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Die ersten Verwicklungen

Murray hatte schon manche unangenehme Stunde in diesem Hause verbracht. Wirkliche Freude, erzählte er Camilla einmal, hätte ihm hier immer nur eins gemacht: Arm in Arm mit ihr durch den Park zu wandeln. Aber dieser Abend schien schon vom Augenblick an, da ihn Frau Smith, die Wirtschafterin, merkwürdig verstört einließ, schlimmer zu werden als alle bisherigen.

Als Murray die Frau freundlich nach ihrem Befinden fragte, begann sie dicke Krokodilstränen zu weinen und erzählte ihm, daß sie noch heute das Haus verlassen würde. Jawohl, gleich nach dem Abendessen. Sie hätte ein Telegramm bekommen, daß ihr Sohn James in Salt Lake City schwer erkrankt wäre, und sie wollte sofort zu ihm fahren. Kein Kaiser und kein König der Welt, setzte sie hinzu, könnte sie davon abhalten, ihre Mutterpflicht zu erfüllen, selbst wenn es sie ihre Stellung kosten sollte. Bei diesen Worten erhob sie ein wenig ihre Stimme, und Murray erriet, daß sie offenbar von noch jemand gehört werden wollte, und zwar vermutlich vom alten Lindstrom selbst, der sich gleich um die Ecke in seinem Arbeitszimmer befand. Nachdem sie sich auf diese Weise erleichtert hatte, führte sie Murray in den Salon und ließ ihn dort allein.

Als gleich darauf Fräulein Parsons hereinkam, um ihn zu begrüßen, stellte er fest, daß der ihr von Camilla gegebene Spitzname keineswegs zu ihr paßte. Sie sah eher verschüchtert als bösartig aus, und Murray hatte den Eindruck, daß sie bitterlich geweint hatte. Vielleicht hätte er sie von Herzen bedauert, wenn ihm nicht rechtzeitig eingefallen wäre, daß sie, die sich sonst so geschickt zu schminken verstand, die Spuren des Kummers eigentlich bedeutend besser hätte beseitigen können, und daß sie also vermutlich nur darauf spekulierte, ihn oder den alten Lindstrom mitleidig zu stimmen. War etwa zwischen den beiden etwas vorgefallen?

Er glaubte schon, sie würde ihm etwas davon erzählen, denn sie kam näher heran und holte tief Atem, als ob sie eine vertrauliche Mitteilung machen wollte, aber in diesem Augenblick schlug die große Uhr in der Diele halb acht, und Fräulein Parsons wich sofort zurück. Das war allerdings nur ganz natürlich, denn im gleichen Augenblick vernahm man, daß Herr Lindstrom sich aus seinem knarrenden Sessel erhob und humpelnd das Arbeitszimmer verließ, wo er die ganze Zeit gewartet hatte, um auf die Minute pünktlich zu erscheinen.

Er hatte verschiedene derartig lächerliche kleine Schrullen. Natürlich hatte er gehört, daß Murray gekommen war, aber es wäre gegen sein Prinzip gewesen, herauszukommen und einen Gast zu begrüßen, der sich um zwei oder drei Minuten verfrüht hatte. Sein wächsernes Gesicht mit dem kurzgeschnittenen weißen Spitzbart war heute abend noch ausdrucksloser als sonst, was Murray als ein Zeichen dafür nahm, daß auch ihn etwas Besonderes bedrückte.

Der Alte begrüßte Murray mit einigen Höflichkeitsfloskeln, dankte ihm für sein Erscheinen und ging dann, ohne Fräulein Parsons auch nur eines Blickes zu würdigen, ins Eßzimmer voraus, da er für selbstverständlich erwartete, daß man den ersten Gang pünktlich mit dem Glockenschlag auftragen würde. Fräulein Parsons und Murray folgten ihm. Es war noch für eine vierte Person, offenbar für Camilla, gedeckt worden, und Murray, der schon beim ersten Wort erkannte, daß er unbesonnen handelte, erkundigte sich dennoch nach ihrem Verbleib. Herr Lindstrom überhörte die Frage, und auch Fräulein Parsons antwortete erst nach einigem Schweigen. »Vermutlich hat sie sich verspätet«, meinte sie schließlich. »Das kommt bei ihr des öfteren vor.«

Es herrschte ein bedrücktes Schweigen bei Tisch, trotz all der guten Gerichte. Frau Smith waltete auch heute abend getreulich ihres Amtes, beaufsichtigte ein hübsches Stubenmädchen und bediente Herrn Lindstrom nachdrücklichst selber, aber ihre tieftraurige Miene verlieh ihr das Aussehen einer Unglücksprophetin. Murray versuchte, sooft ihm etwas Unpersönliches einfiel, zu plaudern, aber seine beiden Tischgenossen hatten offenbar nicht die geringste Neigung, ihn dabei zu unterstützen. Seine Bemühungen, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, blieben erfolglos. Das Dröhnen eines Flugzeuges über dem Haus ließ ihn eine Zeitlang wieder an Camilla denken, löste aber bei ihrem Großvater anscheinend ganz andere Gedanken aus, und das war das einzige, was Murray an diesem Abend ein wenig befriedigte.

Während des Essens ereignete sich übrigens ein belangloser Zwischenfall, der später Murray einiges Kopfzerbrechen verursachte. Lindstrom hatte nämlich plötzlich das Gefühl, daß es zog, oder er bildete sich das wenigstens ein. Er bat Fräulein Parsons, hinauszugehen und nachzuschauen, ob nicht irgendwo eine Tür oder ein Fenster offen stünde. Murray wollte schon für sie einspringen, verzichtete jedoch darauf, als er merkte, daß sie froh war, den Raum wenigstens vorübergehend unter einem guten Vorwand verlassen zu können. Und sie blieb dann wesentlich länger fort, als sie gebraucht hätte, um das Fenster, das angeblich im Herrenzimmer offengestanden und einen kräftigen frischen Wind hereingelassen hatte, wieder zu schließen. Aber worüber Murray staunen mußte, war, daß sie, die das Zimmer niedergeschlagen und tief deprimiert verlassen hatte, sich nach der Rückkehr in einer seltsam veränderten Stimmung befand. Es war, als hätte in der Zwischenzeit irgend etwas sie aufs äußerste erregt und als stünde ein entscheidender, längst erwarteter Augenblick nunmehr unmittelbar bevor.

