Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Taylors Abreise endet am Tor

Murray wußte wirklich nicht recht, ob er sich Camillas Theorie zu eigen machen sollte oder nicht. Merkwürdigerweise hatte sie sofort ein neues Verdachtsgebäude errichtet und so würde sie ihm jetzt seine Zweifel natürlich erst recht übelnehmen. Ihrer ersten Theorie zufolge, war Gordon Taylor, dessen Anruf gestern Abend Eric in so große Angst versetzt hatte, entweder Emil selber oder zumindest ein Komplize Emils. Und der Mann, der hier an ihrem Tisch saß, auf demselben Platz, den man gestern abend Hopkins überlassen hatte, der Mann, der heute früh eine gute Stunde mit Eric im Gebüsch etwas beraten haben mußte, spielte in ihrer Vorstellung immer noch die Rolle des Mannes, den Eric woher herbeigerufen hatte, um entweder Emil nach einfachem Rezept um die Ecke zu bringen oder doch wenigstens dessen erwarteten Angriff abzuwehren.

Diese Annahme hatte allerdings wirklich ziemlich viel für sich. Eric kam herunter und begrüßte seinen Gast in einer ganz unbefangenen Weise, vielleicht etwas zu unbefangen sogar, wenn auch für seine Begriffe recht herzlich, aber ohne Überschwenglichkeit und sicherlich ohne jede Spur von Nervosität oder Angst. Dann saß man zu viert einige Minuten im Schatten des Hauses auf der Wiese – teils um den kühlen Wind zu genießen, und teils weil man es eben nicht eilig hatte. Die Unterhaltung drehte sich dabei in der Hauptsache um das Wetter, und nur Camilla mußte dem Gast erklären, wieso vor der Haustür ein Flugzeug stand. Camillas Fliegerei schien dem Fremden, wie Eric vorausgesagt hatte, zu amüsieren. Und dann hatte Eric ihn ins Haus geführt, um ihm sein Zimmer zu zeigen.

Über die Zweckmäßigkeit und Richtigkeit der dabei von Eric getroffenen Wahl konnte man verschiedener Ansicht sein. Taylor konnte entweder in einem der Zimmer im obersten Stockwerk wohnen, die den von Eric bewohnten Räumen gegenüberlagen, oder aber in jenem Zimmer des zweiten Stocks, das einst die arme Lucretia bewohnt hatte. Natürlich waren ihre Sachen längst eingepackt und weggeräumt worden. Und gerade dieses Zimmer hatte Eric ohne viel zu überlegen für Taylor bestimmt.

Murray sah darin einen Beweis dafür, daß Eric tatsächlich Angst vor seinem Gast hatte und ihn nicht ganz in seiner Nähe haben wolle, da er offenbar befürchtete, Taylor könnte ihn im Schlaf überfallen. Camilla vermutete dagegen, daß Eric in Taylor seinen Beschützer sah und ihn an einem strategisch besser gelegenen Posten haben wolle, und ihn so und nicht anders einquartierte, weil das Zimmer Lucretias unmittelbar über dem Verandadach lag, so daß Taylor von da aus unter Benutzung des Abflußrohrs Gelegenheit hatte, das Haus nötigenfalls auch in der Nacht ungeniert zu verlassen. Nun, beide Ansichten hatten genau so viel für, wie gegen sich.

Als Taylor zum Essen herunterkam, sah er aus wie ein wohlhabender Gangster in einem Nachtlokal. Wider Erwarten wurde ein regelrechtes Abendessen serviert, denn Frau Rosnes und Sophie waren auf eigenen Wunsch dageblieben und hatten sich alle Mühe gegeben, ein wahres Luxusmahl fertigzustellen. Niemand von der Familie hatte sich zu Tisch umgezogen, nicht einmal Eric. Aber Herr Gordon Taylor erschien zur allgemeinen Verwunderung in einem tadellos geschnittenen Smoking und hatte Brillantknöpfe im Hemd. Es genierte ihn nicht im geringsten, daß er alle überstrahlte; im Gegenteil, er glaubte, auf diese Weise das Richtige getroffen zu haben und war offenbar mit sich selbst sehr zufrieden. Unter seinem Smoking war eine beunruhigende Wölbung, die, als er zum Essen Platz nahm, an die Stuhllehne anstieß und einen dumpfen metallischen Klang verursachte. Aber sie wurde, wie sich noch vor dem Abschluß der Mahlzeit herausstellte, nicht von einem Revolver, sondern von einer Flasche hervorgerufen.

Als er merkte, daß seine Gastgeber ihm nichts Alkoholisches vorsetzen würden, holte er spendabel seinen eigenen Whisky hervor und bot ihn allen der Reihe nach an. Als erste dankte Camilla, und nach ihr tat zu ihrer Überraschung Eric desgleichen, Pete dagegen nahm, um den Mann nicht zu beleidigen, dankend an und stellte fest, daß der Whisky wirklich ausgezeichnet war. Hiernach beschäftigte sich Taylor nur noch mit dem Essen, dem Whisky und Camilla. Und als er mit dem Essen und dem Whisky fertig war, widmete er sich ausschließlich Camilla.

Eines war auf jeden Fall klar: ob er nun als Feind oder Bundesgenosse Erics zu gelten hatte, er war bestimmt kein Mensch, mit dem Camillas Bruder jemals, selbst nicht unter den tollsten Umständen, Freundschaft geschlossen haben konnte. Wenn er nicht gekommen war, um eigene Ziele zu verfolgen, dann hatte Eric ihn nur eingeladen, um einen noch gefährlicheren Besuch abzuwehren. Dieser Taylor bildete sich wirklich ein, daß er in vollendeter Weise den feinen Mann spielte und Camilla von ihm fasziniert wäre, Murray aber wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn ohne Umstände hinauswerfen zu dürfen, aber er war sich klar darüber, daß er durch ein derartiges Vorgehen alle in recht ernste Gefahr bringen konnte. Der Mann trug seinen Revolver wahrscheinlich dort, wo er nicht durch eine Wölbung unter dem Smoking auffiel.

