Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Lucretia ist nicht entflohen

Aus seinen Bemühungen, Camilla zu trösten, wurde Murray plötzlich durch ein Geräusch aufgestört. Er sah auf und erblickte die Kleine des Schofförs, die ihn und Camilla von der anderen Seite des Fahrwegs mit sehr interessierter Miene betrachtete.

»Wenn Sie wollen«, bemerkte die Kleine, »können Sie jetzt die Leiter hinaufklettern und durchs Fenster gucken. Seinen Kopf oder eine Blutspur werden Sie freilich nicht zu Gesicht bekommen, aber seine Beine können Sie ziemlich gut sehen.«

Dem Junggesellen Murray erschien das Mädchen als ein richtiges kleines Ungeheuer, das diese Greuel genau so auskostete, wie seiner Meinung nach ein anderes Kind morgens etwa seine Hafergrütze mit Himbeersaft genießen mußte. Aber Camilla wurde durch die Worte des Mädchens aus ihrer Betäubung wachgerüttelt.

»Wessen Beine?« fragte sie.

»Die Beine Ihres Großvaters«, rief die Kleine. »Wissen Sie denn gar nicht, was hier draußen passiert ist?«

»Nicht genau«, gab Camilla zu. »Wir sind eben erst gekommen, verstehst du? Was weißt denn du alles?«

»Nun, ich glaube, ich weiß nicht weniger als alle andern«, antwortete das Kind altklug, »obwohl man mich nicht hineingehen lassen wollte. Soll ich Ihnen alles erzählen, ja?«

»Ja«, sagte Camilla. »Komm her.«

Die Kleine kam über den Fahrweg und kletterte auf einen der Backsteinpfeiler hinauf, mit denen die ganze Treppe eingefaßt war.

»Wir saßen gerade beim Frühstück«, begann sie, »in unserm Hause unten, natürlich. Sie wissen ja, wo wir wohnen«, flocht sie, an Murray gewendet, ein, »ich habe Ihnen doch gestern abend das Tor aufgeschlossen. Nun, der Schlüssel ist inzwischen verlorengegangen, und meine Eltern zankten sich darüber, wer schuld daran sei, so daß sie gar nicht merkten, was sich mittlerweile alles ereignete. Aber ich guckte zum Fenster hinaus und sah, wie Sophie mit einem ganz entsetzten Gesicht und, so schnell sie nur konnte, angelaufen kam. Da ich glaubte, daß sie zu uns wollte, ging ich hinaus und fragte sie, was los sei. Sie gab mir gar keine Antwort, sondern stürmte gleich ins Haus und begann meinen Eltern alles zu erzählen. Mich schickte man zum Spielen hinaus, aber ich habe unter dem Fenster gelauscht und alles sehr gut verstanden.«

»Daran zweifle ich nicht einen Augenblick«, bemerkte Murray sarkastisch. Aber Camilla legte die Hand auf sein Knie, um ihn zu beschwichtigen, und fragte die Kleine, worüber Sophie so entsetzt gewesen wäre.

»Nun«, fuhr das Kind fort, »Sophie und die Köchin hatten das Frühstück schon lange angerichtet, aber kein Mensch kam herunter, um zu essen. Deshalb ging Sophie hinauf, um Fräulein Parsons zu wecken, denn sie sah nicht ein, warum eine Sekretärin den ganzen Tag im Bett liegen sollte. Aber Fräulein Parsons war bereits ausgeflogen. Ihr Bett war gar nicht benutzt, und alles lag herum, als ob sie in schrecklicher Eile gepackt hätte. Sie konnte freilich nicht viel von ihren Sachen mitgenommen haben, weil die meisten noch da waren. Als Sophie dann der Köchin erzählte, was sie festgestellt hatte, beschlossen sie, Herrn Lindstrom zu wecken, weil er sehr selten so lange schlief. Sophie ging also wieder nach oben und klopfte an seine Schlafzimmertür. Da sie keine Antwort bekam, versuchte sie, ihn in seinem Arbeitszimmer zu erreichen, weil er ja über die Zimmertreppe dorthin gegangen sein konnte. Aber dort meldete sich natürlich auch kein Mensch. Da bekam sie es mit der Angst zu tun und holte die Köchin, und sie rüttelten an beiden Türen, und beide waren abgeschlossen. Und deshalb kam sie so schnell, wie sie konnte, zu uns, um Vater zu holen.«