Dem alten Lindstrom allerdings schien dieser Stimmungsumschwung nicht aufzufallen, und Murray hütete sich wohlweislich, darauf anzuspielen. Als der Kaffee kam, lehnte Fräulein Parsons dankend ab, bat, sie zu entschuldigen und ging hinaus. Murray, der ihr mit angelegentlichem Interesse nachsah, hörte gleich darauf, wie sie leichten und sicheren Schrittes die Treppe hinaufeilte.

Sobald sie allein waren, sagte Lindstrom: »Kommen Sie mit Ihrem Kaffee und Ihrer Zigarre in mein Arbeitszimmer. Dort können wir uns ungestört unterhalten, ohne von jemand belauscht zu werden.«

Murray kannte dieses Arbeitszimmer nur zu gut. Er hatte hier schon des öfteren endlose Stunden verbracht, um den eigensinnigen und hartnäckigen alten Herrn zu Entschlüssen, die notwendig schienen, zu bewegen. Es war ein recht geschmackloser Raum, deren Haupteigentümlichkeit eine schmale Treppe bildete, die es mit dem großen Schlafzimmer darüber verband, in dem der alte Lindstrom auch jetzt noch die Nächte verbrachte. Diese Treppe war mit einer massiven Holztäfelung umgeben und war oben und unten durch Türen abgeschlossen. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Schrank mit Spiegelscheiben, der mit einheitlich in Leder gebundenen Büchern angefüllt war. In einer besonderen Nische unter der von der Täfelung verkleideten Treppe stand ein Geldschrank.

Stand die Tür zum breiten, mitten durchs ganze Haus führenden Gang auf, so war das Arbeitszimmer ein vorzüglicher Beobachtungsposten. Man konnte sowohl in den gegenüberliegenden Salon als auch in das Wohnzimmer am anderen Ende des Ganges sehen, man konnte jeden hören, der die Vorder- oder Hintertreppe hinauf- oder herunterkam, und wenn jemand im Arbeitszimmer aufpaßte, war es einfach unmöglich, ungesehen durch den Haupt- oder Nebeneingang ins Haus zu gelangen. Außerdem setzte die Treppe zum Schlafzimmer den Besitzer in den Stand, diesen Beobachtungsposten jederzeit unauffällig, um nicht zu sagen heimlich, zu beziehen. War hingegen die dicke, gut gepolsterte Tür zum Gang geschlossen, so hatte man stets das Gefühl, lebendig begraben zu sein.

Der alte Lindstrom teilte Murray keineswegs gleich mit, was ihn veranlaßt hatte, diese Zusammenkunft herbeizuführen, und er schwieg noch, als die Tür bereits geschlossen war und sie Platz genommen hatten. Ohne ein Wort zu sagen, machte er sich an seinem Schreibtisch zu schaffen, um, wie Murray deutlich sah, das darin eingebaute und durch einen Schnapper geschlossene Geheimfach zu öffnen. Dieser Schnapper löste sich durch einen Druck aus und würde irgendeinem neugierigen Besucher vielleicht ein Geheimnis bleiben, während er einem erfahrenen Einbrecher keine Schwierigkeit bot. Herr Lindstrom zog die oberste Schublade im linken Schreibtischsockel weit genug vor und drückte auf eine darin seitwärts gelegene Lamelle, worauf der Schnapper nachgab und das Geheimfach von selbst vorglitt. Es war ein flaches, von der Verschalung des Schreibtisches verkleidetes Kästchen in Schubladenbreite, das man nur zuzuschieben brauchte, um es von neuem ganz zu verschließen.

Murray hatte schon oft gesehen, wie der Mechanismus dieses Geheimfachs in Tätigkeit gesetzt wurde. Heute abend aber eröffnete der alte Herr die Unterhaltung damit, daß er ihm ausführlich erklärte, wie der Schnapper funktionierte. »Ich erzählte Ihnen das«, sagte er zum Schluß, jedes seiner Worte besonders betonend, »damit Sie die sehr bedenkliche Situation, in der ich mich seit heute nachmittag befinde, richtig verstehen. Ich hatte Fräulein Parsons hier mit verschiedenen Arbeiten, die sie auf der Schreibmaschine erledigen sollte, allein gelassen, während ich mich in mein Schlafzimmer zurückzog. Das Fenster dort stand offen, und meines auch, so daß ich also sehr leicht die Schreibmaschine hören konnte. Nach einer Weile aber, noch bevor Fräulein Parsons mit ihrer Arbeit fertig sein konnte, setzte das Maschinengeklapper aus, und zwar so lange, daß es mir auffiel. Da kam ich wieder herunter und öffnete diese Tür. Fräulein Parsons saß nicht dort, wo sie hätte sitzen sollen, sondern auf meinem Stuhl. Als sie mich erblickte, sprang sie in einer Weise, die ihr Schuldbewußtsein verriet, auf. Ich setzte mich selbst auf meinen Platz und ließ sie an die Schreibmaschine zurückkehren. Und erst, als sie die Arbeit beendet und ich ihr den Nachmittag freigegeben hatte, ging ich den Dingen auf den Grund. Ich untersuchte hier alles und entdeckte, wie ich übrigens gleich vermutet hatte, daß in diesem Geheimfach herumgewühlt worden war. Der Beweis dafür lag offen zutage. Fräulein Parsons hatte zwar versucht, das Fach an seinen Platz zurückzuschieben, aber das war ihr nicht recht gelungen, es hatte nicht wieder eingeschnappt.«

»Und Sie sind fest davon überzeugt«, flocht Murray ein, »daß Sie das Fach fest verschlossen hatten?«

»Ich bin nicht nur überzeugt«, erwiderte Lindstrom würdevoll, »sondern weiß es ganz bestimmt.«

Murray nickte. »Nun, dann darf man wohl kaum noch daran zweifeln, daß Fräulein Parsons darin etwas gesucht hat. Was bewahren Sie denn in diesem Fach auf? Ich hoffe doch, daß nichts fehlt.«