Gegen Ende des Mahls, fragte Carl Camilla dienstbeflissen, wo er den Kaffee servieren sollte. »Im Herrenzimmer«, sagte sie nach kurzem Zögern, und setzte wie zur Erklärung für Murray und Eric hinzu: »Es ist heute abend der kühlste Raum im ganzen Hause.« Sie führte damit, wie Pete im Stillen bemerkte, ihren festen Vorsatz aus, die schwere Prüfung bis zum Äußersten geduldig zu ertragen.

Taylor aber sagte heiter: »Das ist doch das Zimmer, wo ein X die Stelle bezeichnet, nicht wahr? Wo der alte Herr ein bißchen durchlöchert wurde, wie?«

Camilla hatte eine ganz gelassene Antwort für ihn auf der Zunge, aber sie wurde durch einen unerwarteten Zornausbruch ihres Bruders unterbrochen. Eric betrat als letzter das Zimmer, und als er um den Sessel bog, in dem Pete am Nachmittag sein Schläfchen gehalten hatte, stolperte er über etwas, hob den »Gegenstand des Anstoßes« auf, starrte ihn an – es war nichts Aufregenderes als der achte Band von Mitfords »Geschichte von Griechenland« in Ganzleder –, wollte anscheinend fragen, wer zum Teufel das hier herumliegen ließ, brach aber mitten im Satze ab, und musterte in einem stummen, kindischen Zorn, mit einem Wutblick die Wände.

Murray entschuldigte sich kühl. »Ich habe das Buch heute nachmittag herausgenommen und schlief beim Lesen ein. Seien Sie mir nicht böse, daß ich es auf dem Boden liegenließ. Aber ich glaube kaum, daß es dadurch beschädigt wurde.« Mit diesen Worten nahm er Eric den Band aus der zitternden Hand und stellte ihn zurück an seinen Platz im Bücherschrank.

Eric hatte allem Anschein nach nicht die geringste Lust, sich auch seinerseits zu entschuldigen. Er pflegte nach jedem solchen Ausbruch noch eine Weile zu grollen. Deshalb wandte Camilla sich sofort wieder Taylor zu und beantwortete seine Frage, so ruhig, als ob nichts geschehen wäre.

»Großvater wurde nicht hier erschossen«, erklärte sie, sondern auf der kleinen Treppe, die hinter dieser Tür zu seinem Zimmer emporführt. Dort übrigens ist auch seine Sekretärin, Fräulein Parsons, ermordet worden.«

Mit einer geradezu lähmenden Unverfrorenheit legte Taylor diese Worte des Mädchens einfach als Erlaubnis aus, sich auf eigene Faust ein wenig umzuschauen. Er öffnete die Tür zu der kleinen Treppe, trat auf den Treppenabsatz, sah sich um, kam zurück und unterzog ziemlich froher Laune das ganze Zimmer einer gründlichen Besichtigung. Dabei benahm er sich genau wie ein Vergnügungsreisender, der sich die Sehenswürdigkeiten des Towers in London zeigen läßt.

»Die Zeitungen erwähnen doch noch einen Geldschrank? Der steht wohl dort unter der Treppe?« fragte er schließlich. Und da er Camillas eisiges Schweigen für eine stillschweigende Genehmigung zu weiteren Nachforschungen hielt, riß er die viereckige Tür in der Täfelung, die den Geldschrank verkleidete, kurz auf, und strahlte den Schrank, hochbefriedigt vom eigenen Scharfsinn, glückselig an. »Mir fiel auf«, fuhr er fort, »daß die Zeitungen nicht angaben, wieviel dem Burschen, der das Ding gedreht hat, in die Hand gefallen ist. Ein ganz hübsches Sümmchen, nicht wahr?«

Er richtete die Frage an Camilla, aber sie wandte sich, gleichsam um Hilfe suchend, Murray zu, und Pete sprang ihr bei. »Wegen derartiger Auskünfte müssen Sie sich an die Polizei wenden«, antwortete er an ihrer Statt.

Nun entschuldigte sich Taylor umständlich. Er habe wirklich niemanden kränken wollen, und es wäre ganz richtig, verschwiegen zu sein, besonders, wenn es sich um einen schweren Verlust handele.

Hier erfuhr ihre Unterhaltung eine Ablenkung. Sophie tauchte sehr verstört und aufgeregt in der Tür zur Diele auf, um zu fragen, ob sie Fräulein Camilla einen Augenblick sprechen könnte. Camilla kam ihr ein paar Schritte entgegen und ging dann, als sie merkte, daß es sich um eine ganz vertrauliche Mitteilung handeln sollte, mit ihr hinter das Haus. Es tat Murray wohl, daß sie das Zimmer verlassen hatte, weil der sonderbare Gast sich offenbar darüber ärgerte.

Gleich darauf kam Taylor jedoch wieder in Fahrt. Von nun an wandte er sich ausschließlich an Murray. Eric aber, der seit seinem ersten Wutausbruch hochrot, trotzig und stumm dagesessen hatte, wurde von ihm keines Wortes gewürdigt. Taylors Tiraden waren jetzt voll eines gutmütigen Spotts, der sich gegen die Polizei, namentlich gegen die Detektive und insbesondere gegen die selbstherrlichen Sachverständigen richtete. Sie stümperten herum, sagte er, und gackerten wie eine Hühnerschar über angebliche »Spuren«, die sie größtenteils selber zu verursachen pflegten, aber diese Dummenjungenstreiche führten doch nie zu etwas. Murray, der schon von Anfang an zu dem leicht verständlichen Entschluß gekommen war, nichts zu verraten, nicht einmal soviel, wie aus einem nur ganz oberflächlich bestätigenden oder zustimmenden Satz entnommen werden konnte, saß mit ausdrucklosem Gesicht in seinem Sessel und hörte ganz ruhig zu.

