen Brief hatte die Frau schon vor Monaten geschrieben, und er war Eric von Ort zu Ort fast um die halbe Welt gefolgt. Eric mußte wohl Lucretias schnell überdrüssig geworden sein und hatte sie sehr bald nach der Hochzeit verlassen. Nun teilte sie ihm mit, daß sie sich eine sehr einflußreiche Stellung als Sekretärin seines Großvaters erobert hätte. Sie sei sehr beliebt, schrieb sie, und könnte im Grunde alles erreichen, was sie wollte. Wenn Eric also ein guter Junge sein, nach Hause kommen und sie als seine Gattin anerkennen würde, wollte sie ihn mit seinem Großvater aussöhnen.

Nun, viel mehr brauche ich Ihnen wohl nicht zu erzählen. Es paßte schlecht in seine Pläne, daß Sie beide ihn von der Bahn abholten, aber er glaubte, sich dennoch ganz gut aus der Situation ziehen zu können. In Oak Ridge jedoch, gerade als Sie beide mit ihm vor die Leichenhalle vorfuhren, erlebte er einen bösen Schreck – da erblickte er nämlich flüchtig Taylor. Eine Zeitlang dachte er, Taylor hätte ihn nicht gesehen. Er wurde jedoch bitter enttäuscht: Taylor rief, wie Sie wissen, noch am gleichen Abend ihn an.

Taylor war freilich seiner Sache nicht ganz sicher. Die Zeitungen hatten, im Zusammenhang mit dem ersten Bericht über das Verbrechen, Erics Bild veröffentlicht, und Taylor war nach Oak Ridge hinausgefahren, um ihn sich anzusehen. Um sich aber vollkommen zu überzeugen, wollte er dem angeblichen Eric unter vier Augen gegenübertreten und mit ihm sprechen. Dies erreichte er am Sonntagmorgen, als er durch den Fluß watete. Emil versuchte zunächst, ihn irrezuführen, kam aber damit nicht weit. Taylor wies ihn darauf hin, daß man Fingerabdrücke von ihnen beiden gemacht hätte, und forderte Emil auf, zum Erkennungsdienst mitzukommen.

Da gab Emil klein bei und gestand, mit einer einzigen Verheimlichung, alles ein. Das machte natürlich Taylor gewissermaßen zu seinem lebenslänglichen Partner in einem Geschäft, das sich auf Millionen belaufen sollte. Selbstverständlich erklärte sich Taylor mit allem einverstanden. Er versprach Emil, ihm in jeder Weise zu helfen, unangenehme Aufträge für ihn zu erledigen, und so weiter.

Aber er wollte sofort Geld sehen – eine Menge Geld sogar –, und Emil beteuerte, daß er keines hätte. Den Raub der fünfundzwanzigtausend Dollars aus dem Geldschrank hatte er ihm verheimlicht. Er wollte dieses Geld behalten, verstehen Sie, um es, wenn ihn etwas Unerwartetes zur Flucht gezwungen hätte, jederzeit zur Hand zu haben. Trotz der gegenteiligen Beteuerungen Emils ahnte Taylor dennoch die Wahrheit.

Bei ihrer ersten Unterhaltung wurden sie gestört, als Ihr Flugzeug über dem Park kreiste und sie sich beobachtet glaubten. Taylor wählte als Weg die Flucht über die Mauer, wobei ihm eine Leiter, die zufällig dort stand, gute Dienste leistete.

Diese fünfundzwanzigtausend Dollars wurden aber für Emil allmählich zu einer wirklichen Last. Die Bündel waren zu dick, als daß er sie leicht hätte bei sich tragen können. Er versuchte, die Scheine in einer Ecke der Dunkelkammer zu verstecken, mußte aber schließlich aus verschiedenen Gründen darauf verzichten. Erstens hätte er, wenn Not an Mann wäre, vielleicht nicht einmal mehr Zeit, bis in den dritten Stock zu laufen. Zweitens hatte er Carl von Anfang an in Verdacht, Kriminalbeamter zu sein, und rechnete also damit, daß seine oder vielmehr Erics Wohnräume wahrscheinlich zu allererst durchsucht würden. Es ging also nicht. Endlich entschied er sich dafür, das Geld im Herrenzimmer, und zwar hinter einigen Büchern im Bücherschrank, zu verstecken.

Dort war es zwar nicht sehr sicher, aber dafür hatte diese Wahl eine Reihe anderer Vorteile für sich. Das Zimmer war seit der Mordnacht bereits mehrfach gründlich durchsucht worden; ein gehetzter Mann konnte es in wenigen Sekunden erreichen und entweder durch die Tür oder durch eines der Fenster entwischen; und zu guter Letzt, wenn das Geld dort gefunden wurde, würde das nicht unbedingt ihn belasten.

