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Eric kehrt heim. Noch einmal der Mann mit der Mütze

Nach einer solchen Nacht genügte Sophies Kaffee natürlich nicht, um Murray gegen halb sieben Uhr morgens wieder einigermaßen als Mensch fühlen zu lassen. Er machte Camilla, die er übrigens nicht aus dem Bett hatte holen müssen, bittere Vorwürfe wegen ihres Aussehens. Aber auf der Fahrt in die Stadt war er glücklich, sie bei sich zu haben, denn statt mit ihm zu plaudern, kuschelte sie sich in seinen Arm, legte den Kopf an seine Brust (sie saßen in dem großen Wagen, der von Nelson gesteuert wurde), und holte auf diese Weise stillschweigend den versäumten Nachtschlaf nach.

Sie kamen etwas zu früh an, und während der halben Stunde, die sie fröstelnd auf dem Bahnhof zu warten hatten, wurde Camilla wieder von einer ängstlichen Unruhe befallen. Sie entfernte sich für eine Weile von Murray, flüchtete dann aber zu ihm zurück, denn sie hatte das Gefühl, daß einige Leute sie neugierig anstarrten. Und als dann schließlich die Lokomotive des erwarteten Zuges am äußersten Ende des Schienenstranges auftauchte, ergriff sie seine Hand und fragte: »Pete, glaubst du, daß wir ihn überhaupt erkennen werden?«

»Ich schon«, erwiderte er gelassen. »Ach, und du wahrscheinlich auch. Sei nicht töricht. Eher ist es möglich, daß er dich nicht erkennt, denn du hast dich seit deinem elften Jahr weit stärker verändert, als er sich in dieser Zeit verändert haben kann.

»Er hat mein Bild gesehen«, widersprach Camilla. »Du weißt doch, das Bild, das ich vor zwei oder drei Jahren zu Weihnachten machen ließ. In einer sonderbaren Anwandlung – ich empfand da eine Art Sehnsucht nach einem längst verlorenen Bruder – schickte ich ihm einen Abzug und dann einen rührseligen Brief. Er antwortete mit einem geschmacklosen kleinen Kompliment über mein Äußeres, als hätte ich ihm das Bild nur geschickt, um von ihm bewundert zu werden. Ich sagte dir, ich mag ihn nicht, Pete! Ich habe ihn nie gemocht, und …«

In diesem Augenblick brachte er sie mit einem plötzlichen Händedruck zum Verstummen. Sie standen vor dem Trittbrett eines Wagens, der die Inschrift »Carborundum« trug. Der Schaffner reichte bereits den Dienstleuten verschiedene Gepäckstücke heraus, und auf zweien von ihnen, auf einer Handtasche und einem Reisekorb, entdeckte Pete und Camilla die Buchstaben »E. L.« Er war also wirklich angekommen.

Gespannt musterten sie die ersten Reisenden, die aus dem Wagen stiegen. Konnte es dieser da sein? Nein, ausgeschlossen. Und der auch nicht. Als aber endlich Eric selber erschien, hielten sie beide den Atem an: so überraschend war er noch ganz derselbe Eric, an den sie sich erinnerten. Er erspähte Camilla zuerst, und seine Augen weiteten sich bei ihrem Anblick; dann lächelte er, stieg über einen Wall von Gepäckstücken, der zwischen ihnen lag, zog Camilla an sich und küßte sie erst auf die rechte Wange; daraufhin schob er sie ein wenig von sich, um sie besser betrachten zu können, zog sie aber gleich darauf erneut heran und küßte sie auf die linke.

»Und wir fragten uns bereits«, sagte Camilla mit gezwungenem Lächeln, »ob wir dich überhaupt erkennen würden!«

Eric ließ sie los, um Murray die Hand zu schütteln, und erwiderte: »Nun, es ist erfreulich, daß ich noch zu erkennen bin. Aber es ist toll, daß ihr zur Bahn gekommen seid. Mein Gott, wann müßt ihr da aufgestanden sein! Ich glaube, es ist eine bloße Geldverschwendung, Leuten zu telegraphieren, daß man nicht von der Bahn abgeholt zu werden braucht.«

»Es ist hier inzwischen allerlei vorgefallen«, erinnerte Murray ihn ziemlich schroff.