Eric aber wurde durch das Geschwätz seines Gastes scheinbar an die Grenze der Geduld getrieben. Schließlich sprang er aufgeregt auf. »Taylor und ich haben noch etwas zu besprechen«, erklärte er unwirsch. »Ich denke, wir sagen uns gute Nacht und gehen nach oben.«

»Mir soll's recht sein«, meinte Taylor. »Ich kann ja auch noch woanders reden als hier.«

Das einzig Unheimliche an dieser Bemerkung lag in ihrem Inhalt selber; die Art, in der sie gemacht wurde, war ganz harmlos. Aber Eric zuckte deutlich zusammen und drängte seinen Gast schnell zur Tür hinaus. Ob er nun sein Bundesgenosse war oder nicht: Eric haßte ihn aus tiefstem Herzensgrunde; davon war Pete fest überzeugt.

Es war eine Erleichterung, Camilla zurückkommen zu hören. Sie tauchte, kaum daß die Männer das Zimmer verlassen hatten, so schnell wieder an der Schwelle auf, daß die Vermutung nahelag, daß sie irgendwo auf ihr Verschwinden gewartet hatte. Murray streckte ihr die Hand entgegen, wie um sie hereinzulocken und anzudeuten, daß die Luft rein war, aber sie schüttelte den Kopf.

»Es ist mir nicht gemütlich genug dort drinnen«, sagte sie. »Komm mit ins Freie. Es ist eine ganz schöne Nacht.«

Ohne zu widersprechen, folgte er ihr auf die Wiese und fragte sie dann, im stillen überlegend, welche neue Gefahren ihnen drohen konnten, was eigentlich Sophie gewollt hätte.

Aber über Sophie mußte Camilla lachen. »In der Küche bekommen Sophie und Frau Rosnes einen Ohnmachtsanfall über dem anderen«, berichtete sie. »Und alles unseres neuen Dieners wegen. Sie erzählten mir mit weit aufgerissenen Augen, daß er ein Verbrecher oder etwas Ähnliches sein müßte. Als er nämlich nach dem Essen den Tisch abräumte, brachte er nicht das ganze Silber zum Abwaschen hinaus. Einige Bestecke fehlten jetzt, auch ein paar Gläser sollen verschwunden sein, was sogar Sophie unsinnig erschien. Und dann, gerade als er ihnen helfen sollte, entschlüpfte er ihnen, und sie sahen etwa zwanzig Minuten später, wie er um die Ecke des Treibhauses zurückgeschlichen kam.«

Einen Augenblick hielt Camilla inne, dann fuhr sie fort.

»Ich wußte selbst nicht recht, was es zu bedeuten hatte, aber ich sah ein, daß ich diesen angeblichen Diebstahl wenigstens nach Außen hin recht ernst nehmen mußte, und deshalb riet ich ihnen, Carl ja nicht merken zu lassen, daß sie Verdacht geschöpft hätten. Morgen, sagte ich, käme Herr Hopkins hierher, und dann würden wir ihm alles erzählen. Vermutlich werden sie sich jetzt in ihren Zimmern einriegeln und die ganze Nacht Licht brennen lassen, um nicht ermordet zu werden. Aber ich konnte ihnen natürlich nicht erklären, daß er ein Kriminalbeamter ist. Pete, wozu brauchte er das Silber und die Gläser, was meinst du?«

»Fingerabdrücke, vermute ich«, erwiderte Murray. »Es steht für mich ziemlich fest, daß Taylor schon einmal gesessen hat, und wenn das stimmt, dann kann uns die Polizei vielleicht Aufschluß über ihn geben.«

Er spürte deutlich, wie sie, an seinem Arm hängend, zitterte, als er sie aber ins Haus zurückzuführen versuchte, sträubte sie sich dagegen. »Ich will hier bleiben«, bat sie. »Es ist gräßlich dort drinnen. Das ganze Anwesen ist mir jetzt verleidet. Ich habe ja, als ich erfuhr, daß Eric nach Hause kommen wollte, etwas Ähnliches geahnt, aber ich hatte nie gedacht, daß es so schlimm sein würde.«

»Du brauchst nicht hineinzugehen«, gab Pete, den plötzlich ein Gedanke durchzuckt hatte, bereitwillig nach. »Ich sehe nicht ein, warum du die eine Nacht nicht in meiner Wohnung verbringen solltest. Williams und seine Frau werden auf dich aufpassen. Wir wollen jetzt Nelson heraustrommeln, damit er dich in die Stadt bringt. – Nanu, was hast du schon wieder?«

Camilla, die den ersten Teil seines Vorschlages mit einem leisen Frohlocken begrüßt hatte, entzog ihm jetzt, noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, ihren Arm und richtete sich in einer edlen jugendlichen Entrüstung hoch auf. »Pete!« rief sie. »Glaubst du, daß ich so feige bin, um allein fortzugehen und dich im Stich zu lassen.?«

»Und glaubtest du«, fragte er nun seinerseits, »daß ich mit dir fortgehen und Eric von diesem Banditen ermorden lassen würde? Oh, wir wissen freilich nicht«, gab er beim nächsten Atemzug zu, »ob er zu diesem Zwecke hergekommen ist. Aber irgend etwas Häßliches bereitet sich vor und wird vielleicht schon heute nacht geschehen. Was soll ich von mir halten, wenn hier etwas passiert, während ich mich für die Nacht mit dir in meine Stadtwohnung zurückgezogen habe? – Und was würde man in so einem Fall von mir denken?« setzte er unklugerweise hinzu.

»Du bist wohl ziemlich stolz auf deinen guten Ruf? –« gab sie spitz zurück.