Sie erinnern sich doch, was gestern abend im Herrenzimmer geschah, als er über eines von eben diesen Büchern stolperte, hinter denen das Geld versteckt lag. Da verriet er sich selbst an Taylor, der sofort alles begriff. Emil merkte das natürlich. Und als Taylor, sobald es im Hause still geworden war, ins Herrenzimmer herunterging und mühelos die drei Bündel Banknoten an sich brachte, wurde er von Emil, der dieses Vorgehen Taylors vorausgeahnt hatte, bei der Tat überrascht. Im Augenblick vermochte Emil indessen gegen seinen ehemaligen Freund nichts auszurichten. Er nahm sich jedoch vor, ihn bei der nächsten passenden Gelegenheit umzubringen. Vorderhand durfte auf dem Grundstück allerdings auf keinen Fall noch ein Mord geschehen.

Sie zankten sich im Arbeitszimmer fast eine Stunde lang und sie stritten recht heftig, aber sie mußten sich dabei auf ein leises Flüstern beschränken. Carl belauschte, so gut er konnte, alles durch das Sprachrohr im Zimmer des alten Lindstrom, aber er hatte den ausdrücklichen Befehl, nichts zu unternehmen und keinesfalls auf eigene Faust zu handeln, es sei denn, daß er in eine wirkliche Notlage geriete. Ich wollte nämlich Taylors Abreise abwarten, um ihn mit allen Siebensachen schnappen zu können. Und das wäre alles! Du lieber Himmel! Ich habe geredet wie ein Buch! Kann ich noch eine Tasse Kaffee bekommen, Fräulein Camilla?«

»Gib sie ihm nicht!« rief Murray erregt. »Er verheimlicht uns noch etwas. Das Interessanteste hat er uns nicht erzählt. Die Schuhe, Mann! Was zum Teufel hatten die Schuhe mit der ganzen Sache zu tun?«

Hopkins schmunzelte. »Nun, das hab ich mir tatsächlich bis zuletzt aufgehoben«, gab er zu, »aus purer Eitelkeit. Auf diese Pointe bin ich stolz! Es handelt sich dabei um das beste Detektivstückchen, das ich je geleistet habe. Geben Sie mir den Kaffee, und ich erzähle Ihnen auch das.«

Camilla schenkte ein und schob ihm die Tasse zu.

»Erinnern Sie sich«, fragte er Murray, »an den Zettel mit der Kombinationsformel vom Geldschrank? Wissen Sie noch, daß wir auf seiner Rückseite den Abdruck eines Gummiabsatzes fanden? Sie meinten damals, daß dieser Zettel den ganzen Vormittag im Herrenzimmer herumgeflattert wäre. Ich schämte mich ein wenig deshalb und überzeugte mich natürlich sehr schnell davon, daß niemand, der in diesem Zimmer gewesen war, seitdem Nelson die Tür aufgebrochen hatte, jenen Abdruck hinterlassen haben konnte. Ihre eigenen Absätze besah ich mir, als ich Sie vor dem Geldschrank niederknien ließ. Der alte Lindstrom hatte am Abend vorher seine Hausschuhe getragen. Der Abdruck konnte also nur vom Absatz des Mörders herrühren.

Nun, am Sonntagmorgen, als Sie beide den vermeintlichen Eric zum Leichenschauhaus hinausfuhren, war es Nelson nicht möglich, mit dem Wagen dicht bis an die Bordschwelle heranzufahren, und Sie mußten über die Straße gehen, die gerade frisch geteert worden war. Die Teerschicht war kreuz und quer von Fußspuren durchzogen, und unter ihnen erblickte ich plötzlich den Abdruck eines Absatzes, der mir sehr bekannt vorkam.

Auf meine Anordnung hin wurde das Linoleum in der Leichenhalle ganz sauber gemacht, und dann schickte ich Eric, wie wir ihn nannten, allein zur Identifizierung der Leiche hinein. Und er hinterließ die hübschesten Spuren, die man je auf diesem Boden gesehen hat! Die besten ließ ich sofort photographieren und, genau so wie den Abdruck vom Zettel, vergrößern. Während der Stunde, die Eric in der Stadt verbrachte, um sich seinem Geschmack gemäß einzukleiden, war alles fix und fertig. Es blieb nicht der geringste Zweifel daran, daß es sich dort wie hier um den gleichen Absatz handelte. Wer der Mann, der sich Eric nannte, auch sein mochte, die Schuhe die er trug, mußten in der Mordnacht im Herrenzimmer gewesen sein.