»Allerdings«, gab Eric zu.

Er ließ den Kopf bei diesen Worten hängen und machte ein verdrießliches Gesicht – und auch das war typisch für ihn, wie Murray sich erinnern konnte. Nur um irgend etwas zu sagen, bemerkte der an Jahren ältere also: »Das ganze Telegramm schien ihrem Großvater eine unverantwortliche Verschwendung zu sein. Er hat sich sehr darüber aufgeregt. Es war das letzte, worüber er mit mir gesprochen hat.«

»Ja, den Eindruck mußte er gehabt haben!« Eric lachte auf und fuhr dann fort: »Ich habe mich ja bei dem Gedanken, daß er sich so gründlich irren würde, im stillen amüsiert. Denn wie Sie wohl erraten haben, lag für diese Ausführlichkeit ein dringender Grund vor.«

Murray hatte zwar nichts erraten, aber er war in diesem Augenblick nicht geneigt, danach zu fragen. Statt dessen erkundigte er sich, ob Eric schon etwas gegessen hätte, und als er eine verneinende Antwort erhielt, schlug er vor, gleich im Bahnhofsrestaurant zu frühstücken. »Ich habe selbst Hunger«, gestand er ein, »und Camilla geht es vermutlich auch nicht anders.«

Camilla nickte. Da aber Eric keinen besonderen Gefallen an dem Plan zu finden schien, fuhr Murray fort: »Wir sparen dabei auch Zeit, und das muß heute unbedingt berücksichtigt werden.«

»Oh, schon gut«, gab Eric nach und verzichtete auf jeden Einwand.

Als er seiner wiedergefundenen Schwester am Frühstückstisch gegenüber saß, musterte er sie eine Weile mit unverhohlenem Wohlgefallen und wandte sich dann an Murray: »Hat sie sich nicht erstaunlich herausgemacht, unsere kleine Camilla? Sie können es mir jedenfalls nicht verübeln, wenn ich mich wundere! – Denn mit elf Jahren, liebes Kind, warst du ein richtiger kleiner Ersatz. Dem Bilde, das du mir – vor etwa zwei Jahren, nicht wahr? – geschickt hattest, glaubte ich einfach nicht. Dabei hätte ich dich – würde ich jenes Bild nicht gesehen haben, überhaupt nicht wiedererkannt. Und das, obwohl dieses Bild dir heute genau so wenig gerecht wird, wie es dir damals, wie ich annahm, geschmeichelt hat.«

Camillas Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Es war ihr stets sehr unangenehm, wenn jemand sich in aufdringlicher Weise mit ihrem Äußeren beschäftigte, selbst wenn es jemand war, den sie gern hatte. Sie sah an Eric vorbei und sagte leise: »Ich finde nicht, daß ich mich seit meinem elften Lebensjahre gar zu sehr verändert habe. Meine Sympathien und Antipathien zum Beispiel sind noch so ziemlich dieselben geblieben.«

Murray machte sofort den Versuch, einem Streit vorzubeugen. »Möchten Sie uns nicht erzählen, was Sie zum Abschicken Ihres Telegramms veranlaßt hat?« fragte er Eric. »Als ihr Großvater es mir zum Lesen gab, habe ich mir gleich gedacht, daß Sie irgendeine Absicht verfolgt haben, aber ich vermochte sie nicht zu erraten.«

»Gern!« rief Eric. »Es war eigentlich für die arme Lucretia bestimmt. Ich wollte ihr Gelegenheit geben, sich noch vor meiner Ankunft mit mir in Verbindung zu setzen. Einen Brief von mir hätte sie sicherlich nie zu sehen bekommen.« Er lachte bei diesem Gedanken auf und schmückte ihn ein wenig aus. »Der alte Herr erinnerte mich stets an ein Eichhörnchen – an ein altes, graues, leicht beschädigtes Eichhörnchen, das alle Dinge irgendwo einzubuddeln pflegte.«

Es war eine ziemlich treffende Beschreibung, und als Murray sie vor etwa zehn Jahren zum erstenmal aus Erics Mund vernommen hatte, hatte er herzlich gelacht. Aber heute morgen erschien sie weder ihm noch Camilla als angebracht.