Diese Worte verletzten ihn, und er wandte sich von ihr ab.

Aber im nächsten Augenblick umschlang sie ihn mit beiden Armen: und begann, das Gesicht in seiner Jacke vergrabend, bitter zu weinen. »Was ist bloß los mit uns, Pete?« fragte sie aufschluchzend. »Früher stritten wir uns dauernd, ohne uns damit auch ein bißchen weh zu tun, und jetzt können wir nichts mehr voneinander vertragen.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte er niedergeschlagen. »Das heißt, mir ist zwar so als ob ich es wüßte, aber ich fühle mich nicht imstande, es dir heute abend zu erklären.«

»Ich glaube, du hattest vorhin ganz recht«, sagte sie, als er ihr ein Taschentuch gab, damit sie sich die Tränen abwischen konnte. »Wir können nicht davonlaufen, keiner von uns. Aber ich wünschte, wir brauchten nicht in dieses verflixte Haus zu gehen. Ich wünschte, wir könnten uns in ein paar Decken einwickeln und draußen unter einem Baum schlafen.«

»Die Westveranda wäre doch dazu wie geschaffen«, regte er an. »Du hast da noch die Hängematte, und mir genügt der Liegestuhl. Ich werde gleich ein paar Decken holen, und wir können dann so lange draußen bleiben, wie du willst. Meinetwegen bis zum Sonnenaufgang, wenn du bis dahin kein Bedürfnis nach dem Bett verspürst.«

Sie küßte ihn in alter Herzlichkeit und er entfernte sich, um die Decken zu besorgen.

Zu diesem Zweck begab er sich in sein eigenes Zimmer. Dort hatte er einen Reiseplaid, der ihm vollauf genügen würde, und eine große Daunensteppdecke, die seiner Ansicht nach für Camilla gerade das Richtige war. Ferner aber wollte er bei dieser Gelegenheit gleich seine Schuhe gegen ein paar weiche Pantoffeln und sein Jackett gegen eine Strickjacke vertauschen.

Während er noch mit dem Umziehen beschäftigt war, klopfte Carl an seine Tür und brachte ihm eine Karaffe eisgekühlten Wassers. Neben der Karaffe aber lag auf dem Tablett ein Schreiben, ein ziemlich überraschender Brief von Hopkins, von dem man am Tage überhaupt nichts gehört hatte. »Die Dinge spitzen sich zu«, lautete die Mitteilung. »Carl wird die Nacht im dritten Stock verbringen und Herrn Lindstroms Zimmer bewachen. Ihre Aufgabe ist es, auf Fräulein Camilla aufzupassen. Unternehmen Sie, wenn es irgend geht, gar nichts. Im Notfall können Sie nach Nelson klingeln. Dann sind wir in einer Minute da.« Carl, der, während Murray diese Mitteilung las, schweigend gewartet hatte, nahm sie ihm nun wieder ab und steckte sie ohne ein Wort zu verlieren in seine Tasche – was in einem merkwürdigen Gegensatz zu der vollendeten Dienerhaltung stand, mit der er sich daraufhin verbesserte.

Offenbar war Hopkins also derselben Meinung wie Camilla. Die Andeutungen, die er in seinem Schreiben gemacht hatte, waren ziemlich beängstigend, aber der Auftrag des Inspektors begeisterte Pete. Ja, er würde gut, sehr gut auf Camille aufpassen.

Er war überrascht, als er sie plötzlich in ihrem Zimmer nebenan umhergehen hörte. Sofort klopfte er bei ihr leise an. Sie kam an die Verbindungstür und machte sie einen Spalt breit auf.

»Meinung gewechselt?« fragte er.«

»Nein, nur die Kleider«, erwiderte sie. »Ich habe eine Idee, Pete. Warte einen Augenblick, ich gehe gleich mit dir wieder hinunter.«

Fast unmittelbar darauf erschien sie bei ihm in blauen Trainingshosen und einem weißen Sweater. Sie nahm ihm eine der Decken ab, und dann schlichen sie zusammen wieder zur Veranda hinunter.

Ihre »Idee« war nicht schwer zu erraten: offenbar wollte sie, sobald es hell genug dazu fein würde, wieder einen Flug unternehmen. Aber scheinbar sparte sie diese Absicht für ihn als Überraschung aus, denn sie erwähnte sie mit keinem Wort. Kaum angelangt, legte sie sich in ihre Hängematte und bat ihn, sie zuzudecken. »Eric und sein Gast scheinen zu Bett gegangen zu sein«, sagte sie, »wir wollen also lieber, so lange es uns vergönnt ist, soviel wie möglich schlafen.«

Aber sie hatte offenbar noch etwas auf dem Herzen, denn als er sich zu ihr hinabbeugte, um ihr einen Gutenachtkuß zu geben, murmelte sie: »Es wäre riesig nett und aufregend, wenn du mir jetzt zu erklären versuchen würdest, warum wir uns nicht mehr wie früher necken können. Aber das wirst du wahrscheinlich erst tun, wenn du ganz sattelfest bist.«

Er setzte sich auf den Rand der Hängematte, in der sie lag, und starrte verwirrt in das Gesicht, das er soeben geküßt hatte. Ihre Augen hielten ihn in ihrem Bann, und es war ihm plötzlich seltsam beklommen zumute.

»Ach, Pete, tu doch nicht so entsetzt!« sagte sie schließlich. »Gute Nacht, mein Lieber.«

Ein Stuhl, und mag er noch so bequem sein, ist, wenn man nicht gerade wach bleiben will, ein schreckliches Möbel zum Schlafen, und Prentiß Murray nahm sich, teils weil er über die letzte Bemerkung Camillas nachgrübeln wollte, teils in der unbestimmten Erwartung, daß noch vor Morgengrauen die tiefe Nachtstille von einem Schuß oder Schrei zerrissen würde, fest vor, sich krampfhaft gegen den Schlaf zu wehren – zum mindestens bis zum Sonnenaufgang.