»Nein, es fehlt nichts«, gab der Alte zu, »das heißt, nichts Greifbares. Aber ich hege starken Verdacht, daß mir ein Geheimnis entwendet wurde und somit nicht länger ein Geheimnis bleibt. Ich hebe in diesem Fach die Kombinationsformel meines Geldschrankes auf, Herr Murray, und ich glaube, die Person hat sich die Zahlen gemerkt.«

»Du lieber Himmel!« rief Murray. »Kannte sie denn diese Kombinationsformel nicht ohnehin? Hatten Sie ihr die Zahlen nie angegeben?«

»Ganz bestimmt nicht!« empörte sich der alte Herr. »Warum sollte ich etwas so Ausgefallenes tun?«

»Nun, vielleicht der Bequemlichkeit halber«, meinte Murray besänftigend. »Aber nehmen wir nun an, daß sie jetzt hinter das Geheimnis gekommen ist – befindet sich denn im Geldschrank überhaupt etwas, was einen Einbruch lohnen würde? Ich meine, irgend etwas wirklich Wertvolles? Der Schmuck Ihrer verstorbenen Gattin zum Beispiel«, setzte er erläuternd hinzu, weil ihm der starre Blick des Alten zu erstaunt schien.

»Etwas wirklich Wertvolles?« rief Lindstrom, als er die Sprache wiedergefunden hatte. »Ich hebe ja ein Vermögen in diesem Geldschrank auf! Nicht den Schmuck meiner Frau – der ist in einem Tresor auf der Bank – aber ein Vermögen in Geld, fünfundzwanzigtausend Dollar in Tausenddollarnoten!«

»Ständig?« Murray glaubte, kaum seinen Ohren trauen zu können. »Möchten Sie mir nicht erklären, warum Sie, mit einem Zinsverlust von zwölf- oder fünfzehnhundert Dollar im Jahr, eine so große Geldsumme in einem Schrank aufbewahren, den jeder hergelaufene Stromer mit einer Flasche Nitroglyzerin ohne weiteres aufknacken könnte?«

»Ich will es Ihnen gern sagen.« Die bleichen Wangen des Alten röteten sich, aber Murray wußte nicht recht, ob sie vor Stolz oder vor Verlegenheit Farbe bekommen hatten. »Diese Summe war der Grundstein zu meinem Vermögen. Genau so viel hatte ich, als meine Frau und ich während des großen Brandes in Chicago eintrafen. Sobald ich reich genug wurde und es mir leisten konnte, legte ich den gleichen Betrag in den Geldschrank dort, um im Notfalle wieder gerüstet zu sein. Aber Sie verstehen doch«, schloß er, während Murray ihn sprachlos anstarrte, »wenn diese Parsons eine Diebin ist oder die Komplizin eines Diebes, dann liegt dort in der Tat etwas, was, wie Sie vorhin sagten, die Mühe lohnt.«

»Das verstehe ich – ja«, stimmte ihm Murray zu. »Aber ich verstehe nicht, welchen Rat Sie jetzt von mir wünschen. Ob Fräulein Parsons nun tatsächlich in Ihrem Geheimfach gewühlt oder aus irgendeinem Grund nur so getan hat, um sie argwöhnisch zu machen – das Einfachste ist doch, sie ohne viel Umstände zu entlassen. Dazu brauchen Sie doch sicherlich keinen juristischen Berater!«

»Gewiß nicht. Mein Entschluß ist, was das betrifft, bereits gefaßt. Der einzige Grund, weshalb ich ihr noch nichts gesagt habe, der einzige Grund, weshalb sie noch im Hause ist, ist der, daß ich zunächst einmal von Ihnen erfahren wollte, ob es richtig wäre, sie wegen Einbruchs in meinen Schreibtisch verhaften zu lassen.«

»Ich wurde noch nie um ein einfacheres Gutachten gebeten«, erwiderte Murray, ohne sich zu besinnen, und lächelte. »So eine Verhaftung wäre nicht nur falsch, sie wäre lächerlich – peinlich lächerlich sogar – und obendrein wahrscheinlich sehr kostspielig. Selbst Ihrer eigenen Erzählung zufolge hat Fräulein Parsons Ihren Schreibtisch keineswegs aufgebrochen. Sie hat lediglich das Geheimfach in ihm geöffnet. Und man würde den Geschworenen vielleicht nicht einmal beweisen können, daß sie das tatsächlich getan hat. Sie selber könnten ja nichts ins Treffen führen als die Behauptung, daß Sie stets und ständig das Fach bestimmt abzuschließen pflegten. Das ist nur eine Behauptung, nie aber ein Beweis, der zu einer Verurteilung führen könnte. Nein, Herr Lindstrom, geben Sie Fräulein Parsons Ihren Segen und schicken Sie sie fort. Außerdem können Sie ja, wenn Sie wollen, die Kombinationsformel des Geldschranks morgen schon ändern lassen. Ich glaube übrigens, daß Fräulein Parsons gar nicht so begierig war, hinter das Geheimnis Ihres Geldschrankes zu kommen. Heben Sie nicht noch etwas anderes in diesem Geheimfach auf, wofür man sich interessieren könnte?«

»Ab und zu einen Privatbrief.«

»Haben Sie erst kürzlich wieder einen hineingelegt?«

»Doch. Erst heute früh«, bestätigte der Alte. »Es war ein Brief von meinem Enkel Eric, der nicht beantwortet zu werden brauchte und der Fräulein Parsons nichts anging. Nachdem ich ihn gelesen hatte, schloß ich ihn, bevor ich das Zimmer verließ, einfach weg. Aber sie kann doch gar kein Interesse an Eric haben. – Hm … Ich werde also Ihren Rat befolgen. Die Kombination wird geändert, und Fräulein Parsons entlasse ich, ohne irgend etwas gegen sie zu unternehmen. Ich danke Ihnen.«

Das war natürlich eine ziemlich deutliche Verabschiedung, und, da Murrays Rat dem alten Herrn offenbar nicht zugesagt hatte, beschönigte er sie weder durch ein Aufstehen noch durch ein bloßes Hinreichen der Hand. Aber Murray war an Lindstroms Taktlosigkeiten bereits gewöhnt, wünschte ihm mit besonderer Freundlichkeit eine gute Nacht und ging zur Tür.