Das war schon an sich rätselhaft genug, aber die Dinge wurden noch rätselhafter, als mir das Zugpersonal versicherte, daß in Erics Luxusabteil derselbe Reisende die ganze Fahrt von Los Angeles bis Chikago mitgemacht hätte. Ich spielte eine Weile mit dem Gedanken an ein Flugzeug, dann kehrte ich aber auf die Erde zurück und studierte eingehend die Eisenbahnfahrpläne. Und dabei stellte ich fest, daß der Mörder, wenn es ihm gelang, den Zug zu erwischen, mit dem Frau Smith abgereist war, mitten in der Nacht auch Erics Zug in Cheyenne erreichen konnte. Es war also möglich, daß Eric jene Schuhe mit dem verräterischen Absatz so oder anders vom Mörder bekommen hatte. Aber einen richtigen Sinn ergab diese Vermutung nicht. Einen Sinn bekam das Ganze erst durch die Identifizierung des Mörders durch Frau Nelson und die kleine Ruth. Ein Mann, der Eric so ähnlich war, daß die Nelsons sich täuschen mußten, konnte seinen Platz im Zuge sehr wohl eingenommen haben. Allerdings mußte man dann annehmen, daß Eric Lindstrom sich nicht freiwillig in einen solchen Rollenwechsel geschickt hatte, und mit der Möglichkeit rechnen, daß auch er dem Mörder zum Opfer gefallen war.

Daraus ergab sich jedoch eine Frage, die mir anfangs schwere Kopfschmerzen gemacht hat. Angenommen, der Mörder, Emil, hätte Eric wirklich getötet, ihn in seine Kleider gesteckt und ihn aus dem Fenster geworfen. Warum hatte er da aber nicht auch die Schuhe mit ihm vertauscht? Er hätte doch sicherlich mancherlei Unbequemlichkeiten auf sich genommen, um die Schuhe, die auf dem Schauplatz des Mordes gewesen waren und womöglich Spuren hinterlassen hatten, nicht nach Chicago zurückzutragen! Die einzige Erklärung, die ich finden konnte, war, daß Erics Schuhe so beschaffen sein mußten, daß es Emil einfach unmöglich war, sie anzuziehen. Emil hatte ja lange genug als Erics Kammerdiener in seiner nächsten Nähe gelebt; es war anzunehmen, daß er Erics Schuhe oft genug in Paris getragen hatte; denn wenn er dazu nicht imstande gewesen wäre, hätte er beim Umkleiden der Leiche bestimmt daran gedacht. Und das wies darauf hin, daß Erics Füße sich – seitdem er nicht mehr mit Emil zusammen war – durch irgendeinen Unfall verändert haben mußten.

»Vorerst war diese Schlußfolgerung natürlich nur eine vage Vermutung, aber ich versuchte auf dieser Basis mein Glück. Am Samstagabend, nachdem ich Sie hier verlassen hatte, rief ich den Polizeiinspektor in Cheyenne telefonisch an und bat ihn, festzustellen, ob in den letzten sechsunddreißig Stunden irgendwo in der Nähe des Bahnkörpers, etwa zwanzig Kilometer östlich von Cheyenne die Leiche eines schäbig gekleideten Mannes gefunden worden wäre, und ob an den Füßen des Toten etwas Merkwürdiges festgestellt werden konnte. Gestern teilte mir der Inspektor telefonisch mit, daß man eine solche Leiche tatsächlich gefunden habe, daß einer von den großen Zehen des Toten amputiert sei und der Schuh – offenbar zur Erleichterung des Gehens – eine eingebaute Stütze enthalte. Das Schuhzeug – depeschierte der Inspektor – scheine überdies weniger abgetragen und von besserer Qualität zu sein als die übrige Kleidung.

»Ich nahm an, daß Eric neben einer Reihe von Anzügen sicherlich auch eine Menge von Schuhen besessen hatte. Emil aber, der diese Schuhe nicht tragen konnte, mußte sie demnach als eine äußerst unbequeme Last betrachten, die verdammt schwer abzuschütteln war. Ich behielt das im Auge. Und als ich dann erfuhr, daß Taylor, der ja nur eine einzige Nacht hierbleiben wollte, eine Unmenge von Gepäck mitgebracht hatte, und als Carl mir bald darauf meldete, daß keiner der Koffer auch nur annähernd vollgepackt war, kam ich auf die Idee, daß der eigentliche Zweck, den Taylor mit seinem Besuch verfolgte, im Wegbringen der lästigen Sachen lag. Auch das war freilich nur eine vage Vermutung. Aber auch sie traf das Richtige. Und das ist ziemlich alles. Jetzt kennen Sie die drei unerschütterlichen Tatsachen, auf die ich mich gestützt habe.«