Es war ihm allerdings äußerst angenehm und erquickend, Camilla zu betreuen. Ein gütiger Mond stand hoch über dem Haus und sein sanftes Licht ermöglichte es ihm, sie ganz deutlich zu sehen. Keine Katze hätte schneller und zutraulicher einschlafen können, als sie eingeschlummert war: ein Strecken ein Gähnen, ein trotziges Hin- und Herrücken, bis die passende Lage gefunden war, und weg war sie, als wenn es überhaupt keine Gefahren auf der Welt gäbe. Und augenscheinlich war sie wirklich vollkommen unbesorgt – wenigstens solange er sie hier getreulich bewachte! Als ihm dieser Gedanke gekommen war, durchkostete er ein paar Minuten lang ein beglückendes Gefühl stolzen Verantwortungsbewußtseins. Das dauerte aber nicht lange. Bald darauf enttäuschte er Camillas Vertrauen und schlief auch selber fest ein.

Als er wieder erwachte, war es bereits heller Tag, wenngleich noch sehr früh, da die Sonne gerade erst das Gras zu vergolden begann. Eine Drossel oder irgendein Vogel – er konnte ihn nicht sehen, nur im Halbschlummer hören – mußte ihn geweckt haben. Sonst war alles still. Camilla, noch immer tief in Schlaf versunken, lag nach wie vor in der Hängematte, aber etwas hatte sich in ihrem Äußeren inzwischen dennoch verändert. Offenbar war ihr in der Nacht zu warm geworden, denn sie hatte nicht nur die Steppdecke zurückgeschlagen, sondern auch ihren weißen Sweater ausgezogen, und Murray stellte unwillkürlich fest, daß sie jetzt nichts weiter anhatte, als eine leichte rosafarbene Seidenkombination.

Er sah sie wie gebannt an, als sie plötzlich die Lider aufschlug und ihn mit einem verschlafenen Gutenmorgenlächeln begrüßte. Sie richtete sich unbekümmert auf, setzte sich hin, reckte die Arme über den Kopf, gähnte und meinte schließlich: »Nun, es ist Morgen und ich glaube, es ist in der Nacht nichts geschehen. Horche mal, Pete! Kannst du Taylor nicht oben in seinem Zimmer schnarchen hören?«

»Ja«, erwiderte Pete, nachdem er eine Weile hingehorcht hatte. Er wünschte beim Teufel, Camilla würde ihren Sweater anziehen. Sie war bezaubernd, ja, aber dieser Aufzug verwirrte ihn.

Sie klopfte auf die Hängematte und sagte: »Komm mal näher. Ich möchte mit dir sprechen!«

»Meinst du nicht …« begann er stammelnd.

Aber sie verstand ihn, noch ehe er auch nur ein Wort mehr hervorgebracht hatte, und das war ein Glück, denn er hätte beim besten Willen nicht mehr sagen können. Sie wurde rot, und streifte kleinlaut den Sweater wieder über. Erst daraufhin kam er näher zu ihr und setzte sich dorthin, wo sie auf die Hängematte geklopft hatte.

Aber ihre Stimmung war irgendwie verdorben. »Da haben wir es wieder, Pete«, sagte sie. »Dagegen muß etwas unternommen werden. Wenn dir mein Aufzug nicht gefallen hat, warum hast du da nicht einfach gesagt: ›Zum Kuckuck, Camilla, du kannst doch nicht nackt umherlaufen! Zieh den Sweater an!‹?«

Er erkannte deutlich seine eigene sonstige Redeweise und lächelte, aber er mußte zugeben, daß er mit Camilla in diesem Ton scheinbar nicht mehr sprechen konnte.

»Nun«, fuhr sie fort, »rücke schon heraus mit deiner Erklärung. Du sagtest gestern nacht, du hättest eine. Das ist bedenklich, Pete. Also laß hören, was mit uns beiden deiner Meinung nach los ist.«

Er begann ganz vorsichtig. »Du wirst eben älter, wächst allmählich heran, Camilla. Im Ernst, ich glaube, das erklärt so ziemlich alles.«

»Fabelhaft, der reinste Sherlok Holmes!« rief sie und brachte ihn vollkommen aus dem Konzept. »Du meinst also, es liegt nur an mir,« fuhr sie fort. »Das mußt du ja allerdings meinen, weil du ja allem Anschein nach wirklich nicht mehr wächst. Du hast dich im Laufe dieser ganzen Jahre nicht um ein Haar verändert! Sage mal, Pete, wie lange wirst du noch mein Vormund sein? Ich möchte das aus bestimmten Gründen gerne wissen.«

»Ich bin nicht dein Vormund!« fuhr er sie an, da er sich über diese Frage geärgert hatte. »Ich bin nur dein Vermögensverwalter, und zwar nur bis zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag. Aber du bist nicht mehr minderjährig. In Illinois bist du jedenfalls schon mündig.«

Sie schien über seine Antwort sehr zu staunen. »Und ich kann also tun, was ich will?« fragte sie wieder. – »Kann ich zum Beispiel, ohne deine Zustimmung heiraten?« fragte sie weiter.

»Heiraten?« echote er. Dann nahm er sich zusammen. »Ja, natürlich.«

Sie schien gewisse Bedenken zu haben. »Aber du könntest doch meine Rente herabsetzen, nicht wahr? Könntest mich enterben oder etwas Ähnliches?«

»Nein«, versetzte er, »nicht einmal das. Ich bin verpflichtet, dir eine vernünftige Vermögensrente zu zahlen. Ob mir der Mann, den du heiratest, gefällt oder nicht, hat damit nichts zu tun.« Dann, obwohl er sich die ganze Zeit bewußt war, wie ein Narr zu handeln, fragte er seinerseits: »Ist da schon jemand, der wirklich ernstlich in Frage kommt?« Und er erinnerte sich dabei unwillkürlich an den Piloten, den er auf dem Flugplatz kennengelernt hatte.