›Damit wird wohl diese aufschlußreiche Auskunft zu Ende sein‹, dachte Murray und begann bereits in seiner Tasche nach einem zweiten Zehncentstück zu suchen, um die Kleine damit zu verabschieden, als Camilla wieder eine Frage stellte.

»Und was hat dein Vater getan?« erkundigte sie sich interessiert.

»Nun, Sophie weinte so heftig, daß sie gar nicht weitersprechen konnte, und so meinte Mutter, sie möchte dableiben, eine Tasse Kaffee trinken und sich beruhigen. Und Vater sollte ins große Haus gehen und die Tür einfach aufbrechen. Vater sagte ›Gut‹, mußte aber erst noch zum Geräteschuppen, um ein Stemmeisen zu holen. Ich ließ ihn vorausgehen und folgte ihm dann. Als er mich unterwegs sah und mir sagte, ich sollte umkehren, waren wir schon dicht am Hause. Ich zeigte ihm, wie die Jalousie am Herrenzimmerfenster hochgeschoben und eingeklemmt war. Sicher war dort jemand eingestiegen. Da ließ er mich schließlich doch zum Geräteschuppen mitkommen. Ich nahm das Stemmeisen, und er lud sich die Leiter auf die Schulter, und so kamen wir ans Haus. Aber er ließ mich doch nicht hineinsehen«, fuhr sie betrübt fort. »Er sagte, das Fenster sei geschlossen, und er wollte es anders versuchen. Und während er dann die Tür aufbrach, mußte ich in der Diele warten. Frau Rosnes – Sie wissen doch, die Köchin – ging auch mit ihm hinein, aber sie schrie laut auf und kam, als sie das Blut sah, gleich wieder herausgestürzt. Sie schickte mich natürlich nach Hause, aber ich ging erst, als ich hörte, daß mein Vater die Polizei angerufen hatte. Da lief ich ans Tor, um sie kommen zu sehen. Ich dachte, sie würden in einem Flitzer ansausen, aber sie kamen in dem Dings dort. Mutter machte ihnen das Tor auf. Es war, weil ja der Schlüssel verloren war, nur mit einer Kette und einem Vorlegeschloß versehen. Und dann liefen die Polizisten hierher und Sophie lief ihnen nach. Mich sahen sie nicht, weil …«

Bei diesen Worten versiegte aber plötzlich der scheinbar unerschöpfliche Redestrom der Kleinen, und sie hatte ja auch allen Grund zum Verstummen, denn in diesem Augenblick erschien auf der Veranda ihr Vater, und Murray, der sich rechtzeitig nach ihm umgesehen hatte, war es nicht entgangen, daß der Mann beim Anblick des Trios ein ziemlich bestürztes Gesicht machte.

»Hoffentlich hat meine Kleine Sie nicht belästigt«, sagte er schließlich.

»Durchaus nicht«, erwiderte Camilla beruhigend. »Sie hat uns nur erzählt, was sich hier heute früh zugetragen hat.«

Aber der Mann sah immer noch ziemlich verstört aus. Dann befahl er der Kleinen barsch, nach Hause zu gehen, und blieb stumm, bis sie verschwunden war – das heißt bis sie sich schmollend wenigstens hinter die erste Kurve des Fahrwegs verzogen hatte.