»Erstens: die Absatzspur«, bemerkte Murray, »zweitens die Leiche mit der amputierten großen Zehe. Nicht wahr? Aber das sind ja erst zwei Tatsachen. Und die dritte?«

»Ach so«, rief Hopkins. »Die dritte war die Kollektion von Fingerabdrücken, die Carl gestern abend vom Tafelgeschirr angefertigt hat. Nach diesen Fingerabdrücken hat der Fahndungsdienst ohne alle Mühe festgestellt, daß es sich um den ›englischen Ede‹ und Gordon Taylor handelte. Das genügte vollauf, um ihre Verhaftung zu rechtfertigen. Aber ihre Geständnisse kamen mir, weiß Gott, dennoch gelegen!«

Hopkins trank seinen Kaffee zu Ende und zündete sich eine Pfeife an. »Ich muß wohl dem Emil ein bißchen ähnlich sein«, bemerkte er plötzlich. »Ich geriet ins Reden und konnte gar nicht aufhören. Ich glaube, ich kehre jetzt zurück aufs Revier und nehme meine Pflichten als Polizeiinspektor wieder auf, zumal ich noch heute abend nach Cheyenne muß. Da hätte ich übrigens noch eine kleine Bitte an Sie«, fuhr er, sich an Murray wendend, fort. »Wollen Sie mitkommen und die Leiche Erics identifizieren, oder ist sonst jemand da der mir damit helfen kann?«

»Nicht daß ich wüßte«, erwiderte Murray. »Ich komme natürlich mit.«

Camilla sah sehr nachdenklich aus. »Es war doch der echte Eric, dem wir telegrafierten, daß Großvater und Lucretia ermordet worden seien?« fragte sie unvermittelt. »Nicht wahr? Dann muß es aber auch der echte Eric gewesen sein, der uns zurücktelegrafierte, er sei untröstlich, aber wir sollten die Beerdigung seinetwegen nicht verschieben?« Man konnte ihr den Gedanken, daß ihr eigener Bruder nicht viel mehr menschliches Empfinden gezeigt hatte als sein Mörder, klar vom Gesicht ablesen.

Murray aber dachte an etwas anderes. »Wie kam es denn, daß Emil von diesem Telegramm wußte?« fragte er. »Er sprach doch davon!«

»Sehen Sie – das habe ich noch vergessen zu erwähnen«, lächelte Hopkins »– und dabei bot mir Emil auch das als einen wesentlichen Bestandteil dessen, was er für sein Glück hielt, ziemlich ausführlich geschildert. Der Block, auf dem Eric das Telegramm geschrieben hatte, lag nämlich noch im Luxusabteil, und die Bleistiftabdrücke waren auf dem nächsten Blatt deutlich zu lesen. Einfach, nicht wahr?« Der Inspektor stand mit einem Seufzer auf. »Ich hoffe, daß Sie nie wieder etwas mit Mordaffären zu tun haben werden«, sagte er, »aber das ist ein sehr selbstloser Wunsch. Denn ich komme wohl kaum noch einmal dazu, mit so freundlichen und klugen Menschen zusammen zu arbeiten.«

»Nun, das ist jetzt das Ende«, sagte Camilla. »Und nun kannst du zu Fräulein Foster ins Büro zurückkehren und deine Sorgen vergessen. Wahrscheinlich komme ich heute nachmittag auch auf einen Sprung hin und verabschiede mich von dir. Ich hätte nicht übel Lust, den Fairchild Murrays in Eastpoint zu telegrafieren und ihnen mitzuteilen, daß ich den Rest des Sommers bei ihnen verbringen werde. Was meinst du zu diesem Plan, Pete? Hier braucht mich ja doch kein Mensch, nicht wahr? Oder doch?«

Sie hatte ziemlich schnell gesprochen, und ihn fast bis zum Schluß ihrer Rede nicht angesehen. Er aber hatte sie zwar die ganze Zeit mit den Augen verschlungen, konnte sie aber nicht unterbrechen, weil seine Stimme einfach gestreikt hatte. Und auch als sie nach der letzten Frage endlich verstummte, war seine Stimme noch immer wie eingefroren. Er sah sie weiterhin groß an, vermochte jedoch nach wie vor kein Wort hervorzubringen; statt dessen streckte er stumm die Hände nach ihr aus.

Sie wich vor ihm zurück. »Nur wenn es dein Ernst ist, Pete«, rief sie. »Sonst könnte ich es nicht ertragen.«

Aber offenbar fühlte sie selber, daß es – wie sie sagte – sein Ernst war, denn im nächsten Augenblick warf sie sich ihm mit einem beglückten Aufschrei an die Brust.

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