Er hatte schon die Hand auf der Klinke, als er plötzlich einen seltsamen Laut vernahm, so daß er wie angewurzelt stehen blieb und scharf aufhorchte. Es war, als ob jemand, äußerst überrascht oder sogar erschrocken, einen leisen, gleichsam erstickten Schrei ausgestoßen hätte. Murray sah sich nach dem Hausherrn um, aber diesem war, obwohl er sonst über ein ziemlich scharfes Gehör verfügte, augenscheinlich nichts aufgefallen.

Die wenigen Sekunden hatten dem Alten indessen genügt, seinen Ärger zu überwinden, und nun stand er doch noch auf, um sich von Murray zu verabschieden. »Leider muß ich Ihnen mitteilen«, bemerkte er, »daß mein Enkel mir in jenem Brief seine Heimkehr angekündigt hat. Ich bin nicht sehr davon erbaut, daß er sich hier niederlassen will. Er ist ein recht leichtsinniger, alberner Junge, dem man bestimmt kein Geld anvertrauen darf. Er versteht damit nicht umzugehen.«

»Vielleicht hat er sich in den letzten zehn Jahren in dieser Hinsicht gebessert«, meinte Murray.

»Nein, eben nicht«, rief der Alte. »Sehen Sie sich dieses Telegramm hier an, mit dem er mich heute beehrt hat. Über vierzig Worte! Und dabei keine einzige Mitteilung, die nicht schon in dem Brief gestanden hätte. Sie denken, es handelt sich um ein paar Dollar. Aber ich sage Ihnen, daß diese Unbesonnenheit genau so groß ist, wenn es um Tausende geht. Und Camilla ist nicht um ein Haar besser. Ich habe heute den größten Teil meiner Arbeitszeit über einen für sie bestimmten Schriftsatz verbracht, der verschiedene Änderungen in meinem Testament betrifft. Wenn ich nicht durch Fräulein Parsons Neugier vollständig aus der Fassung gebracht worden wäre, hätte ich Ihnen wahrscheinlich schon heute abend den fertigen Entwurf vorgelegt. Aber ich schicke Ihnen die kleine Denkschrift in ein, zwei Tagen bestimmt nach.«

Nur ein winziges Kämmerchen im Geiste Murrays nahm diese Mitteilung des alten Lindstrom auf. Er änderte immerfort etwas an seinem Testament, es ergab sich daraus eine gewaltige und verzwickte Arbeit, die das Büro Murrays bereits jahrelang in Atem hielt, und es war dennoch zweifelhaft, ob man sie je zu Lindstroms Zufriedenheit vollenden würde. Dagegen erweckte das Telegramm Murrays lebhaftes Interesse.

Er wunderte sich nicht darüber, daß es den alten Herrn in Wut versetzt hatte. Es stand darin nicht nur, mit welchem Zug Eric reisen wollte und wann er in Chicago eintreffen würde; es führte sogar die Nummern des Schlafwagens und des Luxussalons an, die der junge Herr geglaubt hatte sich leisten zu müssen. Im übrigen aber teilte er nur mit – was ja offenbar schon brieflich geschehen war –, daß er, je nach den Umständen, entweder zu einem kurzen Besuch oder für immer nach Hause käme. Wäre er krank und hätte er infolgedessen den dringenden Wunsch gehabt, schon bei der Einfahrt des Zuges in Chicago direkt aus dem Schlafsalon abgeholt zu werden, dann wäre eine so breite Ausführlichkeit vielleicht verständlich gewesen. Dem widersprach aber der Satz: »Holt mich nicht ab. Ich werde sofort mit einem Taxi nach Oak Ridge kommen!« War also das Telegramm nur übertriebener Aufwand, wie der Alte glaubte, oder steckte hinter diesem Text eine Absicht, die Murray nicht gleich erraten konnte?

Während er sich noch immer darüber den Kopf zerbrach, klingelte der Alte bereits, um eine Hausangestellte herbeizurufen, die ihn hinausbegleiten sollte. Dann wünschte er Murray eine gute Nacht, machte, sobald er allein war, die Tür wieder zu und schloß sich ein. Sicherlich wollte er über die Geheimtreppe in sein Schlafzimmer hinaufgehen.

Murray sollte ihn nicht wieder lebend zu sehen bekommen.

Der Anwalt hätte natürlich nicht gewartet, bis eine Hausangestellte ihm in aller Form das Geleit geben würde, aber er wollte doch schließlich von irgend jemand, der zum Haushalt gehörte, erfahren, ob Camilla schon zurückgekommen wäre, oder ob man wenigsten etwas von ihr gehört hätte. Deshalb blieb er eine Weile in der Diele stehen und wartete, ob sich jemand auf das Klingelzeichen des Alten melden würde. Aber er wartete vergebens. Nichts regte sich im ganzen Hause. Und die Stille erschien ihm jetzt sogar besonders tief: es war, als ob alle Hausbewohner gleichzeitig den Atem angehalten hätten.

Schließlich vernahm er ein leises Geräusch, und es erschreckte ihn beinahe: es klang wie ein halb ersticktes Wimmern oder Schluchzen eines Menschen, der möglichst lautlos zu weinen versuchte. Murray dachte natürlich sofort an Camilla, obwohl sie nur äußerst selten weinte, und eilte in die hinter der Treppe gelegene Ecke der Diele, aus der das Geräusch kam. Aber die Frau, die sich bei seinem Nahen vom Fenster nach ihm umdrehte, war nicht Camilla, sondern Frau Smith. Sie hatte bereits ihren Hut auf, und zwei große bis oben vollgepfropfte Reisetaschen nebst einer Anzahl kleinerer Gepäckstücke zu ihren Füßen verrieten, daß sie jetzt nur noch auf irgendein Fahrzeug wartete, um dieses Haus verlassen zu können.