»Ich bin froh, daß Sie hergekommen sind«, wandte er sich dann an Murray. »Ich hatte schon versucht, Sie telefonisch zu erreichen, und zwar gleich, nachdem ich die Polizei angerufen hatte, aber Ihr Diener sagte mir, daß Sie und Fräulein Camilla gerade fortgegangen wären. Es sind hier entsetzliche Dinge geschehen«, fuhr er fort. »Es ist grauenhaft, einen so alten Mann mit durchschossenem Kopf daliegen zu sehen. Und man möchte gar nicht glauben, daß eine Frau so etwas fertiggebracht haben soll. Der neue Polizeiinspektor soll zwar ein studierter Mann sein und was nicht alles noch, aber ich fürchte …«

»Haben Sie mit ihm gesprochen?« unterbrach Camilla.

»Ich hatte nicht viel Gelegenheit dazu. Er hat nur ein paar Fragen an mich gerichtet, mir aber bei jeder Antwort das Wort abgeschnitten und zu guter Letzt erklärt, er sei vorläufig mit mir fertig. Jetzt verhört er im Eßzimmer Sophie.«

»Ich denke«, bemerkte Murray, »Sie sollten nunmehr, ehe Sie wieder geholt werden, hinuntergehen und das Tor abschließen. Als wir ankamen, stand es weit offen.«

»Jawohl, Herr«, sagte Nelson. »Entschuldigen Sie vielmals, vermutlich hat meine Frau in der Aufregung ganz vergessen, es nach dem Eintreffen der Polizei wieder zu schließen. Hoffentlich wird Herr Lindstrom …«

»Nein, der wird ja nun bestimmt nichts mehr davon erfahren, Nelson«, unterbrach Murray, »aber dennoch würde ich jetzt zurückgehen und das Tor abschließen.«

Es war sonderbar, wie der Alte selbst nach dem Tode seiner ganzen Umgebung Furcht einflößte!

»So benahmen wir uns hier alle«, erklärte Camilla nachdenklich. »Wir zeigten wohl keine Angst, aber wir spürten sie in uns.«

In diesem Augenblick erschien auf der Veranda der Polizist und sagte Murray, daß der Inspektor ihn im Eßzimmer erwarte.

»Darf ich auch mitkommen?« fragte Camilla schüchtern.

Murray griff der abschlägigen Antwort des Polizisten vor. »Es ist viel leichter für ihn, jeweils nur mit einem von uns zu sprechen«, sagte er und ließ sie allein. Sie blieb, das Gesicht in den Händen vergraben, wie versteinert sitzen.

Das Benehmen des Inspektors wirkte beruhigend. Als Murray das Zimmer betrat, stand er auf und stellte sich vor. »Ich heiße Hopkins und bin der neue Polizei Inspektor von Oak Ridge – noch etwas zu fremd für einen Fall wie diesen. Ich wäre Ihnen für jede Hilfe sehr dankbar. Vor allem möchte ich möglichst genau erfahren, wie die verschwundene Sekretärin ausgesehen hat.«

Murray beschrieb Fräulein Parsons so gut er konnte, aber sie hatte ja eigentlich außer ihrem etwas auffälligen Blondhaar fast gar keine besonderen Merkmale.

»Wie war sie gekleidet?« fragte der Inspektor. »Es ist mir gesagt worden, daß Sie hier gestern zu Abend gegessen haben.«

»Auf Ihre Kleidung kann ich mich schlecht besinnen«, erwiderte Murray. »Ich weiß nur noch, daß sie ziemlich gedrückt und mitleiderregend ausgesehen hat.«

»Wissen sie sonst irgend etwas, was uns auf ihre Spur bringen könnte? Was hatte diese Frau beim Antritt der Stellung für Referenzen? Ich habe gehört, daß sie in diesem Hause fast ein ganzes Jahr tätig war.«