»Freilich«, erwiderte sie. »Aber du brauchst dir darüber keine Kopfschmerzen zu machen. Ich hatte ihm vorgestern abend einen Antrag gemacht, und er hat mir einen Korb gegeben.«

Es dauerte eine ziemliche Weile, bevor er sich daran erinnern konnte, wann eigentlich vorgestern abend war, und begriffen hatte, was sie meinte. Nun war er erstaunt und bestürzt. »Ich glaubte, wir sprächen ernst miteinander«, stammelte er schließlich.

»Sehr ernst sogar«, versicherte sie ruhig. »Wesentlich ernsthafter, als du dir eingestehen willst. Wollen wir doch nicht länger um den Kern herumreden, Pete. Ich wollte dich schon immer heiraten, schon als ich elf Jahre alt war. Damals war ich noch ein dummes Ding. Aber jetzt sehe ich vollkommen klar. Ich bin einfach verliebt in dich. Und du in mich doch auch, nicht wahr? Ist nicht das der Grund unseres veränderten Benehmens?«

Nach diesen Worten trat ein lähmendes Schweigen ein, das stundenlang zu dauern schien. Schließlich gab Murray kläglich zu: »Ja, das ist es.«

»Nun«, meinte sie daraufhin, noch immer an sich haltend, »was ist denn schon dabei?«

»Unerhört ist es, wenn du es wissen willst«, platzte er plötzlich heraus. »Du solltest einen jungen Mann heiraten, und nicht ein veraltetes, schon halb verbrauchtes Modell!«

»Sei still!« unterbrach sie ihn wütend. »Pete, ich bin keine junge Unschuld vom Lande, ich weiß, was mir gefällt und was nicht. Ich liebe dich, und ich weiß, was ich sage.«

Er hatte jetzt ein Gefühl wie damals, als sie ihn beim Fluge zum erstenmal in jene beängstigend kipplige Seitenlage gebracht hatte, aber diesmal erging es ihm dabei viel schlimmer. Seine ganze geistige Welt war umgekippt und wirbelte durcheinander. Gedanken an den Mißbrauch seiner Vertrauensstellung, und die Ausnutzung der Jugend seines Mündels schossen ihm durch den Kopf, aber sie schienen alle zu albern zu sein, um ausgesprochen zu werden. Er sagte also gar nichts, saß nur da und starrte Camilla an.

Und selbst als er merkte, daß ihre mühsame Selbstbeherrschung nachzulassen begann und eine wilde Angst sich ihrer bemächtige, vermochte er immer noch kein Wort hervorzubringen. Und plötzlich sprang sie aus der Hängematte und richtete sich vor ihm auf mit einer neuen Würde, die ihn erschreckte.

»Ich glaube, mein Maß ist jetzt voll, Pete«, sagte sie. »Für heute früh auf alle Fälle. Ich werde mich eine Weile mit meiner kleinen Schwalbe in der Luft herumtummeln. Willst du mitkommen und mir ein bißchen helfen? Ich gehe nur auf einen Sprung ins Haus, um meinen Fallschirm zu holen.«

Die zwei oder drei Minuten der ihm gelassenen Gnadenfrist verbrachte er in verzweifelten Bemühungen, sein Gehirn zu zwingen, wieder als Gehirn und nicht als Brummkreisel zu arbeiten, aber seine Bemühungen blieben erfolglos. Alles, was er hervorbringen konnte, als sie endlich in ihrem schwerfälligen Panzer zurückkam, waren die Worte: »Nimm mich mit, Camilla.«

Sie schüttelte verneinend den Kopf. »Ich habe keinen zweiten Fallschirm«, erklärte sie. »Wir werden dir heute einen besorgen, wenn du willst, und ihn hier bereit halten.«

Es blieb ihm also nichts weiter übrig, als nach ihren Angaben den Anlasser in Bewegung zu bringen, dem Propeller aus dem Weg zu gehen und ohne sich bei dem teuflischen Krach des Motors verständlich machen zu können eine volle Viertelstunde qualvoll zu warten, bis die Maschine sich allmählich warm gelaufen hatte. Schließlich nickte Camilla, lächelte ihm flüchtig zu, winkte mit der Hand, löste die Bremsen und ließ ihr Flugzeug über die Wiese anfahren. Eine Minute später war sie hinter den Bäumen verschwunden.

Murray verspürte plötzlich ein dringendes Bedürfnis nach einem Bad und frischer Wäsche; vielleicht, dachte er, würde ihm das zu der nötigen Sammlung verhelfen. Und er mußte sich irgendwie sammeln, jetzt, gleich, noch bevor Camilla zum Frühstück zurückkehrte. Er kleidete sich möglichst lange an, und offenbar fruchtete dieses Mittel; denn noch ehe er mit dem Rasieren fertig war, verfaßte er bereits in Gedanken die Rede, die er Camilla bei der nächsten Gelegenheit zu halten sich das Wort gab.

Er mußte ihr seine Stellung klar machen. Das Fundament dieser Stellung, die Grundlage, auf der das Fundament ruhte, war die vertrauliche Natur seines Berufs als Rechtsanwalt. Selbst die Angelegenheiten seiner gewöhnlichen Klienten basierten auf einem geradezu heiligen Vertrauen und mußten stets nur im Interesse eben dieser Klienten und nie in seinem eigenen behandelt werden. War der Klient gleichzeitig sein Mündel, so wurden die Pflichten, die ihm aus seiner Vertrauensstellung erwuchsen, noch heiliger. In erster Linie hatte er als Camillas Vormund allerdings ihr Vermögen zu verwalten. Doch war es seine moralische Pflicht, ihre Zuneigung zu ihm und ihren Glauben an ihn gleichfalls als Vertrauensdinge zu behandeln, als etwas, was er unter keinen Umständen zu seinem eigenen Vorteil ausnützen durfte. Sie war noch sehr jung, sie war zumindest verhältnismäßig unerfahren. Er konnte sie unmöglich heiraten, ohne als Lump vor der Welt dazustehen.