Eric sah sie beide nacheinander an und sagte dann: »Wenn ihr erwartet, daß ich mich durch den Tod des Großvaters oder meiner unglücklichen Frau betroffen zeigen werde, so irrt ihr euch. Mit dem einen hatte ich mich nie recht verstanden, und die andere verlor schnell, was mich einmal an ihr reizte. Ich glaube, meine liebe Camilla, daß unsere Gefühle für die beiden Toten gleich waren. Warum sollen wir uns da also etwas vormachen?«

Sie errötete tief, gab ihm aber keine Antwort.

Murray vermittelte wieder. »Sie wissen demnach, daß die Frau, die im Hause Ihres Großvaters ermordet wurde, tatsächlich Ihre Gattin war? Aus Ihrem zweiten Telegramm entnahmen wir es nicht mit Bestimmtheit?«

»Freilich wußte ich«, erwiderte Eric, »daß meine Frau im Hause meines Großvaters lebte und seine Sekretärin spielte. Ich habe es sogar direkt von ihr erfahren. Das genügt doch wohl?«

»Ja, für uns schon«, belehrte ihn Murray, »aber nicht für die Gerichtskommission. Einer der Gründe, die uns veranlaßt haben, Sie von der Bahn abzuholen und der einzige Grund, aus dem wir zu so großer Eile bei Ihrem Frühstück drängen, ist der, daß wir Sie so schnell wie möglich nach Oak Ridge hinausbringen wollen, damit Sie die Leiche in aller Form identifizieren. Vorher kann nämlich die Erlaubnis zur Beerdigung kaum erteilt werden. Und bei Ihren Gefühlen für die Ermordeten, wird es für Sie keine so schwere Aufgabe sein, wie wir anfangs befürchtet hatten.«

»Das ist doch aber gar nicht nötig!« protestierte der junge Mann. »Soweit ich den grausigen Zeitungsberichten nach urteilen kann, auch nicht einmal zweckdienlich. Ist sie denn überhaupt – zu erkennen?«

»Mir fiel es nicht schwer«, erklärte Murray kurz. »Aber wir müssen die Frage klären, ob die Tote Lucréce Pasteur und somit Ihre Frau war. Ich fürchte, es wird uns kein anderer Ausweg bleiben. Da die Vorbereitungen zur Beerdigung Ihres Großvaters heute nachmittag noch ziemlich viel Arbeit machen werden, ist es besser, wir verlieren so wenig Zeit wie möglich.«

»Ich glaubte, in meinem Telegramm klar genug gesagt zu haben, daß man das Begräbnis meinetwegen nicht verschieben sollte.«

»Es geschah auch gar nicht Ihretwegen«, entgegnete Murray, und damit fand das Gespräch ein Ende. In diesem Augenblick brachte man ihnen das Frühstück, und sie verzehrten es, fast ohne ein Wort miteinander zu sprechen. Nur ganz allmählich schien Eric seinen Ärger zu überwinden. Er hatte sich mit Murrays Wünschen abgefunden.

»Da Sie mich zu einer feierlichen Beerdigung verurteilt haben«, sagte er, als sie sich zum Verlassen des Restaurants anschickten, »müssen Sie mir auch die Möglichkeit geben, mich passend anzuziehen. Entschuldigen Sie mich also für eine Stunde, und ich werde dann in entsprechend feierlicher Kleidung nach Oak Ridge nachkommen.«

»Eine Stunde würde Ihnen so früh am Morgen nicht viel nützen«, widersprach Murray. »Es ist erst acht Uhr, und die Geschäfte machen vor neun nicht auf. Aber wenn Sie gleich mit uns hinausfahren, sind die nötigen Formalitäten in ein paar Minuten erledigt. Dann wird Nelson Sie in die Stadt zurückbringen, und Sie können soviel Kleider kaufen, wie Sie wollen.«