»Ihre Referenzen haben auch mich interessiert«, erklärte Murray, »und ich habe mir alle Mühe gegeben, etwas in Erfahrung zu bringen. Aber soviel ich feststellen konnte, hatte sie überhaupt keine Referenzen angegeben. Frau Lindstrom muß sie auf Zureden Mossops, des Obergärtners, engagiert haben. Dieser Mossop ist Engländer, und sie behauptete immer, sowohl eine Landsmännin von ihm als auch eine Liebhaberin von Gartenanlagen zu sein. Als es ihr gelungen war, ihn von der Richtigkeit dieser beiden Behauptungen zu überzeugen, zeigte er ihr seinen Garten, auf den er recht stolz ist, und stellte sie Frau Lindstrom vor. Sie hat mir nie irgendeine Auskunft über sich selbst gegeben, und vor einem Monat ungefähr unternahm ich einige Schritte, um ihre Vergangenheit zu ergründen. Allerdings habe ich bisher noch nichts Genaues erfahren.«

»Was veranlaßte Sie zu diesen Nachforschungen?«

»Ich war mir nicht ganz klar darüber, was sie hier für Absichten verfolgte. Mein Klient, Herr Lindstrom, stand bereits im fünfundachtzigsten Lebensjahr, und sie war eine sehr reizvolle und tüchtige junge Frau.«

»Ich denke, Sie sagten, sie hätte mitleiderregend gewirkt«, bemerkte der Inspektor.

»Nur gestern abend«, verbesserte Murray. »Sonst nicht. Herr Lindstrom hatte am Nachmittag eine Auseinandersetzung mit ihr gehabt und wollte sie entlassen. Im Zusammenhang mit diesem Vorfall hatte er auch mich herbestellt. Im übrigen wird es wohl besser sein, wenn ich Ihnen die ganze Geschichte der Reihe nach erzähle.«

Der Inspektor nickte, und Murray schilderte so kurz wie möglich die Ereignisse des vorangegangenen Abends. Er erzählte, wie Fräulein Parsons bei Tisch aufgestanden war, um den Ursprung des Luftzuges zu finden; er beschrieb den seltsamen Stimmungsumschwung, den er an ihr nach ihrer Rückkehr festgestellt hatte; er trug dem Inspektor die Geschichte des Geheimfachs vor und verhehlte ihm auch nicht, daß der alte Lindstrom ein juristisches Gutachten haben wollte, ob er das Mädchen verhaften lassen könnte oder nicht.

So weit hatte der Inspektor ihm zugehört, ohne ihn zu unterbrechen. Als aber Murray auf das seltsame Geräusch zu sprechen kam, das er vernommen hatte – auf jenes Geräusch, das merkwürdig genug war, um ihn für einen Augenblick erstarren zu lassen, obwohl Lindstrom, der kaum drei Meter weit entfernt saß, scheinbar gar nichts gehört hatte –, da erhob sich der Inspektor aus seinem Sessel.

»Ich habe das Arbeitszimmer so weit wie möglich unberührt gelassen, denn ich erwarte hier ein paar Männer, nach denen ich bereits geschickt habe. Aber ich möchte Sie doch bitten, jetzt mitzukommen und mir genau zu zeigen, wo Sie gestanden haben und aus welcher Richtung – wenn Sie sich daran erinnern können – jener Laut gekommen ist.«

Er ging in die Diele voraus, stieß die Tür, die, seitdem Nelson sie mit dem Stemmeisen aufgebrochen hatte, offenbar nicht mehr einschnappte, kurz auf und ließ Murray eintreten.

»Berühren Sie, bitte, nichts«, sagte er dabei, aber die Warnung war überflüssig, denn Murray hatte bereits an der Schwelle haltgemacht.

»Ich stand genau hier«, sagte er. »Ich hatte mich vom alten Herrn verabschiedet und wollte gerade die Tür aufmachen, als ich plötzlich jenes Geräusch hörte.«

»Sie sagten doch vorhin, daß es so klang, als ob es aus dem Zimmer selbst käme«, meinte Hopkins. »Können Sie sich vielleicht noch darauf besinnen, aus welcher Richtung der Laut gekommen ist?«

»Ich glaube, von rechts«, erwiderte Murray. »Ich erinnere mich, den Kopf dahin gewandt zu haben.«