Dieser Erguß stummer Beredsamkeit war soweit ganz befriedigend, aber plötzlich erinnerte er sich an etwas, was Camilla ihm gestern abend im Verlauf ihrer Auseinandersetzung vorgehalten hatte: »Du bist wohl sehr stolz auf deinen guten Ruf!« hatte sie ihm da gesagt. Und die Erinnerung daran sprengte seine ganze Beweisführung wie eine Ladung Dynamit.

Schließlich setzte der Tagesbetrieb wieder ein. Im Hause und auf dem Flugplatz wurde es lebendig. Flugschüler begannen in ihren Maschinen dröhnend über dem Haus zu schwirren. Jedesmal, wenn einer von ihnen besonders laut wurde, eilte Murray ans Fenster und sah hinaus, in der Hoffnung, daß es Camilla sein könnte. Er wünschte sie schon lange zurück. Wenn sie in einer ähnlichen Gemütsverfassung war wie er, sollte sie lieber nicht versuchen, zu fliegen; in einer so wirklichkeitsfernen Stimmung konnte ihr sonst leicht ein Unglück zustoßen.

Als er sich durch das Ausspinnen derartiger Gedanken in einen Zustand heftiger Besorgnis um sie gebracht hatte, ging er ins Herrenzimmer hinunter und rief den Flughafen an. Es mochte nicht gerade das Vernünftigste sein, aber es war doch wenigstens etwas.

Zu seiner Überraschung konnte man ihm dort Auskunft über sie geben. Sie war vor ungefähr zehn Minuten gelandet, um neuen Brennstoff aufzunehmen und gleich darauf von neuen aufgestiegen. Nun, das besagte jedenfalls, daß sie wenigstens noch so viel gesunden Menschenverstand hatte, um nicht mit leerem Tank zu fliegen.

Ein weiterer Trost erwartete Murray, als er beim Verlassen des Herrenzimmers auf Taylors Gepäck stieß. Das stand am Ausgang ordentlich in Reih und Glied, und der Mann wollte also tatsächlich schon wieder verschwinden. »Gott sei Dank!« dachte Pete. Aber dieser Berg von Sachen! Hatte denn Taylor tatsächlich nur eine einzige Nacht hier bleiben wollen, oder war ursprünglich ein längerer Besuch vorgesehen, und hatte Eric Mittel und Wege gefunden, den sonderbaren Gast loszuwerden?

Sophie, die sehr verängstigt zu sein schien, und todernst und verweint aussah, kam heraus, um ihm zu sagen, daß sie das Frühstück bereits serviert hätte, und so beschloß er, nicht auf Camillas Rückkehr zu warten. Jedenfalls wollte er sich zunächst ein wenig stärken.

Taylor, rosig, dick und stark parfümiert, saß bereits am Frühstückstisch. Damit hatte Murray allerdings nicht gerechnet. Nun mußte er sich mit Gewalt zusammennehmen, um bei seinem Anblick nicht einfach wieder davonzugehen. Wo, zum Teufel, steckte denn Eric? Warum kam er nicht herunter, um die Abreise seines gräßlichen Gastes zu beschleunigen? Taylor hatte sich jedoch über Nacht in einer Hinsicht bedeutend gebessert: er war nicht mehr so geschwätzig wie am Vorabend. Er schien wahrhaft ziemlich tief in Gedanken versunken zu sein, und Murray durfte verhältnismäßig ruhig seinen Kaffee schlürfen und seinen Toast knabbern. Es war nur die Rede davon, daß heute wieder ein schöner Tag sei, und daß Taylor sehr ungern abreise. Allerdings, sagte er, würde er bald wieder zu Besuch kommen.

Als Carl die Eier für Murray hereinbrachte, machte er Taylor die Mitteilung, daß Nelson in etwa zehn Minuten vor der Tür sein würde. Offenbar wollte der Herr Gast feierlich in der großen Limousine davonreisen.

»Wo ist denn Herr Lindstrom?« fragte Murray Carl. »Kommt er nicht herunter?«

»Nein, gnädiger Herr«, gab der mustergültige Diener Bescheid. »Ich soll ihm sein Frühstück aufs Zimmer bringen – aber etwas später.«

Taylor schien sich weder für diese Frage, noch für Carls Antwort zu interessieren.

Von Camilla war noch nichts zu spüren. Nun, das traf sich eigentlich ganz gut so. Murray hoffte jetzt, daß sie nicht erscheinen würde, bis dieser Taylor glücklich aus dem Haus war.

Nelson kam mit dem Wagen, noch ehe sie zu Ende gefrühstückt hatten, als man aber gemeinsam in die Diele hinausging, drehte sich Taylor mit einem Ruck nach Murray und nach dem ihnen folgenden Carl um, und rief mit einer plötzlich aufflackernden Erregung: »Was zum Teufel ist aus meinen Koffern geworden?«

»Sie sind bereits in der Limousine«, erklärte Carl höflich.

Aber Taylor, der rasch nach seinem auf dem Tisch in der Diele liegenden Panama griff, eilte hinaus, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Und es belustigte Murray, der ihm nacheilte, daß er alle Koffer sorgfältig und argwöhnisch prüfte, bis er sich genau davon überzeugte, daß nicht ein einziges Stück von seinen Habseligkeiten heimlich durchwühlt worden war. Was in aller Welt sollte er jetzt tun? fragte sich Murray im stillen. Dem Bösewicht die Hand schütteln?