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie erschreckt habe«, sagte Murray, da dies allem Anschein nach der Fall war. »Mir war vorhin ein Geräusch aufgefallen, und ich habe gedacht, es sei Camilla.«

»Sie ist noch nicht zurückgekommen«, belehrte ihn Frau Smith, »und sie hat auch keinen Hausschlüssel. Aber ich habe Sophie gesagt, sie möchte auf sie warten. Ich selber habe keine Zeit mehr. Wenn Mossop mich jetzt nicht bald mit seinem Wagen abholt, verpasse ich noch meinen Zug!«

»Ich wußte nicht«, bemerkte Murray, »daß hier noch so spät ein Zug nach dem Westen geht.«

»Er hält um halb zwölf in Oak Park«, erwiderte sie, »und dort könnte ich ihn gerade noch erreichen.«

Murray, der nur flüchtig zugehört hatte, dachte immer noch darüber nach, wie sich wohl der seltsame Laut erklären ließe, den er vorhin im Arbeitszimmer des alten Lindstrom gehört hatte. »Haben Sie vielleicht vor einigen Minuten vor Überraschung oder vor Schreck aufgeschrien?« fragte er.

»Nein«, erwiderte sie. »Ich habe auch nichts gehört.« Dann sagte sie ihm, daß sie hier geweint hätte, weil sie in so großer Sorge um ihren Sohn wäre, und weil es sie aufregte, daß sie den Zug verpassen könnte. Während sie sprach, sah sie so bemitleidenswert und niedergeschlagen aus, daß Murray erklärte: »Wenn sie wollen, fahre ich Sie mit Ihrem Gepäck in meinem Wagen bis ans Tor. Dort können Sie ebensogut auf Mossop warten und gewinnen obendrein ein paar Minuten Zeit.«

Sie war ihm für diese kleine Gefälligkeit so dankbar, daß er sich gleich darauf fast schämte, ihr nicht angeboten zu haben, sie bis zum Bahnhof Oak Park zu fahren, zumal es sich dabei um einen Umweg von höchstens fünf Meilen gehandelt hätte. Aber er machte sich bereits recht ernste Sorgen um Camilla, und es war ihm eingefallen, daß er vielleicht auf dem Flughafen irgend etwas über sie erfahren könnte. So setzte er Frau Smith mit ihrem umfangreichen Gepäck an der Tür des Nelsonschen Häuschens am Tore ab. Die Frau hatte ja schließlich noch eine ganze Stunde Zeit!

Auf das Geräusch von Murrays Auto, kam Nelsons Frau, die Wäscherin, eine stattliche Person in den Dreißigern, aus dem Häuschen, um das Tor aufzuschließen. Aber beim Anblick der Wirtschafterin und ihres Gepäcks vergaß sie Murray vollkommen, und als sie dann noch erfuhr, daß Mossop so lange ausblieb, rief sie ihren Mann herbei, damit er in dieser kritischen Lage helfen sollte. Im Grunde brauchte sie freilich weder Hilfe noch Rat, denn sie erledigte sofort alles selbst. Frau Smith sollte bei ihr warten – Fred könnte ja die Koffer gleich hineintragen – und sollte Mossop wirklich nicht rechtzeitig kommen, dann würde Fred selbst sie in Herrn Lindstroms Wagen nach Oak Park fahren. Murray sah deutlich, daß Nelson über diesen Plan nicht gerade erbaut war, aber ebenso klar erkannte er, daß der arme Teufel schließlich doch gehorchen würde. Auf alle Fälle ließ Nelson sich, wie Murray sich am nächsten Morgen entsann, von seiner Frau den Torschlüssel geben und erlöste den Anwalt, der darauf brannte, so schnell wie möglich wegzukommen.

In jener unsinnigen Weise, der sogar ein sonst wirklich kluger Kopf verfällt, wenn er in irgendwelche Gefühle verstrickt ist, hatte Murray von dem Augenblick an, da er beschlossen hatte, Erkundigungen im Flughafen einzuziehen, halb und halb damit gerechnet, daß er bei den Fliegern etwas Beruhigendes erfahren würde. So war es für ihn eine arge Enttäuschung zu hören, daß man auch dort in ziemlicher Sorge um Camilla war, und nichts weiter wußte, als daß sie, nach einem halben Dutzend Übungsflügen mit dem Lehrer, gegen sechs Uhr in ihrer neuen Maschine allein aufgestiegen war. Der Brennstoff, den sie bei sich hatte, konnte höchstens für zwei Stunden reichen, so daß sie, da der Uhrzeiger bereits auf zehn wies, mindestens vor zwei Stunden irgendwo gelandet sein mußte. Man konnte sich gar nicht erklären, warum sie bisher nicht angerufen hatte und rechnete bereits mit der Möglichkeit eines Unfalles.

Sobald Murray sich mit dieser Nachricht abgefunden hatte, raste er, so schnell die Maschine nur lief, nach Hause, in die Stadt zurück. Es war klar, daß Camilla, wenn sie überhaupt noch imstande war, anzurufen, ihn vor allem dort zu erreichen versuchen würde, und wenn sie sich nicht selbst melden könnte, so war in ihrem Führerschein seine Adresse angegeben.

Nachdem er von seinem Diener erfuhr, daß niemand angeläutet hatte und auch keine Nachricht eingetroffen war, fiel ihm nichts Besseres ein, als sich einfach hinzusetzen und zu warten. Er hatte seinen Wagen vor der Tür stehenlassen, um jederzeit sofort lossausen zu können, und er zog sich auch gar nicht aus, sondern legte nur die Jacke ab und machte den Hals frei. Dann rückte er einen Stuhl ans offene Fenster, stellte das Telefon neben sich, setzte sich hin und trat seine Wache an. Um ja nicht einzuschlafen, nahm er einen langen Kriminalroman vor, und las ihn langsam Wort für Wort. Aber er tat es wohl nur mechanisch und wußte nachher kaum, was er gelesen hatte. Hin und wieder nickte er auch ein und hatte sonderbare Träume, obwohl er wach genug war, um die Schläge irgendeiner Uhr in der Nachbarschaft deutlich zu hören und zu zählen. Als dann schließlich der Tag zu dämmern begann, wurde es ihm noch schwerer, untätig herumzusitzen, und der närrische Drang, hinauszurennen und sich aufs Geratewohl auf die Suche nach Camilla zu machen, wurde in ihm immer stärker.

Um viertel nach sieben erscholl plötzlich ein heftiges Klingeln. Hastig riß Murray den Hörer ans Ohr. Aber im Apparat erklang keine Stimme, und während er ihn noch in der Hand hielt, setzte das Klingeln von neuem ein. Also war es wohl die Türschelle. Murray richtete sich auf, und da seine Muskeln auf einmal streikten, schwankte er ein bißchen beim Aufstehen. Dabei warf er einen Blick auf die Straße und entdeckte unter seinem Fenster hinter seinem vor der Tür stehenden Auto den Wagen Camillas. Niemand als Camilla selbst konnte in diesem Wagen vorgefahren sein!