Während dann der Inspektor den Boden, die Wände und die Bilder in der vom Anwalt bezeichneten Ecke untersuchte, sah Murray sich flüchtig im ganzen Zimmer um. Die Leiche des alten Lindstrom befand sich noch genau an derselben Stelle, an der Nelson sie gefunden hatte: sie lag nach wie vor auf dem Rücken, mit dem Kopf gegen die Tür der Geheimtreppe zu, und zwar, wie Murray sofort feststellte, weit genug von ihr entfernt, um nicht gestreift zu werden, wenn die Tür plötzlich aufgehen sollte. Allerdings erschien es Murray zweifelhaft, daß der Alte gerade hier zu Boden gefallen wäre. Aus dem Zustand der Kleider mußte er vielmehr schließen, daß man die Leiche an den Füßen mindestens ein paar Schritte von der Tür weggeschleift hatte.

Der Kopf des Alten war von dem Schuß nicht zerschmettert worden und lag in einer kleinen Blutlache, die freilich nicht so groß war, wie Murray es erwartet hatte. Die Kugel war unmittelbar unter dem rechten Auge in den Schädel eingedrungen, und der Anblick, den das Gesicht des Ermordeten bot, war so grauenhaft, daß Murray sich schnell abwandte. Im übrigen aber sah das Zimmer ganz genau so aus wie gestern abend.

»Soviel ich weiß«, bemerkte Murray nach einer Weile, »bin ich der letzte, der ihn noch am Leben gesehen hat. Oder war noch irgend jemand bei ihm nach mir?«

Der Polizeibeamte schüttelte verneinend den Kopf. Er war im Begriff, ein Paar weiße Baumwollhandschuhe anzuziehen, aber er hielt damit inne, lächelte Murray zu und sagte: »Dennoch habe ich Sie vorerst noch nicht im Verdacht, ihn ermordet zu haben.« Dann erklärte er, wozu er die Handschuhe brauchte. »Ich will einmal nachsehen, ob hinter einem der Bilder hier ein Ventilator eingebaut ist.«

Das Bild, hinter dem er dann zu suchen begann, war eine kleine gerahmte Radierung, die etwa in Manneshöhe rechts neben der Tür hing. Kaum aber hatte er sie zur Seite geschoben, als er einen Ruf der Überraschung ausstieß: aus der nunmehr freigelegten Wand ragte ein kleines Blechrohr hervor.

»Was zum Teufel ist denn das da?« fragte er.

»Ein Sprachrohr«, erwiderte Murray schnell. »Als dieses Haus erbaut wurde, gab es noch keine elektrischen Klingeln, und die Wände sind wahrscheinlich voll solcher Rohre. Dies da hatte, als es noch im Gebrauch war, natürlich auch ein Mundstück mit automatischer Klappe.«

»Und von hier kam auch Ihr Geräusch, jawohl«, erklärte der Inspektor. »Sobald wir erfahren, in welches Zimmer dieses eigentümliche Rohr führt, werden wir vielleicht mit ziemlicher Sicherheit feststellen können, wer jenen Laut verursacht haben mochte. Wahrscheinlich kommen wir dann ins Zimmer der Sekretärin. Sie wird wohl gelauscht haben, und als sie hörte, daß der Alte sie verhaften lassen wollte, entfuhr ihr ein Schrei.«

Murray schüttelte verneinend den Kopf. »Das war bedeutend später«, wandte er ein. »Ich hatte ihm bereits auseinandergesetzt, daß und warum er sie nicht verhaften lassen konnte, und war, nachdem er mich verabschiedet hatte, aufgestanden, um fortzugehen. Außerdem glaube ich nicht, daß dieses Rohr in das Zimmer der Sekretärin führt. Meiner Meinung nach wird es sich herausstellen, daß es in Lindstroms eigenes Schlafgemach führt, das unmittelbar über uns liegt. Sonst hätte er es wohl verstopfen lassen. Nie hätte er hier eine so ausgezeichnete Lauschvorrichtung geduldet, wenn er sie nicht selbst hätte benutzen wollen. Im übrigen bin ich ziemlich fest davon überzeugt, daß die Person, die diesen Schrei ausgestoßen hat, durch irgend etwas überrascht wurde, was in ihrer eigenen Umgebung geschehen war, und nicht durch die Dinge, die sie hier unten hören konnte.«