Eric zuckte die Achseln und lachte. »Ich gebe mich geschlagen!« erklärte er lächelnd, legt den Arm um Camilla und ging mit ihr vor. »Es ist ja ganz zwecklos, noch weiter zu versuchen, meinen Willen durchzudrücken. Ich muß mich ja doch fügen.«

Das klang wieder einmal ganz nach Eric. Obwohl er stets nur an sich dachte und überall verwöhnt worden war, lebte er ständig in dem Wahn, daß sein Leben ihm nur Enttäuschungen bereite. Er hatte früher einmal einen gewissen Charme gehabt, oder besser gesagt, er hatte es früher durch eine gekünstelte Liebenswürdigkeit verstanden, seine Umgebung für sich einzunehmen. Aber mit zwanzig Jahren war er bestrickender gewesen als mit dreißig, dachte Murray im stillen. Auf Camilla wirkte es jedenfalls nicht.

Während der Fahrt im Auto sprachen sie nicht viel. Eric erlaubte sich zwar einige Bemerkungen über das Aussehen des Nordwestens, die ein künstlerisch veranlagter junger Mann, der die letzten paar Jahre durch Europa gereist war, sich einfach nicht verkneifen konnte, aber er brachte sie nicht in einem verletzend arroganten Ton vor. Als man sich Oak Ridge näherte, wollte Murray mit Eric bei der Leichenhalle abgesetzt werden, während Camilla nach Hause fahren und ihnen den Wagen später zurückschicken sollte, aber sie drückte seine Hand mit entschiedenem Widerspruch und erklärte: »Ich gehe mit, wohin du gehst, Pete.«

In der Hauptstraße war trotz der Frühe schon ein recht lebhafter Betrieb. An den Bordschwellen parkte eine Auto neben dem anderen, und die Bürgersteige waren überfüllt. Um die Eingänge zur Leichenhalle standen die Leute so dicht gedrängt, daß man kaum durchkommen konnte. Natürlich wurde der Lindstromsche Wagen sofort erkannt, und das machte die Sache noch schlimmer. Nelson fuhr, so nah er nur konnte, an den Eingang heran und hielt dann mitten auf der Straße, da er beim besten Willen nicht bis zur Bordschwelle vorzudringen vermochte. Murray stieg schnell aus, stellte fest, daß die Straße, die erst kürzlich frisch geteert worden war, sich in einem schauderhaften Zustand befand, und sagte: »Überlege es dir doch lieber anders, Camilla! Hier ist kein Aufenthalt für dich.«

Wahrscheinlich hätte sie nachgegeben, aber in diesem Augenblick stellte sie fest, daß Eric nicht begriffen hatte, daß man angelangt war und nicht die leisesten Anstalten machte, auszusteigen. Ihr Auto wurde dadurch zum Verkehrshindernis, und das Gedränge wuchs mit jedem Augenblick. Eric schien gar nicht zu wissen, wo man gehalten hatte, und erst, als Camilla seinen Arm ergriff und ihn förmlich herauszuziehen begann, raffte er sich auf, um ihr zu folgen.

Als sie die Leichenhalle betraten, fühlte sie sich ziemlich erschöpft, und war froh, daß man ihr in einem dumpfen kleinen, als »Warteraum« bezeichneten Raum, eine Sitzgelegenheit bot und sie allein ließ. Hopkins und der stellvertretende Leichenbeschauer hatten auf Murray und Eric bereits gewartet. Camilla sah noch, wie Murray ihren Bruder den beiden Beamten vorstellte.

Sobald Murray frei wurde, kam er zu Camilla in den kleinen Empfangsraum und setzte sich zu ihr. Aber keiner von ihnen versuchte ein Gespräch anzuknüpfen; weder die Zeit noch der Ort schienen ihnen dafür geeignet zu sein.

Bald darauf kam auch Hopkins zu ihnen. Sie hatten ihn in den letzten paar Tagen schätzen gelernt und ziemliches Vertrauen zu ihm gewonnen. »Ich habe Herrn Lindstrom allein in die Leichenhalle geschickt«, erklärte er und nahm Platz. »Der Anblick der Toten wird eine ziemlich große Erschütterung für ihn bedeuten, vermute ich, und es ist leichter mit derlei Dingen fertig zu werden, wenn man allein ist«, fügte er hinzu.