Aber seltsamerweise enthob ihn Nelson der Notwendigkeit, über diese Anstandsfrage noch weiter nachzudenken. »Würden Sie bitte, bis zum Tor mitfahren?« fragte er. »Es sind da ein paar Herren, die Sie sprechen möchten.«

Diese Aufforderung kam Murray recht sonderbar vor, aber er beschloß, ihr zu folgen. Deshalb stieg er nach Taylor ins Auto und nahm neben ihm Platz.

Sie hatten vielleicht den halben Weg bis zum Tor hinter sich, als das plötzlich abgedrosselte Geknatter eines Flugzeugmotors Murray veranlaßte, den Kopf zum offenen Autofenster hinauszustecken und nach oben zu blicken. Gott sei Dank, Camilla hatte den richtigen Zeitpunkt genau abgepaßt! Ihr kleines grünes Flugzeug schoß über den Baumwipfeln nieder, erreichte den Boden, rollte über die Wiese und hielt direkt vor dem Haus. Taylor reiste ab, Camilla war wohlbehalten zurückgekehrt: die Dinge kamen allmählich wieder ins Geleise.

Endlich war man vor dem Chausseehäuschen. Scheinbar waren weder Frau Nelson noch die kleine Ruth da, denn Nelson stieg vom Führersitz, um selber das Tor aufzuschließen. Merkwürdig, daß er nicht einen Augenblick gewartet und gehupt hatte, dachte Murray, da aber wurde die Wagentür auf seiner Seite aufgerissen, und er erblickte Walsh, den Motorradpolizisten. Hatte Hopkins ihn sprechen wollen?

Aber Walsh sah ihn nicht an. Er hielt eine schwere Selbstladepistole in der Hand und richtete sie direkt auf den dicken Bauch des Mannes, der neben ihm saß. »Hände hoch, Taylor«, rief er dabei, »und aussteigen!«

Was Taylor im Bruchteil einer Sekunde zu seinem Schutz auch geplant haben mochte, er beschloß fast ebenso schnell, sich keine zwecklose Mühe zu machen. Also hob er die Hände wie Walsh ihm befohlen hatte, und kletterte schwerfällig aus dem Wagen.

Ein anderer Polizist – es waren noch mehr in der Nähe: ein halbes Dutzend sprang, scheinbar aus dem Nichts, aber wahrscheinlich aus der Deckung, die ihnen Nelsons Häuschen geboten hatte, plötzlich herbei – ein anderer Polizist also trat hinter Taylor und begann seine Kleider sachverständig zu durchsuchen, während Walsh ihn inzwischen mit dem Revolver in Schach hielt. Es war so gut wie gar kein Ausdruck in Taylors Gesicht, und er sagte mit ganz ruhiger Stimme: »Ich habe nichts bei mir, nicht einmal eine Flasche. Die habe ich Lindstrom gelassen – ich dachte, er würde sie nötiger brauchen.«

Offenbar sprach er die Wahrheit. Sie fanden weder eine Waffe bei ihm, noch irgend etwas anderes, was sie suchten, und Walsh gab ihm durch ein Nicken zu verstehen, daß er die Hände sinken lassen könnte. Dennoch hielt Walsh nach wie vor den Revolver auf ihn gerichtet und befahl ihm, als er beiseite gehen wollte, sich nicht zu bewegen. Offenbar hatte Taylor nachsehen wollen, was man mit seinen Koffern machte. Nelson hatte sie nämlich inzwischen alle aus dem Wagen geholt und sie wie zu einer Zollrevision ins Gras gestellt.

Murray stieg jetzt auch aus. Hopkins nickte ihm zu, aber mit der Miene eines Mannes, der keine Fragen zu beantworten wünscht.

»Die Schlüssel!« rief der Inspektor Walsh zu, noch ehe er nachgesehen hatte, ob die Koffer abgeschlossen waren.

Taylor holte ein kleines Ledertäschchen hervor und reichte es dem Polizisten scheinbar ohne Widerstand. Dabei sagte er aber gelassen und fast ausdruckslos: »Wenn Sie das ohne Haftbefehl zu deichseln versuchen, möchte ich wahrhaftig nicht in Ihren Schuhen stecken.«

»Was haben Sie da soeben von Schuhen gesagt?« fragte der Inspektor rasch, und seltsamerweise hatte das genügt, um Taylor zum Schweigen zu bringen. Und noch mehr sogar: diese Frage trieb Taylor das Blut aus den rosigen Wangen und machte seinen Blick plötzlich verstört.

Am meisten schien sich Hopkins für den großen schwarzen Handkoffer zu interessieren. Seine Hände zitterten ein wenig, als er ihn aufzumachen versuchte und an den Lederriemen zerrte. Murray sah ihm dabei gespannt zu. Endlich hob der Inspektor den Deckel hoch. Sofort trat in sein Gesicht ein erstaunter Ausdruck. Der Koffer war nur mit Schuhen ausgefüllt – es lagen in ihm mindestens ein Dutzend Paar Schuhe. Und plötzlich verklärte etwas wie ein Triumph die Züge des Inspektors.

Er nahm einen der Schuhe hervor, sah sich den innen angebrachten Firmenstempel an, und zeigte ihn daraufhin auch Murray. »Französische Schuhe«, sagte er. »Die Schuhe Eric Lindstroms!«

Taylor konnte Hopkins zwar nicht sehen, aber er hörte, was er gesagt hatte. »Und wenn es seine Schuhe sind?« fragte er trotzig. »Er hat sie mir geschenkt. Zeigen Sie Ihren Haftbefehl, wenn Sie einen haben. Wenn ich gesucht werde, dann möchte ich wenigstens wissen, was mir zur Last gelegt wird?«

Ohne sich aufzurichten, und ohne Taylor auch nur eines Blickes zu würdigen, antwortete Hopkins: »Sie werden gesucht wegen Beihilfe zum Mord an Eric Lindstrom!«


 << zurück weiter >>