»Ich erwarte jeden Augenblick die Mordkommission«, bemerkte der Inspektor zögernd. »Und Ballard, der neue Sachverständige für Ballistik und dergleichen, kommt im Laufe des Vormittags auch hierher. Deshalb dachte ich, daß es besser sein würde, alles nach Möglichkeit so zu lassen, wie wir es vorgefunden haben. Aber in Anbetracht dessen, was Sie mir erzählt haben, und infolge der Entdeckung dieses Sprachrohrs, wollen wir doch einmal einen Blick in das Schlafzimmer oben werfen. Diese Tür werden wir wohl aufmachen können, ohne die Leiche aus ihrer Lage zu bringen.«

Der Inspektor klinkte die Treppentür auf, ohne freilich die Klinke zu berühren, indem er einfach die Achse kräftig mit den Fingern umklammerte und umdrehte, und Murray, der links neben der Leiche stand, sah ihm dabei zu. So kam es, daß Murray als erster einen Blick hinter die Tür warf und sofort erkannte, daß der alte Lindstrom dort und nicht im Arbeitszimmer ermordet worden sein mußte. Die hinter der Täfelung verborgene Treppe, die in einen kleinen rechteckigen Absatz auslief, war mit einem Teppich belegt, und dieser Teppich war ganz mit Blut getränkt. Auch links von der Tür, an der weißgetünchten Wand und gegenüber dem Treppenfuß, entdeckte Murray Blutspritzer und Blutflecke. Und etwa zehn Zentimeter über dem Treppenabsatz war außerdem eine abgeblätterte Stelle im Wandverputz, die ein kleines Loch in der Mitte aufwies, und hier war offenbar der Kugeleinschlag.

Als der Inspektor aufsah und merkte, was Murray für ein Gesicht machte, kam er sofort zu ihm. »Das erklärt alles«, sagte er ruhig nach einem Blick auf die Treppe. »Sie war oben und erschoß ihn, als er die Treppe hinaufstieg. Ob sie ihn dann aber auch hinuntergeschleift hat? Ob sie noch Kraft genug dazu hatte?« Und ohne eine Antwort auf diese Frage abzuwarten, eilte er die Treppe hinauf. Murray folgte ihm.

Im Schlafzimmer war es stockdunkel, und der Inspektor trat zu allererst ans nächste Fenster heran, schob die Vorhänge zurück und zog den Laden hoch.

»Dieses Zimmer ist, glaube ich, durchsucht worden«, sagte Hopkins nach einer Weile und musterte die zwischen den zwei großen Fenstern stehende Kommode. »Diese Schubladen sind herausgezogen und hastig zugeworfen worden. Sie sind alle festgeklemmt.«

Murray aber würdigte die Kommode keines Blicks, sondern starrte auf das Bett. Die Portiere, die auf der ihm zugewandten Seite vom Baldachin hinabhing, wies einen offenbar herkömmlichen Faltenwurf auf. Aber die Schlinge der anderen Portiere hatte sich gelöst, und die geraden Falten, in denen sie nunmehr herabfiel, schienen irgendwie unnatürlich zu sein. Sie hatten ein straffes, gespanntes Aussehen, als würden sie von irgendeinem unter dem Bett liegenden Gegenstand festgehalten.

»Schauen Sie sich einmal das Bett an, Inspektor«, rief Murray.

Hopkins drehte sich ruckartig um. Von seinem Platz aus konnte er sehen, was die Portiere festhielt. Er schrie nicht auf und gab überhaupt keinen Laut von sich, aber Murray merkte, daß seine Augen plötzlich weit wurden und sein Kinnmuskel sich straffte.

»Kommen Sie her und sagen Sie mir, ob das die verschwundene Sekretärin ist«, sagte der Inspektor schließlich.