Als Eric ein paar Minuten später zu ihnen kam, sah er ziemlich bleich aus. Er sagte nur, »ja, sie ist es«, und unterschrieb dann ohne genauere Durchsicht das Schriftstück, das im Büro schon für ihn bereit lag. Aber sobald das erledigt war, gab er zu verstehen, daß es ihm nunmehr hauptsächlich darum zu tun war, sich einen passenden Anzug für die Beerdigung zu besorgen. Nelson sollte ihn sofort in die Stadt zurückfahren. Vorher wollte er dem Hause, das er so viele Jahre nicht mehr betreten hatte, keinen und sei es auch noch so kurzen Besuch abstatten. »Ich werde es noch früh genug wiedersehen«, erklärte er. »Und wie Sie wissen, sehne ich mich gar nicht so sehr nach dem alten Kasten.«

Für Camilla und Murray bedeutete sein Wunsch zurückzukehren so viel, daß sie zunächst einmal ohne Beförderungsmittel bleiben sollten. Aber diese Schwierigkeit wurde durch Hopkins behoben. Der Inspektor bot ihnen seinen Wagen an. Daraufhin ließ man Eric seinen Willen.

Der Wagen des Inspektors brachte Camilla und Murray bis ans Tor. Hier stiegen sie aus und gingen zu Fuß durch den Park, froh über eine Gelegenheit, sich etwas Bewegung zu machen. Als sie das steife, altmodische Herrschaftshaus zu Gesicht bekamen, blieben sie stehen.

»Hoffentlich bekommt Eric hier bald alles satt«, sagte Camilla. »Dann wird er keine Lust haben, lange bei uns zu bleiben. – Bitte, Pete, mache ihm in der Erbschaftsangelegenheit keine Schwierigkeiten, ganz gleich wieviel er für sich beanspruchen mag. Gib es ihm und laß ihn nach Europa zurückkehren«, fügte sie noch hinzu, und das war alles, was sie über Eric zu sagen hatte.

Vielleicht würde er ihr besser gefallen haben, wenn sie nicht zur Bahn gefahren wäre und ihn erst wiedergesehen hätte, als er in seinem neugekauften Anzug auftauchte. Er hatte, wie sie von früher her wußte, etwas von einem Komödianten an sich. Im schwarzen Gehrock und Zylinder, legte er auch den schnoddrigen Ton ab, der auf sie und Murray beim Frühstück so störend gewirkt hatte.

Er fand sie beide auf der Veranda und blieb stehen, um mit ihnen zu plaudern, während Nelson und Sophie seine Koffer hinauftrugen. Er schien nachdenklich gestimmt zu sein und sah in seinem schwarzen Anzug ziemlich blaß aus. »Das Ganze hier hat sich stark verändert«, sagte er schließlich. »Ich weiß nicht genau, inwiefern – aber es wirkt freundlicher, als ich es in Erinnerung habe.« Dann ging er allein in sein Zimmer hinauf und kam nicht wieder herunter, bis er zu Tisch gerufen wurde.

Eilig und zerstreut nahm man dann zu dritt das Mahl ein, das in der Frühstücksecke aufgetragen wurde. Die Beerdigung war für drei Uhr angesetzt, und in den beiden Salons und im Eßzimmer wurden bereits dichte Reihen von Stühlen aufgestellt.

Gleich nach dem Essen ging Camilla in ihr Zimmer hinauf, um sich für einen Augenblick hinzulegen und dann wieder einmal das schwarze Trauerkleid anzuziehen, das sie erst vor einigen Monaten bei der Beerdigung ihrer Mutter getragen hatte. Murray hatte noch zu tun: zwei seiner weiblichen Freunde, wie er sagte, waren aus der Stadt gekommen, um bei der Ausschmückung der Räume mit Blumen behilflich zu sein. Camilla kannte die Damen, aber sie hatte heute keine Lust, irgendwelche Freunde Petes zu sehen und sich von ihnen bemitleiden zu lassen. Und Eric konnte für sich selber sorgen; er war doch hier zu Hause – wenigstens genau so gut wie sie. Deshalb schloß sie sich ein und kam erst herunter, als der Lärm der Autos auf dem Fahrweg verriet, daß die Trauergäste sich allmählich einfanden.