Gott, was für eine Nacht sie ihm bereitet hatte! Während er auf den Knopf drückte, der den Drücker der Flurtür auslöste, hoffte er, daß es ihm gelingen würde, sich bis zu Camillas Erscheinen genügend zu sammeln, um ihr dann gehörig und verdientermaßen den Kopf zu waschen. Aber er konnte sich nicht zusammennehmen. Er spürte, er würde von Glück reden müssen, wenn es ihm bei ihrem Anblick gelingen sollte, nicht in Tränen auszubrechen. Diese phantastische Vorstellung verhalf ihm jedoch zu einem Lächeln, das auch dann noch anhielt, als Camilla die Aufzugstür öffnete und ihm entgegentrat.

Es mußte indessen ein ziemlich klägliches Lächeln gewesen sein, denn nach einem flüchtigen, aber sehr gespannten Blick auf ihn hatte sie plötzlich Tränen in den Augen, und rief: »Ach, Pete, es tut mir ja so leid! Was für eine schreckliche Nacht muß das für dich gewesen sein!«

»Die schlimmste meines Lebens«, gab er kleinlaut zu.

Sie ging ihm ins Wohnzimmer voraus. »In diesem Stuhl?« fragte sie, als sie das herangerückte Telefon und den Aschbecher mit dem kleinen Berg aus Zigarettenresten erblickte.

»Von ungefähr elf Uhr abends bis jetzt«, erwiderte er.

Sie warf mit einem ihr eigentümlichen Ruck, so als ob sie eine unliebsame Regung oder eine unersprießliche Erinnerung abschütteln wollte, den Kopf zurück, packte Murray bei den Armen und zwang ihn, ihr ins Gesicht zu sehen. Und als sie nach einer kurzen Weile zu sprechen begann, wählte sie ihre Worte sehr vorsichtig.

»Ich habe nichts Törichtes oder Leichtsinniges begangen, Pete«, sagte sie, »und ich habe auch nicht versucht, irgendein Bravourstückchen zu leisten. Nein, seit sieben Uhr abends habe ich nichts weiter getan als das, was ich unbedingt tun mußte. Wenn du mir das nicht glauben willst, Pete, werde ich nie wieder fliegen.«

Es war durchaus Camillas Art, ohne jede Vorbereitung mit der Tür ins Haus zu fallen, aber er wußte genau, daß ihr dabei jede Berechnung vollkommen fern lag.

»Natürlich glaube ich dir«, beruhigte er sie.

Daraufhin gab sie ihm einen flüchtigen Kuß, und der Klang ihrer Stimme wurde etwas leichter. »Jetzt will ich dir erzählen, was geschehen ist«, sagte sie, »und ich bin neugierig, ob dir an meiner Stelle etwas Besseres eingefallen wäre, als das, was ich getan habe. Paß auf! Als ich allein aufstieg, flog ich zunächst ein kurzes Stück nach Westen, den Rock River vor Augen, ohne besonders schnell vom Fleck zu kommen, weil ich den Wind gegen mich hatte. Ich flog immer weiter, weil ich damit rechnete, daß derselbe Wind mich auf dem Rückwege in kürzester Zeit nach Hause tragen würde. Nach einer Weile erblickte ich an einer Chaussee einen kleinen provisorischen Landungsplatz, mit einer Tankstelle und einem Windrad am Mast, und ging etwas tiefer, um mir das Ganze genauer anzusehen. Da merkte ich plötzlich, daß der Wind umgeschlagen hatte und nunmehr von Osten wehte. Nun wußte ich nicht mehr recht, ob mein Benzin für den Rückflug ausreichen würde, und landete schließlich, um neuen Brennstoff zu fassen. Das dauerte eine geraume Weile, weil der Mann von der Tankstelle keine Ahnung von Flugzeugen hatte, und mächtig aufgeregt war. Ich mußte ihm alles zeigen, und dann war mein Tank wieder voll, und ich stieg auf und steuerte schnurstracks nach Hause.

Ich war aber noch keine fünf Minuten in der Luft, als ich von einem Nebel überrascht wurde. Sicherlich war er schon lange vom Ostwind herangetrieben worden, und er war mir nur nicht aufgefallen, weil ich eine andere Richtung eingeschlagen hatte. Inzwischen hatte er sich stark verdichtet und lag breit über dem ganzen Tal, so daß ich eine gute halbe Stunde umherirren mußte, bevor es mir gelang, ein Loch zum Durchfliegen zu finden. Schließlich hatte ich in etwa zweihundert Meter Höhe einen brauchbaren Nebelspalt entdeckt. Nun konnte ich die Kronen der Bäume und einige Dächer unterscheiden, aber es schien mir nicht ratsam, hier zu landen. Deshalb flog ich noch ein bißchen weiter und ließ die Maschine auf dem ersten besten Feld niedergehen.

Es war eine ausgedehnte, etwa anderthalb Morgen große Koppel, Pete. Eine ganze Herde von Kühen weidete hier, aber ein Haus war weit und breit nicht zu entdecken. Da mich kein Mensch hatte landen sehen, blieb mir nichts anderes übrig, als dazubleiben. Es war schon fast dunkel und mußte bald vollkommen finster werden. Aber die Nacht wurde mir doch nicht ganz so lang wie dir, weil ich ja nicht ahnte, daß du etwas von meinem nächtlichen Ausbleiben wußtest. Immerhin: diese Nacht war lang genug.

Allmählich begann es wieder zu tagen. Die Sonne ging auf, und der Wind verjagte den Nebel. Ich startete, ohne auch eine einzige Kuh zu verletzen, und flog zum Flughafen zurück. Gegen halb sieben – also nach Großvaters Uhr, gegen halb sechs – kam ich dort an, und es dauerte noch eine geschlagene Stunde, ehe ich ins Haus konnte. Ich würde dich natürlich schon vom Flughafen angerufen haben, wenn ich geahnt hätte, daß du nicht schläfst. So aber sprang ich in meinen kleinen Wagen und kam persönlich her«, schloß sie und verstummte.