Es war tatsächlich die arme Lucretia. Was für Pläne sie auch gehabt haben mochte, sie waren alle kläglich gescheitert. Sie lag auf dem Boden, dicht neben dem Bett, fast unter ihm, die Füße in die Portiere verwickelt, den Kopf am Fußende des Bettes. Der Revolver, aus dem die tödliche Kugel sie getroffen hatte, war sicherlich aus nächster Nähe auf sie abgefeuert worden, denn ihr Gesicht war vom Pulverrauch ganz geschwärzt.

»Hatte sie schon gestern beim Abendessen dieses Kleid an?« fragte der Inspektor, nachdem Murray die Tote identifiziert hatte. »Sie sagten zwar, Sie könnten es nicht beschreiben …«

»Aber ich erkenne es mit Sicherheit wieder«, unterbrach Murray. »Sie hat sich nicht umgezogen, und das bedeutet wohl, daß sie nicht die Absicht hatte, noch in der Nacht das Haus zu verlassen.«

Der Inspektor bückte sich und leuchtete mit seiner Taschenlampe unter das Bett.

»Ah! Da liegt ja die Waffe, mit der sie es getan hat«, stellte er fest, und Murray, der sich auch gebückt hatte, erblickte sie gleichfalls. Aber schon im nächsten Moment richtete er sich wortlos auf und ging plötzlich ans Fenster.

»Wohl zu viel für Sie?« fragte der Inspektor. »Nun, das ist kein Wunder. Aber ich glaube, das Dunkel lichtet sich allmählich. Sie wollte hier oben offenbar etwas suchen, was sie früher am Tage im Arbeitszimmer nicht hatte finden können – als sie ihn plötzlich die Treppe heraufkommen hörte. Und weil sie wahnsinnige Angst hatte, zum zweitenmal erwischt zu werden, drückte sie auf ihn ab. Dann aber blieb ihr nichts anderes übrig, als sich selber auch zu erschießen. Ich weiß freilich nicht, ob diese Theorie dem wahren Tatbestand vollkommen entspricht, aber sie kommt ihm bedeutend näher, als alles, was wir uns bis jetzt zurecht gedacht hatten.«

Murray erwiderte darauf kein Wort, und der Inspektor sah sich besorgt nach ihm um.

»Wollen Sie jetzt nicht lieber ein bißchen hinausgehen und etwas frische Luft schöpfen?« fragte er. »Sie sehen ziemlich angegriffen aus. Aber verlassen Sie das Anwesen bitte nicht. Wenn die Sachverständigen kommen, muß ich Sie jederzeit erreichen können.«

Während er das sagte, öffnete er, vorsichtig wie schon einmal zuvor, die abgeschlossene Tür zum Flur, und Murray verließ ziemlich unsicheren Schrittes das Zimmer. Aber er war noch nicht weit gekommen, als der Inspektor ihm nachrief: »Wie steht es eigentlich mit Fräulein Lindstrom? Soll ich mit ihr sprechen? Kann Sie ihre Mitteilungen noch nach irgendeiner Richtung hin ergänzen?«

»Sie hat diese Nacht nicht zu Hause verbracht«, erwiderte Murray, »und den größten Teil des vergangenen Tages auch nicht. Ich habe sie erst vor wenigen Minuten zurückgebracht.«

»Dann will ich sie vorerst nicht belästigen«, beschloß der Inspektor. »Aber Sie müssen freilich dafür sorgen, daß auch sie in greifbarer Nähe bleibt!«

Murray nickte und ging die Treppe hinunter. Bevor er jedoch wieder zu Camilla auf die Veranda trat, blieb er noch einen Augenblick stehen, um sich zu sammeln. Es besagte ja gar nichts – es konnte einfach keine tiefere Bedeutung haben – daß jene vom Inspektor unter dem Bett entdeckte Waffe die Mauserpistole war, die Camilla vor zwei Sommern, als Murray ihr noch Unterricht im Schießen gab, von ihm geschenkt bekommen hatte.


 << zurück weiter >>