Es war von irgend jemand angeordnet worden, daß sie, Pete und Eric allein im Arbeitszimmer des alten Lindstrom sitzen sollten, wo sie den Pastor sehr gut sehen und predigen hören konnten. Als Camilla hinunterkam, waren Eric und Murray bereits dort und so nahm sie Platz neben Pete.

Erics feierlich ernste Miene, die sich offenbar mit dem Anlegen des schwarzen Anzugs eingestellt hatte, war noch eindeutiger als vorher. Während der ganzen Zeremonie hatte er kaum einen Muskel bewegt.

Zur Leichenfeier waren erstaunlich viel Menschen erschienen: Bankdirektoren natürlich und andere Geschäftsleute, Vertreter von Krankenhäusern und Wohltätigkeitsvereinen, Geistliche, und fast halb Oak Ridge, teils um die aufrichtige Verehrung zu bekunden, die man für den alten Nachbarn empfunden hatte, und teils aus lebhafter Neugierde, um, wenn irgend möglich, die Stelle zu sehen, wo er ermordet worden war. Unter der Menge, die das Haus überfüllte, waren nur wenige, die einer von den beiden jungen Leidtragenden im Arbeitszimmer wirklich kannte.

Aus diesem Grunde hatte man verabredet, daß sie dort mit Murray ruhig sitzen bleiben sollten, bis die Leute das Haus verlassen würden. Danach folgten die drei mit dem Geistlichen im großen Auto dem Leichenwagen zum Friedhof.

Die ganze Zeit trug Eric sein weltentrücktes Wesen zur Schau, ohne es auch nur für einen Augenblick abzulegen. Er antwortete höflich, wenn er angesprochen wurde, ließ sich dahin und dorthin führen und begrüßte auch einige der Trauergäste. Er wurde darauf aufmerksam gemacht, daß sie damit rechneten und daß er sich an sie noch erinnern müßte, aber aus eigenem Antrieb tat er nichts. Kein Wunder, daß er sich vor Beerdigungen fürchtete, dachte Murray, wenn sie ihn so stark mitnahmen. Als sie jedoch nach der Rückkehr vom Friedhof, wieder allein in der sauber gefegten Diele des blumengeschmückten Hauses standen, sagte Eric, als wenn er plötzlich wieder zum Leben erwacht wäre: »Jetzt lege ich diese teuflischen Kleider ab. Zieh dich auch um, Camilla. Wir brauchen nicht länger Trauer zu markieren.«

Sie war schneller fertig als er und hatte es sich in einem Liegestuhl im Schatten des Hauses auf der Ostwiese neben Murray bequem gemacht, als Eric endlich auftauchte. Nichts in seiner Kleidung erinnerte mehr an die Beerdigung: er kam in Golfknickerbockers, Mütze und Pullover, und hatte ein paar nagelneue und auffällig helle Sportschuhe an. Auch seine Stimmung schien sich gründlich geändert zu haben.

»Ach, Kinder, ich verliebe mich nachgerade in dieses Anwesen«, verkündete er begeistert. »Es ist wirklich ganz bezaubernd. Und die Bäume sind auch viel größer, als sie früher waren! Herrlich!«

Murray wies etwas trocken darauf hin, daß Bäume in der Regel größer werden, wenn man sie lange genug in Ruhe ließe. Camilla aber sagte gar nichts.

Eric kam auf sie zu und streckte die Hand aus, als wenn er sie auffordern wollte, sich aus dem Stuhl hochziehen zu lassen. »Komm mit«, sagte er. »Führe mich ein wenig auf dem Grundstück herum. Ich möchte alles sehen, so lange es noch hell ist.«

Camilla, die ihre Unlust und Bestürzung nach Möglichkeit zu verbergen suchte, nahm die Hand des Bruders und stand auf. Aber sie drehte sich sogleich nach ihrem Vormund um und reichte ihm ihre Linke. »Komm mit uns, Pete«, sagte sie.

Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn auch jetzt wieder aufgefordert hatte, mitzukommen, verwirrte ihn ein wenig. Es schien doch ganz natürlich, daß Eric seine Schwester für eine Weile entführen wollte, denn bisher war er noch nicht einen Augenblick mit ihr allein gewesen. Er würde bald Camillas Vormund für einen unliebsamen Störenfried halten. Aber im Augenblick schien Eric kein Gedanke ferner zu liegen als dieser. Er unterstützte sogar Camillas Aufforderung mit einem Lächeln und reichte Murray auch seinerseits die Hand, um ihm aufzuhelfen.

Murray lehnte jede Hilfe entrüstet ab. Er sei noch nicht in einem so vorgerückten Alter, sagte er, daß er sich aus einem Liegestuhl hochhelfen lassen müßte.

In diesem Augenblick fühlte er sich freundlicher gegen den jungen Erben gestimmt als bisher, und obwohl er Camillas Entsetzen über Erics Ankündigung, daß er sich nachgerade in das Besitztum verliebe, begreifen konnte, glaubte er, daß gerade dieses schwärmerische Gefühl, sofern es echt war, mit der Zeit sein Mündel von der seltsam tiefen Abneigung gegen den Bruder heilen würde.

Arm in Arm brachen sie zu ihrem Spaziergang auf – das heißt, Eric hatte Camillas Arm ergriffen, während sie wiederum Murray einhakte. Wenn man jemand das Grundstück zeigte, ging man stets einen bestimmten Weg: ringsum, durch die Büsche, dann um einen kleinen Zierteich herum und schließlich an einem sorgfältig ausgeholzten Durchblick vorbei zu den großen Grapebäumen, die den Eingang zu den Blumengärten bildeten.

Aber heute wurde der Spaziergang unterbrochen, noch ehe sie so weit gekommen waren. Sie plauderten gerade nicht, und ihre weichbesohlten Schuhe traten ganz lautlos den kurzgeschnittenen, sorgfältig gerechten Rasen, und so überraschten sie, als sie hinter einem dichten Haselnußgebüsch auftauchten, die kleine Ruth, das Schofförstöchterchen, beim Spiel.

Sie geriet in Verwirrung und wurde verlegen, gewann aber ihre charakteristische Selbstsicherheit schnell wieder, bis sie plötzlich Eric erblickte, der als letzter aus den Büschen hervorgetreten war. Einen Augenblick starrte sie ihn fassungslos, wie gelähmt vor Erstaunen, an, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Dann machte sie ruckartig kehrt, rannte in der Richtung des etwa hundert Meter entfernten Schofförhäuschens davon und schrie im Laufen entsetzt: »Mama! Mama!«

Die drei starrten ihr in stummer Verwunderung nach, bis das Zuschlagen einer Tür ihnen verriet, daß sie den rettenden Hafen erreicht hatte.

»Was in aller Welt ist eigentlich in die Kleine gefahren?« sagte schließlich Eric. »Sie hat doch meinetwegen aufgeschrien. Sie wohnt wohl hier? Wißt ihr, ob der Anblick fremder Menschen sie immer so erschreckt?«

»Ganz im Gegenteil«, entgegnete Murray. »Meistens …«

Er sah sich nach Eric um und verstummte plötzlich. Auch Camilla starrte ihn an; beide schienen den gleichen Gedanken zu haben. Eric hielt die Hände tief in den Hosentaschen und seine Mütze war zum Schutz gegen die sinkende Sonne weit in die Stirn gezogen.