»Das klingt ja soweit ganz schön und gut«, erwiderte er. »Ich verstehe nur nicht, warum du, als du deine Lage übersehen konntest, dich nicht nach einem Haus mit Telefon umgesehen hast, um einfach den Flugplatz anzurufen.«

»Ich hatte Angst«, gab sie zurück. »Wegen der Kühe.«

Er brach in ein schallendes Gelächter aus, aber sie wurde ärgerlich.

»Nicht um mich hatte ich Angst, du Idiot«, sagte sie, »sondern um das Flugzeug. Weißt du denn nicht«, erklärte sie weiter, »daß Kühe ganz verrückt nach Flugzeugen sind. Der Firnis der Tragflächen hat es ihnen angetan, sie lecken ihn ab, wann und wo sie nur können. Ich habe die ganze scheußliche Nacht mit Steinen nach ihnen geworfen, um sie zu verscheuchen. Warum starrst du mich denn so an, Pete? Glaubst du mir etwa nicht?«

»Ich glaube dir jedes Wort, liebes Kind«, versicherte er. »Nur ist das, was du soeben erzählt hast, eine von jenen Geschichten, die höchst unglaublich klingen. Gott sei Dank, daß du kein Alibi für diese Nacht brauchst!«

Er hatte diese Worte nur im Scherz gesagt, als sie aber, ausgesprochen, sein Ohr erreichten, war es ihm, als hätte ihn jemand eisig angehaucht, und würde Camilla ihn jetzt angesehen haben, so hätte sie bestimmt wieder gefragt, warum er ein so seltsames Gesicht mache.

Sie hatte sich indessen bereits zu einem langen Gähnen und Gliederstrecken abgewandt. »Wasch und rasier dich, Pete, und zieh dich um«, sagte sie dann, »und gestatte, daß ich mich im zweiten Badezimmer ein wenig zurechtmache. Aber beeil dich, bitte. Und sag deinem Diener, daß er mir ein recht üppiges Frühstück auftischen soll. Mir ist, als könnte ich ein Dutzend Eier vertilgen. Und dann wollen wir darüber nachdenken, wie du mich mit Großvater wieder versöhnen kannst.«

Das Ungewöhnliche der Tatsache, daß sie hier in seiner Wohnung allein miteinander frühstückten, und die Erleichterung, die sie jetzt nach den Ängsten der vergangenen Nacht empfanden, hätte in ihnen eigentlich eine recht fröhliche Stimmung aufkommen lassen müssen, aber sie stellte sich aus irgendeinem Grunde dennoch nicht ein. Murray begann zwar in möglichst leichtem Plauderton von seinen Erlebnissen am vorigen Abend zu erzählen, aber er kam damit nicht weit, denn was er über das unglaublich gut unterrichtete Mädchen mitzuteilen wußte, das ihm das Tor aufgeschlossen hatte, führte unmittelbar dazu, daß Camilla von Erics Telegramm erfuhr. Das schien ihr etwas ganz Neues zu sein. Sie verfiel in ein düsteres Sinnen und verlor jeden Appetit, obwohl das üppige Frühstück, auf das sie angeblich einen so großen Heißhunger gehabt hatte, kaum zur Hälfte aufgegessen war.

»Es ist ein merkwürdiges Gefühl, einen leibhaftigen Bruder zu haben, den man so gut wie gar nicht kennt – namentlich wenn er plötzlich angereist kommt, um vielleicht schon in den nächsten Tagen mit einem unter demselben Dach zu leben. Ich fürchte, es gefällt mir etwas daran nicht, Pete. Das Ganze wirkt auf mich ein wenig beängstigend …«

»Aber, aber! Du wirst ihn gleich viel besser kennen, wenn du dir nur die Mühe gibst, über ihn nachzudenken. Du warst doch schon elf Jahre alt, als er euch verließ.«

»Ich kann mich nur daran erinnern«, beharrte sie trotzig, »daß ich ihn nicht leiden mochte und daß ich ihm stets und überall aus dem Wege ging. Und er konnte mich auch nicht ausstehen.«

»Mir ist er ja gleichfalls als ein widerlich eingebildeter junger Tropf im Gedächtnis geblieben«, gab Murray zu, »aber du wirst wahrscheinlich entdecken, daß er sich im Laufe der Jahre gebessert hat. Das tun doch die meisten Menschen – zum Glück!«

Camilla reagierte auf diese versteckte Anspielung ziemlich gleichgültig. »Und wenn er noch so nett geworden sein sollte«, erwiderte sie, »ich fürchte, ich will gar keinen Bruder! Mit dir ist mein Bedarf an Verwandten vollauf gedeckt.«

Dieser Witz war nicht gerade sehr glücklich. Schweigend frühstückten sie eine Weile weiter – aber sie aßen fast gar nichts mehr.

Plötzlich sah Murray nach der Uhr. »Paß mal auf«, sagte er, »es ist schon viertel nach sieben. – Wenn wir jetzt gleich hinausfahren, erreichen wir den alten Herrn beim Frühstück, und da soll er bekanntlich am zugänglichsten sein. Wir werden einfach vor ihn hintreten und ihm erzählen, was du in der vergangenen Nacht alles durchgemacht hast, das ganze Abenteuer, die Geschichte mit den Kühen mit eingeschlossen. Vielleicht nimmt er es gar nicht so tragisch, wenn ihn die Dinge mit Fräulein Parsons und Eric nicht schon allzu reizbar gemacht haben.«

Mit ernster Miene gab sie ihm recht. »Mir ist es an sich einerlei, wie er sich dazu stellt«, sagte sie schließlich, »sofern wir nur alles wieder einrenken können. Ich fahre dich besser gleich in meinem eigenen Wagen hinaus; das geht schneller.«

»Nun«, bemerkte Murray, als sie mit Not und Mühe aus dem Verkehrsgewühl der Stadt auf die verhältnismäßig freie Chaussee gelangt waren, »etwas Gutes hat deine Fahrerei doch: sie lenkt mich stets von meinen Sorgen ab.«

Sie hänselte ihn diesmal seiner altväterlichen Ängste wegen nicht und lächelte nicht einmal. Offenbar war sie genau so nachdenklich gestimmt wie er selbst, und so blieben sie beide stumm, bis sie das Lindstromsche Anwesen erreicht hatten. Hier aber entlockte etwas noch nie Dagewesenes ihnen gleichzeitig einen Ausruf des Erstaunens. Das eiserne Tor stand weit offen, und obwohl Camilla beim Einbiegen in den Torweg ein paarmal hupte, kam aus dem Schofförhäuschen kein Mensch. Es schien wenigstens im Augenblick wie ausgestorben zu sein.

»Wenn Großvater das erfährt, fliegt jemand aus der Stellung«, sagte Camilla trocken und fuhr dann, mit einem schnellen Blick auf Murray, etwas nervös fort: »Glaubst du, daß da etwas nicht ganz in Ordnung ist, Pete?«

»Ja«, gab er zu, »das scheint mir ganz der Fall zu sein.«

Aber sie legte daraufhin nicht, wie er erwartet hatte, ein schärferes Tempo an. Im Gegenteil: sie nahm den Fuß vom Gashebel und ließ den Wagen langsam über den geschotterten Fahrweg gleiten. An einer Stelle aber, wo die Bäume und Büsche den Blick auf eine weite Wiesenfläche freigaben, packte sie ihn plötzlich am Arm und rief: »Sieh doch, Pete! Es wird noch mehr Ärger geben!«

Er wandte den Kopf nach der von ihr angegebenen Richtung hin und erblickte im Gras drei weit auseinanderliegende, parallele Spuren.

»Irgendein Esel vom Flugplatz muß dort mit seiner Maschine zu Boden gegangen und wieder aufgestiegen sein!« sagte Camilla. »Hoffentlich verwischt sich alles, noch ehe Großvater es zu Gesicht bekommt.«

Schon nach der nächsten Biegung des Fahrwegs tauchte vor ihnen das Herrenhaus auf, und Murray, der die tiefere Bedeutung dessen, was sich seinen Augen jetzt darbot, sofort erriet, sagte scharf: »Laß mich hier aussteigen, Camilla, und fahre dann im Bogen schleunigst in die Stadt zurück. Geh in meine Wohnung und bleibe dort, bis ich dich holen lasse. Hier ist heute früh kein Aufenthalt für dich.«

Was ihn so plötzlich mit Sicherheit annehmen ließ, daß in diesem alten Hause sich wieder einmal etwas Unheilvolles und Grauenhaftes abgespielt haben mußte, war der Anblick einer auf dem Rasen vor dem Herrenzimmer aufgestellten Leiter. Ein kleines Mädchen, vermutlich dasselbe, das er gestern kennengelernt hatte, war ganz ungeniert die Sprossen hinaufgestiegen und drückte nun, so gut es ihr die etwa einen halben Meter hochgezogene Jalousie erlaubte, das Näschen gegen die Fensterscheibe.

Camilla klopfte dem Anwalt zärtlich aufs Knie, fuhr aber ruhig weiter. »Es hat keinen Zweck, Pete«, sagte sie. »Es ist zu spät, mich noch schonen zu wollen. Schau, die Polizei ist auch schon hier.«

Bei diesen Worten wies sie durch ein Kopfnicken auf ein blaues Motorrad mit Beiwagen hin, das jemand auf den Rasen hinter der Verandatreppe geschoben hatte, und während sie noch sprach, ging die Haustür auf, und es erschien, offenbar vom Knirschen der Autoreifen auf dem Schotter angelockt, ein Polizist.

»Wer sind Sie?« fragte er. »Haben Sie hier etwas zu suchen?« Er war, wenn nicht gerade unhöflich, doch recht kurz angebunden.

»Diese Dame ist Fräulein Lindstrom«, erwiderte Murray freundlich. »Ich bin ihr Vormund und außerdem Herrn Lindstroms Anwalt. Wollen Sie uns bitte sagen, was hier geschehen ist?«

Der Polizist sah Camilla forschend an und schien mit der Antwort zu zögern. Da rief sie: »Versuchen Sie, bitte, nicht, es uns schonend beizubringen. Ist meinem Großvater etwas zugestoßen?«

Danach zögerte der Polizist nicht länger. »Es sieht so aus, als ob er einem Mörder zum Opfer gefallen wäre. Jedenfalls ist er erschossen«, sagte er. Und da weder Murray noch Camilla daraufhin auch nur ein Wort hervorzubringen vermochten, setzte er nach einem kurzen Schweigen hinzu: »Das beste ist, Sie warten jetzt hier, bis der Inspektor für Sie Zeit hat. Im Augenblick ist er beschäftigt – er ist erst vor einigen Minuten eingetroffen –, aber Sie müssen ihm dann natürlich alles erzählen, was Sie über die Dinge hier wissen.« Damit ging er wieder ins Haus und schloß die Tür hinter sich zu.

Als Murray Camilla ansah, bemerkte er, daß sie schreckensbleich war und ganz entsetzt dreinschaute. »Setz dich, Camilla!« sagte er schnell. Sie gehorchte wie im Schlaf, und er ließ sich neben sie auf die Stufen der Freitreppe nieder. Da aber konnte sie nicht länger an sich halten. Ein ersticktes Schluchzen entrang sich ihrem Munde, und ihre Wangen wurden naß vor Tränen. Murray holte wortlos sein Taschentuch hervor und reichte es ihr.

»Ich weine ja nicht, weil ich ihn lieb hatte«, sagte sie nach einer Weile. »Nein, ich mochte ihn nicht leiden. Niemand hatte ihn gern. Niemand auf der ganzen Welt. Aber vermutlich ist gerade das der Grund, weshalb ich weine. Ach, Pete, wer kann ihn bloß ermordet haben, einen so alten Mann wie ihn?«

»Das werden wir wahrscheinlich in wenigen Minuten erfahren«, erwiderte Murray. »Denke nicht daran. Versuche, überhaupt nicht zu denken.«

Aber er konnte seinen eigenen Rat nicht befolgen. Unwillkürlich erinnerte er sich an die Geschichte, die Camilla ihm von ihren Abenteuern in der vergangenen Nacht erzählt hatte, und er fragte sich im stillen, ob die von ihnen vorhin auf der Wiese entdeckten Flugzeugspuren auch der Polizei schon aufgefallen wären


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