Murray faßte sich als erster und sagte: »Ach was! Der Kleinen spukt irgend etwas im Kopf herum. Wollen wir in den Garten gehen?«

»Nein«, widersprach Eric nachdrücklich. »Ich bin neugierig, zu erfahren, was ihr im Kopf herumspukt. Sie ist doch zu Nelsons hingerannt, nicht wahr? Ist sie seine Tochter? So! Gehen wir auch hin. Ich möchte wissen, was für ein Märchen sie ihrer Mutter erzählt hat.«

Er wartete nicht, bis man seinem Vorschlag zustimmte, sondern schritt einfach durch die Büsche voran. Camilla und Murray folgten ihm nur zögernd und holten ihn ein, als er gerade an die Tür klopfte.

»Wenn ein Kind so plötzlich aufschreit und Reißaus nimmt«, bemerkte er, während sie darauf warteten, daß man sie hineinließ, »dann will man doch wissen, was für ein Gespenst es in einem gesehen hat.«

Nelson selbst machte ihnen nach einer Weile die Tür auf, und sie konnten an seinem fahrigen Wesen erkennen, daß er sehr aufgeregt war. Im Zimmer, in das er sie führte, ein großer, gemütlicher Wohnraum, empfing er sie allein. Aber gleich daneben befand sich die Küche, und durch die offene Tür konnten sie das erstickte Schluchzen eines Kindes vernehmen und hin und wieder eine Frauenstimme, die das Kind leise zu trösten suchte.

»Vermutlich kommen Sie wegen meiner Kleinen«, sagte Nelson zu Eric, nachdem er die Ankömmlinge gebeten hatte, Platz zu nehmen. »Entschuldigen Sie, wenn das Kind sich albern benommen hat. Ich hoffe, Sie werden sich nicht daran stoßen. Sie verstehen, der Mord und alles, was damit zusammenhing, war für die Kleine, bei ihrem leicht erregbaren Gemüt, einfach zuviel.«

Eric erwiderte in freundlichem und durchaus beruhigendem Ton: »Es überrascht mich nicht, daß es zuviel für sie war. Es tut mir nur leid, daß sie bei meinem Anblick einen so großen Schreck bekommen hat. Aber ich bin neugierig und möchte wissen, was für ein Ungeheuer sie in mir zu sehen glaubte.«

Das wollte Nelson indessen nicht sagen und es bedurfte eines gewissen Druckes, um es von ihm zu erfahren.

»Tja, schauen Sie«, erklärte er schließlich, »an jenem Abend, an dem Ihr Großvater ermordet wurde, glaubte sie gesehen zu haben, daß ein Mann mit einer Mütze auf dem Kopf sie über einen Busch angestarrt hatte. Es jagte ihr einen gewaltigen Schrecken ein, und seitdem ist sie der Ansicht, daß jener Mann, den sie gesehen hatte, der Mörder war. Mir scheint, sie spielte vorhin Detektiv – das tut sie jetzt nämlich den ganzen langen Tag –, als sie plötzlich merkte, daß Sie, mit der Mütze auf dem Kopf, sie über einen Busch beobachteten, und da fuhr ihr der Schreck in die Glieder. Hoffentlich verzeihen Sie ihr das alberne Benehmen.«

Was er sagte, war natürlich in der Küche zu hören, und das lockte schließlich auch die Mutter des Kindes herbei. Vielleicht war sie überhaupt der Ansicht, daß man ohne Grund aus der Kinderei ihres Töchterchens so viel Aufhebens machte. Als sie hineinkam, war es schon ziemlich dunkel im Zimmer. Sie erblickte anfangs nur Camilla und sprach sie an. Und erst als ihr Mann sagte: »Das ist meine Frau, Herr Lindstrom«, und Eric aufstand und sich ihr näherte, um ihr die Hand zu reichen, bekam sie ihn zum erstenmal klar zu Gesicht.

Sie starrte ihn so gebannt an, daß sie seine ausgestreckte Hand einfach übersah. »Wenn Sie Herr Eric Lindstrom sind«, sagte sie schließlich, »dann können Sie nicht der Mann sein, der vorigen Mittwochabend am Tor mit mir gesprochen hat. Aber Sie sehen ihm ähnlich genug, um sein Zwillingsbruder sein zu können.«

Sie sah ihn noch einmal aufmerksam an, schien etwas sagen zu wollen, wandte sich aber kopfschüttelnd um und ging in die Küche zurück.


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